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„Nick, wo bist du?“ 

Tom zog die einzige ihm sinnvoll erscheinende Lösung in Betracht und rief seinen Zwillingsbruder an. 

Polizeikollegen hatten eine zutiefst verstörte Frau aufgegriffen, die jetzt völlig verloren auf dem Revier saß. Sie wirkte verzweifelt und gab keinerlei Informationen zu ihrer Person preis. Die Beamten vermuteten, dass sie mehr oder weniger unverletzt war, da sie sich soweit gut auf den Beinen halten konnte, doch wollten sie Folgen weiterer körperlicher Misshandlungen nicht ausschließen. Als man ihr nahelegte, sich in einem Krankenhaus untersuchen zu lassen, reagierte sie hysterisch und versuchte zu fliehen. Daher riefen die Polizeikollegen Tom zur Hilfe.


Auf ihn wirkte sie wie eine zerstörte, gebrochene Devote, deren Master sie über die Klippe gestoßen und nicht aufgefangen hatte. Außerdem waren Schläge ins Gesicht grundsätzlich tabu und grenzten an Misshandlung.  Er musste herausfinden, wer ihr solche Scheußlichkeiten angetan hatte. Doch bei ihrem jetzigen Zustand würde er kein Wort aus ihr herausbekommen. Sie würde sich nur jemandem öffnen, zu dem sie Vertrauen hatte. Und wer wäre da besser geeignet als sein Bruder Nick, der einfühlsamste Master, den er jemals getroffen hatte? Jede Sklavin floss dahin, wenn er mit seiner warmen, weichen und doch überaus männlichen Stimme in ihr Ohr säuselte, bevor er seine Befehle in dominanter, befehlsgewohnter Form vorbrachte. Wenn er seine Gespielin mit den dunkelbraunen Augen vertrauenerweckend ansah und im nächsten Moment sich sein dominanter Blick in sie bohrte. Seine große, muskulöse Erscheinung und sein schwarzes, fast schulterlanges Haar, der dazu passende kurz gehaltene Vollbart und die schwarze Kleidung, die er im Spiel bevorzugte, trugen zu seiner bewusst finster-geheimnisvollen Ausstrahlung bei.

Auch Tom hatte diese Wirkung bei seinen Gespielinnen und das liebte er. Die Zwillingsbrüder hatten dieselbe Statur, dieselben dunkelbraunen Augen, die mit einem stählernen Blick pure Dominanz fordern, aber durchaus auch ihre sanfte Seite zeigen konnten.

Tom trug ebenso gerne Schwarz wie Nick. Am liebsten seine Lederhose und ein enges T-Shirt, unter dem seine beeindruckenden Muskelpakete zu sehen waren. Wie alle anderen hier hielten die Brüder/ sich körperlich fit, doch wirkte Nick durch das längere Haar mehr wie ein südländischer Playboy. Tom dagegen bevorzugte es, sich den Kopf fast glatt zu rasieren, was ihm zusammen mit dem sorgfältig rasierten Kinnbart sein Badboy-Image verlieh.

Nicks Beruf als Notarzt würde in diesem Fall durchaus von Vorteil sein, so könnten sie sich den Gang ins Krankenhaus tatsächlich ersparen könnten. Denn Tom plante die unbekannte Frau in die Villa seiner Freunde Vera und Paul Klaasen zu bringen. 

Die Villa war schon seit drei Generationen in Familienbesitz und genauso lange beherbergte es einen absolut exklusiven, sehr diskreten SM-Club. Wer Mitglied werden oder nur einmal einen Blick in den Club werfen wollte, der brauchte eine persönliche Einladung oder ein Mitglied, das für ihn bürgte. Um die Diskretion zu wahren, konnte man sehr geschmackvolle Masken ausleihen, die an den venezianischen Karneval erinnerten. Sie waren aus Metall und wundervoll filigran gearbeitet. Dieser Verkleidung bedienten sich auch Nick und sein Bruder Tom, denn SM war ihr Hobby und sie hatten beide einen verantwortungsvollen Beruf. Nicht immer würden sie daher auf Verständnis treffen, wenn ihre Neigung bekannt würde. 

Das Haus befand sich am Stadtrand Hamburgs in der Nähe eines alten Villenviertels und hatte eine beachtliche Größe. Die Clubräume lagen im Kellergewölbe.  Das Erdgeschoss war auf das persönliche Wohlbefinden der Gäste ausgerichtet. Wenn man die Villa durch die große hölzerne Tür betrat, stand man in der beindruckenden Vorhalle. Helle Wände, bestückt mit den schönsten Fotografien, ein Fliesenboden in schwarzweißem Mosaikmuster und direkt vor einem die zwei geschwungenen Treppenaufgänge, die sich rechts und links an den Wänden hinauf zur ersten Etage schlängelten und von gusseisernen filigranen Treppengeländern umrahmt wurden. Etliche Türen in der Vorhalle führten zu verschiedenen Räumen, wie einer Bibliothek mit Kamin, einen Fitnessraum, zwei Bäder mit riesiger Regenwalddusche und im Boden eingelassener Badewanne und schließlich die offene Küche mit angeschlossenem Esszimmer. Dieser Bereich fiel dem Gast beim Eintritt sofort ins Auge, da er sich direkt gegenüber der Eingangstür unter den Treppenbögen erstreckte und sich als ein großer offener Raum an die Eingangshalle anschloss. In der Küche herrschte Pauls kleine Schwester Doro. Als gelernte Köchin galt ihre Obsession der Herstellung von exklusivem Slow Food. Sie praktizierte selbst kein SM, die in der Villa übliche sadomasochistische Spielart, sondern bevorzugte „normale“ Beziehungen.

 Auch Nick und Tom hatten beide Seiten ausprobiert. Nur weil ihrem besten Freund dieser Club gehörte, hieß es nicht, dass auch sie automatisch zu dieser Art der sexuellen Befriedigung tendierten. Doch sie merkten schnell, dass sie in dieser besonderen Art der Beziehung zwischen einem unterwürfigen, devoten Part, der Sklavin oder Sub und dem des dominanten, bestimmenden Teils, dem Master oder Dom, die geborenen Befehlshaber waren. Und in Pauls Onkel Felix, der vor Paul den Club geleitet hatte, hatten sie den besten Lehrer gefunden, den sie sich wünschen konnten. Er lehrte sie alles, was sie über eine Beziehung wissen mussten, in der es einen devoten und einen dominanten Part gab. Welche Verantwortung der eine dem anderen gegenüber hatte. Wie wichtig Ehrlichkeit und Vertrauen waren. Leider war ihr Mentor zu früh verstorben. Vera und Paul, die bis dahin immer nur zum Spielen in die Villa gekommen waren, gaben ihre Heilpraktikerpraxis auf und machten ihr Hobby zum Beruf. Sie zogen in die Villa ein und boten Tom und Nick an, welche dort sowieso ständig ein und aus gingen, sei es, um ihre Freunde zu besuchen oder ihrer sexuellen Neigung nachzugehen, mit einzuziehen. Die vier kannten sich schon aus der Schulzeit. Es fühlte sich an, als wären sie ihre ganzen achtunddreißig Jahre lang Freunde gewesen und sie hatten sich immer gut verstanden. Also hatten Tom und Nick das Angebot angenommen.

Das Obergeschoss der Villa bot jedem von ihnen genug Rückzugsmöglichkeiten. Vera und Paul bewohnten den rechten Flügel mit einem Büro, einem großzügigen Wohn- und Schlafbereich und angrenzendem Badezimmer. Von dieser Seite aus ging es auch ins Dachgeschoss, wo Vera ihrer Leidenschaft nachging. Sie fotografierte und hatte dort ihre Bilder, die Dunkelkammer und ihren Computer mit dem wahnsinnigen Programm, das es ihr ermöglichte, aus einem ganz normalen Foto etwas sehr Individuelles zu zaubern.

Im linken Flügel befanden sich die Zimmer von Nick und Tom mit Bad sowie zwei Gästezimmer, die ebenfalls ein eigenes Badezimmer vorweisen konnten. Doro hatte sich schon vor einiger Zeit eine Wohnung in Hamburgs City gesucht, um dort mit ihrem Freund Hannes in trauter Zweisamkeit zusammen zu sein. An manchen Wochenenden, wenn der Club geöffnet und Doros Küche bereits geschlossen war, kamen auch die zwei, um in eine verwegene Rolle zu schlüpfen, doch sie spielten ausschließlich mit sich und nie mit anderen und waren einander gleichgestellt.  

Sie teilten also Wohnraum und Geschäftliches. Vera verzierte den Club mit ihren Bildern, die mythische Landschaften oder Menschen mit hübschen Masken, oft nur leicht bekleidet und in erotischen Posen, zeigten.

Paul kümmerte sich um den lästigen Bürokram und wenn der Club geöffnet war, um die Betreuung und Bewirtung der Gäste. 

Nick und Tom dagegen kümmerten sich als erfahrene Meister um die Bedürfnisse der Gäste. Sie führten Sessions durch, in denen sie willige Sklavinnen im Showroom bespielten. Sie leiteten unerfahrene Dominante in die richtigen Bahnen und ebenso den devoten Part, denn es war wichtig, dass beide Seiten wussten, worauf es ankam. Dass der eine wie auch der andere Teil die Grenzen kennen musste, die es nicht zu überschreiten galt. Pauls Onkel hatte ihnen immer und immer wieder eingehämmert, auf die kleinste Gefühlsregung, auf die noch so unbedeutende Körperregung zu achten. Nichts sollte ihnen entgehen, um ein Spiel zu einem für beide Seiten erfolgreichen Ende zu bringen.


 „Hi Tom. Ich bin gerade mit Paul im Büro. Wir wollten besprechen, wann wir nach dem blöden Wasserrohrbruch wieder öffnen können. Der Keller ist immer noch nass und die Trocknungsgeräte laufen auf Hochtouren. Wir waren gerade unten. Das dauert bestimmt noch eine Woche. Und diesen Dildofee-Abend mit Veras Freundin Desiree, bei dem sich so viele angemeldet haben, müssen wir auch stornieren. Das ist so ärgerlich. Hier oben ist nicht ausreichend Platz dafür. Gott sei Dank sind da unten nur Steinwände und wir müssen nicht auch noch tapezieren…“ Tom unterbrach seinen Bruder. 

„Ich weiß ja, aber ich hab ein ganz anderes Problem. Erinnerst du dich an Ben, meinen Kollegen auf dem Revier? Ich hab dir von ihm erzählt, weil er sich für die Villa als Mitglied bewerben will. Er hat mich aufs Revier bestellt. Hier ist eine Frau, die heute aufgegriffen wurde. Sie weigert sich, irgendwelche Angaben zu machen. Sie ist die Verzweiflung in Person. Kein Wunder, denn sie ist geschlagen worden. Ich habe zwar nur ihr Gesicht gesehen, kann mir aber vorstellen, dass am Körper noch viel mehr davon zu finden ist. Sie weigert sich ins Krankenhaus zu gehen und wäre fast wieder abgehauen, als meine Kollegen sie hinbringen wollten. Ben hat mich um Hilfe gebeten, weil er dachte, ich hätte einen Blick und das Einfühlungsvermögen für solch eine Situation. Und da dachte er – und ich auch –, ich könnte sie vielleicht in die Villa bringen und dich bitten, dich um sie zu kümmern. Was meinst du?“

„Warte, ich rede mit Paul.“

Am anderen Ende war ein Stimmengemurmel zu hören. Eine kurze Stille folgte.

„Okay. Er ist einverstanden. Und du meinst, dass sie wirklich nicht ins Krankenhaus muss?“

„Nein. Du hättest mal sehen sollen, wie sie losgeprescht ist, als wir ihr erzählt haben, dass sie ins Krankenhaus soll. Ich denke, wenn da noch mehr Verletzungen sind, dann sind die erst mal zweitrangig. Aber das musst du dann entscheiden. Was mir viel mehr Sorgen macht, ist ihr psychischer Zustand. Sie ist total neben der Spur. Da hat jemand ganze Arbeit geleistet, um sie zu zerstören.“

„Ich hab auf Lautsprecher. Paul hat alles mitgehört. Bring sie her, Tom. Wir machen ein Zimmer für sie fertig. Der Betrieb ist ja sowieso fürs Erste auf Eis gelegt. Und wenn sie den Keller nicht betritt, weist nichts auf den Club hin. Schließlich kennen wir ja ihre Vergangenheit nicht. Sie ist sicher in keiner SM-Beziehung und ist von einem brutalen Monster wahllos niedergeprügelt worden. Das würde auch erklären, warum sie nicht in ein öffentliches Krankenhaus will. Aus Angst, dass das Schwein sie da finden wird. Also, Bruderherz, mach dich auf den Weg. Wir erwarten dich.“

„Das wollte ich hören. Ich kann ihren jämmerlichen Anblick nämlich nicht mehr ertragen. Ich hab schon Tränen in den Augen, wenn ich sie da so zusammengekauert sitzen sehe. Ich fahre gleich los.“

Natürlich verfügte auch Tom als langjähriges Mitglied im exklusiven Club der Villa über die Erfahrungen eines guten Masters. Er konnte in den Gesten, der Körperhaltung und den Augen der Sklavinnen lesen und er wusste immer, wie weit er gehen durfte, ohne sie zu überfordern. Denn das war ein schmaler Grat bei diesem Spiel. Der dominante wie auch der devote Part konnten dabei verletzt werden. Wichtig waren Vertrauen und Offenheit.  Darüber zu reden, wie weit es gehen darf. Dieses Wissen brauchte er jetzt, um dieses Häufchen Elend davon zu überzeugen, mit ihm zu kommen.

Sobald sie merkte, dass jemand sich näherte, zuckte sie merklich zusammen und schien sich noch mehr in sich zurückzuziehen. War das überhaupt möglich? 

Tom blieb so ruhig wie möglich und legte eine besondere Sanftheit in seine Stimme.

„Kleine Lady. Sie können nicht hierbleiben. Ich habe einen geeigneten Aufenthaltsort gefunden, wo Sie sich ausruhen und erholen können. Niemand sonst wird wissen, wo Sie sind. Es ist vollkommen sicher. Also. Bitte. Würden Sie mit mir kommen?“

Langsam und äußerst vorsichtig blickte sie auf und sah ihn mit ihren tiefblauen Augen an. Diese wunderschönen Augen wären imstande, einen tiefen Ausdruck von Leidenschaft auszustrahlen, wenn sie nicht von dieser panischen Angst erfasst wären. Es tat Tom in der Seele weh, sie so sehen zu müssen. Eine Sünde, solch eine Frau so zu zerstören. Er schätzte sie auf Mitte dreißig, und sie besaß alles, was er sich an einer Gespielin wünschte. Und Nick erst! Genau sein Geschmack, wenn er sie nur unter anderen Umständen kennenlernen würde. 

Ihre vollen Brüste drückten sich an ihren engen Rollkragenpullover, der nicht ganz bis zu ihrem wohlgeformten, runden Po reichte. Eine kleine Wölbung des Bauches ließ darauf schließen, dass sie eine vollendete Rubensfigur besaß, die sich wundervoll bearbeiten ließe. Ihre langen Haare flossen in leichten Wellen ihre Schultern entlang und reichten bis zur Mitte ihres Rückens. Im Licht der Sonne, das aus einem der Fenster in diesem Augenblick auf sie fiel, glänzten sie in einem atemberaubenden Rot, das in einem unglaublichen Kontrast zu dem tiefen Blau ihrer Augen stand. Ihr süßer kleiner Mund passte hervorragend in das schmale Gesicht und wäre sicherlich in der Lage, herausfordernde Spitzfindigkeiten auszustoßen, die man in angemessener Weise bestrafen konnte. Der Anblick ihrer hellen, zarten Haut wurde nur durch den unschönen blauen Fleck auf ihrer Wange zerstört. 

Wie gesagt, eine Sünde. 

Sie sagte kein Wort. Nachdem sie ihn eine Weile angesehen hatte, änderte sich etwas im Ausdruck ihrer Augen. Er schien die richtige Tonart getroffen zu haben. Ein leichtes Nicken ihres Kopfes gab ihm die Bestätigung. Sie erhob sich leicht wankend und er war sofort bei ihr und stützte sie an der Taille, damit sie nicht Gefahr lief umzufallen. Sie kam ihm so klein vor, obwohl er sie auf ungefähr ein Meter achtundsechzig schätzte. Das ließ sie in seinen Augen noch zerbrechlicher wirken, als er sie festhielt. 

So waren sie nun unterwegs zur Villa. Dort würde dann die Untersuchung stattfinden können. Die unbekannte Frau könnte eine Weile dortbleiben, ein wenig Vertrauen aufbauen und über ihr Schicksal erzählen. Wenn nicht dort, wo Nick und die anderen, auf die Tom sich zu hundert Prozent verlassen konnte, sich um sie kümmern würden, wo dann. 


Die Fahrt dauerte nur etwa eine halbe Stunde, aus der Stadt hinaus bis zum Anwesen seiner Freunde. Es fühlte sich mindestens doppelt so lange an. Tom sah die Frau aus den Augenwinkeln an. Sie saß neben ihm und rührte sich nicht einen Millimeter, als wäre sie darauf abgerichtet. War sie in einer SM-Beziehung, die nur auf Strafen abzielte? Solche Beziehungen gab es durchaus, alles war möglich. Aber solche, in der ein Dom in der reinen Unterwerfung und dem Schmerz seiner Sub Erfüllung fand und nicht auf ihre Bedürfnisse einging, waren in den Regeln der Villa nicht eingeschlossen. Konnten sie also diesem armen Wurm neben ihm helfen? Was hatte sie erlebt?


Jessi hatte Angst. Allerdings nicht mehr so große wie zuvor, als sie ins Krankenhaus gebracht werden sollte. Dort würde er sie ausfindig machen. Aber jetzt wusste sie nicht, wo dieser Mann, den die Polizisten angerufen hatten, sie hinbringen würde. 

So wie er aussah, mit einer Glatze, die jetzt allerdings von einer schwarzen Wollmütze bedeckt war, Linien von Haaren am Kinn, die wohl mit Absicht in diese Form rasiert worden waren, groß wie ein Schrank und genauso breit, war er bestimmt ein verdeckter Ermittler, der sonst nur Undercover arbeitete und gerade Zeit hatte. Doch aus irgendeinem Grund wusste sie, dass sie bei ihm fürs Erste sicher war, um sich sammeln und etwas ausruhen zu können. Seine Augen, die sie so vertrauenerweckend ansahen, hatten ihr das vermittelt.

Er hatte gesagt, er würde sie an einen sicheren Ort bringen, von dem niemand anderes etwas wüsste. Irgendwie glaubte sie ihm und atmete allmählich etwas ruhiger. Die Straße, in die er jetzt bog, kam ihr sehr bekannt vor. Unmerklich glitt sie langsam tiefer in ihren Sitz und bedeckte ihr Gesicht mit der Hand, um von außen nicht erkannt zu werden.

Sie fuhren gerade an dem Haus vorbei, aus dem sie entkommen war. Übelkeit kroch ihr die Speiseröhre hoch. Doch nach außen hin ließ sie sich keine weitere Regung anmerken. Das hatte sie in den letzten drei Jahren gelernt. Je weniger Beachtung er ihr schenkte, desto weniger Schläge waren zu erwarten. Und in der letzten Woche hatte er sie nicht beachtet. Er war viel in der Firma und abends zu müde, um sich an ihrem Körper auszutoben. Die alten Striemen waren zwar noch zu sehen, verblassten aber langsam. Das Handgelenk, das er ihr umgeknickt hatte, musste sie ignorieren. So hatte sie die nötige Kraft. Jetzt oder nie!


Sie hatte ihre Flucht gut durchdacht. Nachdem das Monster am Vormittag das Haus verlassen hatte, trat sie von ihrem Zimmer aus auf den angrenzenden Balkon. Dort sah sie den Lieferwagen, der die Wäsche abholte, pünktlich wie immer. Kurz zuvor war sie im Bad gewesen und hatte sich den Chip, den er ihr wie einem räudigen Köter verpasst hatte, mit ihrer Nagelfeile aus der Schulter gestochen. Es tat höllisch weh, doch nicht ein Laut kam über ihre Lippen. Nur die Tränen konnte sie nicht zurückhalten. Sie wartete, bis es etwas weniger blutete und bedeckte die Wunde mit einem großen Pflaster. Den Chip warf sie in die Toilette und spülte dreimal nach, damit er auch wirklich in der Kanalisation verschwand. Dann zog sie sich einen Pulli über und ging hinaus auf den Flur. Es war Mittag und niemand schenkte ihr große Beachtung. Er war in der Firma und seine Bodyguards, die sie Pitbulls nannte und die auf sie aufpassten, ließen ihr in seiner Abwesenheit gewisse Freiheiten auf dem Grundstück. Sie durfte den Trainingsraum benutzen, wo sie sich körperlich einigermaßen fit hielt, und im Garten spazieren gehen, wo ihr die zwei Schäferhunde, die sie regelmäßig mit Leckerlis versorgte, Gesellschaft leisteten. Natürlich sollten die beiden scharf sein und das Grundstück bewachen, doch ihr würden sie nie etwas tun.

Niemand beachtete Jessi, als sie in die Küche schlenderte. Dort war die Hintertür offen und der Fahrer des Lieferwagens beförderte die schmutzige Wäsche der letzten Woche in Säcken hinein. Ein Blick nach hinten: Niemand war zu sehen. Der Fahrer ging ins Esszimmer, um sich eine Unterschrift für die abgeholte Wäsche geben zu lassen. Jessi huschte hinein und versteckte sich zwischen den Säcken. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, sie hörte nur noch das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Plötzlich erfasste sie Panik. Das Atmen fiel ihr schwer und sie fühlte sich, als würden ihre Lungen von einer Faust zusammengepresst und ließen keine Luft hinein. Es brannte ihr in der Brust und sie drohte ohnmächtig zu werden. Denn sie wusste, wenn diese Flucht misslang, war sie tot.

Der Fahrer kam, schloss die Laderaumtür und fuhr los. Ganz unspektakulär. Jessi atmete gegen ihre Panikattacke an, brachte sich wieder unter Kontrolle.

Eine Weile später hielt das Auto, die Tür wurde erneut geöffnet, um noch mehr Wäsche aufzunehmen. Jessi blinzelte in das Licht, brauchte einen Moment, um aus dem dunklen Laderaum zu kriechen und ungesehen auszusteigen. Dann rannte sie, rannte und rannte, ein paar Straßen weiter, bis sie keine Luft mehr bekam. Und fiel einfach um. Sie hatte ihren Körper unterschätzt. Zwar hatte sie sich in der letzten Zeit im hauseigenen Fitnessraum an den Geräten fit gehalten, doch das ungewohnte Rennen hatte ihre Konstitution überfordert.

Als sie wieder zu sich kam, waren über ihr Gesichter zu erkennen, die sie besorgt ansahen. Sie faselten irgendetwas von „Ruhe bewahren“ und „Polizei gerufen“. Und so war sie auf dem Revier und schließlich in diesem Auto gelandet.

Und nun wusste sie nicht, wohin der fremde Mann mit ihr fuhr. Aber alles war besser als die vergangenen drei Jahre, musste einfach besser sein. Trotzdem zwang sie sich zur Vorsicht. Nachdem sie unbemerkt an ihrem Zuhause vorbeigefahren war, nahm sie erneut ihre starre Haltung an und versuchte wieder unsichtbar zu werden. Nur nicht auffallen.


Tom war ihre veränderte Haltung sofort aufgefallen. Sie versuchte, sich vor irgendetwas noch mehr zu verbergen, als sie es ohnehin schon tat. Aber so viel sie auch versuchte, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen – die Anspannung, die sie ausstrahlte, hätte eine Glühlampe erhellen können. Er versuchte gar nicht erst, ihr ein Gespräch aufzudrängen. Viel zu wenig Zeit auf der kurzen Fahrt und der falsche Ort, um genügend auf sie eingehen zu können. Er beneidete Nick nicht um die Aufgabe, die er ihm überlassen wollte. Doch er wusste auch, dass dieses bemitleidenswerte Geschöpf bei seinem Bruder, Vera und Paul bestens aufgehoben war. Und außerdem würden sie tatkräftige Unterstützung von Pauls Schwester Doro bekommen. Sie hatte schon immer ein Herz für gestrandete Kreaturen und früher ständig Freundinnen bei sich aufgenommen, die zu Hause Probleme hatten.

Ihr letztes Projekt allerdings war ein kleiner streunender Hund, den sie halb verhungert von der Straße aufgelesen hatte. Kurzerhand hatte sie ihn mit in die Villa gebracht. In ihrer Küche wurde er mit den besten Delikatessen verwöhnt. Das war jetzt ein halbes Jahr her und in dieser Zeit hatte er sich mit seinem flauschigen Fell und den runden braunen Kulleraugen in alle Herzen gestohlen. Niemand war vor seinem rührenden Blick sicher. Er wickelte alle um den Finger, egal wie dominant sie waren. Sie hatten ihm den Namen Dildy verpasst, weil er, sobald er in eines der Clubzimmer gelangt war, sich grundsätzlich einen Dildo schnappte und ihn voller Stolz wie ein Beutestück in den Garten beförderte und dort für schlechte Zeiten vergrub. Tom musste schmunzeln bei der Erinnerung an den entsetzten Ausdruck des Gärtners, der im letzten Jahr den parkähnlichen Garten der Villa auf Vordermann gebracht und mindestens sechs Dildos ans Licht befördert hatte. Und dabei hatte er sich bestimmt seine Gedanken zu den Bewohnern der Villa gemacht, denn niemand, der nicht eingeweiht war, wusste von der Existenz des Clubs. 

Tom fuhr immer weiter, heraus aus der Stadt, bis sie am Tor des Anwesens standen. Ohne dass Tom den Zahlencode eingab, glitt das Tor auf. Sie wurden erwartet und durch die Videoüberwachung wussten alle, dass sie angekommen waren. Er fuhr weiter zum Haus. Nick stand vor der Tür und öffnete die Beifahrertür, sobald das Auto stand.

„Hallo. Ich bin Nick. Komm ins Haus und ruh dich aus, Kleines.“ Bei dieser vertrauensvollen Anrede und der warmen Stimmlage wurde einfach jede schwach. Auch der arme Wurm ließ sich ohne Widerstand aus dem Auto ziehen.

Tom und Nick hatten ihre Ausbildung in der Villa zusammen begonnen. Pauls Onkel hatte sie unter seine Fittiche genommen und ihnen immer wieder eingebläut, wie wichtig es war, körperliche Reaktionen zu kennen, die Atmung der Sub zu beachten, die kleinste Veränderung nicht zu unterschätzen. Sie hatten jahrelang Erfahrung gesammelt.

Nick hatte sich bei seiner Ausbildung als besonders einfühlsam erwiesen, sicherlich auch wegen seiner Erfahrung als Notarzt.

Er führte die Frau ins Haus und Tom konnte den braunen Augen seines Bruders ansehen, dass diese Frau genau sein Idealbild war. Nick musterte sie von oben bis unten und wäre sie nicht ein Häufchen Elend gewesen, hätte er sich die Lippen geleckt und sie geradewegs auf den nächsten Strafbock bugsiert. 

Nick führte sie in eines der Gästezimmer. Auf dem großen Pfostenbett lagen ein T-Shirt, eine Jogginghose und ein Bademantel. Beides gab er ihr in die Hand und lenkte sie zum angrenzenden Badezimmer.

„Ich bitte dich, deine Sachen auszuziehen. Mach dich etwas frisch. Alles, was du brauchst, findest du im Schrank über dem Waschbecken. Dann zieh bitte das T-Shirt, die Hose und den Bademantel an. Wenn du wieder herauskommst, werde ich dich untersuchen. Ich bin Arzt.“ Um seine Aussage zu unterstreichen, zeigte er auf seinen Arztkoffer, der neben dem Bett stand. Sie sah ihn völlig unbeteiligt an, doch irgendetwas schien hinter diesem Blick noch zu existieren, das sie nicht ganz verbergen konnte.

Jessi nahm die Sachen, bewegte sich langsam ins Bad und schloss die Tür. Kein Schlüssel. Na gut. Sie musste kurz überlegen. War es gut, hier zu sein? War sie hier nicht wieder eingesperrt? Aber diese Männer waren Polizist und Arzt, das war doch richtig? Und der eine sah noch besser aus als der andere. Und ihre Augen hatten denselben gütigen, liebevollen Ausdruck, der sagte: „Keine Angst, wir werden dir helfen.“ Aber gerade der Arzt hätte ihr zu einer anderen Zeit gefährlich werden können. Doch jetzt musste sie sich auf Wichtigeres konzentrieren. Sie musste so fit wie möglich werden, um so weit wie möglich von ihrem Monster wegzukommen.

Würden sie ihr helfen können? So viele Fragen, ihr schwirrte der Kopf. Sie musste sich zusammenreißen. Sie öffnete die Tür des Schrankes und fand Handtücher, Zahnbürste und Zahncreme. Sie putzte sich die Zähne, dann zog sie sich aus und warf ihre Kleidung in eine Ecke. Sie benutzte die Toilette und ging unter die Dusche. Nur kurz, dachte sie, und der warme Wasserstrahl tat so gut. Doch dann brannte ihre Haut und sie wurde sich des Pflasters auf ihrer Schulter bewusst und ohne an die Folgen zu denken riss sie daran herum, bis sie es blutbeschmiert in den Fingern hielt. 

Oh. Großer Fehler. Die Wunde blutete und hörte nicht mehr auf. Shit!

Sie stellte die Dusche ab und drückte das weiße Handtuch auf die Wunde. 

Die warme Stimme des Arztes klang draußen vor der Tür: „Kleines, ist alles in Ordnung? Du bist schon so lange da drin.“

Sie antwortete nicht. Panisch überdachte sie ihre Situation. Sie war nackt. Das Handtuch war mehr rot als weiß und die Tür war nicht abgeschlossen. Was sollte sie tun? 

Bademantel, schoss es ihr durch den Kopf. Sie stolperte aus der Dusche, um an das begehrte Kleidungsstück zu gelangen. In dem Moment ging die Tür auf und sie fiel direkt in Nicks Arme.

Seine Stärke hinderte sie am Fallen. Sofort blickte sie auf den Boden. Nur nicht provozieren, nur nicht auffallen. Doch das nützte gar nichts, denn sie besaß bereits seine vollkommene Aufmerksamkeit.

Er nahm ihr das Handtuch aus der Hand und betrachtete die Wunde.  

„Woher hast du diese Verletzung?“ fragte er etwas zu laut. Keine Antwort. Nur Panik in ihren Augen. Nick musste einmal durchatmen, um seine Selbstdisziplin wieder zu erlangen, dann legte er einen besänftigenden Ton in seine Stimme und fuhr fort. 

„Na gut. Lehn dich ans Waschbecken und halt dich am Rand fest. Ich will mir das genauer ansehen.“ Er langte über sie, öffnete den Schrank und zog ein neues Handtuch heraus, das er ihr umlegte. Jetzt stand er hinter ihr und tastete die Verletzung vorsichtig ab. 

„Ich werde das säubern und neu verbinden. Es muss nicht genäht werden, aber wir müssen aufpassen, dass es sich nicht entzündet. Ich hole meine Tasche. Kannst du hier stehen bleiben?“ Seine Stimme gab ihr Wärme und es fühlte sich gut an, dass jemand in dieser Art mit ihr sprach. Wie schon so lange nicht mehr. Sie nickte nur zustimmend. 

Nick beeilte sich. Er hatte Angst, sie würde bald zusammenbrechen. Er hatte einen kurzen Blick auf ihren wundervollen Körper werfen können. Er war übersät von Striemen, die von unkontrolliert ausgeführten Schlägen zeugten. Überall waren sie zu sehen, als hätte jemand seine ganze Wut an ihr ausgetobt.

Als er zurück war, bemerkte er sofort das Zittern in ihren Armen. Er musste sich beeilen. 

„Alles wird gut, Kleines. Ich desinfiziere jetzt die Stelle, es brennt etwas. Und nun das Pflaster. Okay, das war alles.“ Er nahm das Handtuch weg und wickelte sie in den Bademantel. Froh, dass er sie nun fest im Griff hatte, beförderte er sie ohne weitere Worte zum Bett. Vorsichtig setzte er sie ab. Er nahm ein Glas mit Apfelsaft vom Nachttisch und eine Packung Tabletten aus seiner Tasche, drückte eine heraus und reichte es ihr beides. 

„Die Tablette hilft dir beim Einschlafen, wenn du möchtest?“ Sie nickte, steckte sich das Medikament in den Mund und trank dann das Glas mit einem Schluck leer.

Er nahm ihre Beine hoch und drehte sie ganz aufs Bett, dann deckte er sie zu.

„Und nun schlaf und morgen werden wir feststellen, wie sich deine Stimme anhört.“  

Zu ihrem Erstaunen beugte er sich zu ihr herunter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann verließ er das Zimmer. Eine schwere Müdigkeit überkam sie und sie konnte ihre Lider nicht mehr offenhalten.


Nick ging in die Bibliothek, in der sich alle Bewohner des Hauses befanden. Vera saß auf Pauls Schoß, Doro, ihr Freund Hannes und Tom saßen auf dem Sofa vor dem brennenden Kamin.

Als Nick eintrat, kam sein Bruder nervös auf ihn zu. „Wie geht es ihr? Hat sie was gesagt?“

Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Seine sonst so beherrschte Art war vollkommen ins Wanken geraten und das konnten auch alle in seiner Stimme hören, als er zu erzählen begann.

„Nein, sie hat keinen Ton von sich gegeben. Noch nicht mal ein Schluchzen, als ich ihr eine Wunde an der Schulter versorgt habe. Komische Sache. Da wurde irgendetwas herausgeschnitten. Oder besser gesagt herausgestochen, so wie es aussieht. Und Tom, du hattest recht. Ihr ganzer Körper ist übersät mit Striemen, von oben bis unten. Das war kein verantwortungsvoller Master, sondern ein Monster. Die Wunden sind schon ein paar Tage alt, also könnte sie schon länger unterwegs sein. Wer weiß. Ich hab ihr ein Schlafmittel gegeben. Wenn sie schläft, sehe ich sie mir nochmal genauer an. Bevor ihr Bedenken darüber äußern wollt, dass es ohne ihre Einwilligung geschieht, gebe ich euch Recht. Aber vorhin ist sie mir fast zusammengeklappt und ich übernehme die volle Verantwortung dafür, dass es im Moment die beste Entscheidung ist, sie so zu untersuchen. Gott weiß, was ihr noch alles angetan wurde. Wenn sie wenigstens ein Wort sprechen würde. Es wird dauern, bis sie sich uns öffnet. Das wird ein hartes Stück Arbeit.“

Er strich sich mit einer Hand durch sein Haar. Hannes reichte ihm ein Glas Scotch und Nick ließ es mit einem Schluck die Kehle herunterlaufen. Alle sahen ihn betroffen an. Vera hatte Tränen in den Augen und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Paul strich ihr behutsam mit der Hand den Rücken entlang. „Sch. Das bekommen wir schon wieder hin. Jetzt lass mich mit Nick noch einmal nach ihr sehen.“ Neben Nick hatte Paul als ausgebildeter Heilpraktiker ebenfalls die notwendigen Kenntnisse, um den körperlichen Zustand ihres Gastes einzuschätzen.

Er stand zusammen mit seiner Frau auf, gab ihr einen liebevollen Kuss auf den Mund und setzte sie zurück in den Sessel.

Sie gingen in das Gästezimmer. Die Frau schlief und atmete ruhig. Nick zog die Bett-decke zurück und öffnete den Bademantel. Sie beugten sich über sie und sahen sie gründlich von oben bis unten an. Auch an der Vorderseite waren die Striemen. Das Schwein hatte vor nichts Halt gemacht. Und dann fielen ihre Blicke gleichzeitig auf die Scham der Frau. Was sie da sahen, wollten sie nicht glauben. Sie war stoppelig von nachwachsenden Haaren und übersät von Schnitten, die als feine Narben den Haarwuchs unterbrachen. Nick zog ihre Schenkel etwas auseinander und Narben waren auch auf der Innenseite der Beine zu sehen. Er zog die Schamlippen vorsichtig auseinander und gab einen erleichterten Laut von sich. 

„Gott sei Dank ist hier alles heil. Ich hatte schon befürchtet, sie wäre auch beschnitten worden. Hat sie sich wohl selbst Schmerzen zugeführt? Obwohl das eine ungewöhnliche Stelle zum Ritzen ist. Oder hat das Schwein seine Arbeit hier fortgesetzt?“ 

Paul konnte nur mit dem Kopf schütteln. „Lass sie schlafen. Wir müssen uns besprechen.“

Nick deckte die Frau wieder zu und sie verließen das Zimmer.

Sie gingen zurück in die Bibliothek. Das Flackern des Feuers im Kamin brachte ihnen Wärme entgegen, doch das war nebensächlich, denn sie sahen die besorgten Blicke der Anderen. Doro brach als Erste die Stille.

„Also raus mit der Sprache. Wie schlimm ist es?“

Sie berichteten abwechselnd von ihren Beobachtungen und Vermutungen.

Vera entwich ein Schluchzen. Paul war mit wenigen Schritten bei ihr, zog sie vom Sessel hoch und setzte sich mit ihr auf dem Schoß darauf zurück. Er zog sie in eine feste, beruhigende Umarmung.  

Vera war völlig aufgelöst und alle wussten, dass sie an ihre Mutter dachte, die, bevor sie ihren Vater kennengelernt hatte, einem Mann hörig war, der sie jahrelang grün und blau geschlagen hatte. Ihre Stimme klang voller Mitleid.

„Diese arme Frau steht ganz am Anfang und ich hoffe nur, dass sie sich helfen lässt, sonst ist sie für immer verloren.“

 Pauls starke Arme legten sich wie ein Schutzschild um sie.

„Wir werden ihr helfen, Liebes. Wir schaffen das, alle zusammen. Und sie schafft es auch.“ Seine Worte beruhigten sie und ließen das Zittern langsam verebben. Sie drehte sich in seine Umarmung und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. 

„Verdammt, ich kann hier nicht länger tatenlos rumstehen. Ich werde die Datenbank nach Vermisstenanzeigen durchforsten. Wenn ich irgendetwas finde, melde ich mich.“ Mit diesen Worten und einem wissenden Blick in den Augen seines Bruders verabschiedete Tom sich. Nick dachte, er hätte fast Tränen in seinen Augen gesehen. Er selbst war genauso aufgewühlt wie alle anderen hier. Eine gesunde SM-Beziehung hatte nichts mit solch einer brutalen Misshandlung zu tun, wie sie dieses arme Geschöpf erleiden musste.

Paul stand auf und zog seine Frau neben sich. 

„Nick, kannst du dir ein paar Tage freinehmen? Es wäre besser, wenn sie von Anfang an eine feste Bezugsperson hat, und anscheinend hatte Tom ja bereits die Idee, dass du das sein solltest.“

„Ja, ich weiß. Ich kläre das gleich.“ Nick nahm sein Handy und wählte die Nummer des Krankenhauses, in dem er arbeitete. Nach einem kurzen Gespräch legte er wieder auf. 

„Alles klar. Ich hab eine Woche.“

„Gut. Ich denke, wir sollten uns jetzt alle ein bisschen Ruhe gönnen. Die nächsten Tage werden anstrengend genug sein.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Paul und zog Vera mit sich und auch alle anderen verließen die Bibliothek.

Nick ging noch einmal zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. Er strich ihr ein paar einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er hatte oft Opfer zu behandeln, die als Notfälle in die Klinik kamen. Aber so wie jetzt hatte er sich noch nie gefühlt. Sein Beschützerinstinkt war geweckt wie nie zuvor. Das Schicksal dieses armen Wurmes ging ihm unter die Haut. Es war aber nicht nur Mitleid, was er für diese gequälte Frau empfand. Ihre Erscheinung hatte ihn trotz der unpassenden Situation, in der erotische Gedanken sicher keinen Platz hatten, angemacht. Welch eine Verschwendung, solch einen Körper so zu misshandeln. Er verspürte Wut und den dringenden Wunsch, diesen Bastard, der ihr das angetan hatte, mit seinen eigenen Händen erbarmungslos zu quälen.

„Wir werden dir helfen. Du bist nicht mehr allein, meine Schöne“, sagte er mit sanfter, warmer Stimme, während er vorsichtig über ihre Wange streichelte. Sie rekelte sich leicht unter seiner Berührung und ihr entglitt ein Seufzen.

„Bis morgen.“ Nick stand auf und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie würde lernen, Berührungen zu akzeptieren, die ihr keine Schmerzen zufügten. Er verließ das Zimmer und begab sich selbst ins Bett.

2

Jessi sah ihren Vater vor sich stehen. Er lächelte sie an. Dann ging er einfach, ohne sich zu verabschieden. Sie rief nach ihm, doch er entfernte sich immer weiter, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Wut kam in ihr hoch, dass er sie so einfach alleine ließ. Dann sah sie ihn, Walter, die rechte Hand ihres Vaters in der Firma. Er war wie ein Onkel für sie gewesen. Aber jetzt nicht mehr. Er erhob seine Hand, der Gürtel darin zischte auf sie nieder.

Sie zuckte heftig zusammen und wachte auf. Kein Wort war trotz des Alptraumes, der sie immer wieder plagte, über ihre Lippen gekommen. Aber sie war schweißgebadet, ihre Haare klebten an ihrer Stirn. Sie sah sich um. Wo war sie?

Ihre Gedanken mussten erst klar werden. Es dauerte einen Moment.

Der Mann auf dem Revier, war er Polizist? Er hatte sie hierhergebracht. Und der andere Mann war Arzt, genau. Er hatte beruhigend auf sie eingeredet und sie liebevoll gehalten, als sie drohte wegzusacken. Sie wusste jetzt, wo sie war. Dieses Landhaus war nur etwa zwanzig Minuten von ihrem Zuhause entfernt. Sie hatte sich den Weg gemerkt. Wie erschreckend, so nah dran zu sein. Doch er konnte sie nicht finden. Sie hatte den Chip entfernt, den er ihr schmerzvoll verpasst hatte und mit dem er sie hätte orten können. Niemand wusste, wo sie war. Der Mann von gestern hatte ihr versichert, dass sie hier sicher sein würde. 

Jessi blickte sich um. Sie lag in einem großen Pfostenbett aus dunklem Holz. Die Wände waren cremefarben gestrichen. Weinrote Gardinen zierten die bodentiefen Fenster. Sie wusste nicht, wie spät es war, aber das Licht von draußen tauchte den Raum in rote Helligkeit. Gegenüber dem Bett zwischen zwei Türen stand ein großer Schrank in demselben Holz wie das Bett, daneben ein Sideboard. 

Jessi dachte gerade darüber nach, wie gut sie trotz des Alptraumes geschlafen hatte und dass sie sich hier gewiss in Sicherheit befand, als sie von einem komischen Geräusch vor der Tür erschrak. Die Tür öffnete sich und ein riesiges Haarknäuel lief unbeirrt aufs Bett zu und sprang darauf. Eine feuchte Nasenspitze beschnupperte sie und eine raue, nasse Zunge schleckte ihr quer durchs Gesicht. 

„Igitt, du Ferkel, lass das!“ Jessi war etwas überrumpelt, aber ihre Stimme klang nicht ängstlich, sondern eher belustigt. Sie zog das Riesen-Haarknäuel am Halsband von ihrem Gesicht weg. Es hatte wahnsinnigen Mundgeruch.

Sie hatte nur Augen für den Hund und beachtete nicht den Mann, der ebenfalls im Zimmer stand.

Nick sah sich die Szene erleichtert an. Er wusste einfach, dass Dildy sie knacken würde. Keiner, der nicht gerade Panik vor Hunden hatte, konnte sich diesem charmanten Wesen entziehen. Das hatte bisher immer funktioniert.

„So, du hast also eine Stimme und kannst sie sogar benutzen. Das ist gut zu wissen. Dann können wir ja miteinander reden.“ Seine Stimme klang genauso warm und sanft wie gestern, doch sie fühlte sich erwischt.