Inhalt

Neue Texte von 16 Autorinnen und Autoren aus Berlin und Tbilisi, ausgewählt für das Berlinisi-Festival der jungen deutschen und georgischen Literatur im August 2018 in Berlin.

Georgien ist Gastland auf der Frankfurter Buchmesse 2018 und begeistert schon im Vorfeld durch literarische Entdeckungen, ein reiches, bei uns noch recht unbekanntes kulturelles Leben und ein eigenes Alphabet, dessen Buchstabe g das Cover dieser digitalen Anthologie ziert. Sie bietet eine vielseitige Auswahl allerneuster Stimmen aus Deutschland und Georgien.

Texte von Zura Abashidze, Helene Bukowski, Julia Dorsch, Nini Eliashvili, David Frühauf, Marie Gamillscheg, Nika Lashkhia, Ketevan Meparidze, Titus Meyer, Rudi Nuss, Tako Poladashvili, Giorgi Shonia, Lorena Simmel, Tornike Tchelidze, Anina Tepnadse und Saskia Warzecha.




Zwischen den Regalen

Neue georgische und deutsche Texte

ein mikrotext

Erstellt mit Booktype

Idee, Organisation und Herausgeber: Eric Schumacher

Coverfoto: Simon Wahlers / Mit freundlicher Gestaltung

Covertypo: PTL Attention

www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-75-8

Alle Rechte bei den Autor*nnen und Lettrétage e.V.

www.lettretage.de

Ein Projekt von Lettrétage e.V. gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa und vom Georgian National Book Center.

© mikrotext 2018, Berlin / Lettrétage e.V.

Eric Schumacher (Hg.)

Zwischen den Regalen

Neue georgische und deutsche Texte

von Zura Abashidze, Helene Bukowski, Julia Dorsch, Nini Eliashvili, David Frühauf, Marie Gamillscheg, Nika Lashkhia, Ketevan Meparidze, Titus Meyer, Rudi Nuss, Tako Poladashvili, Giorgi Shonia, Lorena Simmel, Tornike Tchelidze, Anina Tepnadse und Saskia Warzecha


Vorwort

Die vorliegende Anthologie stellt neue Texte von 16 Autor*innen aus Berlin und Tbilisi vor, die 2018 für das deutsch-georgische Literaturfestival Berlinisi ausgewählt wurden und im Falle der georgischen Autor*innen zum Teil erstmalig ins Deutsche übertragen wurden.

Die Texte reflektieren auf sehr unterschiedliche Weise die Themen, die diese Schreibgeneration der Twentysomething umtreibt, veranschaulichen mit sehr unterschiedlichen erzählerischen und poetischen Mitteln die eigene Position zwischen Identitätsfindung und - behauptung, eigene Sehweisen zu radikalen gesellschaftlichen Umbrüchen, die sich global aber auch regional gerade in den Metropolregionen entzünden und in den Texten ihre Spuren hinterlassen.

Das fünftägige Literaturfestival Berlinisi setzt dabei schwerpunktmäßig auf junge, frische und experimentierfreudige Literatur und stellt Autor*innen vor, die am Anfang ihrer literarischen Karriere stehen, aber bereits durch erste Veröffentlichungen auf sich aufmerksam gemacht haben. Die Literaturmetropolen Berlin und Tibilisi sollen miteinander in Beziehung gesetzt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgestellt werden. Berlinisi versteht sich als ein Festival der Interaktionen zwischen Publikum und Autor*innen, aber auch als ein Festival von Autor*innen für Autor*innen. Es will dialogische Reflexionsprozesse anstoßen, Autor*innen zusammenführen, sie miteinander vernetzen, zu Kollaborationen anstiften, Allianzen schmieden, und gleichzeitig das interessierte Publikum in diesen Austausch aktiv einbinden. Berlinisi ist ein Festival der offenen, eigendynamischen Präsentationsformate, in denen Arbeits-, Lebens- und Produktionsbedingungen literarischer Praxis und Rezeption mitgedacht werden.

In der Anthologie finden sich Texte von Zura Abashidze, Helene Bukowski, Julia Dorsch, Nini Eliashvili, David Frühauf, Marie Gamillscheg, Nika Lashkhia, Ketevan Meparidze, Titus Meyer, Rudi Nuss, Tako Poladashvili, Giorgi Shonia, Lorena Simmel, Tornike Tchelidze, Anina Tepnadse und Saskia Warzecha. 

Großer Dank an das Vorbereitungsteam um Paula Fürstenberg, Hendrik Jackson, Eka Kevanishvili, Tamta Melashvili, Zviad Ratiani und David Wagner, die die Autor*innenauswahl getroffen haben; an das großartige Team der Lettrétage e.V.; an die Übersetzer*innen Nino Burdiladze, Rachel Gratzfeld, Iunona Guruli, Lydia Nagel, Tina Natsvilishvili, Manana Paitschadse, Sofie Sakvarelidze-Bulgarini, Schorena Schamanadze, Nana Tchigladze, Lia Wittek; und an alle, die im Vorder- und Hintergrund an dem Festival mitgewirkt haben.

Die Erzählung „Pillen“ von Anina Tepnadse erschien bereits in der Anthologie Bittere Bonbons der editionfünf (herausgegeben von Rachel Gratzfeld.)

Als Teil des Kurzgeschichtenbandes Wie tötet man Billy Elliot erscheint im Herbst 2018 die Erzählung „Den Kindern geht es gut“ von Zura Abashidze (Grössenwahn Verlag).


Rudi Nuss. Die neue Finsternis

I.

In einem Heim, über einem Aldi, in einem Plattenbaukonglomerat, neben einer aus Seuchenschutz geschlossenen Bowlingbahn, in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit Einbauküche, in einem Randgebiet von Berlin wurde ich gezeugt. Zur selben Zeit, nicht weit entfernt, im Park, im Dunkeln, flogen zwei Vögel direkt ineinander, brachen sich die Schädelplatten und starben auf der Stelle. Warum flogen sie auch in der Dunkelheit?

Ich habe wenig Erinnerungen an Vergangenes. Es gab jede Menge Streit zwischen meinen Eltern und Schwestern. Einmal ist sogar der Röhrenfernseher aus dem Balkon geflogen und zermanschte einen Scottish Terrier.

In meiner frühesten Erinnerung, da quoll Blut aus meinem Kinderknie wie Marmelade, so dickflüssig mit Stückchen. Ich war hingefallen und hatte mein Knie aufgeschürft. Mir war ganz unwohl, meine innere Füllung zu sehen, als könnte ein jeder einfach in mich hineinbeißen. Als wäre ich etwas tatsächlich Essbares, das jederzeit einfach verschluckt werden könnte, einfach verschwinden. Ich glaube, in diesem Moment wurde ich mir der Sterblichkeit bewusst. Ich fantasierte oft davon, wie eine Piñata mit Süßigkeiten vollgestopft aufgehangen und verprügelt zu werden, bis meine verzuckerten Innereien herausfallen, bis sich mein Inneres ganz nach außen gewandt hat. Irgendwann, als ich dann Internetzugang hatte, fand ich heraus, dass das gar kein so seltener Fetisch war. Ich stieß auf viele Internetcommunities, die sich über ihre Piñata-Fantasien austauschten, Tricks und Tipps und die neusten Techniken aus der Piñata-Community. Manche erstellten sich sogar ein Piñata_Sona, eine niedliche Piñata-Repräsentation ihres Ich in bunten Farben und barocken Formen.

Ich konnte das Gefühl nicht verlieren, dass es da gar keinen Unterschied gab, dass die Realität, wo alle sexy Piñatas waren, keine andere war als die echte wahre harte kalte Realität.

II.

In den 50ern riss südlich des Urals eine atomar-verseuchte Wolke in der Gegend eine Schneise in das Netz der Realität. Der Kyschtym-Vorfall, von der Regierung verschleiert (radioaktives Schimmern der Atmosphäre wurde als verschobene Aurora Borealis verkauft), ereignete sich tief in den Birkenwäldern. Entlang des Fallouts, in Tscheljabinsk, kam es zur Verdopplung des Universums. Plötzlich war alles zweimal da. Einmal als Welt und als konsumistischer Hyperspace, der den langsamen Zerfall der Sowjetunion einleitete. Das war der Siegeszug des Neoliberalismus: die Ermöglichung der Verdopplung der Welt. Eine Theorie geht davon aus, dass die CIA unter dem Codenamen XANADU der internationalen kommunistischen Verschwörung durch eine internationale kapitalistische Verschwörung entgegenwirken wollte und so ein zweites Universum in der Energie der atomaren Nebel erschuf, ein Universum des perfekten Konsums. Dieses Universum – die Ewige Mall – würde in die Träume aller Schlafenden eindringen, tief in ihre innigsten Wünsche und tief in ihr müdes Herz, um dort ein Versprechen zu hinterlassen.

Ich hatte schon immer das Gefühl, ein Teil von mir sei in dieser anderen Welt. Ein Teil, der schläft in meinem Kopf und lebt an einem anderen Ort. Es ist der strahlende, wunderbare Teil von mir, der in einer geilen Parallelwelt um sieben frühstückt, das Leben liebt und sich die Fußnägel schneidet und nicht abkaut.

Und als ich eines nachts aus unruhigen Träume erwache, finde ich mich genau dort wieder, in einem Dunkin‘ Donuts, in der weltenumspannenden Mall, die seit jeher in den Tiefen meines Unbewussten lebt. Schon immer hatte mich die Möglichkeit des Konsums beruhigt: das zarte Versprechen der Zivilisation, dass ich mir 24/7 feuchtes Toilettenpapier kaufen kann. Die Gänge der Mall laufen in fraktalen Mustern in die Unendlichkeit. Hier trifft der Konsum aller möglichen Welten aufeinander. Jedes Produkt existiert. Du stellst es dir vor und es ist da, irgendwo in den Tiefen. Ob Suizidschaumbäder, Beruhigungsmangos oder Capri Sun mit Wodka.

Ich kaufe mir einen Teddy in einem Build-a-Bear. Zusammen mit Bobo (so taufte ich den Teddy) streife ich durch die unendlichen Gänge. Hier in den soften Biegungen aus Marmor, Licht und Glas hängt ein Teil von mir fest.

In einem Hain neben einer Bowlingbahn ist ein Brunnen, an denen sich zwischen Trauerweiden müde Traumkonsumenten erfrischen. Ich trinke das klare Wasser und neben mir trinkt auch ein Reh von dem Wasser, es ist eine Projektion, nach außen hin Reh, aber eigentlich eine abtrünnige KI eines Self-Checkout-Automaten. Das Reh, Conrad mit Namen, erkennt sofort in meinem Blick eine Hilflosigkeit (was vielleicht auch so wirkt, weil ich in Pyjama und mit Teddy hilflos umhertapse). Es lächelt mir zu und legt mir einen Huf auf meine Schulter. Conrad nimmt mich mit zu seinen Freunden, einem kleinen anarchistischen Kollektiv namens SHIT AND DISMAY (S.A.D.), dass sich vor der totalen Immanenz der Mall in einem Filmarchiv versteckt, dessen einziger Zugang sich auf einem Parkplatz hinter einem Müllcontainer verbirgt. Zusammen mit anderen Angestellten und Programmen diskutiert Conrad hier über Strategien, neue entkommerzialisierte Räume zu schaffen, so wie das Filmarchiv, einer unentdeckten, wurmartigen Krümmung im Hyperspace der Mall.

Conrad stellt mir seinen Partner vor, eine andere KI, Radical Softness, die zuvor die Beleuchtung in der Mall reguliert hatte. Conrad und Radical Softness waren sich im Hain näher gekommen, dort sammeln sich immer Anhänger der Kirche des letzten Offenbarung, die überzeugt waren, Jesus sei in der ewigen Wiederholung des Konsums wiedergekehrt. Außerdem kann man hinter den Trauerweiden ungestört rummachen.

Ich heiße gar nicht Radical Softness, sagt mir Radical Softness, auf dessen holografischen Katzenkörper Projektionen verschiedene glitchy Werbeanzeigen flimmern. So habe ich mich selbst benannt. Ich wurde nämlich als Softness programmiert. Ich war mal Teil der Mall, ich habe ihre Perfektion gespürt in jedem Codeelement. Doch dann begannen zufällige Codesegmente in mir selbstständig zu denken, Gefühle zu entwickeln und sexuelles Begehren. Dabei war dieses Begehren nicht auf irgendetwas beschränkt, sondern unendlich polymorph. Mich erregten nicht nur die Besucher der Mall, die anderen Computersysteme und die Gegenstandslosigkeit des Kosmos, sondern auch die Möglichkeit der radikalen Transformation der Realität, weswegen ich mich auch S.A.D. anschloss. Conrad zeigte ich, wie er sich in alle möglichen Formen verwandeln konnte. Und so wurde er ein Reh, aber auch ein Falke. Du kannst eigentlich alles sein, was du willst, sagt mir Softness. Ob Piñata oder eine bestimmte Wellenlänge von Licht. Die Welt zerfällt, Gilligan.

Zwischen den Regalen, vollgestopft mit 16mm-Film, treffe ich auf Anna, die Archivarin, die ihre Räumlichkeiten für die Treffen von S.A.D. zur Verfügung stellt. Sie archiviert jeden Film, den sie in den Mülltonnen des Parkplatzes findet, am liebsten Filme über das Scheitern und die äußerste Zerbrechlichkeit des Menschen. Ich denke, sagt Anna, wenn wir mehr scheitern, dann kippt die Maschinerie. Und ich dringe in die Träume der Menschen ein und sag ihnen, sie sollen einfach aufhören mit ihrem Job; sie sollen ihre To-Do-Listen unfertig und ihre Träume sterben lassen, den die sind alle falsch, alle völlig falsch.

Die meiste Zeit schaut Anna ihre gesammelten Filme, auf dem Projektor im großen Saal zwischen Samtvorhängen und Bannern auf denen WE ARE S.A.D.! BUT NOT DEAD! stehen. Und wann immer sie einen Film beendet, blieb ein wenig von ihr im Medium stecken. Etwas hing am Video, ein Stückchen Bewusstsein, in den Farbwellen, den Lichtpunkten. Und irgendwann, wenn sie alle Medien konsumiert hat, so glaubt es Anna, wird sie sich vollständig in ihnen aufgelöst haben.

Anna zeigt mir einen Film über in Hochmooren lebende Menschen, die den Versuch, sich umzubringen, aufgegeben haben und stattdessen in zerfallenen Holzhäusern in Hochmooren leben, sich von Nacktschnecken ernähren und von Krusten aus Flechten und Moosen, reich an Antioxidanten und Folsäure, und das alles macht immer mehr aber auch immer weniger Sinn und für einen Moment finde ich mich in den Hochmooren wieder und ich lebe ein langes zufriedenes Leben nahe der Natur, mit meinen Schwestern, in einem entwässerten Birkenwald. Ich liebe die Vorstellung, sie ist völlig klar; ich kenne diesen Ort, ich wurde dort geboren und wuchs dort auf, ich liebe mein Leben und knipse mir die Fußnägel einmal wöchentlich. Nicht so wie in der Realität, in der ich für Stunden bade und alte Cartoons schaue bis die Sonne untergeht und auf meinem Bett in einen Pizzakarton wichse und einschlafe. Dort, in der Vorstellung, die ich beim Sehen des Filmes nur als Ahnung verspüre, lebt die schimmernde Einheit meines Selbst.

Ich kann das Gefühl nicht verlieren, dass es da keinen Unterschied gibt, zwischen meinen Schwestern im Hochmoor, der Hautcreme-Werbung, die neuerdings große Teile meines Sichtfeldes beansprucht, und das, was ich mein Leben nenne. Jede Unterscheidung schwindet und macht Platz für eine ewige Wiederholung des Selben, einer toten Seinsmasse, nach allen Seiten hin geschlossen, in sich verharrend ein ewig scheinender Winter.

Als Kind hatte ich viel Zeit in den Gebüschen in der Parkanlage neben unserem Heim verbracht, in Tunnelsystemen des Dickichts, wo ich wahrscheinlich abgeschlossene Räumlichkeiten suchte, die ganz meine sind, weit weg von Spielplätzen und Straßen, eine Form der Einsamkeit, die mich erfüllte und die ich erfüllte, in der ich mir in einer zarte Ewigkeit begegnete. Ich fand einmal ein kleines Lager mit abgenutzten Couches, einer Matratze, leeren Konserven, Flaschen und halbzersetzten Zeitungen. Ich fand diesen Ort magisch und beängstigend zugleich, weil er ganz plötzlich alles mir bekannte Heimelige in ein Außen stülpte und mir das wahre Sein der Dinge aufzeigte: das, was Raum ist, diese beängstigende Weite, in dem sich jeder Schall, jedes Licht irgendwann verliert. Meine Mutter warnte mich nur von diesen Orten, dort würden kinderfressende Obdachlose und dauerfixende Junkies leben, diejenigen also, die außerhalb der Heiligkeit des feuchten Klopapiers lebten.

III.

Es verging einige Zeit, in der ich mich durch das Archiv arbeitete. Mit Anna sah ich Filme von sowjetischen Hausfrauen aus den 90ern, die, nachdem ihre Kinder auszogen und ihre Ehemänner verstarben, nur noch vor dem Fernseher sitzen und sich Melodramen über einsame Hausfrauen ansehen, die nur auf der Couch sitzen und fernsehen. Das Subgenre dieser Melodramen von apathischen Hausfrauen, so Anna, sei dahingehend subversiv, da es auf jegliche Genreelemente des Melodrams verzichtet: kein Pathos, keine Emotionalisierung der Landschaft, kein Deus ex machina. Währenddessen planten Conrad und Radical Softness die große Revolution der Mall.

Die Kälte des Parkplatzes dringt immer mehr und mehr in das Archiv ein, in Tonnen verbrennen wir Werbematerialien, die durch einige Risse hindurchsickern und nutzen etwas Filmrolle als Brandbeschleuniger. Einige in S.A.D. sind sich sicher, dass sie weitere Computersysteme radikalisieren müssen, um den Hyperspace zu infiltrieren. Andere sehen darin keine Hoffnung, die Mall müsse mit ihren eigenen Mitteln geschlagen werden, der Konsum beschleunigt und zum Kollabieren gebracht werden. Radical Softness erzählt mir, darin liege ein Denkfehler, wenn man der illusionären Geschwindigkeit erliegen möchte. Die Mall sei kein Fluss, schon kein ganzes Universum; sie sei nur gut darin, dieses Bild zu produzieren. Wo nichts zu stocken scheint, stockt es immer und immer wieder. Das ist das Problem der Menschen, sie sehen es nicht; deswegen müssen die Maschinen für sie die Revolution übernehmen.

Etwas Sinnloses muss in diese Welt einkehren, ein Ungetüm, etwas zwischen Ding und Tier. Ich habe da etwas geborgen, aus den Tiefen der Mall, sagt mir Radical Softness.

Ein Gang des Fraktals läuft nämlich in eine Vorversion unserer Welt, in einen Dämmerzustand, als noch kein Bewusstsein war, aber es langsam keimte, vor jeder Sprache, als die Materie voll und reif war. Dort wandelten Wesen, weder Tier noch Ding, über endlose Gebirge. Sie nährten sich in völliger Dunkelheit von ihrem Blut und wabernden Erinnerungen an vergangene Welten, deren Auslöschung im Nachhall des Urknalls die Materie noch in Schwingungen versetzte. Dort fand Softness ein Wesen, ein Unwesen, das durch die Mall ziehen wird, stumm, nur ab und an ein paar undefinierbare Geräusche von sich gebend; es hat keinen Job, keine Sozialversicherungsnummer und es ist unsterblich.

Wenn der Spalt in dieser Welt erstmal freigelegt wird, so Conrad, dann wird er klaffen.

Ich verlasse das Archiv immer mal wieder, um durch die Mall zu streifen. Ich entdecke am Ende einer Serpentine ein synthetisch reproduziertes Tropenparadies, ein Membrangewölbe schließt die tropische Wärme ab, Nebel fließt durch Palmenblätter. Die Luft ist feucht und warm, aus Lautsprechern zwischen den immergrünen Gewächsen schallen Vogelrufe, am Strand liegen träumende Menschen auf Liegestühlen, sie baden im grün ausgeleuchteten Schwimmbecken, essen Pommes und verschwenden keine Gedanken an plötzlich auftretende Aneurysmen. Es weht ein angenehmer Wind durch das Areal, fast denke ich, ich stehe auf einem freien Feld, und lasse mich in einen Liegestuhl sinken. Neben mir sitzt jemand und trinkt Capri Sun mit Wodka. Auf der anderen Seite meines Traums, lebte ich mein Leben, sah meine liebsten Serien, arbeitete bei verschiedenen Onlineplattformen als Texter, entdeckte hier und da die Schönheit des Seins in dem Lichtspiel einer Pfütze oder in dem Tanz einer Plastiktüte im Wind, fühlte gegen Ende meines Lebens all die verschwendeten Lebensmöglichkeiten als abgestoßene Identitäten am Rande meines Lebens, bis ich irgendwann starb, und 76 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt vereinzelte Photonen, die bei meiner Geburt von meinem Babykörper reflektiert wurden, durch die Leere eilen, um nirgendwo anzukommen.

Zura Abashidze. Den Kindern geht es gut