Jason Reynolds
Ghost
Jede Menge Leben
Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Jason Reynolds studierte Literaturwissenschaften an der University of Maryland. In Amerika gehört er zu den Stars der Jugendbuchszene. Sein Kinderroman »Ghost« wurde in Deutschland mit dem Luchs des Jahres der ZEIT und Radio Bremen ausgezeichnet. Mit »Long Way Down« war er 2020 für den Deutschen Jugendliteratur-preis nominiert. Jason Reynolds lebt in Washington, D. C.
Ghost ist ein fantastischer Läufer. In einer Mannschaft war er nie. Doch als er eher aus Langeweile einen Sprinter herausfordert, der zusammen mit seinem Team im Park trainiert, ändert sich sein Leben mit einem Schlag. Ghost siegt über die 100-Meter-Strecke, und der Trainer erkennt sein Naturtalent. Von da an geht alles ganz schnell. Ghost wird ins Team aufgenommen. Allerdings ist er nicht nur ein herausragender Läufer, er hat auch jede Menge Probleme am Hals. Durch die Mannschaft aber ändert sich Ghosts Leben. Von jetzt an steht Trainer Brody ihm zur Seite, genauso wie Patina, Sunny, Lu und die anderen Teammitglieder. Es geht für Ghost nicht mehr ums Davonrennen, sondern darum, das Ziel immer vor Augen zu haben. Der Startschuss ist gefallen.
»Ghost« ist der erste von vier Romanen der Track-Serie.
2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© 2016 Jason Reynolds
Titel der Originalausgabe: GHOST
Published by Atheneum, an imprint of Simon and Schuster Inc.
Published by arrangement with Pippin Properties, Inc.
through Rights People, London
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© 2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung und -illustrationen: Katharina Netolitzky
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43390-7 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-62744-3
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ISBN (epub) 9783423433907
Für alle Läuferinnen und Läufer
Leute, hört euch das mal an! So ein Typ namens Andrew Dahl hält den Weltrekord darin, die meisten Luftballons aufzublasen … mit der Nase! Das ist kein Witz. Keine Ahnung, wie er auf dieses besondere Talent gekommen ist, und ich mag mir nicht mal vorstellen, wie viel Rotz in den Luftballons ist, aber, hey, so was ist schon eine Kunst, und Andrew ist der Beste darin. Dann gibt es da noch diese Frau, Charlotte Lee, die einen Weltrekord hält, weil sie die meisten Gummienten besitzt. Kein Scheiß. Wisst ihr, was ich seltsam finde? Warum sollte jemand auch nur eine Gummiente besitzen wollen, ganz zu schweigen von 5631? Mal ehrlich. Geht’s noch? Und ich, also, ich halte vermutlich den Weltrekord darin, die meisten Weltrekorde zu kennen. Das und dazu noch den Rekord im Sonnenblumenkerneessen.
»Lass mich raten, du willst Sonnenblumenkerne«, schreit mir Mr. Charles hinter dem Tresen seines Ladens entgegen, den er selbst einen Krämerladen nennt, obwohl wir mitten in der Stadt leben. Mr. Charles, der übrigens genau wie James Brown aussieht, wenn James Brown weiß wäre, kassiert von mir jeden Tag in der Woche einen Dollar für Sonnenblumenkerne, seit … so ungefähr seit der vierten Klasse, als Ma mit ihrem Krankenhausjob angefangen hat. Also seit etwa drei Jahren. Außerdem ist er hörbehindert. Das sagt meine Mom über ihn, und ich hab früher immer gedacht, sie würde »hörverhindert« sagen, was ich überhaupt nicht kapiert habe. Keine Ahnung, warum sie nicht einfach »fast taub« sagt. Oder »schwerhörig«. Vielleicht, weil »hörbehindert« mehr nach Krankenhaus klingt und die Krankenhaussprache mittlerweile auf sie abgefärbt hat. Und ja, Mr. Charles hört tatsächlich so gut wie nichts mehr, deshalb schreit er auch immer alle an, und alle schreien zurück. In seinem Laden herrscht die ganze Zeit ein furchtbares Gebrüll, ganz abgesehen von den zusätzlichen Soundeffekten aus dem laut gedrehten Fernseher, den er hinter dem Tresen stehen hat – Westernfilme in Endlosschleife. Mr. Charles war es übrigens, der mir das Guinnessbuch der Rekorde geschenkt hat, in dem ich überhaupt erst von Andrew Dahl und Charlotte Lee gelesen habe. Er hat zu mir gesagt, ich könnte ja eines Tages selbst mal einen Rekord aufstellen. Einen richtigen Rekord. Einer von den Besten der Welt in irgendwas sein. Mal sehen. Aber eins weiß ich genau: Mr. Charles hält mit Sicherheit den Weltrekord darin, »Lass mich raten, du willst Sonnenblumenkerne« zu sagen, weil er das jedes Mal sagt, wenn ich reinkomme, und das bedeutet, dass ich vermutlich schon den Rekord darin habe, mit lauter Stimme jedes Mal die genau gleiche Antwort zu geben.
»Lassen Sie mich raten, einen Dollar.« Das ist meine Antwort. Die ich schon Millionen Mal gesagt habe. Dann klatsch ich ihm den Dollar in seine runzelige Hand, und er legt die kleine Tüte mit den Kernen in meine.
Danach trödle ich langsam weiter und halte erst wieder an, wenn ich bei der Bushaltestelle bin. Aber es ist keine gewöhnliche Bushaltestelle. Es ist die Haltestelle direkt gegenüber vom Fitnesscenter. Da sitz ich dann mit den anderen Leuten herum, die auf den Bus warten, nur dass ich nicht wirklich auf ihn warte. Der Bus bringt einen schnell nach Hause, und das will ich ja gerade nicht. Ich bin da, weil ich zuschauen will, wie die Leute Sport machen. Das Fitnesscenter auf der anderen Straßenseite hat nämlich große Fenster –, eigentlich ist die ganze Wand ein einziges Fenster – und da gibt es diese Geräte, die einem vormachen, man würde eine Treppe hochsteigen, und dabei schauen die Fitnessdeppen dann zur Bushaltestelle raus, völlig fertig und verschwitzt, als würden sie gleich ohnmächtig umfallen. Und glaubt mir, das sieht echt lustig aus. Ich schaue mir das immer eine Weile an, wie einen Film. Die Gleich-Kippt-Einer-Um-Show, in den Hauptrollen Stepper eins bis zehn. Ich weiß, das klingt jetzt ziemlich merkwürdig, vielleicht sogar ein bisschen verrückt, aber es hilft, wenn einem langweilig ist. Und das Beste daran ist, dass ich meine Sonnenblumenkerne futtern kann wie Kinopopcorn, während ich dort sitze.
Noch mal wegen der Sonnenblumenkerne: Früher hab ich mir immer eine ganze Handvoll auf einmal in den Mund gekippt, das Salz abgelutscht und sie dann wie ein Maschinengewehr wieder ausgespuckt. Da halte ich bestimmt auch den Weltrekord drin. Aber mittlerweile hab ich mehr Übung. Jetzt lasse ich mir Zeit, schiebe sie im Mund hin und her, bis sie in der richtigen Position für den perfekten Biss sind, der die Schale knackt, dann löse ich den Samen vorsichtig mit der Zunge heraus, und dann – das ist der schwerste Teil – bewahre ich den kleinen Samen sicher in dem Zwischenraum zwischen Zähnen und Zunge auf und spucke nur die Schale aus. Und endlich, wenn das alles geschafft ist, zerbeiße ich den Samenkern. Mittlerweile bin ich da Meister drin, auch wenn Sonnenblumenkerne ehrlich gesagt nach nichts schmecken. Ich weiß nicht mal genau, ob sie den Aufwand überhaupt wert sind. Aber mir gefällt das Ganze einfach.
Mein Dad hat früher auch immer Sonnenblumenkerne gegessen. Von ihm hab ich das. Aber er hat die ganzen Dinger einfach zerkaut, Schalen, Samen, alles. Hat sie runtergeschlungen wie ein Tier. Als ich noch klein war, habe ich ihn immer gefragt, ob vielleicht irgendwann eine Sonnenblume in seinem Bauch wachsen würde, weil er so viele Kerne gegessen hat. Er hat dabei immer irgendein Spiel im Fernsehen angeschaut, Football oder Basketball, und sich nur ganz kurz zu mir umgedreht, eine Sekunde oder so, gerade lang genug, um keinen Spielzug zu verpassen, und gesagt: »In meinem Bauch wächst ein ganzer Wald aus Sonnenblumen, Kleiner.« Dann hat er die Kerne in seiner Hand wie Würfel geschüttelt und sich eine weitere Ladung in den Mund gekippt und zerkaut.
Aber mein Dad hat gelogen, das steht fest. In ihm sind keine Sonnenblumen gewachsen. Das wär gar nicht möglich gewesen. Ich weiß nicht viel über Sonnenblumen, aber ich weiß, dass sie hübsch sind und dass Frauen sie mögen, und ich weiß, dass das Wort »Sonnenblume« aus zwei schönen Wörtern zusammengesetzt ist. Und dieser Mann hatte bestimmt keine zwei schönen Wörter in sich drin oder sonst irgendwas, das einer Frau gefallen könnte, weil: Frauen mögen keine Männer, die versuchen, sie und ihren Sohn zu erschießen. Und genau so ein Mann war mein Vater.
Es war vor drei Jahren, da ist mein Dad ausgerastet. Nachdem der Schnaps ihn noch bösartiger gemacht hat, als er sowieso schon war. Jeden zweiten Abend ist er zu einem anderen Menschen geworden, als hätte er sich in einen Verrückten verwandelt, aber an dem Abend hatte meine Mutter endlich beschlossen, sich zu wehren. Und an dem Abend ist alles noch viel schlimmer geworden. Ich hatte den Kopf zwischen Matratze und Kissen gesteckt – das hatte ich mir angewöhnt, wenn sie gestritten haben –, und da ist meine Mutter in mein Zimmer reingeplatzt.
»Wir müssen abhauen«, hat sie gesagt und die Decke von meinem Bett gerissen. Und als ich mich nicht schnell genug bewegt habe, hat sie geschrien: »Mach schon!«
Dann weiß ich nur noch, dass sie mich durch den Flur gezerrt hat und ich über meine Füße gestolpert bin. Und da hab ich mich umgedreht und hab ihn gesehen, meinen Dad, wie er aus dem Schlafzimmer gestolpert kam, mit blutigen Lippen und einer Pistole in der Hand.
»Zwing mich nicht, das zu tun, Terri!«, hat er halb wütend, halb flehend gerufen, aber Mom und ich sind weitergerannt. Dann das Geräusch von einer Pistole, die entsichert wird. Das Geräusch einer Tür, die entriegelt wird. Und in dem Moment, wo sie die Tür aufstieß, hat mein Dad abgedrückt. Er hat auf uns geschossen! Mein Vater … auf UNS! Seine Frau und seinen Sohn! Ich hab mich nicht umgedreht, um zu sehen, was er getroffen hat, ich hatte solche Angst, er könnte mich erwischt haben. Oder Ma. Der Knall war schrill und laut, so laut, dass ich das Gefühl hatte, mein Kopf würde explodieren, so laut, dass mein Herz aussetzte. Aber das Verrückte war, dass der laute Schuss meine Beine noch viel schneller machte. Ich weiß nicht, ob das möglich ist, aber so kam es mir jedenfalls vor.
Mom und ich sind weitergerannt, die Treppe runter auf die Straße, und durch die Dunkelheit gerast, vom Tod verfolgt. Wir sind gerannt und gerannt und gerannt, bis wir endlich zu Mr. Charles’ Laden gekommen sind, der zu unserem Glück den ganzen Abend geöffnet hat. Mr. Charles warf nur einen Blick auf uns, wie wir atemlos, weinend und barfuß in unseren Schlafanzügen vor ihm standen, dann hat er uns in seinem Vorratsraum versteckt und die Polizei gerufen. Wir sind die ganze Nacht da drin geblieben.
Seitdem hab ich meinen Dad nicht mehr gesehen. Ma hat gesagt, die Polizisten hätten berichtet, er hätte auf der Vortreppe gesessen, als sie zu unserem Haus kamen, mit nacktem Oberkörper, die Pistole neben sich, und hätte Bier getrunken und Sonnenblumenkerne gegessen und gewartet. Als würde er erwischt werden wollen. Als wäre das Ganze keine große Sache. Sie haben ihn zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich darüber froh bin oder nicht. Manchmal wünsche ich mir, er würde für immer im Gefängnis vermodern. Aber dann wünsche ich mir wieder, er würde zu Hause auf dem Sofa sitzen und ein Basketballspiel anschauen und die Kerne in seiner Hand schütteln. Aber eins ist jedenfalls sicher: In der Nacht hab ich gelernt, wie man rennt. Und als ich keine Lust mehr hatte, an der Bushaltestelle vor dem Fitnesscenter zu sitzen, und dafür die ganzen Kids auf dem Sportplatz im Park sah, wie sie trainiert haben, da musste ich schauen, was da los war, weil Rennen nun mal nichts ist, was ich je hatte trainieren müssen. Es ist einfach etwas, das ich kann.
Zuerst hab ich nur durch das offene Tor zugeschaut. Ich wollte eigentlich weitergehen, aber dann hab ich gesehen, dass da noch andere Leute an der Aschenbahn waren, die saßen da und haben dem Training zugeschaut. Mütter und so. Deshalb hab ich mich zu ihnen gesetzt. Na ja, ich hab mich nicht direkt neben sie gesetzt, weil das seltsam ausgesehen hätte, aber ich hab mich auf eine der anderen Bänke gehockt. Meine Schule hat keine Leichtathletikmannschaft oder ein Laufteam, aber selbst wenn, wäre ich nicht zum Probetraining gegangen. Ich fand Basketball besser. Basketball war mein Sport, obwohl ich nie richtig gespielt hatte. Manchmal bin ich auf dem Nachhauseweg am Spielfeld stehen geblieben, um zu sehen, ob ich vielleicht mitspielen durfte, aber ich bin nie von jemand in die Mannschaft geholt worden, vor allem deshalb nicht, weil die älteren Typen keinen Bock hatten, mit Kids in meinem Alter zu spielen. Aber ich hatte immer so ein Gefühl, wenn ich nur mal die Chance dazu bekäme, könnte der nächste LeBron aus mir werden. Aber ein berühmter Läufer wollte ich nie sein … wer auch immer bei denen berühmt ist. Auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen. Ich hab mal in meinem Buch der Rekorde nachgeschaut, und da steht, ein Typ namens Usain Bolt wäre der schnellste Mensch der Welt, aber von dem hatte ich noch nie was gehört. Mein Dad hat nie Leichtathletik im Fernsehen angeschaut, kein einziges Mal. Gibt es überhaupt berühmte Läufer? Ich meine, mal ernsthaft? Ich hatte noch nie von einem gehört, aber so, wie die Jungen und Mädchen sich dehnten und auf der Aschenbahn herumhüpften, einige von denen vermutlich schon.
»Okay, jetzt ein paar Knieheber!«, hat der Trainer befohlen. Er war klein und hatte eine Glatze, aber ich sah sofort, dass sein kahler Schädel nicht davon kam, weil ihm alle Haare ausgefallen waren. Er gehörte zu den Männern, die sich den Kopf rasierten. Tatsächlich gehörte er zu denen, die sich alle Haare im Gesicht abrasierten, außer den Augenbrauen, was echt nicht gut aussah. Er sah aus wie eine Schildkröte. Eine Schildkröte mit einem abgebrochenen Zahn und einem Ring im Ohr, die eine schwarze Pfeife um den Hals hängen hatte. »Hoch, hoch, hoch!«
Die Jungen und Mädchen – ungefähr so alt wie ich –, alle in Shorts und T-Shirts, streckten die Arme vor und fingen an, in einer Art Marschschritt die Knie zu den Händen hochzuziehen.
»Auf geht’s, Sunny! Das ist erst das zweite Training, und schon ziehst du die Beine nicht richtig hoch!«, bellte der Trainer den größten Jungen auf der Bahn an. Er hielt ein Klemmbrett in der Hand und schlug damit gegen sein Bein. »Hoch mit den Knien!«
Ich saß breitbeinig da, damit ich die Sonnenblumenkernschalen zwischen meinen Füßen auf den Boden spucken konnte. Das Salz machte mich durstig, aber ich konnte einfach nicht aufhören zu essen. Auf der Aschenbahn folgten auf die Kniehebe-Dingsda ein paar Hampelmänner und ein paar Aufwärmrunden um die Bahn, was ich eine ziemlich dämliche Idee fand. Ich meine, warum sollte man rennen, um sich aufzuwärmen? Dann ist man ja müde, noch bevor das Rennen losgeht. So ein Schwachsinn. Dann haben sich alle Läufer um den Mann mit dem Schildkrötengesicht versammelt.
»Hört zu«, sagte er. »Alle, die auf dieser Bahn stehen, gehören entweder schon zu den Defenders oder wurden gefragt, ob sie sich dem Team anschließen wollen.« Er hat mit ihnen geredet, als wären sie beim Militär oder so. »Bestimmt wisst ihr alle, was das bedeutet, aber falls nicht, will ich es euch erklären. Es bedeutet, dass ihr zu einer der besten Jugendmannschaften der Stadt gehört. Wir sind das Team, wo die besten Highschools nach Talenten suchen. Und ratet, was passiert, wenn ihr auf eine gute Highschool geht und in einer guten Mannschaft gute Leistungen zeigt? Dann schafft ihr es vielleicht sogar mit einem Stipendium aufs College.«
Nur weil einer schnell rennen kann, kommt er noch lange nicht für umsonst aufs College, hab ich mir gedacht und eine Schale ausgespuckt. Ich hasse es, wenn sie an der Zunge kleben bleiben und man sie beim Spucken rausschnipsen muss. Das nervt total.
Da war ein Junge, der richtig merkwürdig aussah – ich kann sein Aussehen nicht genau beschreiben, aber ich versuch’s. Ihr wisst doch, dass ich gesagt habe, Mr. Charles sieht aus wie James Brown, wenn James Brown weiß wäre? Also, der Junge sah aus wie ein weißer Junge, wenn der weiße Junge schwarz wäre. Moment. Das klingt echt verrückt. Am besten, ich fange noch mal von vorn an. Seine Haut war weiß. Also, so richtig weiß. Und seine Haare waren hellbraun. Aber sein Gesicht sah aus wie das von einem Schwarzen. Als hätte Gott vergessen, das Braun in ihn reinzutun. Ist das jetzt wie bei Mr. Charles oder nicht? Ach, vergesst es einfach. Jedenfalls, dieser Junge hob jetzt die Hand.
»Ja, Lu?«, hat der Trainer gesagt.
»Stimmt es, dass Sie mal an den Olympischen Spielen teilgenommen haben?«, fragte der Junge.
»Stimmt es, dass du noch nie an welchen teilgenommen hast?«, äffte der Trainer zurück. Der Junge namens Lu stand da, als hätte ihm jemand mit einer von Charlotte Lees Gummienten ins Gesicht geschlagen. Als wüsste er nicht, was er jetzt tun soll. »Äh …«, stotterte er, unsicher, was er darauf sagen sollte.
»Du solltest dir keine Gedanken darüber machen, was ich getan habe. Denk lieber darüber nach, was du tun willst. Wenn du in meiner Mannschaft bleibst, kann ich dich auf jeden Fall so weit bringen.« Der Trainer wischte sich die Spucke aus den Mundwinkeln. »Also«, sagte er und schaute auf seine Liste. »Mal sehen, was wir mit euch Neulingen heute machen. Lu, Patina, Sunny, an die Startlinie!«
Die drei »Neulinge« liefen eilig zum anderen Ende der Aschenbahn hinunter.
»Lu, du zuerst. Hundert Meter nach dem Pfiff«, wies der Trainer ihn an. Der seltsam aussehende Junge namens Lu hatte ein supercooles Outfit an. Nagelneue Nike-Laufschuhe und einen hautengen Ganzkörperanzug. Fast wie ein Superheld. Er trug ein Stirnband und hatte eine Goldkette um den Hals, und in jedem Ohr funkelte ein Diamant. Alle anderen Läufer stellten sich an der Seite auf, während der Trainer die Trillerpfeife in den Mund steckte. In der anderen Hand hielt er eine Stoppuhr. »Fertig«, sagte er durch die Zähne. Dann folgte ein kurzer Pfiff, Fiiieep!, und Lu ist losgerannt.
Es war gleich vorbei. Ich meine, der Typ war wirklich richtig schnell, und als er das Ende der Geraden erreichte, sprang eine Frau auf, die auf der anderen Seite der Aschenbahn saß, und jubelte und klatschte, als wäre der Junge irgendwie berühmt oder so. Ich war beeindruckt. Nicht so sehr, dass ich geklatscht hätte – eigentlich war ich eher froh, dass endlich mal was passiert ist, was nicht total langweilig war –, aber auf jeden Fall beeindruckt genug, dass ich aufhörte, die Samen in meinem Mund herumzuschieben, bis er im Ziel war.
»Gut gemacht«, hat der Trainer gesagt, als Lu cool wie ein Profi an die Seite getrottet kam. Als wäre das keine große Sache gewesen und als würde er das wissen. Er schaute zu mir rüber. Ich spuckte die Schalen auf den Boden. Der Trainer rief ihm noch eine Zeit zu, die ich nicht verstand, aber ich sah, dass er sie aufschrieb.
Als Nächstes war der große, schlaksige Junge an der Reihe, den der Trainer Sunny genannt hatte. Der Junge, der angemotzt worden war, weil er beim Aufwärmen die Beine nicht hoch genug in die Luft geschleudert hatte. Um ehrlich zu sein, sah er nicht so aus, als könnte er überhaupt eine gerade Linie laufen, und ich rechnete damit, dass das ziemlich lustig aussehen würde. Sunny stellte sich in Position, schloss die Augen und atmete tief ein. Dann blies der Trainer in seine Pfeife, und er rannte los. Ich hab gemerkt, dass er sich wirklich richtig anstrengt, aber er ist einfach nicht vom Fleck gekommen. Es war, als würde er gegen den Wind anrennen, obwohl es gar kein windiger Tag war. Als würden seine Schuhe eine Tonne wiegen oder als wären seine Knochen zu schwer oder so. Niemand jubelte ihm zu, und ein paar von den anderen Kids lachten sogar.
»Wir werden ja sehen, wer lacht, wenn wir später zur Langstrecke kommen«, blaffte der Trainer zu den kichernden Läufern hinüber. Alle verstummten sofort. Sunny trabte heran und stellte sich unbeeindruckt wieder zu den anderen. Es schien ihm gar nichts auszumachen, dass er langsamer gelaufen war als der langsamste Mensch auf der Welt. Sein Sprint war eher wie ein Joggen gewesen. Meine Mutter hätte ihn überholen können. Vermutlich hätte ihn sogar Mr. Charles abgehängt, und der ist hundert Jahre alt! Der Trainer hat Sunny zugenickt und sich dann an den Nächsten gewandt. Ein Mädchen. »Patina, du bist dran.«
Diese Patina war groß, sie hüpfte auf den Zehenspitzen auf und ab und ließ Hals und Schultern rollen, wahrscheinlich um sich locker zu machen. Sie trug ein straffes Stummelpferdeschwänzchen, wo sich am Haaransatz jede Menge Härchen kräuselten. Als der Trainer in seine Pfeife blies, rannte Patina wie ein Blitz los und jagte die Bahn entlang, viel schneller als Sunny, aber nicht ganz so schnell wie Lu. Trotzdem war ich beeindruckt. Ich meine, ich kenne nicht viele Mädchen, die so schnell rennen können. Eigentlich kenne ich kein einziges Mädchen, das rennt. In der Schule wollen sie immer einen auf niedlich und süß machen, aber da steh ich nicht so drauf.
»Vor diesem Mädchen solltet ihr Veteranen euch in Acht nehmen. Sie rennt die achthundert, als wäre es nur ein kleiner Hüpfer über die Straße«, hat der Trainer gesagt und Patina abgeklatscht. Wenn mir jemand so ein Kompliment machen würde, müsste ich mich ziemlich anstrengen, nicht breit zu grinsen, und vermutlich würde mir dann doch ein Lächeln entwischen. Aber Patina blieb ganz cool und stellte sich wieder in die Reihe, als wäre das nichts gewesen. Ich merkte gleich, dass sie richtig was draufhatte.
Nachdem Lu, Sunny und Patina gerannt waren, befahl der Trainer den anderen Läufern, die er als Veteranen bezeichnete, sich aufzustellen und den »Neulingen« zu zeigen, was Sache war. Und dann ging es Schlag auf Schlag, die Pfeife trillerte, und die Jungen und Mädchen stellten sich nacheinander an die Startlinie und rannten die Gerade hinunter. Bei jedem wurde die Zeit notiert. Ein paar waren schneller als andere. Eigentlich waren die meisten der Veteranen ziemlich schnell, aber keiner war schneller als dieser aufgedonnerte Lu. Kein Einziger. Und der Trainer hat immer so Sprüche gebracht wie: »Bis jetzt ist keiner von euch schneller gerannt als Lu«, was mich irgendwie aufgeregt hat, weil … ach, ich weiß nicht. Irgendwie hat mich das an einen Typen aus meiner Schule erinnert, diesen Brandon, der immer … IMMER andere schikanieren muss. Nicht nur mich. Er mobbt jede Menge Leute, und keiner unternimmt was gegen ihn. Alle reden sich immer nur raus, so nach dem Motto: »Gegen den kommt sowieso keiner an.« Der gleiche Mist wie das, was der Trainer mit dem blanken Kugelkopf über diesen Lu von sich gegeben hat. Ich finde einfach … nee, Mann. Ich meine, er war schon schnell, aber – mal ehrlich – so schnell war er nun auch wieder nicht.
Als jeder an der Reihe gewesen war, fing der Trainer noch mal von vorne an und gab allen die Gelegenheit, ein zweites Mal zu rennen und zu sehen, ob sie ihre erste Zeit verbessern konnten. Lu war auch noch mal dran. Wieder ist er wie ein Gockel zur Startlinie stolziert. Hat die Beine gedehnt und ist auf und ab gehüpft. Und die Frau auf der anderen Seite der Aschenbahn hat ihm wieder zugejubelt. Er machte sich ein bisschen locker, und sie legte schon los, als wär das was Besonderes. Die Leute um sie herum schauten sie richtig genervt an, als wäre sie verrückt. Alle seine Mannschaftskameraden haben zugeschaut. Ein paar sahen aus, als könnten sie es kaum erwarten, den tollen Lu noch mal rennen zu sehen. Andere haben einfach gelangweilt geguckt. So wie ich. Jedenfalls war mir danach. Ich hatte keine Lust, Lu groß Beachtung zu schenken oder sonst jemand, der sich für unschlagbar hielt wie Brandon. Und dann waren meine Sonnenblumenkerne leer. Jetzt gab es eigentlich nichts mehr, was mich davon abhielt, aufzustehen und ihm mal zu zeigen, dass er doch nicht so toll war. Dass ich noch nie in meinem Leben ein Lauftraining mitgemacht hatte und trotzdem mit ihm mithalten und ihn vielleicht sogar schlagen konnte. Deshalb bin ich über die ganzen Schalen gestiegen, die sich wie ein Berg toter Fliegen zwischen meinen Füßen türmten, und vorgegangen, nicht auf die Aschenbahn, aber direkt daneben auf die Wiese. Ich hab mich neben Lu gestellt, der seine Achtung-fertig-los-Haltung eingenommen hatte. Dieses Tamtam musste ich ja nicht mitmachen. Ich musste nur schnell meine Jeans hochkrempeln und die Schnürsenkel in meine Turnschuhe stecken, dann war ich bereit.
Schildkrötengesicht bemerkte mich und rief: »Junge, was machst du da? Die Testläufe waren letzte Woche.«
Ich hab nichts gesagt, worauf der Trainer noch ein: »Das ist ein privates Training« hinzugefügt hat.
Ich hab immer noch nicht geantwortet und nur angefangen, die Ärmel von meinem T-Shirt bis zu meinen Schultern hochzurollen.
»Hast du nicht gehört?«, hat der Trainer da gefragt, diesmal ein bisschen lauter. Und er ist auf mich zugegangen. Die anderen Kids haben mich so angeschaut, wie mich die meisten Kids anschauen. Als wäre ich anders. Als würde ich nicht dazugehören. Aber das war mir egal. »Verstehst du nicht, was ›privat‹ bedeutet?«, spottete der Trainer. Mir ist sofort eine witzige Antwort darauf eingefallen, aber die behielt ich lieber für mich.
»Genau, Mann, die Bahn ist für Sportler, nicht für so Möchtegern-Läufer wie du«, meldete sich Lu, der sich wieder aufgerichtet hatte. Er musterte mich von oben bis unten und grinste überheblich.
»Nun blasen Sie doch endlich in Ihre Trillerpfeife!«, rief ich dem Trainer schließlich zu. Der ist wie angewurzelt stehen geblieben und funkelte mich böse an. Er hat zu Lu gesehen, dann wieder zu mir. Und er hat mit seinem Klemmbrett auf mich gezeigt.
»Hör zu, du hast einen Lauf, kapiert? Danach will ich dich hier nie mehr sehen«, drohte er. »Das ist mein Ernst, verstanden?«
Ich setzte mein Mir-doch-egal-Gesicht auf und nickte. Wieder deutete er mit seinem blöden Klemmbrett auf mich, als hätte ich vor dem Angst. Also ehrlich. Als er dann zur Ziellinie ging, sah Lu mich kopfschüttelnd an und knurrte: »Dich mach ich fertig.«