BJÖRN HÖCKE IM GESPRÄCH
MIT SEBASTIAN HENNIG
Mit einem Vorwort von
Frank Böckelmann
Politische Bühne. Originalton
© Manuscriptum Verlagsbuchhandlung
Thomas Hoof KG · Lüdinghausen und Berlin 2018
2., verbesserte Auflage 2018
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eISBN 978-3-944872-72-8
www.manuscriptum.de
Vorwort von Frank Böckelmann
Frühe Jahre
Im Schuldienst
Der Weg in die Politik
Partei und Fraktion in Thüringen
Volksopposition gegen das Establishment
Krise und Renovation
Personenregister
Es gilt der Heimat, auch wenn wir
nur zu spielen scheinen.
Falls die AfD bei der nächsten oder übernächsten Bundestagswahl 30 oder 35 Prozent der Wählerstimmen erhält (im europäischen Vergleich nichts Ungewöhnliches und noch immer fernab einer Regierungsbeteiligung), wird in den Talkshows und Lifestyle-Foren ein ansteckendes gekränktes Jammern einsetzen: »Müssen wir jetzt Asyl in Neuseeland oder Südafrika beantragen? Wird jetzt der voreheliche Beischlaf verboten? Sollten wir schon mal üben, ›Heil Höcke!‹ zu sagen?«
Nazi-Hysterie und Anrufung »europäischer Werte« ersetzen bei den Meinungsführern in Deutschland heute weitgehend die politische Orientierung. Das Zeitalter der Digitalisierung ist zugleich das der moralischen Lauffeuer. Ein Begriffsnetz wird über das Weltgeschehen geworfen, und dieses hat gefälligst zu parieren. Die Macht hat, wer die Sprache regelt und die Themen ausruft. Setzen sich die Themen selbst, schwillt das Tremolo der Sprachregler zu einem schrillen Diskant an. Seit dem Beginn der Massenzuwanderung im Sommer 2015 überrascht nicht nur die Aufkündigung des Gehorsams im Volk, sondern auch die Mobilisierung der Gutgläubigen. Letztere sehen ihre moralische Alleinherrschaft in Frage gestellt – da muss das alte Böse am Werk sein!
Den Namen »Björn Höcke« verbinden die tonangebenden Moderatoren und ihre dienstbaren Experten und auch einige Parteifreunde gewohnheitsmäßig mit den Attributen »rechtsextrem«, »völkisch-nationalistisch«, »biologistisch-rassistisch« oder »apokalyptisch«. Doch am liebsten würden sie Björn Höcke einfach nur »Nazi« nennen. Zwar räumen sie ein, daß Höcke die Doktrin von Hitler und Goebbels nicht ausdrücklich propagiere – doch berufen sie sich auf Politikwissenschaftler, die Höcke ein rechtsextremes Weltbild attestieren. Er verrate schreibend und sprechend häufig »eine übergroße Nähe zum Nationalsozialismus« (so der AfD-Bundesvorstand im Januar 2017), nehme entsprechende »rhetorische Rückgriffe« vor, transportiere »antisemitische Bedeutungsinhalte«, äußere sich mit einem »für Rechtsextreme typischen Duktus« – »ähnlich« wie die Identitären, zeige keine »Berührungsängste mit dem rechten Rand«, distanziere sich jedenfalls nicht von ihm. Wenn er es aber tue, dann offenbar aus taktischen Gründen.
Der vorliegende Gesprächsband bietet Gelegenheit, aus erster Hand zu erfahren, wie Björn Höcke den Nationalsozialismus versteht und bewertet, und zu prüfen, ob diese Einschätzung glaubwürdig ist. Selbstverständlich achtet der Politiker Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig immer auch auf mögliche Effekte seiner Äußerungen in einer Öffentlichkeit, die ihm feindlich gesinnt ist, und auf den Leumund des von ihm repräsentierten »Flügels« in der AfD. Überzeugen können seine Aussagen aber nur, wenn sie zusammenpassen und eine bündige, eigenständig gewonnene Auffassung von der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert erkennen lassen – wenn sie nicht abstrakt, vom Interesse an Selbstrechtfertigung, zusammengesucht worden sind. Sie müssen einen belastbaren, annähernd widerspruchsfreien, auch künftig präsentierbaren Zusammenhang herstellen.
Stellen wir unter diesem Gesichtspunkt einige Thesen Höckes nebeneinander (und nehmen wir einen ersten Lektüre-Befund vorweg, nämlich den Eindruck, daß Höckes Freude an der Selbstdarstellung den Gesprächsverlauf weitaus stärker bestimmt als die Absicht, sich von Vorwürfen reinzuwaschen).
Höcke beruft sich auf den »patriotischen Widerstand gegen Hitler«, namentlich auf Stauffenberg und Dietrich Bonhoeffer. Er beklagt, daß der »aufrichtige Wille« der Deutschen, »die Verfehlungen und Verbrechen des Dritten Reiches zu verarbeiten«, von den Siegermächten missbraucht worden sei. (S. 65) Er lehnt die Unterstellung einer Kollektivschuld ab, vertritt aber eine Art von Kollektivschamthese: Auch als nachgeborener Deutscher könne man sich »nicht einfach mit der Bemerkung aus der Verantwortung stehlen, das ginge mich gar nichts an«, denn eine solche Haltung fördere wiederum ein »atomistisches« Selbstverständnis. (S. 70) Im »ständigen Verweis auf die einzigartige, fabrikmäßige, durchorganisierte Tötung« schimmert nach Höckes Empfinden jedoch »bisweilen ein perverses Identitätsbild von uns Deutschen durch: Keiner mordet so perfekt, der Tod kann nur ein ›Meister aus Deutschland‹ sein.« (S. 71) Höckes Fazit: »Der Nationalsozialismus und Faschismus sowie der Kommunismus versuchten Anfang des 20. Jahrhunderts mit brachialen Mitteln und Methoden die Krisen der Moderne in den Griff zu bekommen, scheiterten aber dramatisch und hinterließen Trümmerfelder, auf denen sich der zersetzende Materialismus noch ungezügelter ausbreiten konnte.« (S. 261)
Sebastian Hennig hat in diesem Gespräch einfühlsam und doch hartnäckig Regie geführt. Mit lebensgeschichtlichen und weltanschaulichen Themen beginnend und dann die aktuelle politische Problematik ansprechend, folgen seine Fragen den Assoziationen Björn Höckes, ohne ihnen völlig freien Lauf zu lassen. Wiederholt regt er den Gesprächspartner dazu an, auf die bekannten öffentlichen Anwürfe gegen seine Auftritte einzugehen. Doch Höcke meidet sowohl das Lamento der Selbstrechtfertigung als auch die Unschuldsmiene. Er zeigt auf diese Weise, daß die Anwürfe nicht (zu)treffen. Wer Höcke durch die Medienberichterstattung zu kennen glaubt, wird im vorliegenden Buch viel Neues und Unerwartetes finden, vorausgesetzt, er hat seine Zweifel am Tenor der Berichterstattung und ist neugierig auf diesen vielgeschmähten Mann mit dem freundlichen, aber zurückhaltenden, eher einladenden und abwartenden als zielstrebigen Gesicht, einen Mann, der sich zu provozierendem Auftreten jeweils erst durchzuringen scheint. Wer dem Medienurteil vertraut, wird nicht neugierig sein; es zu überprüfen, scheint sich zu erübrigen. Die Auseinandersetzung wird gleichsam für beendet erklärt. Und eben darauf zielt die Diffamierung ab: den Gegner zum Verstummen zu bringen. Der »Rechtsextreme« kann fortan sagen, was er will. Man weiß ja schon Bescheid. Entweder bestätigt er seinen üblen Leumund, oder er will sich herausreden.
Indem Sie diesen Gesprächsband aufschlagen, lassen Sie den unbekannten Björn Höcke zu Wort kommen. Dieser zeigt sich skeptisch gegenüber Vorstellungen, die man bei einem Konservativen erwartet: »Orthodoxe Konservative«, die »keine Alternative zum Bestehenden sehen«, lehnt er ab: denn »das Bestehende (…) beginnt vor unseren Augen zu zerfallen«. (S. 59) Zugleich, erklärt Höcke, sei das Vergangene immer »auch im Heute präsent und damit real« (S. 25). Es sei aber vergebliche Liebesmühe, »vergangene Zustände wiederholen zu wollen« (S. 24). Daher dürfe und könne es keine »Rolle rückwärts« geben. Höckes Standpunkt: »Es geht nicht um die Restauration alter Strukturen, um ein ›neues Mittelalter‹, sondern darum, an die schöpferischen Stränge der Neuzeit wieder anzuknüpfen«, anders gesagt, die »sinnstiftenden Traditionsstränge« erweitert fortzuführen. (S. 264) Doch Höcke bekundet, ihm fehle »die feste Glaubensgewißheit«. Als überzeugten Christen könne er sich nicht bezeichnen. (S. 50) Autorität und Hierarchie akzeptiere er nicht als Selbstzweck, sondern nur in einer »dienenden Funktion«. (S. 47) Auch hänge er keinem »völkischen Reinheitsideal« an. Die Deutschen selbst seien ein »Mischvolk«. »Bei der Ethnogenese der Deutschen zwischen 800 und 1200 n. Chr. waren neben der germanischen Grundsubstanz auch bedeutende keltische, romanische und auch slawische Anteile dabei.« (S. 129) Und Höcke erwähnt – man höre! – die »Grenzen und Gefahren des Populismus«: Wer könne schon im Namen des Volkes sprechen? »Wir sind als Volk bereits stark fragmentiert und bringen im Grunde keinen einheitlichen Volkswillen mehr hervor, sondern eher eine dissonante Kakaphonie.« (S. 235) Nationalem Hochmut begegnet Höcke mit einer anthropologischen Erkenntnis: »Über alle kulturellen und ethnischen Grenzen hinweg« teilten die Menschen einen »tragischen Riß«, die Erfahrung der Unvereinbarkeit von himmelstürmenden Ideen und eigener Schwäche und Endlichkeit. Aus dieser DemutsErfahrung, so Höcke, speise sich sein »tief verankerter Humanismus«. (S. 63) Im Übrigen rate er dringend dazu, »den Unmut niemals pauschal gegen die hier lebenden Ausländer zu richten (…), sondern ausschließlich gegen die für die Misere verantwortlichen Politiker«. (S. 218)
Auf kluge Weise geht Höcke auf die Kritik am Begriff des Volkes ein: »Für uns Menschen ist alle Wirklichkeit Konstruktion, eine bestimmte Vorstellung von der Welt.« Alles real Greifbare sei »einmal entstanden, also auch ›konstruiert‹ worden. Die Feststellung, daß Völker Konstruktionen sind, ist also banal.« Und: »Allein aus der Tatsache, daß etwas ›konstruiert‹ ist, leitet sich noch kein Imperativ zur Dekonstruktion ab. Dann müßte man ja beispielsweise alle Gebäude der Welt abreißen. Vielleicht sind aber etliche gute, schöne Konstruktionen dabei, die erhaltenswert sind.« (S. 126)
Hier spricht kein Missetäter, der am Pranger steht und nach Ausflüchten sucht, sondern ein Intellektueller, der die Debatte um den Volksbegriff souverän durchdacht hat – eine Rarität im politischen Schlagabtausch. Die erwähnten eigenwilligen Ansichten sind Höcke-typisch und zeugen von der Spannkraft eines ebenso nachdenklichen wie ruhelosen Charakters. Wie erklärt sich dann die Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis des Politikers und den Attesten von »RechtsextremismusExperten« wie Hajo Funke und von Moderatoren, die sich ihrer bedienen? Ist Höcke ein Demagoge, der im persönlichen Gespräch den selbstkritischen Denker mimt?
Denken wir an die skandalisierte Dresdner Rede vom 17. Januar 2017. Die zentrale Aussage dieser Rede, sagt Höcke, sei eine Warnung an seine Parteifreunde gewesen: »sich von den lockenden Futtertrögen der Parlamentsmandate nicht korrumpieren zu lassen«. (S. 227) Dann aber gab er eine Steilvorlage zu einem böswilligen Missverständnis und zur »skandalösen Falschmeldung der dpa«. Er nannte das Holocaust-Mahnmal in der Nähe des Reichstags ein »Denkmal der Schande«, übernahm dabei eine Formulierung des Intendanten des Humboldt-Forums, Neil McGregor. Gemeint war eindeutig: Wer sonst außer uns Deutschen stellt seine eigene Schande in den Mittelpunkt des nationalen Gedenkens? In vielleicht vorbewusst ungezähmter Erbostheit jedoch – er unterließ es, vom »Denkmal der deutschen Schande« zu sprechen – riskierte Höcke die Fehldeutung, er habe das Mahnmal selbst ein Schandmal genannt. Seine Richtigstellung folgte auf dem Fuß. Sie wurde in den Medien wiedergegeben und als solche nie angezweifelt. Vielmehr wurde und wird sie meist einfach ignoriert. Die Wendung vom »Denkmal der Schande« wird zitiert, als verstehe sie sich von selbst und bedürfe es keines weiteren Belegs für Höckes Schlechtigkeit. Manchen Journalisten dürfte die Fehldeutung durchaus bewusst sein. Doch weil sie Höcke schädigt, erscheint sie als Nachrede für einen höheren guten Zweck.
Niemand, der Höcke je aufmerksam zugehört hat, kann ihn für einen Rassisten oder Antisemiten halten, und das Gespräch mit Sebastian Hennig bestätigt dies ein weiteres Mal. Dennoch wird ihm weiterhin unterstellt, er habe sich mit diesem Satz entlarvt. Denn ihm darf alles zugetraut werden. Er hat die herrschende Phraseologie von »Toleranz und Weltoffenheit« und das staatstragende Ritual deutscher Selbstverachtung aufgekündigt und sich damit die erbitterte Feindschaft derer zugezogen, die sich daran gewöhnt haben, edel und gut zu sein, wenn sie die Formeln des humanitären Universalismus aufsagen. Da sie aber nicht viel mehr haben als die Überzeugung, ein für alle Mal bei den Siegern der Geschichte zu stehen, verleumden sie den Zweifler als Ketzer.
Gewöhnen wir uns daran, daß jedes Beharren auf kulturellen und ethnischen Unterschieden und nationalem Eigensinn heute als »rechtsextrem« gescholten werden darf. Björn Höcke hat die extreme Feindseligkeit gegen seine Person selbst zu erklären versucht: »Und ich glaube, die polit-mediale Klasse hat – mehr unbewußt als bewußt – erkannt, daß ich nicht ›einfangbar‹ bin im Sinne einer ›Hegemonie durch Neutralisierung‹, wie sie der marxistische Intellektuelle Antonio Gramsci beschrieben hat. (…) Ein wie auch immer geartetes Arrangement wird es mit mir nicht geben.« (S. 221) Den Hass auf die AfD insgesamt erklärt er an gleicher Stelle mit der Angst der Machthaber, »von ihren etablierten Positionen verdrängt zu werden und die angesammelten Pfründe zu verlieren«. (S. 221) Und weil er beobachtet hat, daß sich in der politischen Szene Deutschlands »notorische Realitätsverweigerer, Hysteriker, Schizophrene, Autoaggressive und auch Psychopathen« tummeln (S. 91), rät er seinen Mitstreitern: »Je hysterischer die herrschende Kaste reagiert, (…) desto ruhiger sollten wir werden (…). Jeden Anflug von Rechtfertigung sollten wir unterdrücken.« (S. 222)
Indirekt immerhin antwortet Höcke auf Diffamierungen, die ihn im Raum des regierungsamtlich beglaubigten Vorurteils wie der eigene Schatten begleiten. Faschismus? Für Höcke »eine geschichtlich und räumlich begrenzte Erscheinung«, die »heute in Deutschland nur als bizarrer Fremdkörper existieren (könnte)«. (S. 141) »Rechtsextremistisch«? Ein vom politischen Gegner aufgeklebtes Etikett, ein reiner Kampfbegriff. Höcke lehnt jede Art von Extremismus als »Vereinseitigung, ein Ausblenden von Wirklichkeit« ab, und jede Ideologie als »Verabsolutierung von Einzelaspekten«. (S. 146) »Biologistisch«? Höcke bestreitet, »Anhänger eines biologischen Reduktionismus« zu sein, sieht vielmehr »den Menschen mit Arnold Gehlen vor allem als Kulturwesen«, hält aber die Vorstellung von »einer Kosmopolis mit ethnisch-indifferenten Weltmenschen« weder für realisierbar noch für wünschenswert. (S. 129) »Völkisch«? Nirgendwo gebe es »phänotypische Einheitlichkeit«, und alle Völker seien »rassische Legierungen«, aber eben nicht beliebig und in wenigen Jahren entstandene, sondern jeweils Resultate einer langen Geschichte, einschließlich der »Tropfeneinwanderung« kulturell kompatibler Personen. Den Begriff völkisch« hält Höcke für unglücklich; die Bezeichnungen »volksverbunden« und »volksfreundlich« zieht er vor. (S. 133)
Björn Höcke kennt sich im Zeitgeist, im »ichsüchtigen Kollektivismus«, gut aus und ist ihm gründlich abgeneigt. Ihn einen »bürgerlichen Konservativen« zu nennen, trifft ins Schwarze, wenn man den Akzent auf »bürgerlich« legt. Sein Welt- und Menschenbild ist von »synthetisch-harmonisierenden Denkfiguren« bevölkert, um mit Panajotis Kondylis zu sprechen. Er hält einem Bildungsbürgertum die Treue, das von der Massendemokratie längst überwältigt, aber von keiner anderen, keiner orientierenden Ordnungsvorstellung abgelöst worden ist. »Ordnung« ist ein wichtiges Stichwort. Höcke orientiert sich staatspolitisch am »klassischen Maß«, das er dem Preußentum zuspricht, und denkt vom Ausgleich, vom Gleichgewicht der großen Daseinsmächte her: dem zwischen Dauer und Veränderung, Wiederkehr und Fortschritt, Vernunft und Körperlichkeit, Natur und Geschichte (sich durchdringend in der Landschaft, was Höcke angeht, in der mittelrheinischen Kulturlandschaft). Höckes Volksbegriff enthält die Idee von Entelechie, einer eigentümlichen »Selbstentfaltung« im Zusammenwirken schöpferischer Individuen, die sehr unterschiedlich disponiert, einander aber doch eng verbunden sind. Wenn sich Höcke im Rahmen dieses Weltbilds mit deutlich pädagogischen, auch studienrätlichen Zügen selbst einen »tief verankerten Humanismus« zuspricht, so ist dies keine Schutzbehauptung.
Ist die Massenzuwanderung aus Vorderasien und Afrika nach Zentraleuropa Folge und Ausdruck einer humanistischen Haltung (wie die Allianz der Altparteien nicht müde wird zu beteuern)? Björn Höcke erkennt in ihr gerade das Gegenteil. Aus der »massenhaften Einwanderung von Glücksrittern und Menschen, die sich einfach ein besseres Leben in Europa und Deutschland versprechen« (S. 40), resultieren Chaos, Rechtlosigkeit und Willkür und langfristig »die brutale Verdrängung der Deutschen aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet« zugunsten einer brisanten Koexistenz von Bevölkerungsteilen, die kaum integrierbar sind und sich in Parallelgesellschaften gegeneinander abkapseln. Zugleich werden »die wirklichen Flüchtlinge« praktisch unsichtbar – jene, »die nicht nur auf unsere Hilfe berechtigten Anspruch erheben können, sondern denen wir um unserer selbst willen helfen müssen, damit wir keinen Schaden an unserer Seele erleiden«. (S. 188) Wer wünscht sich eigentlich die Massenansiedlung von Orientalen und Afrikanern nebst fortschreitender Islamisierung? Die Deutschen werden nicht gefragt, und für das Schicksal ihrer Nachkommen fühlt kein Regierender Verantwortung. Hinter »der weichen humanitären Phraseologie unserer herrschenden Klassen« verbirgt sich Höcke zufolge »ein hartes politisches Programm« (S. 201). Dieses musste indessen nicht eigens vereinbart und ausformuliert werden, sondern ist schlicht »die logische Folge des Globalkapitalismus mit seiner Forderung nach weltweit freier Bewegung von Gütern, Kapital und eben auch Menschen« (S. 244). Um diese Einsicht vom Geruch der Verschwörungstheorie zu befreien und ihr Plausibilität zu geben, »reicht schon die Kenntnis des UN-Berichts ›Replacement Migration‹ von 2001, der die Öffnung Deutschlands für über 11 Millionen fremde Zuwanderer verlangt, angeblich, um ›demographische Lücken‹ zu füllen« (S. 205). Den vertrauensseligen Wählern der Altparteien wird diese globalpolitische, transatlantische Weichenstellung als Barmherzigkeit gegenüber menschlichen Einzelschicksalen nahegebracht, und als Gelegenheit für reuevolle Deutsche, sich weltoffen zu zeigen.
Um diesen unaufhaltsam erscheinenden Erdrutsch aufzuhalten, ist die Rückkehr des Politischen vonnöten – in Höckes Worten »der Ausstieg aus der internationalen ›Anti-Islam-Koalition‹ und die konstruktive Zusammenarbeit mit muslimischen Ländern – je nach nationaler Interessenlage« und eine »konsequente Verhinderung der drohenden Islamisierung Deutschlands und Europas« durch »Stopp der unkontrollierten Masseneinwanderung« und »Durchsetzung unserer Rechts- und Werteordnung« (S. 195). Darüber hinaus regt Höcke an, »man sollte darüber nachdenken, die Zahl der hier lebenden Muslime zu verringern« (S. 197), wohl im Gegensatz zu anderen Flügeln der AfD, die vor allem auf konsensfähige Überzeugungsarbeit im Rahmen des großmedial betreuten Diskurses setzen. »Entscheidend ist der Wille zum Schutz unserer Außengrenzen …«(S. 202)
Die entscheidende, die genuin politische Frage für Gegner der Massenzuwanderung ist, ob man im Wesentlichen auf ein Arrangement unter den politischen Kräften in ihrer gegenwärtigen Konstellation hofft oder der Realität, der absehbaren Entwicklung, die bessere Überzeugungsarbeit zutraut. Für Björn Höcke stellt uns die Lage vor eine letztlich unausweichliche Alternative: Selbstbehauptung der Völker oder Untergang. Die Altparteien, die in Ansehung der Schicksalsfrage als Block auftreten, klammern sich, um ihre Haut zu retten, an die Formel: Kosmopolitismus oder Untergang. Den Untergang sehen sie durch die Machenschaften der »Rechten«, »Rechtspopulisten«, »Völkischen« heraufdämmern – von außen kann er nicht kommen, denn ein Außen darf es nicht mehr geben. Deshalb dürfen Debattenbeiträge von AfD-Abgeordneten im Block grundsätzlich nicht beklatscht werden. Um an jene Formel weiterhin glauben zu können, muss der Block den großen weißen Elefanten ignorieren: die Gefahr einer muslimischen Mehrheitsbevölkerung in den Großstädten und, ein wenig später, landesweit. Um gegen den Populismus, die »vermeintlich einfachen Lösungen«, Widerstand zu leisten, ist der Block nun in ein wahrhaft populistisches Dilemma geraten. Er ist gezwungen, darauf zu wetten, daß der Islam tolerant und selbstkritisch ist oder in Europa tolerant und selbstkritisch werden wird oder durch Entwicklungshilfe in Afrika zu einem verkraftbaren Immigrationsrinnsal kanalisiert werden kann. Wenn der weiße Elefant weiterhin im Raum steht, und vor den Toren Europas eine ganze weiße Elefantenherde, die AfD somit weiter wächst, bleibt den Altparteien nur ein einziger Ausweg: Um die populistische Gefahr zu bannen, müssen sie selbst das Programm der AfD in die Tat umsetzen (dies aber als Notmaßnahme gegen den Populismus deuten).
Björn Höcke wäre dann einer von jenen Männern und Frauen, die Recht behalten, indem sie die Rolle von Sündenböcken übernehmen.
Herr Höcke, der Begriff »Heimat« ist zentral in all ihren politischen Auftritten und, wie ich annehme, in Ihrem Selbstverständnis überhaupt. Nun ist ja Ihr Leben, bevor Sie in Bornhagen ansässig wurden, von vielen Ortswechseln geprägt, schon als Kind mußten Sie zweimal umziehen, und als Politiker sind Sie dauernd unterwegs. Ist die Heimat so etwas wie die spröde Geliebte, ein treibendes Ideal, das gerade jener hochhält, der es entbehrt?
Ich entstamme einer Vertriebenenfamilie aus Ostpreußen. Den Erzählungen meiner Großeltern habe ich ausgiebig gelauscht und ihre Erfahrung des Heimatverlustes nachempfunden. Heimat ist aber auch eine reelle Kindheitserfahrung. An meinen Geburtsort Lünen an der Lippe bin ich oft zurückgekehrt, weil meine Großeltern dort eine Gärtnerei unterhielten. Ich wollte sogar lange Zeit Gärtner werden. Daß mein Vater als Sonderschullehrer eine Stelle in Neuwied am Mittelrhein fand, war für mich kein Heimatverlust. Im Gegenteil, der Rhein hat dem Heimatbegriff nur eine größere Dimension verliehen. Nirgendwo sonst in Deutschland, Harz und Kyffhäuser vielleicht ausgenommen, ist die lokale Sagenwelt, die sichtbare Mythologie so dicht wie dort anzutreffen – denken Sie an die Lorelei, an Lohengrin oder das Nibelungenlied. Am Rhein trafen die Römer auf die Germanen, mit diesem Konflikt wurde die Grundlage für das Entstehen unseres Volkes gelegt, und so kommen Dichter, Maler und Komponisten immer wieder auf den Rhein zurück.
Ich habe gelesen, daß Sie in Neuwied in einem Hochhaus leben mußten und sehnsuchtsvoll aus dem Fenster auf einen Waldstreifen am Horizont sahen. Sie werden verstehen, daß sich der Verdacht aufdrängt, Ihr Loblied des Rheins sei eine Bildungsfrucht und keine kindliche Erfahrung.
Nein, mich verbinden durchaus konkrete Kindheitserlebnisse. Mein Vater unternahm mit mir viele Fahrten zu bekannten Burgen und Ruinen an Rhein und Mosel wie Rheinfels, Marksburg, Eltz oder Cochem. Das hat mich als kleinen Jungen natürlich sehr fasziniert. Die magische Welt der Ritter und Burgen, das Mittelalter oder auch die Römerzeit, auf die man am Rhein ja zwangsläufig stößt – all das beflügelte meine kindliche Phantasie und legte wahrscheinlich auch die Grundlage für mein späteres Interesse an der Geschichte. Ich hatte damals natürlich noch keinen systematisch-sachlichen Zugang dazu. Die mit den alten Bauwerken verbundenen Erzählungen und Sagen wurden vielmehr Teil meiner realen Lebenswelt.
Hat Ihr Vater damit den Grundstein für eine romantische Weltauffassung gelegt?
Das wäre zu kurz geschlossen. Mein Vater hat nicht nur meine Phantasie angeregt, sondern auch mein kritisches Denken. Weil wir gerade beim Rhein sind, im Anblick des majestätischen Stroms hat er mir zwei ganz wesentliche Einsichten vermittelt: Zum einen den heraklitischen Spruch, daß man nicht zweimal in denselben Fluß steigen könne und es also ein unmögliches Unterfangen darstelle, vergangene Zustände zu wiederholen, zum anderen die Stetigkeit des fließenden Wassers, die durch Menschenkraft nicht aufzuhalten ist, weshalb ein propagiertes »Ende der Geschichte« nur ein Zeugnis menschlicher Hybris darstellen kann. Diese Einsichten haben mich in der Politik vor einem naiven Machbarkeitsglauben bewahrt, ohne jedoch in einen lähmenden Fatalismus abzugleiten. Wir Menschen sind in dieser Welt nicht allmächtig, aber auch nicht ohnmächtig.
Diese philosophischen Einsichten allein sind noch nicht geeignet, einer romantisierenden Weltflucht zu entgehen.
Ich glaube, es handelt sich nicht um Weltflucht, sondern eher um eine besondere Form der Weltzuwendung, wie sie für Kinder und Jugendliche nicht ungewöhnlich ist. Viele Jahre später, während meines Studiums, stieß ich auf den Begriff der »Geschichtsimagination«. Das »ausschmückende Erkennen« bildet bei diesem geschichtsdidaktischen Ansatz eine Säule des menschlichen Geschichtsbewußtseins. Aus meiner kindlichen Vorstellungswelt ist dann irgendwann die Erkenntnis entstanden, daß das Vergangene auch im Heute präsent und damit real ist.
Sie meinen als kollektive Erinnerung an gemeinsame Wurzeln?
Nicht nur als Erinnerung, in die Gegenwart ragt stets ein konkret greifbares Erbe aus der Vergangenheit hinein: Bauwerke, Siedlungsformen, soziale Strukturen. Sie sind »historische Konstanten«, wobei Konstanz bezogen auf den ewigen Fluß der Zeit immer nur relativ zu verstehen ist. Für den Menschen haben sie eine stabilisierende, identitätsstiftende Funktion. Dauer und Wiederkehr sind aber nur die eine Seite der Geschichte: Veränderung und Fortschritt gehören ebenso zu ihr und rhythmisieren ihren Lauf. Ludwig Klages hat einmal das Phänomen des Rhythmus als die »Grunderscheinung des Lebens« bezeichnet. In der Geschichte ist er mal schneller, mal langsamer, mal beschwingt, mal behäbig – bisweilen macht er Sprünge und es ändert sich die ganze Taktart. Momentan erleben wir nach meinem Empfinden gerade eine historische Beschleunigung.
Wie berühren uns diese komplexen Zusammenhänge? Werden sie auch ganz konkret in unseren Alltagserfahrungen wahrnehmbar?
Ja, natürlich, die Gegenwart des Vergangenen erleben wir nicht nur in den baulichen Zeugnissen früherer Epochen, sondern auch bei den Menschen: Es werden nicht nur Kinder geboren, in alle übrigen Altersabschnitte rücken ebenfalls immer wieder andere nach. So werden gleichsam auch Jünglinge, Männer und Greise neugeboren. Darin liegt etwas Tröstliches.
Ein englischer Pianist hat einmal erzählt, wie er zu Beginn seiner Konzerttätigkeit im Publikum lauter weiße Haare hat wehen sehen. Er war sich sicher, diese Tätigkeit vielleicht noch zehn, höchstens zwanzig Jahre ausüben zu können, denn spätestens dann wären alle Liebhaber des romantischen Kunstliedes ins Grab gesunken. Doch nach weiteren dreißig Jahren Praxis saßen da immer noch weißhaarige Häupter vor ihm. Die waren einfach nachgewachsen.
Es ist für ein Gemeinwesen auch zuträglich, wenn sich jugendlicher Überschwang in reife Erfahrung wandelt. Beide Temperamente sind in einem vitalen Volk nötig. Für den Einzelnen ist es erfreulich, wenn der unabwendbare körperliche Verfall von einer Zunahme an Wissen und Duldungsfähigkeit begleitet wird und die Leistungsfähigkeit dadurch zumindest konstant gehalten werden kann. Oft ändern sich ja in einem Menschenleben die entscheidenden Mißstände im Land nicht wesentlich und dennoch arbeiten viele an einer Verbesserung der Verhältnisse, ohne daß sie die Früchte ihrer nur scheinbar fruchtlosen Aussaat einmal selbst ernten können.
Hat die menschliche Geschichte für Sie einen Sinn?
Das ist eine schwierige Frage. Es könnte sein, daß die ganze Entwicklung letztlich nur auf einen kurzen Augenblick der Vollkommenheit ausgerichtet ist, der sofort wieder vergehen muß. Dieser Gedanke verfolgt mich seit einigen Jahren. Aber für uns Menschen ist nicht erkennbar, worauf das ganze Geschehen am Ende hinausläuft. Würden wir es irgendwann erkennen, hätten wir unsere Stellung zwischen Tier und Gott und damit unseren menschlichen Wesenskern verloren. Alles, was bisher darüber an Gedanken und Theorien geäußert wurde, bleibt letztlich Spekulation. Ich sehe aber unterhalb der Ebene dieser teleologischen und metaphysischen Fragen einen ganz praktischen, konkreten Sinn in der Geschichte: Als Gestaltungs- und Bewährungsfeld für uns Menschen. Wir drücken der Welt unseren Stempel auf – im Guten wie im Schlechten – und in dem sinnigen bis irrsinnigen Spiel des Lebens wächst und reift unsere Seele.
Versagen und Unsinn gehören also auch zum Sinn der Geschichte?
Ja, wir Menschen experimentieren gerne herum, nicht nur technisch und künstlerisch, sondern auch politischgesellschaftlich. Das geht immer wieder auch schief. Aber wir haben nun einmal ein »exploratives Wesen«, wie die Ethologen sagen und wovon die vielen unterschiedlichen politisch-sozialen Ordnungen der menschlichen Geschichte zeugen. Nicht nur mit Blick auf die immer wieder mißglückten Versuche, sondern auch bezogen auf unsere innere Entwicklung bleibt das eine gefährliche Gratwanderung. Das Matthäusevangelium mahnt mit der Frage: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« Die Unersättlichkeit nach Lust, Anerkennung und Gütern läßt sich ohnehin nicht stillen. Zuletzt ist jeder mit seinen Taten allein. So bedeutet das Leben für uns eine Bewährung, und solange es währt, sind wir in der Lage, ihm Bedeutung zu verleihen oder Bedeutung aus ihm zu ziehen. Die letzten Zusammenhänge dieses merkwürdigen Spiels entziehen sich jedoch unserem Wissen und Wollen.
Kann man aus der Geschichte lernen?
Ja, aber mit Einschränkungen, weil sich Geschichte nur strukturell wiederholt und diese Strukturen selbst nicht objektiv zutage treten. Der Zugewinn übertragbarer Erkenntnisse steht aber im Konjunktiv. In der Lebenswirklichkeit gleicht Geschichte weniger einem Zuwachs an Weisheit und klugem Handeln, sondern eher einer »endlosen Kette von Dummheiten, die immer wieder begangen wurden«, wie Edgar Jung feststellte.
Für jede geschichtsmächtige Kraft geht es primär darum, die Wirklichkeit nach ihren Vorstellungen zu verändern und zu formen.
Dahinter steckt jedoch nicht nur der Wunsch nach Veränderung, sondern auch nach Bewahrung. Es gibt heute zum Beispiel Bestrebungen, das deutsche Volk oder gar die Völker überhaupt zugunsten einer ökonomisch brauchbareren Species abzuschaffen – wir kennen die bekannte Formel »Deutschland verändert sich«. Vom Wahnsinn eines solchen Experiments und der Tatsache, daß Deutschland verändert wird, einmal abgesehen, versuchen auch solche Betrebungen, etwas zu bewahren, in diesem Falle nämlich das endlose Wachstum und die magische 80-Millionen-Einwohnerzahl als angebliche Voraussetzung des deutschen Wohlstandes. Wieder andere halten Emanzipation für den eigentlichen Sinn des Menschenwesens, egal, was auch immer dabei auf der Strecke bleibt. Ich will damit sagen, daß es nicht um die Alternative »verändern oder bewahren« geht, sondern um die ausgewogene Bewertung, welche Dinge bewahrenswert sind und welche nicht. Diese Frage stellt sich heute viel dringlicher, weil die technischen Mittel dem natürlichen Wandel eine Dynamik verliehen haben, der geschichtlich einmalig ist. Man kann heute nicht getrost abwarten, daß sich eine Irrlehre selbst widerlegt – zu groß sind die Folgeschäden utopischer Experimente. Allzumenschlich ist es, wenn die meisten Menschen die Konsequenzen eines Weiter-so nicht wahrhaben wollen, unverantwortlich aber, wenn ihnen bewußt Schlafsand in die Augen gestreut wird, wie es unsere politische Klasse tut.
Die in den letzten Jahrzehnten immer stärker um sich greifende Vereinzelung der Deutschen läßt sich freilich kaum allein mit »Schlafsand« erklären. Auch um die deutsche Kultur ist es nicht besser bestellt. Einst waren die Deutschen dafür bekannt, daß sie gemeinsam singen. Mittlerweile haben sie Stöpsel in den Ohren. Der Begriff »Baukunst« hat keinen Inhalt mehr, das gilt für Sakral- und Zweckbauten ebenso wie für das Eigenheim. Das Theater ist schon lange kein Bildungsort mehr, man meint dem Publikum keine langen Texte mehr zumuten zu können und zerstreut mit Jahrmarktspossen und Obszönität. Wenn ich mir heute die Bestsellerliste anschaue, finde ich nichts Bewahrenswertes. Es fiele mir leicht, wie Luther auf 95 Thesen zu kommen.
Das stimmt. Die Anzahl von uns Deutschen ist im Schwinden und unsere kulturellen Quellen sind verschüttet. Aber wenn ich mit dem Zyklischen im Geschichtslauf rechne, folgt auf einen noch so langen Winter irgendwann ein Frühling. Ob es ein deutscher Frühling wird, wird sich zeigen. Dazu ist ein Punkt aus meiner Kindheit interessant: im Gegensatz zu meinen Schwestern bewegten mich die Ruinen der Rheinlandschaft sehr viel mehr als die erhaltenen oder wiederaufgebauten Burgen. Diese Anblicke erzeugten schon als Kind bei mir eine Wehmut über das vergangene menschliche Leben, dessen Spuren im Lauf der Zeit verwischen. Im dahingleitenden Geschichtsstrom – der Rhein! – verschwinden die menschlichen Werke nach und nach – die Burgruinen! Einerseits ragen sie stolz empor, dann auch wieder zeigen sie die Hinfälligkeit aller großen Pläne an. Ihr bloßes sichtbares Dasein hat aber auch etwas Stärkendes: Was uns heute so romantisch vorkommt, das sind oft gerade jene Züge der kriegerischen Behauptung des Eigenen. Diese Tugend – heute mehr zivil als militärisch – scheint den Deutschen und Europäern abhandengekommen zu sein.
Aber wirkt nicht allein die Erkenntnis der Vergänglichkeit, wie sie sich in den Burgruinen symbolisch ausdrückt, niederschlagend auf uns?
Nur, wenn die Welt sich ausschließlich um unser kleines Ich dreht, wenn man sich lediglich als vereinzeltes »Atom« versteht. Bescheidenheit ist ja auch eine Sonderform des Stolzes – in diesem Fall eben das Bewußtsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Als Teil einer Gemeinschaft, wie etwa als Angehöriger eines Volkes, kann jeder einzelne zu einem wichtigen Glied einer langen historischen Kette werden. Wie bei einem Staffellauf, bei dem der Staffelstab von Generation zu Generation weitergereicht wird, jeweils versehen mit einem ganz bestimmten historischen Auftrag. Das tröstet über die individuelle Vergänglichkeit hinweg und läßt einen zuversichtlich an dem gemeinsamen Werk weiterarbeiten. Natürlich nur, wenn man diese Verantwortung – den Staffelstab – annimmt. Damit haben ja so manche Landsleute heute ein Problem…
Weil sie sich mehr als einzigartige Individuen denn als Gemeinschaftswesen verstehen.
Hier liegt schon ein eklatanter Denkfehler vor: Der heutige Ego-Wahn hat nichts mit Individualität zu tun! Betrachten wir einen gestandenen preußischen Offizier aus dem sogenannten Obrigkeitsstaat Friedrich des Großen: er war im Ideal ein unabhängiger Geist mit Ecken und Kanten, eine eigenwillige Persönlichkeit – und gleichzeitig ein treuer Diener des Staates und seiner Bürger.
Der preußische General Johann Friedrich Adolf von der Marwitz verweigerte im Siebenjährigen Krieg den Befehl des preußischen Königs zur Plünderung des sächsischen Schlosses Hubertusburg und wählte selbstbestimmt »Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte«, wie es auf seiner Grabplatte geschrieben steht.
Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, daß Befehl und Gehorsam, anders als es uns das zeitgeistdeformierte Narrativ vom preußischen Untertanengeist suggerieren möchte, kein Selbstzweck waren. In den heutigen westlichen Gesellschaften scheint eine Mehrheit ganz von der Sorge um das eigene Wohlergehen eingenommen. Die Verantwortung für das Ganze gerät dabei immer mehr aus dem Blick. Die konservative Schelte gegen den verderblichen »Individualismus« geht fehl: Individuation ist ein wichtiger Teil im Prozeß der Selbstwerdung. Sie ist aber immer auch eingebettet in einen sozialen Zusammenhang. Kurzum: Es ist das fruchtbare Wechselspiel zwischen Individuum und Gemeinschaft, das ein Gemeinwesen erst lebendig macht. Gegenwärtig haben wir eine Tendenz zum ichsüchtigen Kollektivismus, der sich auf der Grundlage eines eigenartigen Konformitätsdruckes ausbildet. Ich finde, diese Zeittendenz ziemt uns Europäern nicht.
Wir haben uns etwas vom Thema Ihrer Kindheit entfernt. In den Westerwald, den sie vom Hochhausfenster bewunderten, sind Sie schließlich doch gelangt?
Zu der Heimat, die mir mein Vater wies, mußte natürlich die kommen, die ich selbst eroberte. Ich betrachte es als großes Glück, daß ich meine Kindheit und Jugend in einem Dorf verbringen konnte, einem ganz kleinen Dorf im Westerwald, Anhausen heißt das. Es wird Sie wundern, daß ich später Lehrer wurde, obwohl ich die Schule in Kindertagen als nebensächlich betrachtete und sie stets mit minimalem Aufwand betrieb. Wenn ich sehe, wie heute viele Kinder rundum betreut und verwaltet werden, schauderts mich. Ich habe mich, wenn es nur irgend ging, im Wald, auf Wiesen und Feldern, in den Scheunen und Stallungen der Bauernhöfe herumgetrieben und all den Unfug angestellt, der kleinen Jungs so Spaß macht. Und in dieser Ländlichkeit, wo die Welt noch groß und der Tag noch lang ist, liegt meine eigentliche Heimat, und dort wird sie auch bleiben.
Entspricht das heute nicht einer unrealistischen Verklärung des Landlebens, wie es recht einkömmlich von Magazinen wie Landlust betrieben wird? Ist so etwas jenseits dieser medial konfektionierten Storys überhaupt noch lebensfähig?
Es geht hier gar nicht um eine wie auch immer verklärte Idylle, sondern um einen produktiven Lebensrahmen: Es gibt pädagogisch nichts Wertvolleres, als das Aufwachsen auf dem freien Land, mit Tieren, mit Abenteuern und mit der Möglichkeit, unter überschaubaren Gefahren die eigenen Grenzen zu lernen. Wenn Sie sich die Biographien der deutschen Dichter und Denker anschauen, werden Sie feststellen, daß nahezu alle auf dem Land oder in kleinen Ortschaften aufwuchsen, auch wenn später ihre Namen mit großen Städten verbunden wurden. Leider drängen heute immer noch die meisten Leute in die Großstädte, und viele Dörfer, nicht nur in den neuen Bundesländern, veröden. Gerade um der Kinder willen ist hier eine Trendwende sehr zu wünschen.
Welche Kindheitserinnerungen sind Ihnen besonders lieb und teuer?
Ich erwähnte bereits eingangs meine Großeltern und ihre Gärtnerei in Lünen. Oft denke ich an das große leuchtende Rosenfeld, das mich im Sommer – mehr noch als durch seine Farbenpracht – mit seinem einzigartigen Duft verzauberte. Ich kann die Tausenden von Freilandrosen heute noch riechen. Das Geruchsgedächtnis gilt bekanntlich als das stabilste des Menschen. Und zugleich mit dem Geruch treten dann auch ihre Gesichter und ihre äußere Gestalt wieder ins Bewußtsein. Mein Großvater verkaufte seine Erzeugnisse bevorzugt auf den Wochenmärkten im nahen Dortmund. Damals gab es drei große Wochenmärkte, an die ich mich erinnere. Ich liebte es, in den Ferien früh mit meinem Großvater aufzustehen und zu den Märkten zu fahren, nachdem Oma die Brote geschmiert und die Kanne Tee gekocht hatte. Der Tee war besonders in der kalten Jahreszeit wichtig, wenn die Sonne bis in die späten Vormittagstunden brauchte, um über die hohen Häuser zu steigen. Gegen die aufsteigende Kälte halfen auf Dauer weder die drei Paar Socken noch das Rumgehopse auf der Stelle. Man konnte immer sehr genau beobachten, wie sich die Laune der Verkäufer an den Marktständen besserte, wenn die Sonne es dann endlich über die Häuser geschafft hatte. Ich glaube, ich war der jüngste Verkäufer dort und erfreute wohl die Herzen gerade der älteren Damen. Für das Sommergeschäft waren die Freilandrosen das wichtigste wirtschaftliche Standbein. Heute würde man sagen, mein Großvater hatte hier ein Alleinstellungsmerkmal und eine größere Stammkundschaft. Im Sommer verbrachte er die meiste Zeit auf dem Rosenfeld. Welke Blüten wurden abgeschnitten, damit die Pflanze mehr Wuchskraft für die Knospen hatte. Mein Großvater war völlig unempfindlich gegen die robusten Stacheln seiner Rosen, er schnitt sie meistens ohne Handschuhe! Im Winter verkaufte er übrigens Weihnachtsbäume, die er bei einem Bauern im Sauerland holte. Auch die stachlige Blaufichte bewegte er ohne jeden Handschutz. Das hat mir damals imponiert und wirkte sehr männlich auf mich. Mein Großvater hatte hornhautgefeite Malocherhände.
Man sagt, Heranwachsende müssen sich gegen die Eltern durchsetzen und wählen deshalb oft die Großeltern als ihre natürlichen Verbündeten. In Ihrem Falle scheint deren Vorbildwirkung besonders ausgeprägt gewesen zu sein?
Großmutter war die Herrin des Hauses und Großvater der Herr des Feldes. Die Urgroßmutter, die unverheiratete Schwester meiner Großmutter und ein Onkel lebten auch noch in dem Haus. Wenn wir dann in den Ferien einfielen, war das ein richtiges Großfamilienleben, voller Trubel und Hektik – aber genau das gefiel mir als Kind besonders gut, es war einfach immer etwas los! Die Frauen standen oft in der Küche. Ohne seine Bratkartoffeln ging Opa nicht ins Bett. Und meine Großmutter machte wirklich die besten Bratkartoffeln, die man sich denken kann. Einmal in den Ferien gab es »Kielkes mit Spirkel«, ein