Über das Buch:
In ihrer Kindheit leidet Angela O. unter der lieblosen Behandlung ihrer Mutter. Spät erst befreit sie sich aus der Unterdrückung in ihrem Elternhaus, lernt ihren Mann Horst kennen und gründet die Familie, nach der sie sich gesehnt hat. In einer Krabbelgruppe begegnet sie Christen, die ihr die Liebe Gottes vermitteln. Angela und Horst übergeben ihr Leben Jesus und auch ihr Sohn Björn ist trotz seines jungen Alters offen für den Glauben. Sein kindliches Vertrauen gibt ihm Halt und neuen Lebensmut, als er schließlich an Krebs erkrankt. Obwohl er nur noch wenig Zeit zu leben hat, strahlt er vor Freude und wird ein Zeugnis für sein Umfeld. Es ist spürbar: Gott begleitet die Familie durch ihren Schmerz und verwandelt ihre Leidenszeit in eine Segenszeit. Immer wieder bricht sein Licht durch die Wolken und macht die Dunkelheit hell.
Über den Autor:
Lothar von Seltmann war Direktor einer Hauptschule. Nach seiner Pensionierung begann er mit dem Schreiben von Gedichten und Romanbiografien. Er ist Vater von drei erwachsenen Kindern und lebt mit seiner Frau in Hilchenbach.
7. Die Suche nach dem Richtigen
Im Sommer 1971 sollten die Leute im Dorf ein ganz neues Thema zu bereden haben, das mit den Sperlings „In der Enke“ zu tun hatte. Angela fand eines Abends neben ihrem Teller einen Zeitungsausschnitt vor, den die Mutter aus irgendeiner ihrer Zeitschriften herausgerissen hatte. Auf diesem Papierfetzen war eine Anzeige rot umrandet, die natürlich das Interesse des achtzehnjährigen Mädchens weckte. Halblaut las sie den Text:
„Junger Mann, 23, Pkw, sportlicher Typ, Schreiner, Nichtraucher, offen für ernst gemeinte Bekanntschaft; spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Anfragen unter Chiffre JM 23 PKW an …“
Angela Sperling zog die Stirn kraus und blickte ihre Mutter mit erstaunten Augen an: „Was soll das denn, Mama? Willst du mich verkuppeln? Ich glaub’s nicht!“
Mama Marie antwortete, als sei es das Normalste von der Welt: „Mir hat die Anzeige gefallen und ich denke, ich lade den jungen Mann mal ein. Der könnte doch eine gute Partie für uns sein.“
„Für uns?! Für dich vielleicht, Mama“, gab Angela deutlich empört zurück, „aber nicht für mich! Ich will keinen Partner, den du mir aussuchst. Und schon gar nicht per Zeitungsanzeige!“
„Wenn du doch in deiner Firma und in der Berufsschule und im Kirchenchor keinen gefunden hast und auch keinen findest“, stichelte die Mutter weiter.
„Ich hab ja auch nicht gesucht und will auch noch nicht suchen, Mama!“ Angelas Antwort klang deutlich. „Und lass du deine Finger da raus!“
„Geht schon nicht mehr“, kam die knappe Antwort.
Angela sprang von ihrem Stuhl auf. „Was heißt: Geht schon nicht mehr?“, fragte sie in deutlicher Erregung.
„Das heißt, dass ich dem jungen Mann bereits geschrieben und ihn eingeladen habe, mein Fräulein“, informierte die Mutter ihre entsetzte Tochter.
Die konterte deutlich: „Bist du verrückt geworden, Mama? Nennst mich hässliches Entlein und hängst mir einen Kerl an den Hals? Du spinnst wohl!? Da hast du dich geschnitten! Ohne mich! Ich gehe!“
„Dann geh doch!“, bestätigte Marie Sperling ihre Tochter, fügte aber spöttisch lachend, wie selbstverständlich an: „Schreib dir’s in den Kalender, dass wir uns mit dem Schreiner am Samstag um vier beim Weber in Dreisbach treffen. Danach kannst du zur Arbeit zum Wagner gehen.“
„Du musst wirklich verrückt sein, Mama“, stellte Angela fest und verließ kopfschüttelnd das neue Esszimmer. Dabei wusste sie, dass sie dieses Spiel zunächst einmal mitspielen musste, wollte sie die derzeitige „Ruhe“ im Haus erhalten.
* * *
Es war ein merkwürdiges Treffen, das da in einer hinteren Ecke des Gasthauses „Beim Weber“ ablief. Mutter Marie Sperling saß am Kopfende des Tisches in dieser Ecke hinter einer Tasse Kaffee. Der Tisch stand mit seinem anderen Ende gegen die Wand, sodass die Frau diese Wand vor sich hatte; sie wollte wohl nicht in den Raum schauen und von dort auch nicht leicht zu erkennen sein. Ihre Tochter Angela saß an der einen Längsseite des Tisches, auch mit dem Blick zur Wand. Ihr gegenüber saß der Gast des Treffens Franz-Josef Haßler, der – in Angelas Augen – kleine dicke Schreiner, den die Mutter nach hier eingeladen hatte. Der junge Mann konnte allein in den Raum blicken und auch von dort angesehen werden, was Marie Sperling durchaus wichtig war. Zwischen den beiden jungen Leuten, um die es hier eigentlich ging, standen zwei gefüllte Limo-Gläser, ein ungenutzter Aschenbecher – am Tisch saßen ja nur Nichtraucher – und eine Vase mit einem Strauß bunter Wiesenblumen, für den Herr Haßler zunächst einmal eine Vase geordert hatte. Die Blumen sollten ja nicht welken.
Der junge Mann war aus Schwarzenau gekommen, einem Wittgensteiner Dorf an der Eder, um das Fräulein Angela Sperling kennenzulernen. Er kam auch bald ins Gespräch mit ihr: mit ihr, das heißt mit der Mutter Sperling, nicht aber mit der Tochter, für die es doch hier um den „Deckel“ ging.
Angela hielt sich aus dem Gespräch fast völlig heraus. Sie versuchte auch erst gar nicht, ihr Desinteresse an der Begegnung zu verbergen. Ihre Äußerungen zu den wechselnden Gesprächsthemen waren an einer Hand abzuzählen. Sie hatte nur einen Gedanken: wenn das Treffen mit diesem Aufschneider und ihrer aufgekratzten Mutter doch nur bald zu Ende ginge. Aber es brauchte doch noch etwas Geduld und ein zweites Glas Limonade, während Marie den zweiten Kaffee trank. Herr Hassler hätte ja viel lieber ein Bier und einen Kurzen getrunken, meinte er, aber er sei ja schließlich mit dem Auto hier und müsse circa 50 km sehr kurvenreich und über etliche Berge wieder nach Hause fahren.
Gegen halb sechs wurde es Angela dann doch zu bunt und ihre Mutter wurde ihr zu peinlich. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und verabschiedete sich. „Ich muss gehen. Ich hab Dienst.“ Und schon war die Achtzehnjährige draußen. Kein Handschlag und kein weiteres Wort. Marie Sperling schaute ihrer Tochter schon ein wenig konsterniert nach, vermochte aber nicht, sie aufzuhalten. Sie drängte dann allerdings auch auf Beendigung der Begegnung – nicht jedoch, ohne den jungen Mann aus dem fernen Ederdörfchen für den nächsten Sonntag zum Kaffee nach Eckertshofen einzuladen. Im heimischen Wohnzimmer sei die Atmosphäre doch anders; da sei ihre Tochter sicher auch zugänglicher. Dabei hatte sie wohl eher im Kopf, dass man sich den Jüngling doch warm halten müsse. Der konnte als Schreiner Angela und dem Haus noch nützlich werden. Dagegen, dass der Gast die Rechnung übernahm, hatte Marie Sperling natürlich nichts einzuwenden.
* * *
„Hab ich mit der Sache eigentlich auch irgendetwas zu tun, Mama?“, fragte Angela beim Frühstück am Sonntagmorgen, nachdem die Mutter ihr von der Einladung an den sympathischen Herrn Haßler erzählt hatte. Marie Sperling hielt dagegen, der junge Mann habe die Einladung zum Kaffee am nächsten Sonntag gerne angenommen und werde sicher pünktlich vor der Tür stehen. Angela reagierte darauf deutlich verärgert: „Ich hab damit nichts zu tun!“
„Natürlich hast du was damit zu tun“, gab ihre Mutter ebenso ärgerlich zurück. „Es geht doch um dich! Der Franz-Josef ist ein anständiger Junge und zudem eine gute Partie, Mädchen. Die Haßlers haben einen eigenen Betrieb, die haben Zaster. Das ist wichtig!“
„Das interessiert mich einen feuchten Kehricht, Mama“, widersprach die Tochter deutlich. „Zaster hin oder her; er und ich, wir wären ja wie Pat und Patachon. Er klein und dick, ich groß und schlank. Furchtbar! Schlag dir den ,Deckel‘ aus dem Sinn, Mama, auch wenn er als evangelischer Wittgensteiner einen gutkatholischen Namen hat. Ich bin nicht der Topf für ihn. Am Sonntag bin ich nicht zu Hause. Punkt!“
* * *
Angelas Ablehnung dem jungen Mann gegenüber war sehr deutlich, wenngleich ihre Mutter das nicht so sehen wollte. Sie lud den Schreiner auch in der Folgezeit immer wieder ein, damit er sich als eifrige Hilfskraft in Haus und Hof bewähre und auf diese Weise die Nähe zu Angela suchen könne. Die bekam nie Ausgang, wenn Franz-Josef im Haus war. Bei den Eltern und Geschwistern seiner Angebeteten kam der junge Mann gut an. Die wären mit ihm als Schwiegersohn und Schwager durchaus zufrieden gewesen. Auch weil er schon seine Bereitschaft signalisiert hatte, aus dem Wittgensteiner Land ins Siegerland umzusiedeln. Nur Angela, die er zunehmend wie ein balzender Hahn mit allen möglichen Techniken umwarb, wollte von ihm nichts wissen. Es gab keine körperliche Nähe; es gab kein Händchenhalten; es gab keinen erwiderten Schmachtblick; es gab absolut nichts, was für den ,Deckel‘-Bewerber ein Hinweis sein konnte, dass Angela an ihm interessiert war. Ihr Herz und auch ihr Wesen blieben für ihn verschlossen!
Eines Sonntags fasste Angela endlich Mut, dem jungen Mann klaren Wein einzuschenken. Am Tisch bedeutete sie ihm vor der ganzen Familie mit deutlichen Worten, er brauche am nächsten Sonntag nicht wiederzukommen. Und auch sonst nie wieder. Er könne sich den Aufwand der einhundert Kilometer hin und her quer durchs Land sparen und solle sich die spätere Umsiedlung abschminken. Sie habe keinerlei Interesse an ihm. Sie beide passten einfach nicht zusammen. Er möge das bitte akzeptieren und seine Besuche einstellen. Basta!
Den Termin für diese besondere Ansage hatte Angela klug ausgewählt, musste sie doch anschließend sofort aus dem Haus, weil sie einen Chortermin hatte. Deshalb bekam sie von Franz-Josefs Reaktion auf den Korb nichts mit und auch nichts von der Reaktion ihrer Eltern und Geschwister auf diese endgültige Absage an den Deckel, der sich doch in der Familie so viele Sympathien erarbeitet und solche Opfer an Zeit und Geld auf sich genommen hatte und noch auf sich nehmen wollte. Dass es im sperlingschen Wohnzimmer in den nächsten Minuten nicht gerade sanft und höflich zuging, konnte Angela sich denken. Das Unwetter mochte am späten Abend in Mutters Zusammenfassung noch auf sie zukommen. Sie würde es ertragen.
In der Folgezeit arbeitete Angela Sperling weiter in ihrer Netphener Firma, ließ sich nach Feierabend zu Hause einspannen und kellnerte in ihrer Freizeit weiter, freilich bald nicht mehr bei „Wagner“, sondern bei „Weber“. Das Gastwirtsehepaar dieses Hauses hatte die junge Frau „abgeworben“ und ihr zugleich auf der privaten und persönlichen Ebene einen Ort geboten, an dem sie offen reden und ihr Herz ausschütten konnte. Die Webers taten ihr gut, zeigten Verständnis und Anteilnahme und machten ihr Mut, die häuslichen Bedingungen zu ertragen. Es kämen mit Sicherheit bessere Zeiten, und ein Mensch unter 21 Jahren sei nun leider mal noch nicht volljährig und könne deshalb auch noch nicht in allem unabhängig sein. Den Weisungen der Eltern müsse sie sich mal noch beugen und mit Geduld darauf warten, in die große Freiheit entlassen zu werden.
Zum Glück gab es ja bereits die kleinen Freiheiten an den Wochenenden und dann, wenn der Kirchenchor seine Übungsstunden und Einsätze hatte, an denen Angela immer mit Begeisterung teilnahm. Die Fragen um den „Guten Hirten“ aus dem Chorlied waren inzwischen allerdings wieder in irgendwelchen hinteren Schubladen ihres Gemütes abgelegt.
* * *
In eher vorderen Schubladen abgelegt wurde das Wissen, das Angela sich aneignen musste, um demnächst den Führerschein machen zu können – auch eine Freiheit, die sie den Eltern abgetrotzt hatte: wozu sie denn einen Führerschein brauche? Im Umland reiche der Bus und für weitere Reisen sei sie doch ohnehin zu dumm. Zack, da hatte es Angela schon wieder!
Dennoch: Das Wissen um Verkehrsregeln, diverse Straßenschilder, um Lichtzeichenanlagen und alles Übrige drum herum musste ja in jeder Lehrstunde, die alle zwei Wochen stattfanden, greifbar sein und nachgewiesen werden. Die Prüfung in der Theorie im Herbst sollte ja auch das richtige Ergebnis bringen. Die junge Frau hatte sich fest vorgenommen, es ihrer Mutter zu beweisen und diese Prüfung auf Anhieb zu bestehen, was ihr im November 1972 tatsächlich auch gelang. Ihre Angst vor dem praktischen Teil erwies sich ebenfalls als unbegründet: Angela bestand auch die Fahrprüfung mit Bravour und erlebte danach doch tatsächlich, dass ihre Mutter sich zu dieser Leistung einmal positiv äußerte. Sie habe sich in dieser Sache in ihrer Tochter offenbar doch getäuscht. – Wann war so etwas denn zum letzten Mal passiert?
Marie Sperling war dann auch dabei, als der graue „Lappen“, wie der Führerschein von jungen Leuten gerne genannt wurde, im Eckertshofer Dorfgasthof vom Chef der Fahrschule und seiner Schülerin gebührend gewürdigt wurde. Dass die Mutter sich einfach dazusetzte und sich dann auch noch von Herrn Vetter ihr Getränk bezahlen ließ, war Angela wieder sehr peinlich. Unangenehm war ihr auch, dass die Frau davon sprach, dass sie sich ja gerne an den Kosten für den Führerschein beteiligt hätte. Das sei ihr aber nicht möglich gewesen. So reich sei die Familie nicht. Außerdem habe Angela ja bereits eine Zeit lang eigenes Geld verdient, um die Kosten selbst tragen zu können.
Bei dieser Rede wäre Angela am liebsten aufgesprungen und hätte ihrer Mutter deutlich widersprochen von wegen, die Familie sei zu arm, um sich an den Kosten ihres Führerscheins zu beteiligen. Sie, die Mutter, hatte doch in den vergangenen Jahren bis auf das geringe Taschengeld von 10,- DM und später 30,- DM allen Lohn ihrer Tochter für sich einbehalten. Was hatte sie denn mit dem ganzen Geld gemacht? Angela biss sich selbst auf die Lippen, damit sie das nicht zur Sprache brachte. Die Mutter vor Herrn Vetter bloßstellen, das wollte sie dann doch nicht. Aber irgendwann musste diese Sache aufs Tapet kommen!
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Herr Vetter wollte dann aber noch etwas mit seiner Ex-Schülerin besprechen, weshalb er Marie Sperling „sanft“ aus der Tischrunde hinauskomplimentierte. Der Frau passte das zwar nicht, aber sie musste sich fügen und die Gaststube verlassen. Sie tat das auch, wenngleich deutlich widerwillig, musste ihrer Tochter aber noch den Hinweis mitgeben, nicht mehr zu lange zu bleiben, es gebe für sie noch viel Arbeit zu Hause. Daran ändere auch eine bestandene Führerscheinprüfung nichts.
Nachdem die „arme“ Frau hinausgegangen war, kam Herr Vetter gleich zu seinem Anliegen: „Sie sind doch jetzt schon ein paar Jahre bei Ihrer Firma, Fräulein Sperling …“ Der Mann unterbrach sich selbst: „Verzeihung, seitdem unser Bundesinnenminister, Herr Genscher, das so bestimmt hat, muss ich ja Frau statt Fräulein sagen.“ Schmunzelnd und mit besonderer Betonung der Anrede sprach er dann weiter: „Also, liebe Frau Sperling, wollen Sie Ihren Arbeitsplatz nicht einmal wechseln? Sie könnten bei mir anfangen. Ich brauche zum 1. Januar jemanden für mein Büro. Sie wissen, dass zu meinem Betrieb Fahrschule, Tankstelle, Werkstatt und eine Handvoll Mitarbeiter gehören und eben eine Bürokraft, die mich leider demnächst verlässt. Die gute Frau zieht weg.“
Angela verschlug es zunächst die Sprache und sie musste ein paarmal durchatmen. Dann fragte sie: „Könnte ich die Arbeit denn leisten? Drei Abteilungen zugleich verwalten?“
„Wenn ich bei unseren gemeinsamen Übungsfahrten nicht genau diesen Eindruck gewonnen hätte, würde ich Sie nicht fragen, Frau Sperling“, gab Herr Vetter zurück. „Sie haben mir doch eine Menge über Ihre Arbeit erzählt.“
Angela Sperling zögerte mit ihrer Antwort und nahm erst einmal einen Schluck aus ihrem Glas. Dann wollte sie wissen: „Muss ich die Frage sofort beantworten?“
„Nein, Frau Sperling. Sie sollten mir – sagen wir – bis Ende nächster Woche Nachricht geben.“ Nach einem Moment der Besinnung fügte er an: „Sie sollten aber eine eigene Entscheidung treffen und nicht Ihre Mutter entscheiden lassen.“
Das war ja nun eine Aussage! Angela blickte den Mann mit großen fragenden Augen an. „Sie verstehen mich schon richtig, Frau Sperling. Ihre Mutter würde Nein sagen, weil sie Ihnen keine eigene Leistung zutraut. Ich hab das doch im Gespräch vorhin gespürt und herausgehört. Also, denken Sie nach und treffen Sie dann eine Entscheidung. Übrigens: Finanziell dürfte es Ihnen bei mir auch besser gehen. Und jetzt wünsche ich Ihnen noch einmal allzeit gute Fahrt und irgendwann ein eigenes Auto.“
* * *
Die Zeit bis zu Angelas 21. Geburtstag am Mittwoch, dem 8. Mai 1974, zog sich für die junge Frau noch entsetzlich lange hin. Dass sie ihren Arbeitsplatz gewechselt hatte, erwies sich als gut und richtig – nicht nur, weil sie im Betrieb Vetter mehr verdiente. Als einzige Bürokraft trug sie auch mehr Verantwortung, was sie durchaus ein wenig stolz machte. Dass sie zu Hause immer mehr Verantwortung aufgebürdet bekam, ärgerte sie dagegen immer wieder. Als ob sie jetzt die Hausfrau wäre. Die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter um diese Frage nahmen kein Ende und der saß die Hand zuweilen immer noch locker. Was konnten sich ihre Geschwister, die jetzt 18, 16 und 12 Jahre alt waren, inzwischen alles herausnehmen: Heinz-Jochen schickte sich bereits an, das Haus zu verlassen, um Maschinenbau zu studieren. Aber der war ja auch ein Junge, der für den Haushalt ohnehin nicht brauchbar war. Waltraud war zur selbstbewussten Dame geworden, die demnächst die Pflegevorschule eines der großen Siegener Krankenhäuser besuchte und sich ansonsten von Vater und Mutter nichts mehr sagen, geschweige denn vorschreiben ließ. Birgit war dagegen ein armer Tropf, auf den sich Mama Marie ebenso eingeschossen hatte wie auf Angela. Die „Kleine“ musste wohl leidvoll in die Fußstapfen ihrer großen Schwester treten. Sie hatte sich auch von ihrer Mutter schon anhören müssen: „Hätte ich dich Frühchen doch damals gegen die Wand geschmissen, wie dein Vater immer die Katzen gegen die Wand schmeißt.“ Die große und die kleine Schwester vergossen manche Träne gemeinsam, wenn der üble mütterliche Druck mal wieder zu stark wurde und überhandnahm.
Vater Henner war dabei in der Familiensituation so kraft- und machtlos wie eh und je. Sein Griff zur Bierflasche und sonstigen Alkoholika war glücklicherweise seltener und weniger intensiv geworden. Er hatte sich mehr und mehr auf die häuslichen Stunden vor dem großen Fernseher reduziert, der seit einiger Zeit auch bei den Sperlings eine Ecke des Wohnzimmers zierte und den Blick in die Politik, den Sport, die Unterhaltung und auch sonst in die große weite Welt ermöglichte.
* * *
Angela begann nach ihrem besonderen Geburtstag, sich über ihren Auszug aus dem Haus ernsthafte Gedanken zu machen. Jetzt war sie doch eigentlich frei für eigene Weichenstellungen. Aber noch fehlten ihr der Mut und die Kraft für solch eine weitreichende Entscheidung, vor allem deshalb, weil die ständigen Querelen im Haus und die lautstarke Bevormundung durch ihre Mutter ihr wieder stark auf den Magen und die Psyche schlugen. Schließlich trieb die angeschlagene Gesundheit die junge Frau – ohne ihrer Mutter etwas davon zu sagen – zum Arzt. Der verordnete nach einer gründlichen Untersuchung und nach einem langen Gespräch über ihre innere Befindlichkeit Medikamente, die für den Moment notwendig waren. Zudem beantragte er für seine Patientin eine dringende Kur in einer psychosomatischen Klinik.
Die Kur wurde überraschend schnell genehmigt, und Angela Sperling machte sich mit ihrem eigenen Pkw – einem blauen Ford Escort RS 1600, den sie inzwischen bei ihrem Chef erstanden hatte – und der Hoffnung auf innere und äußere Genesung auf den Weg nach Sasbachwalden im Schwarzwald. Dort hatte sie in der Klinik Dr. Wagner einen Platz bekommen. Sie ließ eine verärgerte Firmenleitung zurück, die eine Zeit lang auf die einzige Angestellte verzichten musste. Auch ihre Mutter war darüber sehr aufgebracht, die die Krankheit ihrer Tochter nicht ernst nahm und nun mitten in den Erntemonaten ihr wichtigstes „Arbeitstier“ entbehren musste. Fatal, aber nicht zu ändern. Angela kümmerte das wenig. Ihr war ihre eigene Gesundheit jetzt wichtiger als das Wohlergehen ihrer Firma und das ihrer Mutter. Ihre Abwesenheit würde schon niemanden in den Konkurs oder gar in den Ruin treiben!
* * *
Sechs Wochen Kur in Sasbachwalden taten der jungen Frau sehr gut. Hier fand sie Verständnis bei den Ärzten und dem betreuenden Personal; sie genoss das freundliche Miteinander mit Menschen, die ähnliche Probleme hatten wie sie; sie erholte sich und lebte auf zwischen guten medizinischen Anwendungen, hilfreichen therapeutischen Gesprächen und interessanten Kreativangeboten einschließlich Spaziergängen, Wanderungen und Ausflügen in der näheren und weiteren Umgebung, ob allein oder in unterschiedlichen Gruppen; sie nahm nach anfänglichen Problemen sogar ein paar Pfunde zu. Die verschafften ihr endlich auch ein frauliches Aussehen und machten manche spöttische Bemerkung zu ihrer Figur künftig überflüssig. Angela erlebte herrliche Wochen und eine erfolgreiche Kur in dem Blumen- und Weindorf am Westhang des nördlichen Schwarzwaldes!
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Nachdenken musste Angela in dieser Zeit immer wieder über den merkwürdigen Namen der Winzergenossenschaft dieser Region: Die nannte sich „Alde Gott“ und berief sich auf den Ausruf eines Menschen, der am Ende des Dreißigjährigen Krieges in der verwüsteten und entvölkerten Region eine Überlebende gefunden hatte: „Der alde Gott lebt noch!“ Der „alde Gott“ hatte die beiden zusammengeführt und mit ihnen – der Sage nach – den Neuaufbau der Bevölkerung begonnen.
Angela besuchte einige Male den „Alde-Gott-Bildstock“, einen Stein, der an diese Begegnung erinnerte. Jemand hatte ihn im Jahr 1861 aufgestellt. Darauf war ein Text eingemeißelt, der sie einfach ansprach: „Der alde Gott lebt noch!“ Eine interessante Aussage! „Der alde Gott …“ Genauso sprach sie ein Papierfetzen an, den sie bei ihrem letzten Besuch an diesem Gedenk-Bildstock in das schmiedeeiserne Gittertürchen im oberen Teil der Säule eingeklemmt fand. Das Bild hinter dem Türchen war leider stark verwittert und nicht mehr erkennbar. Aber der Text auf dem zerfledderten Zettel war noch zu lesen. Da stand ein Vers aus 5. Mose 33,27: „Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen.“ Wer mochte den wohl hinterlassen haben? Darunter waren noch zwei Strophen eines Gedichtes zu lesen, das wohl mit dem Mose-Text zu tun hatte. Von wem der Text stammte und ob der vollständig war, konnte Angela dem Zettel nicht entnehmen. Sie steckte ihn dennoch ein und las ihn abends in ihrem Zimmer:
„Zuflucht ist bei dem alten Gott
und unter den ewigen Armen,
die dich erschaffen, erhalten, geführt,
auch wo dein Herz es nicht dankbar gespürt.
Was soll noch Sorge, Zweifel, gar Spott?
Gott will sich deiner erbarmen.
Gott hat dich erkürt.
Gottes Güte ist ohne Ziel.
Voll Treue sind Gottes Gedanken.
Ob sich dein Wesen gewandelt von Grund,
ob dein Geschick sich geändert zur Stund,
und welch ein neues Los dir auch fiel –
Gott kennt kein Weichen und Wanken.
Gott hält seinen Bund.“
Beim Lesen und Nachdenken über die Verse ertappte sich Angela, dass sie mit ihren Gedanken eigentlich gar nicht bei diesem schönen Text blieb, der wie für ihr eigenes Leben geschrieben worden war. So schien es ihr wenigstens. Sie sah sich vielmehr gedanklich bereits wieder im Haus „In der Enke“. Dabei meldete sich in ihr schon jetzt die Angst vor zu Hause. Schon bald würde sie das Paradies dieser Schwarzwald-Wochen wieder eintauschen müssen gegen die Hölle. Irgendwie besetzte sie eine Ahnung, dass da bereits Böses auf sie wartete. Die Kraft, von Sasbachwalden aus eine neue Wohnung zu suchen, wie sie sich das eigentlich vorgenommen hatte, hatte sie schon länger verlassen. Wo und wie hätte sie denn eine eigene Wohnung finden sollen, die weit genug von zu Hause entfernt wäre, um nicht doch in den Klauen der Familie hängen zu bleiben?
* * *
Ihr Gefühl hatte sie leider nicht betrogen: Als Angela am Abend ihres Entlassungstages in Eckertshofen ankam, erwartete sie tatsächlich alles andere als Wiedersehensfreude: Die anwesende Familie war beschäftigt mit der Kirschenernte und mit aller Arbeit, die dazugehörte. Im Nu war die Heimkehrerin einbezogen ins Entkernen der Früchte, ins Waschen der Gläser und Gummiringe und vieles andere. Dabei wurde sie von allen Seiten mit wüsten Vorwürfen und neugierigen Fragen nach einem Kurschatten bombardiert. Dann erfuhr sie nebenbei, dass bei ihrer Post die fristgemäße Kündigung des Arbeitsplatzes bei der Firma Vetter läge. Der Rückgang der Aufträge zwinge leider zu dieser Maßnahme. Die Mutter hatte doch tatsächlich die Post ihrer Tochter geöffnet! Hatte die Frau noch nie etwas von einem Postgeheimnis gehört? Angela war doch inzwischen längst volljährig und unabhängig!
* * *
Welch ein schlimmer Empfang! Sollte der Kurerfolg auf diese Weise sofort wieder baden gehen? Nein! Angela sagte die halbe Nacht lang zu sich selbst: „Du bist volljährig und kein Volltrottel! Du wirst etwas unternehmen!“ Aber was? Die junge Frau geriet schier in Verzweiflung und hatte dabei plötzlich den Text von dem Bildstock vor ihren vertränten Augen: „Der alde Gott lebt noch.“ Und was hatte noch auf dem Zettel gestanden? Angela fielen tatsächlich die Worte ein: „Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen“, und sie fragte sich, ob ihr das etwas zu sagen habe. Mit dem Gedanken „Gott, wenn es dich gibt, sag mir, was ich tun soll!“ schlief sie dann endlich ein.
Am nächsten Morgen wusste Angela, was sie tun würde: Zu Vetter konnte sie nicht zurück. Die würden ihr auch sicher kaum helfen wollen. Sie würde aber ihren alten Lehrbetrieb aufsuchen und sich dort erkundigen, ob man ihr helfen könne, wenn nicht im eigenen Betrieb, dann vielleicht in irgendeinem anderen.
Leider dauerte es noch ein paar Tage, bis die Unglückliche diesen Plan umsetzen und die Erfahrung machen konnte, dass der „alde Gott“ tatsächlich noch lebte. Hatte sie nicht gebetet: „Wenn es dich gibt …“? Frau Siebel hatte eine Idee. Sie wollte dieser Idee nachgehen und sich dann sofort melden, wenn sie wüsste, wie es mit ihrer früheren Kollegin weitergehen könnte.
Ihre Idee erwies sich tatsächlich als umsetzbar. Die Firma hatte noch eine Filiale in Wiesbaden, wo möglichst bald eine Bürofachkraft gebraucht wurde. Dort reagierte man auf die Anfrage aus Netphen mit einem Terminvorschlag für ein Vorstellungsgespräch. Angela Sperling reiste also in die hessische Landeshauptstadt, stellte sich vor und bekam den gewünschten Arbeitsplatz. Sie bekam sogar noch mehr: Frau Siebel hatte sich in dem Wiesbadener Betrieb auch schon nach einer kleinen möblierten Wohnung erkundigt und war auch hier fündig geworden. Angelas Herz jubelte und für einen kurzen Moment ging ihr die Frage durch den Sinn, ob der „alde Gott“ wohl tatsächlich bei dieser Sache seine Hände im Spiel gehabt hatte.
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In der Familie gab es dann die erwarteten dramatischen Auseinandersetzungen um den Auszug der ältesten Tochter an einen so fernen Ort wie Wiesbaden. Von dort konnte sie kaum mal eben nach Hause kommen, um ihren Pflichten zu genügen und dies und jenes zu tun. „Das undankbare Mensch“ macht sich einfach davon und stellt dann auch noch Forderungen! Die Zweiundzwanzigjährige hatte doch tatsächlich nach ihrem eigenen Sparbuch gefragt, das es doch geben müsse. Sie bekam das rote Heftchen dann auch nach mehrmaliger Nachfrage in die Hand und musste zu ihrem großen Entsetzen feststellen, dass es bis auf die geringe Ersteinlage gar kein Sparguthaben gab: Marie Sperling hatte das Geld ihrer Tochter doch tatsächlich vollständig ausgegeben und entweder selbst verbraucht oder umgesetzt in Dinge, die Angela sich nie und nimmer selbst gekauft hätte, nicht in diesen Formen und Farben und nicht in diesen Mengen. Was kam da nicht plötzlich alles auf den Tisch, was als notwendige Aussteuer von ihrer Mutter angeschafft worden war: kleine und große Küchengeräte, ein mehrteiliges Ess- und Kaffeeservice, Bettwäsche, Handtuchsets und andere Heimtextilien. Angela war entsetzt. Was sollte sie mit all dem
Krempel? Sie hätte viel lieber den Gegenwert für diese Dinge als Guthaben auf ihrem Sparbuch gehabt. Aber da war nichts!