Die Autorin, der Autor
Dr. Tim Rohrmann, Diplom-Psychologe und Erziehungswissenschaftler. Langjährige Tätigkeit in Forschung, Fortbildung und Praxisentwicklung im Arbeitsfeld KiTa. 2013-2018 Professor für Entwicklung und Bildung im Kindesalter an der EHS Dresden, seit 2018 Professor für Kindheitspädagogik an der HAWK Hildesheim. Arbeitsschwerpunkte: Bildung und Begabung in der frühen und mittleren Kindheit, geschlechtsbezogene Entwicklung und geschlechterbewusste Pädagogik, Männer und Frauen in KiTas, Inklusion und Diversität.
Christa Wanzeck-Sielert, Diplompädagogin, Supervisorin und Lehrsupervisorin (DGSv), war Leiterin des Zentrums für Prävention am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH), Lehrbeauftragte an der Universität Flensburg, Fortbildnerin und Autorin. Arbeitsschwerpunkte: kindliche Sexualität, sexuelle Bildung und Konzeptentwicklung in KiTas.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwedung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-033423-6
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033424-3
epub: ISBN 978-3-17-033425-0
mobi: ISBN 978-3-17-033426-7
Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Die Lehrbuchreihe „Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit“ will Studierenden und Fachkräften das notwendige Grundlagenwissen vermitteln, wie die Bildungsarbeit im Krippen- und Elementarbereich gestaltet werden kann. Die Lehrbücher schlagen eine Brücke zwischen dem aktuellen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungen zu diesem Bereich und ihrer Anwendung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern.
Die einzelnen Bände legen zum einen ihren Fokus auf einen ausgewählten Bildungsbereich, wie Kinder ihre sozio-emotionalen, sprachlichen, kognitiven, mathematischen oder motorischen Kompetenzen entwickeln. Hierbei ist der Leitgedanke darzustellen, wie die einzelnen Entwicklungsniveaus der Kinder und Bildungsimpulse der pädagogischen Einrichtungen ineinandergreifen und welche Bedeutung dabei den pädagogischen Fachkräften zukommt. Die Reihe enthält zum anderen Bände, die zentrale bereichsübergreifende Probleme der Bildungsarbeit behandeln, deren angemessene Bewältigung maßgeblich zum Gelingen beiträgt. Dazu zählen Fragen, wie pädagogische Fachkräfte ihre professionelle Responsivität den Kindern gegenüber entwickeln, wie sie Gruppen von Kindern stressfrei managen oder mit Multikulturalität, Integration und Inklusion umgehen können. Die einzelnen Bände bündeln fachübergreifend aktuelle Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften wie der Entwicklungspsychologie, Diagnostik sowie Früh- und Sonderpädagogik und bereiten für den Einsatz in der Aus- und Weiterbildung, aber ebenso für die pädagogische Arbeit vor Ort vor. Die Lehrbuchreihe richtet sich sowohl an Studierende, die sich in ihrem Studium mit der Entwicklung und institutionellen Erziehung von Kindern befassen, als auch an die pädagogischen Fachkräfte des Elementar- und Krippenbereichs.
Kinder sind Mädchen und Jungen – dies ist nicht nur für die persönliche Entwicklung, sondern auch für Bildungsprozesse in Kindertagesstätten von grundlegender Bedeutung. Der vorliegende Band „Körper – Gender – Sexualität“ gibt eine eingängig und kompakt geschriebene Einführung in die körperliche und sexuelle Entwicklung und Erziehung, wie Kinder ihre Identität als Mädchen und Jungen gestalten. Die Sexualpädagogin und Supervisorin Christa Wanzeck-Sielert, Lehrbeauftragte an der Universität Flensburg, und der Diplompsychologe und Genderforscher Dr. Tim Rohrmann, Professor an der HAWK Hildesheim, haben ihr Expertenwissen und ihre langjährigen Praxiserfahrungen zu einer inspirierenden Synthese von wissenschaftlicher Fundierung und praxisbezogenen Anregungen vereinigt. Sie geben eine differenzierte Orientierung in den doch atemberaubenden Umwälzungen, die sich in den gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und erzieherischen Vorstellungen zur Körper-, Gender- und Sexualentwicklung in den letzten 50 Jahren vollzogen haben. Die Autoren erarbeiten ein reflektiertes Verständnis davon, wie die Kindertagesstätte zu einem lebendigen Sozialisationsraum für die geschlechtsbezogene Entwicklung von Kindern werden kann und wie sich die weiblichen und männlichen Fachkräfte in ihrem Selbstverständnis und ihrer erzieherischen Haltung positionieren können. Dazu werden hilfreiche Anregungen zur Reflexion der eigenen Biographie und der Rolle als Frau bzw. Mann in der pädagogischen Arbeit mit Kindern gegeben, eigene Verunsicherungen produktiv zu überwinden. Eine lesenswerte Integration von wissenschaftlicher Fundierung, pädagogischer Verortung und praxisbezogenen Anregungen.
Münster, Freiburg und Heidelberg im Frühjahr 2014 Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler
Nach vier Jahren haben wir eine gründliche Neubearbeitung unseres Buches vorgenommen. Dabei wurden viele Daten aktualisiert und Ergebnisse neuerer Studien aufgenommen, u. a. zur Bedeutung des Geschlechts pädagogischer Fachkräfte für die Entwicklung von Mädchen und Jungen. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen wurde der Abschnitt zu Intersexualität und Transidentität überarbeitet. Außerdem fanden wir es erforderlich, zu Debatten um „Gender-Ideologie“ und eine vermeintliche „Frühsexualisierung“ von Kindern Stellung zu nehmen. Wir freuen uns, wenn unser Buch weiterhin dazu beitragen kann, Kindern und Erwachsenen einen offenen Zugang zu Körperlichkeit und Sexualität zu ermöglichen und ein gleichberechtigtes und vielfältiges Miteinander der Geschlechter in Familie, KiTa und Gesellschaft zu entwickeln.
Kronshagen und Denkte im Mai 2018
Christa Wanzeck-Sielert und Tim Rohrmann
Alles erlebt das Kind über den Leib. Da ist die Haut. Welche Lust, eine solche Haut zu haben! (Hild, 1964, S. 32)
„Die auf das Geschlecht ausgerichtete Erziehung muss schon im frühen Kindesalter beginnen“, lesen wir in einem Ratgeber zur Sexualerziehung aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts (Hild, 1964, S. 19), und weiter: „Eigentlich ist jede Erziehung, jede Beschäftigung mit dem Kinde auch etwas Sexualerziehung“ (S. 34). Dies ist heute so aktuell wie vor fünfzig Jahren. Wie eine „auf das Geschlecht ausgerichtete Erziehung“ allerdings gestaltet werden sollte und welche Form der Sexualerziehung als angemessen gesehen wird, das hat sich in dieser Zeit erheblich geändert.
„Jungen tragen eben Hosen und Mädchen Röcke. So war es über tausend Jahre lang bei uns üblich. Warum sollte es heute anders sein?“, fragt Dr. Dr. Hild (1964, S. 19). Für ihn – wie in der damaligen Zeit ganz allgemein – war es selbstverständlich, dass Kleidung, Spiele und Beschäftigungen von Kindern ihrem Geschlecht entsprechen sollten. „Jungen brauchen nun einmal eine Streitaxt oder ein Schwert. Je früher sie sich austoben, umso eher tut es ein Holzgewehr! Und Mädchen brauchen Puppen!“ (S. 20). An solchen Sätzen wird deutlich, in welchem Ausmaß sich die Geschlechterverhältnisse in den letzten Jahrzehnten gewandelt haben. Schon seit einigen Jahrzehnten tragen Mädchen selbstverständlich Hosen, und Gewehre sind in Kindertageseinrichtungen (KiTas) meist unerwünscht, auch wenn sie nur aus Holz sind.
Heute ist es selbstverständlich, dass Mädchen und Jungen gleichberechtigt erzogen werden und gleiche Chancen haben sollen. Die in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verbreitete Hoffnung, dass Geschlechterunterschiede und vor allem stereotypes Verhalten durch das Bemühen um gleichberechtigte Erziehung verschwinden würden, hat sich jedoch nicht erfüllt – fast könnte man den Eindruck gewinnen, das Gegenteil sei der Fall. Spielzeug und Mode für Kinder sind heute mehr nach Geschlecht sortiert als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Geschlechtstypisches Verhalten und Abgrenzungsrituale zwischen Mädchen und Jungen sind in KiTas und Schulen nach wie vor häufig zu beobachten, obwohl sich Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen durchaus darum bemühen, dem entgegenzuwirken.
Andererseits sind die Einstellungen und Bilder vieler Erwachsener über Mädchen und Jungen und deren Verhaltensweisen weiterhin von stereotypen Vorstellungen geprägt. Ein Junge mit langen Locken oder gar im Rock kann auch heute noch starke Irritationen auslösen, und die meisten Eltern halten sich nach wie vor an den Vorschlag aus den 1960er Jahren: „Die süße Lockenpracht unseres kleinen Buben opfern wir, sobald der Filius laufen kann. (…) Schon jetzt will ja das Kerlchen auch selber als Junge gesehen werden, und wenn er es nicht will, wird es Zeit, dass er sich daran gewöhnt“ (Hild, 1964, S. 19). Das Bild eines Vaters, der stattdessen mit seinem Sohn – der gern Kleider anzog – aus Solidarität gemeinsam mit ihm im roten Rock durch eine süddeutsche Kleinstadt spazierte, ging um die Welt (Pickert, 2012) und führte zu höchst kontroversen Diskussionen im Netz. Was in Berlin heute als „normal verrückt“ durchgehen mag, ist in Kleinstädten oder auf dem Dorf noch lange nicht akzeptiert. Umgekehrt haben wir uns zwar an Frauen bei Polizei und Militär gewöhnt. Dennoch kommen nur wenige Menschen auf die Idee, Mädchen zum Spiel mit (Spielzeug-)waffen zu ermutigen. Dabei könnte sich das durchaus positiv auf das Miteinander von Mädchen und Jungen auswirken. Als meine Tochter einmal mit ihrem „Blutmesser“ (aus Plastik) auf dem Piratengeburtstag ihres Kindergartenfreundes erschien, verschaffte ihr das sogleich erheblichen Respekt in der Jungentruppe: „Mit der kann man spielen!“
Zudem stellen Erwachsene, die sich um eine „Gleichbehandlung“ von Mädchen und Jungen bemühen, nicht selten fest, dass dies nicht leicht zu verwirklichen ist – und Mädchen und Jungen wollen auch gar nicht gleich sein. Sie suchen bereits in den ersten Lebensjahren nach Antworten auf die Frage nach der Bedeutung der Geschlechterunterschiede und nach Orientierung auf dem Weg zum Frau- bzw. Mann-Sein. Dass Fragen geschlechtsbezogener Entwicklung bereits im Kindergarten von Bedeutung sind, hat sich in den letzten zwanzig Jahren allmählich herumgesprochen. Die Notwendigkeit einer geschlechterbewussten Pädagogik ist daher inzwischen auch in manchen Bildungs- und Orientierungsplänen für den Elementarbereich verankert.
Der Umgang mit Sexualität ist dagegen auch heute noch von großen Unsicherheiten geprägt, auch wenn die Einstellungen zur kindlichen Sexualität sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert haben. In den 1960er Jahren war es selbstverständlich, mit Kindern im Vor- und Grundschulalter nicht offen über Sexuelles zu sprechen. Noch einmal Dr. Hild: „Kinder zwischen sieben und elf Jahren wollen vom Akt der Zeugung und der Geburt im Grunde nichts wissen, weil diese Vorgänge nicht in den Weltbereich des gesunden Kindes hineingehören. Wir bringen sie auch nicht hinein!“ (Hild, 1964, S. 81). Ihnen den Geschlechtsverkehr zu erklären, wäre für Dr. Hild „eine Rohheit“ gewesen: „Das Kind soll nicht wissen, sondern ahnen: das ist besser!“ (ebd., S. 82).
Klar war damals auch, dass sexuelle Handlungen erst in der Ehe angebracht, Onanie oder Doktorspiele ein Zeichen von Unreife und möglichst zu vermeiden sind. Fortschrittlich war zur damaligen Zeit, dass auf Strafen und Beschämungen verzichtet werden sollte. Grundsatz war: „Innere Freiheit und äußere Zucht“ (ebd., S. 84) – Kinder sollten von selbst dazu kommen, auf das Ausleben sexueller Impulse zu verzichten.
Heute wird die Bedeutung von Sexualität für die Persönlichkeitsentwicklung von Mädchen und Jungen kaum noch in Frage gestellt. Jedoch wird noch immer kontrovers diskutiert, was Kinder im Umgang mit ihrer Sexualität konkret lernen sollen und zeigen dürfen. Manche Facetten kindlicher Ausdrucksformen, z. B. Selbstbefriedigung und wechselseitige Körpererkundungen, sind nach wie vor eher tabuisiert: Sie werden zwar nicht ausdrücklich verboten, aber auch nicht offen akzeptiert. Verstärkt wird diese Tabuisierung durch Aufklärungsbücher, in denen vor allem Geburt und Schwangerschaft Themen sind.
Dennoch setzt sich allmählich ein Perspektivenwechsel durch: weg von einem Verständnis, das Sexualerziehung in erster Linie als Vermeidung von Risiken und Gefahren versteht, hin zu einem umfassenden Konzept sexueller Bildung. Dabei steht die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung im Zentrum, die altersentsprechend gelernt werden muss und die Grundlage auch dafür legt, dass Kinder und Jugendliche Grenzen setzen und Risiken angemessen einschätzen können. Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte ist es, diese Prozesse zu begleiten und dabei Kinderschutz und selbstbestimmtes Lernen von Kindern in Balance zu bringen.
Mit diesem Buch möchten wir Lust darauf machen, sich auf die Fragen und Themen von Jungen und Mädchen einzulassen. Gleichzeitig möchten wir dazu ermutigen, eigene Standpunkte zu entwickeln und in die Begegnungen mit Kolleginnen und Kollegen, Kindern und Eltern einzubringen.
In den ersten drei Kapiteln des Buches werden dazu zunächst grundlegende Theorien und Forschungsergebnisse vermittelt. Unsere theoretischen Ausführungen beginnen wir bewusst mit dem Thema Körper, da die Entwicklung von Identität, Sexualität und Geschlecht mit dem Umgang von Körper und Körperlichkeit eng verknüpft ist und dieser eine wichtige Grundlage für Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit darstellt. So stellt Kapitel 2 zunächst Grundlagen körperlicher Entwicklung dar. Kapitel 3 befasst sich mit geschlechtsbezogener Entwicklung und Sozialisation, Kapitel 4 mit der sexuellen Entwicklung im Kindesalter.
Kapitel 5 nimmt die Rolle der pädagogischen Fachkräfte als Frauen und Männer in den Blick. Dabei werden sowohl die Geschichte des Erzieherinnenberufs als „Frauenberuf“ diskutiert als auch aktuelle Entwicklungen hin zu mehr Männern in KiTas. Um (sexual)pädagogische Alltagssituationen angemessen einschätzen und beeinflussen zu können, ist entsprechend geschulte Handlungskompetenz nötig. Dies setzt Selbstreflexion, Reflexion der Berufsbiografie und persönliches Lernen voraus. Die bewusste Auseinandersetzung mit Nähe und Distanz im Kontext von Körper und Sexualität stellt ein weiterer wichtiger Aspekt reflexiver Arbeit mit Mädchen und Jungen dar.
Kapitel 6 greift aktuelle Diskussionen über Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem auf. In der öffentlichen Diskussion wurden dabei in den letzten beiden Jahrzehnten vor allem mögliche Benachteiligungen von Jungen dramatisiert. Hier wollen wir einen Beitrag zur Versachlichung leisten und eine differenzierte Sichtweise ermöglichen. Anschließend wird der Blick auf Geschlechteraspekte in Bildungs- und Orientierungsplänen gerichtet und in geschlechterbewusste Pädagogik eingeführt. Im Anschluss vermittelt Kapitel 7 Grundlagen der Sexualpädagogik. Sexualität ist Thema in KiTas. Die pädagogischen Fachkräfte und ihre Zusammenarbeit im Team sind der Schlüssel für eine sexualfreundliche Erziehung. Hier ist es uns ein wesentliches Anliegen, (angehende) Fachkräfte zu stärken und dabei zu unterstützen, die Sprachlosigkeit in diesem Bereich zu überwinden.
Die letzten drei Kapitel führen dann in die Praxis. Kapitel 8 gibt Anregungen zu Beobachtung, Raumgestaltung und Gesprächen mit Kindern. Diskutiert werden auch Ansatzpunkte und Möglichkeiten für geschlechtsgetrennte Arbeitsformen. Kapitel 9 betrachtet die einzelnen Bildungsbereiche aus Genderperspektive. Kapitel 10 ist schließlich der Zusammenarbeit mit Müttern und Vätern im Kontext geschlechterbewusster Pädagogik und Sexualerziehung gewidmet.
Dieses Buch gemeinsam zu verfassen war ein kleines Abenteuer. Christa Wanzeck-Sielert brachte ihre langjährige Erfahrung im Bereich Sexualpädagogik ein (insbesondere Kapitel 2, 4 und 7), Tim Rohrmann seinen Hintergrund aus Forschung und Weiterbildung zu geschlechtsbezogener Entwicklung und geschlechterbewusster Pädagogik (insbesondere Kapitel 3, 6 und 9). Über viele Themen und Praxisansätze haben wir uns im Prozess der Manuskripterstellung verständigt und dabei neue Perspektiven gewonnen. Natürlich sind in dieses Buch auch unsere je eigenen Lebenserfahrungen als Frau und Mann mit eingegangen. Dabei haben wir uns aber nicht als Vertreterin und Vertreter des jeweils eigenen Geschlechts erlebt – für uns ist es keineswegs so, dass Frauen qua Geschlechtszugehörigkeit besser über Mädchen Bescheid wissen und Männer automatisch für Jungen zuständig sind. Vielmehr geht es uns darum, Mädchen und Jungen in ihrer je individuellen Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen – und dabei die Bedeutung der eigenen Geschlechtlichkeit bewusster wahrzunehmen.
Wir widmen dieses Buch dem Gedenken an die im Januar 2013 verstorbene Melitta Walter. Sie war wesentliche Wegbereiterin sowohl der Sexualberatung und Sexualpädagogik als auch der geschlechtergerechten Pädagogik in KiTas in Deutschland. Unermüdlich hat sie Veränderungen in der Praxis angestoßen und sich für ein gelingendes Miteinander von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern eingesetzt. Sie hat zu kreativem und konkreten Handeln ermutigt und dabei nie aus den Augen verloren, dass pädagogische Arbeit Spaß machen muss. Wir stellen unserem Buch daher den Titel eines ihrer Beiträge zum Thema voran (Walter, 2001):
„Probieren Sie es aus – und viel Vergnügen!“
Denkte und Kronshagen, im Frühjahr 2014
Tim Rohrmann & Christa Wanzeck-Sielert
Ein persönlicher Einstieg
Als Einstieg in das Thema Umgang mit dem Körper ist es hilfreich, sich in Einzelarbeit mit folgenden Fragen und Impulsen zu beschäftigen:
• Welche Rolle spielt Ihr Körper in Ihrem Leben?
• Welche Rolle spielte Ihr Körper in Ihrer sexuellen Entwicklung?
• Welche Erlebnisse haben Sie zum Nachdenken über Ihren Körper gebracht?
• Wie wurde in Ihrer Familie mit Körperlichkeit umgegangen?
• Wie haben Sie körperliche Veränderungen während Ihrer Pubertät erlebt?
• Wie haben Ihre Familie und Ihr Umfeld auf körperliche Veränderungen reagiert?
• Wie unterscheiden sich Frauen- und Männerkörper?
• Wie gehen Sie im Alltag hauptsächlich mit Ihrem Körper um (pragmatisch, rücksichtslos, hemmungslos, erotisch, zärtlich, wild, posierend, versteckend, schonend, kontaktfreudig, ausdrucksstark, vorsichtig usw.)?
• Vergleichen Sie sich körperlich mit anderen?
• Haben Sie schon einmal über eine Schönheitsoperation bzw. Einnahme von Medikamenten zur Veränderung Ihres Körpers nachgedacht?
Tauschen Sie sich zu zweit aus und überlegen am Schluss, welches Ergebnis Ihres Gespräches Sie ins anschließende Plenum einbringen wollen.
Körperkontakte und Berührungen spielen in der Entwicklung des Menschen bis ins hohe Alter eine eminent wichtige Rolle. Ohne Berührungen kann ein Mensch nicht leben. Eine differenzierte Betrachtung der beiden Begriffe Körperkontakt und Berührung kann für eine bewusste Wahrnehmung der vielfältigen Kontaktaufnahmen besonders zu Beginn eines Lebens, also zwischen Säuglingen und Bezugspersonen sensibilisieren. „Berühren ist nach unserem Verständnis eine (intentionale) Handlung, Berührtwerden eine Wahrnehmung/Empfindung“ (Schmidt & Schetsche, 2012, S. 9).
Der Tastsinn entwickelt sich bereits innerhalb der ersten Monate einer Schwangerschaft. Das Neugeborene ist mit einem breiten taktilen Repertoire ausgestattet und somit für die Entdeckung der Umwelt bestens ausgerüstet.
Die Bindung des Umwelterkennens ist nicht nur elementar mit der explorativen Natur des Tastsinnes verbunden, sondern die Fähigkeit zur Verarbeitung taktiler, passiver Berührungsreize stellt für die Neugeborenen ein „Lebensmittel“ der besonderen Art dar. Wie aus zahlreichen Human- und Tierstudien bekannt ist, folgen wichtige Reifungsprozesse des Gehirns nur, wenn der jeweilige Organismus eine hinreichende adäquate taktile und sozialvermittelnde Stimulation seines Körpers erfährt (Grundwald, 2012, S. 43/44).
Ein positiver Zugang zum Körper und die Bedeutung von Körperkontakten für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern wird heute kaum noch kontrovers diskutiert und „so steht außer Zweifel, dass eine gesunde psychische Entwicklung und eine angemessene Reifung des neuronalen Systems direkt mit der sozial vermittelten körperlichen Interaktion und der daraus resultierenden haptischen und taktilen Stimulation verbunden ist“ (ebd. S. 45). Nähe, Berührungen und das Wissen über frühe Lebenserfahrungen von Säuglingen und Kleinkindern und deren Auswirkungen auf Identität, Körper-Selbst und Selbstempfindungen untermauert die Bedeutung und Wichtigkeit von Aktions-, Erlebnis- und Erfahrungsräumen in KiTas, denn durch Bewegung und Berührungen können sich Kinder entwickeln und wachsen.
Wenn wir die Worte Leib und Körper hören, werden jeweils andere Assoziationen und Gedanken freigesetzt. Vielleicht klingen beim ersten eher emotionale Aspekte an, während beim zweiten eher etwas Distanzierendes, Sachlicheres zum Tragen kommt. Früher wurde eher von Leib als von Körper gesprochen. Beim Turn und Sportunterricht war von Leibesübungen und Leibeserziehung die Rede. Heute wird in der Alltagssprache das Wort Leib kaum noch verwendet und generell eher vom Körper gesprochen.
Die Worte Leib und Körper bzw. die dahinterstehenden Begriffe können helfen, unterschiedliche Zugänge zum Körpererleben zu verstehen, weil dieses „ein gleichzeitiges Körpersein‘ und ‚Körperhaben‘ einschließt. Das bedeutet: Der Leib, mit dem ich die Welt in der Bewegung wie auch in anderen Handlungen erfahre, ist selbst an dieser Differenz, als Körper zu fungieren und zugleich im Körperhaben von sich Abstand nehmen zu können, beteiligt“ (Westphal, 2013, S. 142). Die Dualität kommt hier deutlich zum Ausdruck. Leib meint den beseelten Körper und bezieht sich „auf den lebendigen, den wahrnehmenden, den empfindenden Menschen in seinem Körper“ (Milz & Ots, 1999, S. 156). Verliebtsein lässt Schmetterlinge im Bauch fühlen, großer Ärger schlägt auf den Magen, Angst schnürt die Kehle zu. Diese formulierten Gefühle werden leiblich/körperlich wahrgenommen, gespürt und kommuniziert.
Definition: Leiblichkeit
In der Phänomenologie wird das Konzept der Leiblichkeit verwendet, um den Zusammenhang von Körper und Bewusstsein/Geist zu thematisieren. Marcel Merleau-Ponty (1966) unterscheidet den Körper als dem physikalisch-biologischen Organismus des Menschen vom Leib als „engagiertem Subjekt“ (ebd., S. 311). Der Leib ist die vermittelnde Instanz zwischen Geist und Körper.
Auch für Hermann Schmitz, den Begründer der Neuen Phänomenologie, ist Leib ein Kernbegriff. An der positivistisch-reduktionistischen Sicht auf Psyche und Körper kritisiert er, dass dadurch „die wichtigsten Inhalte der unwillkürlichen Lebenserfahrung verdrängt oder vergessen werden: der spürbare Leib – zwischen Körper und Seele wie in eine Gletscherspalte gefallen – und die leibliche Kommunikation“ (Schmitz, 2009, S. 22). Damit stellt Schmitz den Dualismus von Körper und Seele in Frage. Weiter befasst er sich mit dem Zusammenhang von Leiblichkeit und Gefühlen und stellt fest: „Alles affektive Betroffensein ist primär und ursprünglich leiblich“ (ebd., S. 37, vgl. Schmitz, 2007).
Dieses phänomenologische Verständnis von Leiblichkeit wird heute in der Medizin und in der Psychotherapie, aber auch im Kontext der Kindheitsforschung vermehrt aufgegriffen und weiterentwickelt.
Im aktuellen Konzept des Embodiment wird der Körper wiederentdeckt. Dieses Konzept ist aus der kognitiven Psychologie heraus in der Auseinandersetzung mit neurowissenschaftlichen Ansätzen entwickelt worden. Anstelle der Suche nach einseitigen linearen Erklärungen werden die Wechselwirkungen zwischen körperlichen und psychischen Vorgängen in den Blick genommen. Es geht dabei um „die Einsicht, dass der Körper an allen seelischen Prozessen, an Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen, kausal beteiligt ist“ (Leuzinger-Bohleber, Emde & Pfeifer, 2013, S. 9).
Storch, Cantieni, Hüther und Stacher definieren: „Unter Embodiment (deutsch etwa ‚Verkörperung‘) verstehen wir, dass der Geist (also: Verstand, Denken, das kognitive System, die Psyche) mitsamt seinem Organ, dem Gehirn, immer in Bezug zum gesamten Körper steht. Geist/Gehirn und Körper wiederum sind in die restliche Umwelt eingebettet“ (2007, S. 16).
Prozesse des Embodiment werden heute als zentral für kindliche Entwicklung, Motivation und Lernen angesehen. Nicht zuletzt wird das Konzept im Kontext der Prävention früher Entwicklungsstörungen aufgegriffen.
Wenn wir im Folgenden vom Körper sprechen, ist sowohl das weitere Verständnis des Leibes als „engagiertem Subjekt“ mitgedacht als auch das Wissen darüber, dass Körper und Psyche immer aufeinander bezogen sind.
Anzieu versteht den Körper „als lebenswichtige Dimension des menschlichen Daseins, als grundlegende, präsexuelle und nicht reduzierbare Grundlage, an die sich alle psychischen Funktionen anlehnen“ (1992, S. 36). Der Umgang mit dem Körper war dabei in den letzten zwei Jahrhunderten erheblichen Veränderungen unterworfen, wobei ein entscheidender Aspekt die Disziplinierung des Körpers bzw. die Verdrängung körperlicher Wahrnehmungen und Bedürfnisse war. Zur Zeit von Sigmund Freud (1856-1939), also im viktorianischen Zeitalter, war es das Sexuelle, das verdrängt werden musste. Die Disziplinierung des Körpers war zudem ein wesentlicher Aspekt der Ausrichtung des Mannes auf Gewalt und Krieg, wie es der Typus des „soldatischen Mannes“ verkörpert (vgl. Theweleit, 1980).
In den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts blieb der Körper überwiegend verkannt und verleugnet. Dies zeigte sich in der Erziehung, im Alltag und auch in der Arbeit von Psychotherapeuten. Mit dem aktuellen Rückbezug auf Konzepte wie Leiblichkeit und Embodiment gerät der wahrnehmungs- und empfindungsfähige Körper wieder in den Blick.
Durchgehende Körperbeherrschung, Verlust von sinnlichen Erfahrungen, das Verbot körperlicher Berührungen und damit das Spüren des anderen sind auch heute noch vorkommende Phänomene. Viele Erwachsene tun sich schwer, die körperliche Neugier und die Berührungslust ihrer Kinder zu bejahen. Der Umgang von Erwachsenen mit ihrem eigenen Körper und ihre Körpervorstellungen beeinflussen wiederum die Kinder in ihren eigenen Körperwahrnehmungen und Körpererfahrungen. Im Kontext der Familie bleibt dies nicht aus.
Die Sicht auf den Körper ist immer mit gesellschaftlichen Diskursen verknüpft. So wirken die unterschiedlichen Lebenswelten und Kulturen auf die Vorstellung von Körperbildern. Diese Vorstellungen beeinflussen wiederum die gegenseitige Wahrnehmung im Hinblick auf den Körper und dies besonders dann, wenn der Blick auf den Körper durch große kulturelle Unterschiede geprägt ist.
Körpererfahrungen und Körpererleben sind mit der eigenen Biografie eng verbunden und werden subjektiv recht unterschiedlich gelebt. Hier wird deutlich, dass der Körper Träger der individuellen Geschichte ist und somit für den einzelnen Menschen eine wichtige Bedeutung hat. Individuelle und soziale Biografien spiegeln sich im Körpererleben wider. Mit dem Körper treten Menschen – große und kleine – miteinander in Beziehung, wobei Kinder die Körpersprache sehr viel schneller entziffern können und gute Antennen für nonverbale Reaktionen haben. So gesehen, ist „der Körper zugleich Träger und Widersacher des Interaktionsgeschehens“ (Loenhoff, 1999, S. 76).
Dabei gibt es verschiedene Aspekte und Ebenen von Körperlichkeit. Preuss-Lausitz (2003, S. 18) unterscheidet drei Bereiche:
• den Energiekörper: Gesundheit und Krankheit, Wachstum und Verfall, Energie und Kraftlosigkeit
• den Symbolkörper: Kleiden und Schminken, Mimik und Gestik, Körperinszenierung
• den sexuell-libidinösen Körper.
Im Energiekörper zeigt sich z. B. die Lust an der Bewegung mit den dazugehörigen positiven Zuschreibungen. Dabei ist der Einfluss geschlechtstypischer Körpersozialisation auch heute noch allgegenwärtig. Jungen erhalten mehr positive Aufmerksamkeit, wenn es um körperliche Aktivitäten geht. Mädchen werden im Umgang mit ihrem Energiekörper auch heute noch eher eingeschränkt. Der räumliche Aktionsradius in der KiTa ist auch geschlechtstypisch geprägt: Jungen spielen in der Bauecke und besetzen den Raum, Mädchen sitzen am Tisch basteln oder malen. Jungen werden in ihrem Umgang mit dem Körper eher grobmotorisch sozialisiert. Bei den Mädchen liegt der Fokus auf Feinmotorik und Ästhetik. Diese Interaktionsmuster beeinflussen das Selbstbewusstsein von Mädchen und Jungen im Umgang mit Körperkontakten.
Der Symbolkörper fokussiert die Facetten der Körperinszenierung. In den ersten Lebensjahren gibt es hier kaum Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen. So finden es kleine Jungen genauso spannend wie kleine Mädchen, die Fingernägel so lackiert zu bekommen „genau wie Mama“. In der Folgezeit gewinnt das Kleiden und Schminken insbesondere für Mädchen zunehmend Bedeutung. Sie probieren Varianten des Verkleidens aus, setzen sich dabei mit ihrer Geschlechtsidentität auseinander und entwickeln Sicherheit und Einfühlungsvermögen im Kontakt mit anderen. Bei den Jungen spielen Kleidung und Körperstyling erst im Laufe der Grundschulzeit eine zunehmend wichtige Rolle.
Der sexuell-libidinöse Körper ist von Geburt an von Bedeutung, aber es gibt unterschiedliche Themen in den verschiedenen Altersphasen. So erleben Kinder im Vorschulalter die Berührungen an Penis und Klitoris als lustvoll, im Grundschulalter gehören Verliebtsein, Küssen und durchaus kribblige Gefühle dazu. Zunehmend spielen die gleichgeschlechtlichen Peers eine wichtige Rolle. Mit ihnen verabreden Mädchen und Jungen sich in der Schule und in der Freizeit.
„Das Ich ist vor allem ein Körperliches“ (Freud, 1976, S.253). Dieser Satz verdeutlicht die zentrale Bedeutung des Körpers für die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung. Diese beginnt bereits vor der Geburt. Körperliche Befindlichkeiten und seelische Stimmungen beeinflussen die Schwangerschaft und werden von den einzelnen Frauen nicht nur unterschiedlich wahrgenommen, sondern hängen auch von der individuellen Lebenssituation und der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur ab. Ängste wie Freude der Mutter beeinflussen auf direktem Weg die Angstbereitschaft bzw. die Vitalität des Kindes im Mutterleib.
Schon vor der Geburt wird dem kleinen Menschen über Hautempfindungen eine reiche, vielgestaltige, wenn zunächst auch noch undifferenzierte Welt eröffnet. Diese Hautempfindungen regen sein Wahrnehmungs- und Bewusstseinssystem an, bilden den Hintergrund für ein umfassendes, aber vorübergehendes Existenzgefühl und ermöglichen die Schaffung eines ersten psychischen Raumes (Anzieu, 1992, S. 25).
Die Geburt selbst ist ebenso eine wichtige Körpererfahrung, die der Säugling mit allen Sinnen erlebt. Eine Fortsetzung intensiven Körper- und Berührungserlebens erfährt der Säugling, wenn er auf den Bauch der Mutter gelegt wird und beim abrupten Wechsel vom geschützten und geborgenen Leben in der Gebärmutter zum ersten Mal Kälte und Helligkeit spürt sowie Wärme und Berührungen an seiner Haut wahrnimmt. Die Haut als das größte und wichtigste Organ im Umgang mit Berührungen kann als Übertragungsorgan von Körperkontakten gesehen werden. Streicheln, Halten, Wiegen, Küssen, Umarmen, Ansichdrücken, Tragen, Liebkosen sind wichtige Körperkontakte nicht nur für Babys. Diese Hautlust vermittelt dem Kind Liebe, Angenommensein, Zärtlichkeit und Geborgenheit. Aber auch Ablehnung, Ekel und Angst werden vom Kind über die Haut aufgenommen und haben Auswirkungen auf die weitere psychische Entwicklung. So sind Körper und Körperberührungen für den Säugling der Bezugspunkt und somit das Zentrum seines Aktionsfeldes.
Das Bedürfnis nach Berührung und Körperkontakt bleibt lebenslang bestehen. Montagu (1997) hat die Bedeutung von Körperkontakten als Grundlage mitmenschlicher Beziehungen und Kommunikation eindringlich beschrieben.
Der Begriff des Seelenhungers nach Berührung verweist auf die überlebenswichtige Funktion körperlicher Kontakte. Er stellt das Bedürfnis nach Körperkontakt als ein seelisches Grundbedürfnis gleichwertig neben den Hunger nach Nahrung (Mühlen-Achs 2003, S. 24).
Auch die Bindungsforschung betont die Bedeutung des Körpers:
Zur Entwicklung der intrapsychischen Strukturen des Kindes wird der erforderliche affektive Austausch zwischen Kind und seiner Bezugsperson in erster Linie über körperliche Erfahrungen vermittelt. Dabei geht es um die Vermittlung von Körpergrenzen, aber auch darum, dass ein dysfunktionaler Umgang mit den notwendigerweise körperlich geäußerten Impulsen eines Säuglings die psychische Entwicklung und die Beziehungsfähigkeit extrem beschädigen kann (Bräutigam, 2013, S. 226).
Diese ersten frühkindlichen Erfahrungen zeigen sich in körperlichen Vorgängen und bilden die Basis für die Entwicklung des Selbstwertgefühls, des Selbstvertrauens, der Selbstachtung, des Selbstbewusstseins und des Körper-Selbst.
Definitionen: Identität, Selbstkonzept und Körperkonzept
Begriffe wie Identität, Selbst oder Selbstkonzept entstammen unterschiedlichen Theorietraditionen und werden in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen sehr unterschiedlich definiert und verwendet. Es gibt daher nicht die „richtige“ Definition. Die folgenden Begriffsdefinitionen sind als Vorschläge zu verstehen, die im Kontext der Themen dieses Buches hilfreich sein können.
Mit Identität kann sowohl der Prozess als auch das Ergebnis der Selbst-Verständigung des Individuums bezeichnet werden. Identität ist damit ein Zustand, der immer wieder neu hergestellt und gesichert werden muss (vgl. Rohrmann & Thoma, 1998, S. 116). Gleichzeitig ist Identität immer damit verbunden, „dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“ (Erikson, 1995, S. 18).
Oerter (2002) schreibt: „Dem Begriff der Identität verwandt bzw. mit ihn größtenteils deckungsgleich ist das Selbst“ (S. 291). Das Selbst hat seine Grundlage in den Funktionen des Leibes – Wahrnehmen, Handeln, Gedächtnis. Das Selbstgefühl stellt das sich entwickelnde Bewusstsein dieses Prozesses dar. Identität entsteht aus der Integration des Selbstgefühls mit den Selbstbildern in der Verbindung von Leiblichkeit und sozialem Handeln.
Mit Selbstwert wird die Bewertung bezeichnet, die eine Person von sich selbst hat. Haußer formuliert: „ Selbstkonzept ist definiert als generalisierte Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl als generalisierte Selbstbewertung“ (1995, S. 26; Hervorhebung CW & TR). Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen lassen sich als „Komponenten“ des Selbstkonzepts verstehen, das wiederum eine „Komponente“ der Identität ist.
Das Körperkonzept ist die Gesamtheit aller im Verlaufe der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung erworbenen kognitiven, affektiven, bewussten und unbewussten Erfahrungen mit dem eigenen Körper. Das Körperkonzept ist Teil des Selbstkonzepts und damit ein wichtiges Element der Identität. Es entwickelt sich in frühester Kindheit und ist insoweit dynamisch, da es immer mit einer Veränderung der Situation einhergeht, d. h. es verändert sich in Abhängigkeit vom Körperwachstum, von Körperverletzungen, Erkrankungen und anderen Einflüssen. Immer neue Aspekte müssen in die eigene Körpervorstellung integriert werden. Das Jugendalter stellt dabei eine besonders bedeutsame Phase dar.
Die Studien von Daniel Stern
Die Forschungen von Daniel Stern sind bekannt geworden, weil sie in beeindruckender Weise empirische Säuglingsforschung mit psychoanalytischer Theoriebildung verbinden. Sie geben wichtige Einblicke in die frühen Lebenserfahrungen von Säuglingen und Kleinkindern (Stern, 1992; vgl. Dornes, 1992, 2006).
Die Ergebnisse von Stern zeigen, dass der Säugling von Beginn an nicht passiv, sondern äußerst aktiv und umfassend mit all seinen Ausdrucksmöglichkeiten agiert. Dabei kommen dem Körper und der Körperkommunikation in den ersten 15 Lebensmonaten eine besondere Stellung zu. In dieser präverbalen Phase und da vor allem bei der Entwicklung des Kern-Selbst zwischen dem zweiten und neunten Lebensmonat wird ausschließlich über den Körper kommuniziert. Die affektiv-sinnlichen und motorischen Erlebnisse prägen, und werden im Körpergedächtnis gespeichert und bleiben ein Leben lang bestehen.
Das frühkindliche Erleben ist einheitlicher und globaler. Den Säugling kümmert es nicht, in welchem Bereich seine Erfahrungen auftreten. Er nimmt Empfindungen, Wahrnehmungen und Aktionen, Kognitionen, innere motivationale und Verhaltenszustände unmittelbar wahr: als Intensität, Form, Zeitmuster, als Vitalitätseffekte, kategoriale Affekte, Lust oder Unlust. Dies sind die Grundelemente des frühkindlichen subjektiven Erlebens (Stern, 1992, S. 102).
Die hohe Kompetenz des Kleinkinds im Wahrnehmungs- und Gefühlsbereich muss durch seine Bezugspersonen unterstützt werden, damit eine optimale Ausprägung auch ermöglicht werden kann. Dies ist wichtig, weil der Säugling zunächst die Welt als Ganzes wahrnimmt und erst später in der Lage ist, Differenzierungen vorzunehmen. Die motorisch-affektiven Interaktionen müssen wiederholt und oft erlebt werden, „damit sie stabil in sein Selbst integriert werden können. Die Qualität der Berührungen, ein stimmiger enger Körperkontakt ist für die Entwicklung von Körpergefühl und Beziehungsfähigkeit von besonderer Bedeutung. Ausschlaggebend ist, dass dies auch tatsächlich als stimmig erlebt wird und der Körperkontakt nicht nur an den Bedürfnissen der Bezugspersonen orientiert ist“ (Wanzeck-Sielert, 2012, S. 112).
Die körperliche Entwicklung umfasst allgemein das Körperwachstum (Größe und Gewicht) und die motorische Entwicklung einschließlich der Reflexe. Jedoch wird die körperliche Entwicklung von der emotionalen und der kognitiven Entwicklung beeinflusst. Wie die folgende Abbildung zeigt, nimmt der Kopf eine besondere Stellung ein. Während der Kopf beim Neugeborenen ein Viertel der gesamten Körperlänge beträgt, nimmt er beim Erwachsenen nur noch ein Achtel ein. Arme und Beine sind bei Neugeborenen dagegen relativ gesehen kürzer. Im Laufe der kindlichen Entwicklung werden insbesondere die Beine im Verhältnis zum Rumpf länger.
In den ersten beiden Lebensjahren verändert sich der Körper bzw. die Körpergestalt eines Kindes sehr rasant. Dies wiederholt sich zu keinem anderen Zeitpunkt der körperlichen Entwicklung. Auch wenn sich kurz nach der Geburt das Körpergewicht zunächst verringert, setzt relativ schnell ein enormer Wachstumsprozess ein.
Das Geburtsgewicht hat sich bereits im fünften Lebensmonat verdoppelt und am Ende des ersten Lebensjahres verdreifacht! Die Körpergröße nimmt innerhalb des ersten Lebensjahres monatlich um durchschnittlich 2,5 cm zu (Mietzel, 2002, S. 105).
Innerhalb des ersten Lebensjahres können Kinder ohne Hilfe sitzen, sich an Gegenständen hochziehen und mit einem Jahr auf beiden Beinen stehen und einige Schritte alleine gehen. Bis ein Kind jedoch stehen kann, muss der kindliche Organismus eine Vielzahl von aufeinanderfolgenden neuromuskulären Entwicklungsstufen durchlaufen. Dabei unterstützen das Krabbeln, das Auf-dem-Rücken oder Auf-dem-Bauch-Liegen den Muskelaufbau (vgl. Rosenkötter, 2012). Das Kind festigt diesen Bewegungsablauf des Stehens, indem es sich unermüdlich bemüht, auch Widerstände überwindet, um vom Sitzen ins Stehen zu gelangen. Das aufrechte Stehen erfordert Koordinationsfähigkeiten und ein Ausbalancieren des Körpers. Der Kopf, die Schultern und der Brustkorb sind – im Vergleich zu den Füßen, die die Basis des Stehens bilden – recht schwere Körperteile. Das aufrechte Stehen ermöglicht dem Kind völlig neue Sichtweisen und Orientierungsmöglichkeiten und bedeutet einen weiteren wichtigen Schritt zum „Selbstständig Werden“.
Borke & Keller (2014) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch die Entwicklung basaler motorischer Kompetenzen nicht unabhängig von kulturellen Faktoren ist. So können Kinder in kamerunischen Dörfern früher selbständig sitzen als deutsche Kinder; letztere können sich dagegen tendenziell früher vom Rücken auf den Bauch drehen (ebd., S. 44). Dies lässt sich auf Übungseffekte zurückführen: in traditionellen afrikanischen Dorfgemeinschaften werden Kinder viel getragen, aber selten auf den Boden gelegt, der tendenziell gefährlich ist. Das Sitzen und Laufen wird früh von den Eltern eingeübt, um Kinder vor Gefahren zu schützen. Deutsche Kinder liegen dagegen oft allein auf einer Decke, von der aus sie die Welt erkunden – und dies wird durch das Umdrehen wesentlich interessanter.
Ab dem dritten Lebensjahr steigt das Gewicht nur noch langsam, und der sogenannte Babyspeck ist ebenfalls verschwunden. Das Kopfwachstum verringert sich, während sich die anderen Körperteile weiter verändern. „Die Proportionen des Sechsjährigen gleichen bereits weitgehend denen eines Erwachsenen“ (Mietzel, 2002, S. 220).
Abb. 2: Veränderungen der Körperproportionen im Laufe der kindlichen Entwicklung (Quelle: Berk, 2004, Abbildung 4.2).
Mädchen und Jungen im Vorschulalter werden immer sicherer in ihren Bewegungsabläufen und zeigen einen hohen Aktivitätsdrang. Dies hat unter anderem mit hirnphysiologischen Reifungsprozessen und der damit verbundenen besseren Steuerung der Muskeln zu tun (vgl. Rosenkötter, 2012). Laufen, klettern, hüpfen werfen und fangen gehören zum Aktivitätsrepertoire von Vorschulkindern.
Der Bewegungsdrang des Vorschulkindes bleibt nicht ohne Folgen, denn schon als Fünfjährige haben Jungen und Mädchen ihren Körper weitgehend unter Kontrolle und zeigen Bewegungen, die vielfach anmutig erscheinen (Mietzel, 2002, S. 224).
Beim Eintritt in die Grundschule verläuft die körperliche Entwicklung zunächst nicht so rasant weiter.
Die primären Geschlechtsmerkmale werden bereits im Laufe der vorgeburtlichen Entwicklung ausgebildet. Nur sehr selten gibt es wirkliche „Intersexualität“, Zwischenformen zwischen den Geschlechtern, in denen Chromosomen, Keimdrüsen, innere oder äußere Geschlechtsorgane nicht „zusammenpassen“ ( Kap. 3.5). Von den primären Geschlechtsmerkmalen abgesehen sind die körperlichen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in der Kindheit jedoch eher gering.
Mädchen sind im Durchschnitt bei der Geburt etwas kleiner und leichter als Jungen. Demgegenüber steht von Geburt an bis zum jungen Erwachsenenalter ein gewisser Reifungs- bzw. Entwicklungsvorsprung der Mädchen. Bemerkenswert ist, dass die Angaben zu Größen- und Gewichtsunterschieden zwischen Mädchen und Jungen in der Fachliteratur sowie in verbreiteten Normtabellen uneinheitlich sind. In der Kindheit sind diese Unterschiede jedoch gering. In vielen veröffentlichten Tabellen werden keine Unterschiede in der Körpergröße von Mädchen und Jungen im Kindesalter angegeben. Anderen Veröffentlichungen zufolge gibt es geringfügige Unterschiede in verschiedenen Altersstufen. Die KIGGS-Studie ergab, dass Jungen bis zum Alter von zehn Jahre im Mittel einen halben bis zwei cm größer sind als Mädchen (Stolzenberg, Kahl & Bergmann, 2007, S. 660). In den folgenden Jahren wachsen Mädchen schneller, sie sind daher in dieser Lebensphase im Durchschnitt größer als gleichaltrige Jungen. Erst mit dem Einsetzen des vorpuberalen Wachstumsschubes bei Jungen holen diese dann auf. Individuelle Unterschiede können dabei weit größer ausfallen als der durchschnittliche Unterschied zwischen den Geschlechtern (vgl. Mietzel, 2002, S. 294).
Ansonsten unterscheiden sich Mädchen und Jungen im Kindesalter körperlich kaum. Dies gilt auch für die körperliche Kraft: Entgegen dem verbreiteten Klischee von „starken Jungs“ sind Jungen bis zur Pubertät körperlich nicht unbedingt stärker als Mädchen. So geben Oerter und Dreher (2002) an: „Mädchen besitzen mit elf Jahren noch gleich viel oder sogar mehr Muskelkraft als Jungen“ (S. 276), erst danach fallen sie deutlich hinter die männlichen Jugendlichen zurück. Andernorts wird angegeben, dass Jungen tendenziell über mehr Muskelkraft verfügen. Vielleicht sind hier Übungseffekte von Bedeutung: Durch intensive Übung gelingt es den Jungen, zumindest in manchen Bereichen eine körperliche Überlegenheit über das andere Geschlecht zu behaupten.
Erst in der Pubertät kommt es dann mit der Entwicklung der sekundären und tertiären Geschlechtsmerkmale und damit der Geschlechtsreife zur weiteren geschlechtlichen Ausdifferenzierung, wobei die Mädchen hier einen deutlichen Altersvorsprung haben. Insbesondere der pubertäre Wachstumsschub beginnt und endet bei den Mädchen ca. zwei Jahre früher – bei großen individuellen Unterschieden (vgl. Oerter & Dreher, 2002).