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Werner Skibar (Hrsg.)

MORBUS
1

BLUTSCHWUR
DER
DONAULEICHEN

EIN PHANTASTISCHER ROMAN

© 2018 Werner Skibar

Auf Wunsch der Autoren folgt der Text den Regeln der alten Rechtschreibung

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel

Inhaltsverzeichnis

Ein kurzes Vorwort von Werner Skibar (Hrsg.)

MORBUS Band 1: Blutschwur der Donauleichen von Zoë Angel & Charly Blood

MORBUS Band 2: Im Prater tanzt der Sensenmann von Zoë Angel & Charly Blood

Kaffee, mit Liebe gemacht von Charly Blood

Der Schrecken aus der Tiefe von Charly Blood

Aus dem Archiv

Zum besseren Verständnis

Autoren & Illustratoren

Ein kurzes Vorwort

Ich möchte Euch in der Welt von MORBUS willkommen heißen.

Die MORBUS-Urversion entstand bereits Mitte 2005, als meine Co-Autorin Waltraud Lengyel und ich darüber philosophierten, wie schade es doch sei, dass im Fernsehen keine österreichischen Mystery-Serien im Stil von Buffy, Akte-X und Twin Peaks laufen würden. Daher beschlossen wir eine eigene Reihe zu erschaffen. An diesem Tag wurde Bernd Waidmann geboren, der auf der Suche nach einem verschwundenen Touristenführer eine Welt jenseits von der entdecken sollte, die er sein Leben lang gekannt hatte.

Die Arbeit am Drehbuch für den Pilotfilm begann in den Wochen danach. Die entstandene Rohfassung blieb aber unvollständig. Die Idee landete daher einmal in der Schublade, wurde aber nie vergessen. Ein paar Jahre später wollte ich sie sogar in Form eines Jugendromans herausbringen. Dieser Plan blieb aber pure Theorie.

Hätte es PANTHERION nicht gegeben, würde Bernd Waidmann vielleicht noch heute friedlich ruhen. Bei PANTHERION handelt es sich um ein von Bernhard Reicher, Doc Nachtstrom und Jörg Vogeltanz erschaffenes Grazer Mystery Projekt. Es erzählt die Abenteuer der Geheimorganisation PANTHERION, die seit Jahrhunderten die steirische Landeshauptstadt vor finsteren Mächten und Wesenheiten aus anderen Dimensionen beschützt. Als mir Bernhard eines Tages erzählte, dass das Gesamtkonzept des Projekts vorsieht, dass es in den meisten österreichischen Hauptstädten eine verborgene Gruppe gibt, wurde mir sofort klar, dass ich die Geschichte der Wiener Organisation BASILISK erzählen wollte. Das ursprüngliche Projekt verschmolz mit dem PANTHERION-Universum.

Waltraud war auch gleich Feuer und Flamme. Unter den Pseudonymen Zoë Angel und Charly Blood schrieben wir 2011/2012 - ganz im Geiste der klassischen Groschenhefte - MORBUS #1.

Die ersten beiden Hefte kamen im edition preQuel-Imprint von Jörg heraus, danach wechselte MORBUS zum Wiener Verlag EVOLVER BOOKS, in dem 2014 ein Taschenbuch mit zwei Geschichten und 2016 noch ein weiteres Heft erschien. Nach der Auflösung des Verlages veröffentlichte ich 2017 noch den abschließenden Band des Zweiteilers von 2016 im Eigenverlag.

Ich wollte MORBUS danach nicht sterben lassen. Viele Texte sind geschrieben und warten noch auf ihre Veröffentlichung. Einige Romane sind halbfertig. Außerdem gibt es ein Dutzend Kurzgeschichten, die in Zeitschriften und Anthologien erschienen sind, die zu den MORBUS-Romanen gehören. So wurde myMorawa zur neuen Heimat von MORBUS, wo die Serie als Gesamtedition mit alten und neuen Abenteuern erscheinen wird.

Mit diesem ersten Band treten Sie in die phantastische Welt der Geheimorganisation BASILISK ein und lernen ein Wien kennen, in dem die alten Sagen und Legenden Wirklichkeit sind. Ich wünsche schaurige Unterhaltung und fröhliches Gruseln!

Werner Skibar alias Charly Blood

Zoë Angel & Charly Blood

MORBUS
Band 1

BLUTSCHWUR
DER
DONAULEICHEN

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Erstveröffentlicht wurde dieser Roman als
MORBUS 1: Blutschwur der Donauleichen,
Edition Gwydion / grotesque, 20. Juli 2012

Er würde sterben. Schon bald.

Noch lachte er, noch strahlte sein schmieriges Grinsen in der Dunkelheit. Er hatte schon ein paar Spritzer intus, im Freudenhaus hatten Swoberl und er es sich richtig besorgen lassen. „Ach, wie schön ist das Leben“, dachte er, während er seine Blase mit wohligem Schnaufen in den Donaukanal entleerte. Was für eine Erleichterung!

Der Schnauzbartträger war von den Geschehnissen der letzten Tage noch so beschwingt, dass er zuerst die Bewegungen im Wasser komplett übersah. Etwas kam auf ihn zu. Nachdem er sich beinahe sein bestes Stück im Hosenstall eingeklemmt hatte, fischte er eine Marlboro aus der Tasche und zündete sie mit sicherer Hand an. Das konnte er. Egal, wie hoch sein Alk-Pegel war, das Feuerzeug konnte er stets bedienen. Da hörte er etwas. Ein Platschen. Irgendwas war da im Wasser. Er glaubte auch etwas zu erkennen, etwas Großes. „Bist deppert? Schwimmen im Donaukanal? Graust dir vor gar nix?“

Er lachte, wahrscheinlich einer von diesen Blumenspinnern. Oder wieder so ein Rauschgiftsüchtiger. Liest man ja immer in der Krone davon. Noch einmal hörte er etwas im Wasser. Er kniff die Augen zusammen. Ja wirklich, da schwamm was. Er dachte kurz an sein Gspusi. Vielleicht würde er ja an diesem Abend noch mehr Spaß bekommen. Wankend näherte er sich dem Wasser. Je näher er kam, umso mehr drang der Gestank nach Urin und Kloake in seine Nase.

„Baby, bist du des? Hast no ned gnua ghabt?“

Mit einer Schnelligkeit, die er in seinem umnebelten Hirn auch gar nicht begriff, kamen Dinge aus dem Wasser. Er sah nicht viel, aber was er erkannte, ließ seinen Atem stocken. Vielleicht waren das einmal Menschen gewesen, das konnte durchaus sein. Doch sie hatten anscheinend viel zu lange auf dem Grund des Gewässers gelegen. Aufgeschwemmte, halbzerfallene Gestalten kamen auf ihn zu. Kaltes Höllenfeuer brannte in toten Augenhöhlen, geboren aus Hass auf alles Leben.

Er versuchte zu fliehen, das wollte er wirklich. Doch er hatte keine Chance. Als sich die ersten Zähne in ihn verbissen, schrie er noch.

Kurz darauf verstummte er. Für immer.

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Die Neonlampen warfen ein kaltes, fahles Licht auf die dreckigen Gleise der U-Bahn-Station Meidlinger Hauptstraße. Unbemerkt huschte eine Ratte zwischen Papiermüll und alten Kondomen unterhalb des Bahnsteigs davon. Ein ungemütlicher, faulig riechender Wind fegte durch die Tunnel.

Der Bahnsteig leerte sich entsprechend schnell – niemand wollte hier länger bleiben als nötig. Es war eine verrufene Gegend. Ganz in der Nähe gab es seit vier Jahren einen Underground-Treff, das berüchtigte Punk- und Gothic-Lokal U4. Und was man von den Gruftis zu halten hatte, die dort ein- und ausgingen, wusste man ja …

Nur ein paar seltsam gekleidete Gestalten blieben auf dem Bahnsteig zurück. Tatsächlich, alle trugen sie schwarz! Die jungen Frauen kamen in langen mittelalterlichen Kleidern daher, bleich geschminkt mit einer Spur zuviel schwarzen Kajal um die Augen, die Burschen mit auftoupierten Haaren und mehr Schminke im Gesicht als ihre weiblichen Pendants.

In der Gruppe herrschte Unruhe; es wurde aufgeregt diskutiert. Das passte so gar nicht zur allgemein vorherrschenden Meinung, dass Gruftis Kindersärge mit sich herumschleppen und ansonsten nur still leidend in dunklen Ecken stehen.

„Bei allen unheiligen Göttern, wo bleibt die nur?“ fragte ein überdurchschnittlich großer Bursche mit seitlich abrasiertem Haar.

„Ich bin dafür, dass wir jetzt gehen, sonst lässt Conny keinen mehr rein“, maulte ein blondes, langhaariges Mädchen, das einen schwarzen Kapuzenumhang trug. „Du weißt doch, wie Türlsteher so sind …“

„Nein, wir warten, so ist das mit Petra ausgemacht. Wir sind die blauen Finnen, wir haben ihr damals den Treueeid geschworen. Ohne sie brauchen wir uns gar nicht erst blicken zu lassen. So eine Blöße geben wir uns vor Alex und ihrer Clique ganz bestimmt nicht. Sonst fangen die und ihre dummen Hühner wieder an, sich das Maul über uns zu zerreißen – dass sie besser sind als wir, dass ihre Gruppe größer ist und den ganzen Blödsinn“, bemerkte ein feminin wirkender Schwarzgekleideter mit spitzem Mündchen.

„Petra taugt das garantiert nicht, dass du schon wieder so ungeduldig bist, Sissy. Wir warten doch eh erst eine Dreiviertelstunde“, sagte der Große.

Die Wasserstoffblondine antwortete schmollend: „Na ja, wenn die immer so lang braucht, bis sie daherkommt. Mir zerrinnt schon das ganze Make-up, dann schau ich aus wie der Alice Cooper, nicht mehr wie Siouxsie.“

Die ins Gespräch vertieften Jugendlichen bemerkten gar nicht, dass sich ihnen von der Rolltreppe her eine zarte, nicht allzu große, hübsche junge Frau näherte. Sie hatte lange schwarze Haare, die offen bis zu den Hüften hinabfielen. Durch ihren natürlich bleichen Teint wurden ihre grünen Katzenaugen extrem betont. Hohe Wangenknochen und ein voller, tiefrot geschminkter Mund rundeten ihr exotisches Erscheinungsbild ab. Ihr ganzes Wesen hatte etwas Katzenhaftes an sich.

„Hallo Leute, seids endlich fertig fürs U4?“

Alle Köpfe drehten sich zu ihr um. „Servas, Petra. Wir warten schon urlang auf dich. Wo kommst du denn jetzt her? Die U-Bahn ist doch schon vor ein paar Minuten abgefahren“, staunte der Lange.

Petra lächelte. „Ach, Markus, du und Floh – ihr seids so groß und sehts trotzdem nie, was rund um euch passiert. Habts euch vielleicht ein bissl zu oft das Kopferl am Plafond anghaut? Oder macht euch die dünne Luft da oben schwindlig?“

Sissy kicherte boshaft und wollte gerade zu einer spitzen Bemerkung ansetzten, als Petra sie unterbrach: „Na, heut im Alice-Cooper-Look? Ich hab geglaubt, du stehst nicht auf Männer als Vorbilder?“

„Aber geh, ich hab mich doch heute auf Siouxsie gestylt“, gab Sissy schnippisch zurück. „Ich lass mir halt gern was Neues einfallen – nicht so wie du, immer im gleichen Vampir-Lady-Look.“

„Wenn man weiß, wie man am besten wirkt, kann man ruhig immer gleich ausschauen“, sagte Petra provozierend. „Dafür krieg ich auch immer die Männer, muss nie Eintritt zahlen und brauch mir kein Getränk selber kaufen. Und wie ist das bei dir, Susie Cooper?“

Ja, darauf hatte sie sich schon immer gut verstanden. Petra war bereits im Volksschulalter eine Expertin darin gewesen, andere zu verunsichern. Sie spürte einfach, welche Ängste und Unsicherheiten ihr Gegenüber plagten. Mittlerweile fand sie es ganz schön zermürbend, dass sie immer merkte, wenn es jemandem schlecht ging oder die Person gerade wütend war. Anfangs hatte sie ja geglaubt, dass das ihre eigenen Gefühle waren, aber irgendwann war ihr klargeworden, dass sie den Zorn oder die Enttäuschung anderer Menschen spüren konnte. Und musste … deswegen mied sie für gewöhnlich auch größere Menschenansammlungen. U-Bahn fahren war manchmal der blanke Horror für sie. Wenn zu viele Menschen im Zug waren, stürzten deren Gefühle nur so auf sie ein. Das gebündelte Grauen von Trauer, Hass oder frischer Verliebtheit, durchzogen von stupider Langeweile.

Von Zeit zu Zeit kam es vor, dass sie dann lieber zu Fuß ging, um den Menschen und ihren Emotionen nicht ständig ausgesetzt sein zu müssen. Heute abend hatte sie es auch wieder so gehalten. Es war Frühling, das Wetter war angenehm, die jungen Triebe sprossen, und die Luft war erfüllt von zartem Blütenduft. Die Menschen erwachten aus dem Winterschlaf, weil sich die Hormone in ihnen regten. Da wurden einige natürlich auch von ihren Partnern enttäuscht und hatten Liebeskummer – so wie das Mädchen in der U-Bahn. Die innere Zerrissenheit der Kleinen war nicht auszuhalten gewesen, also hieß es aussteigen und zu Fuß gehen. Das Schöne war, dass Petra dadurch das herrliche Aprilwetter und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne genießen konnte.

Die Flucht in die Grufti-Szene war für Petra eine Möglichkeit gewesen, Abstand von der breiten Masse zu bekommen. Wenn man sich so kleidete, hielt man die meisten oberflächlichen Menschen auf Distanz. Der „angepasste“ Bürger ließ die Friedhofsgestalten doch eher in Ruhe.

Und das Beste war: Niemand verlangte mehr von ihr, ein freundliches Gesicht zu machen, zu lächeln oder gar fröhlich zu sein. Wie sie das hasste, wenn ihre Mutter sagte: „Na geh, du bist doch so ein hübsches Mädchen, warum schaust denn immer so ernst? Lächle doch einmal!“

Einen Grufti redete niemand so blöd an. Manche Menschen hatten sogar so starke Vorurteile, dass sie die Straßenseite wechselten, wenn sie Petra sahen. Damit hatte die junge Frau kein Problem; so musste sie sich wenigstens nicht mehr mit den Leuten und ihren banalen Gefühlswelten konfrontieren. Mit der Handvoll Goths aus ihrer Gruppe kam sie gut zurecht, weil die eigentlich alle gutmütig und mindestens so introvertiert waren wie sie selbst. Von Zeit zu Zeit plauderte man über geheimnisvolle Bücher und mysteriöse Ereignisse, aber selbst da steigerte sich niemand besonders hinein. Deshalb hatten sie sich zusammengetan und die blauen Finnen gegründet. Die zeichneten sich dadurch aus, dass sie sogar unter den Gruftis Außenseiter waren. Nur Sissy nervte Petra gelegentlich, aber als Freundin von Martin war sie halt in ihre Clique hineingerutscht. Ihr Problem mit der jungen Frau waren deren Gefühle, die sie nie unter Kontrolle hatte und deshalb sehr stark ausstrahlte. Petra konnte manchmal gar nicht anders, als sie auf Abstand zu halten. Am besten gelang ihr das, in dem sie zu Sissy so unfreundlich wie möglich war.

The Show must go on, dachte sie jetzt. Lächelnd drehte sie sich um und meinte: „Na, was ist? Wir sind schon spät dran, lassts euch doch nicht immer soviel Zeit!“

Doch kaum hatte sie den halben Weg zur Rolltreppe zurückgelegt, geschah etwas. Ihre Sicht begann zu verschwimmen. Sie befand sich plötzlich am Donaukanal und war hungrig, so unersättlich hungrig und erregt …

Sie beißt zu, genießt die Schreie, die ihr Opfer ausstößt. Süßes warmes Blut füllt ihren Mund, und sie spürt den Widerstand der Sehnen, der splitternden Knochen. Hmmmm … je mehr das Stück Mensch schreit, desto besser ist sein Geschmack. Vor kurzem hatte er noch Sex, das kann sie an ihm schmecken. Aaaahhhhh, was für ein Genuß!

„Petra!“

Eine Stimme durchbrach die Flut aus Fleisch und Blut, riss sie wieder in ihren Körper zurück: „He, Petra, alles in Ordnung mit dir?“

Markus, der zwei Meter neun große Goth, hielt Petra im Arm und sagte behutsam zu ihr: „Da bist ja wieder. Du bist schon wieder umgekippt. Hast zuviel Dope geraucht oder was?“

Benommen musterte Petra ihre Umgebung. „Wo, was? Mir ist schlecht … Nein, ich hab heute weder eine Tüte noch Alkohol gehabt. Aber ich glaub, ich brauch jetzt einen Wodka, um den widerlichen Geschmack loszuwerden.“

„Gehts dir auch wirklich gut?“ Markus schaute zweifelnd zu Petra hinunter. Sie erholte sich zum Glück erstaunlich schnell. Schnippisch antwortete sie: „Klar gehts mir gut! Werd ich dir gleich bei unserem ersten Drink beweisen. Im Gegensatz zu dir landet der Alkohol in meinem Magen. Bei deiner Größe kommt der ja nie da unten an, sondern steigt gleich in dein Hirn rauf. Deswegen bist du immer so schnell fett.“

Sissy meinte grinsend: „Ja, ihr gehts gut! Der Giftzwerg giftet wieder, also kann es ihr nur gut gehen.“

Gemeinsam machten sich die blauen Finnen nun endlich auf ins U4, zum „schwarzen Mittwoch“. Sie hatten keine Ahnung, dass sich für einige von ihnen in dieser Nacht so ziemlich alles im Leben verändern würde.

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Kaum hatten die schwarzen Gestalten den Perron verlassen, schälte sich eine Person aus den Schatten. Es war ein großgewachsener Mann, Mitte vierzig, mit kurzem, graumeliertem Haar. Er fischte etwas aus seinem Ledermantel, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Eine Flamme erleuchtete kurz die Finsternis, dann nahm er einen tiefen Zug von seiner Marlboro. „Das also ist die Kleine, von der mir Harry erzählt hat.“ Der kalte Luftzug einer weiteren einfahrenden U-Bahn streifte über seinen Nacken. „Ob sie auf Drogen ist?“

Bernd Waidmann fragte sich, was er hier, in der Nähe des U4, eigentlich tat. Daheim wartete aber sowieso nur eine halbvolle Flasche Bourbon auf ihn, neben Bergen von Rechnungen und einer großen Portion Selbstzweifel. Für einen Augenblick dachte er an seine Tochter. Würde sie sich in zehn Jahren auch mit solchen Gestalten herumtreiben?

Es lief ihm kalt über den Rücken, als er sich vorstellte, wie seine geschiedene Frau alles tat, um aus dem Mädchen ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu machen. Vielleicht hatten all diese Gruftis solche Eltern daheim und konnten gar nicht anders, als ins Zwielicht zu flüchten.

Doch dann zwang er sich, wieder an das Jetzt zu denken. An seinen Fall, an die verzweifelte Frau, die vor ein paar Tagen in sein Büro gekommen war. Im Fernsehen schauten die Klientinnen eines Privatdetektivs immer aus, als wären sie einer Modezeitschrift entsprungen, waren meist blond und stets willig. Leider hatte sich das wohl nicht bis Wien herumgesprochen – die Besucherin wirkte verbraucht und erledigt. Die Unzufriedenheit mit dem Leben hatte tiefe Falten in ihr Gesicht gefressen.

Sie hatte eine Sekretärin erwartet, doch sie bekam nur sein Schulterzucken. Wie sollte ich die denn bezahlen? dachte er sich nur. So stellte ihr wenigstens der Chef persönlich ein Glas Wasser hin. Was konnte sie schon mehr verlangen? Den vollen Service? Dann brach sie in Tränen aus. Ihr Mann würde sie betrügen. Sie habe zwar keine Beweise, aber sie habe da so ein Gefühl. Sicher irgendso ein junges Ding, das ihm das Herz brechen und die Familie zerstören würde. Als ob er solche Geschichten nicht schon oft genug gehört hätte. Meist war es eine Schwester oder jemand aus dem Büro. Aber so ein Fall brachte gutes Geld.

Also – Kamera gezückt und die untreue Seele gejagt. Ihr Gemahl, der werte Herr Christian Fischer, schien wirklich kein Kostverächter zu sein. Er führte Touristen durchs schöne Wien, zeigte ihnen den Stephansdom, Schönbrunn und den Prater. Und er machte den hübschen Mädchen stets Komplimente. Der typische Wiener Charme schien ihm in die Wiege gelegt worden zu sein. Und dann war der werte Herr Fischer plötzlich verschwunden. Von einem Augenblick zum anderen, nachts in der Blutgasse, was immer er dort auch gewollt haben mochte. Ein paar Tage lang erschien er weder bei der Arbeit noch bei seinem holden Weib. Da Bernd noch keine wirklichen Beweisphotos hatte, war das natürlich eine echt dumme Sachlage.

Da hieß es bei einer guten Melange drüber nachdenken. Und so traf er im Café Central seinen alten Informanten Harry. Der hatte ihm schon einmal geholfen, damals in der Sache mit den Ratten und dem Stephansdom. War eine merkwürdige Geschichte gewesen. Auf jeden Fall kam man ins Gespräch, so von Mann zu Mann, wechselte von Kaffee zu Bier – und scheinbar schien auch Harry diesen Fischer zu kennen. Dadurch hatte Bernd von diesem Grufti-Girl erfahren. Und nun war er hier. Auf der Jagd…

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Wie jeden Mittwoch beim „Demon Flowers“ selektierte der Türsteher Conny am Eingang des berühmt-berüchtigten U4 das Publikum aus. Heute kam nur rein, wer aussah, als wäre er ein Massenmörder, Grufti, Metaller oder halt schlichtweg einfach verrückt. Man musste ja den „guten Ruf“ wahren, und das ging mit Muttersöhnchen und braven Mädchen nicht. Ausnahmen waren die gut gebauten Musterschülerinnen, die manchmal von Metal-Fans oder irgendwelchen Satanisten angeschleppt wurden. Da drückte Conny schon ein Auge zu. „Ich bin doch nett zu euch Schlachtlämmern, also geh halt rein“, sagte er immer belustigt zu den Mädels, worauf die meist noch erschreckter dreinschauten und dann am nächsten Schultag für weitere düstere Gerüchte über das Szenelokal sorgten. Es war nicht Connys Sache, wenn die Mädchen einmal so richtig angeben wollten, dass sie am schwarzen Mittwoch im U4 gewesen waren. Meistens hielten sie es sowieso keine ganze Stunde aus, spätestens dann nicht, wenn der neue Szene-DJ Golom ein Auge auf sie geworfen hatte. Entweder flohen sie kopfüber oder blieben bei ihm. Conny hatte keine Ahnung, wie Golom es immer wieder schaffte, die Bürgerkinder herumzukriegen, denn eine Schönheit war er wirklich nicht. Viel zu dünn, ein Gesicht wie der Tod höchstpersönlich – aber anscheinend hatte er etwas in der Hose, sonst würden ihm die Mädels nicht so nachrennen. Außer er hatte wirklich einen Pakt mit den Teufel geschlossen, wie Golom so gern behauptete …

Diese Mischung machte natürlich den „guten Ruf“ des U4 aus; so blieb man interessant und in aller Munde. In Wirklichkeit war das Mittwochspublikum in Ordnung, individuell, ausgeflippt, manche experimentierfreudig, aber im Großen und Ganzen harmlos. An „Normalo-Abenden“ gab es viel mehr Raufereien und Besoffene im U4.

Während Conny nachdachte, näherte sich eine Gruppe von Jugendlichen. Der Türsteher kniff die Augen zusammen und suchte schon nach Normalos, als er Petra in der Gruppe entdeckte.

„Du bist mir heute schon abgegangen, Mädel, bist spät dran! Rein mit dir“, meinte er zu ihr. Petra hauchte Conny ein Küsschen auf die Wange und bedankte sich. Wie immer brauchte sie keinen Eintritt zu bezahlen. Sissy und die anderen wollten ihr schnell nach, doch Conny hielt die vorbei huschende Sissy auf. „He, Alice, das macht dreißig Schilling Eintritt – und zwar für jeden von euch.“

Petra stand hinter Conny und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

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Unten im abgedunkelten, mit Rauchschwaden verhangenen Hauptraum ertönte gerade „Love will Tear Us Apart“ von Joy Division.

Petra setzte sich an ihren Platz bei der Bar, rauchte sich eine an und schaute sich um, wer anwesend war. Wie immer das gleiche Publikum: Alex und ihre Meute, Sue, die Plastikgaby und so weiter und so fort. Fußvolk halt. Ein neues Gesicht fiel ihr aber in der Menge auf: ein großer junger Mann, bleich, mit unendlich dichtem, langem schwarzen Haar.

Interessant. Sie konnte nicht sagen, ob es seine glühend dunklen Augen waren oder das leichte Lächeln, mit dem er sie musterte, sodass sie sich wie Beute vorkam. Er wirkte gefährlich und rücksichtslos; genau das gefiel Petra. Sie fürchtete sich nicht so leicht vor Männern – ganz im Gegenteil: die meisten hatten Angst vor ihr, sobald sie sie genauer kennenlernten. Er vielleicht nicht? Würde sie eventuell jemanden finden, der sie verstand, mit dem sie über ihre Visionen reden konnte, die sie immer so plötzlich überfielen? Jemand, der nicht vor ihr weglief, wenn sie sich zeigte, wie sie war …

Einzig mit ihrer kleinen Schwester Waltraud konnte sie über all das reden. Waltraud zeigte auch schon Anzeichen dafür, dass sie die gleiche „Gabe“ besaß, nur blieb die Zehnjährige bisher von den grausamen Visionen verschont. Waltraud wusste immer schon im vorhinein, wer schwanger war oder heiraten würde. Sie hatte noch nie eine finstere Vision gehabt, sondern sah immer nur schöne Dinge. Petra war froh, dass ihre kleine Schwester nicht das „dunkle Erbe“ hatte. Sie wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als Golom, der hiesige DJ, sie umarmte und abschmusen wollte.

„He, Alter, halt Abstand. Du weißt doch, ich kanns nicht leiden, wenn mich einer angrapscht!“ fuhr Petra ihn an.

„Na geh, ehrlich … spiel doch nicht immer die Unnahbare. Wennst nicht wolltest, dass man dich angreift, warum ziehst dann immer so eine geile Korsage an? Ich mein, deine zwei Prachtexemplare wollen meinen Händen einfach einmal hallo sagen.“

Und schon spürte Petra Goloms Finger an ihrem Dekolleté. Sie setzte gerade zu einem heftigen Schlag an, als der Fremde, den sie vorhin gemustert hatte, plötzlich neben ihr stand und dabei beiläufig den DJ von ihr wegschob.

„Darf ich dir helfen?“ fragte der Neuankömmling. „Schaut so aus, als gäbs da ein Problem. Ich kenn einige Methoden, wem die Finger zu brechen.“

„Danke für deine Hilfe, aber ich glaub, das kann ich selber. Aber wir können uns gerne bei einem Wodka darüber unterhalten, wie du ihm die Finger brechen tätest – und ich sag dir dann, wie ichs machen würd“, erwiderte Petra interessiert.

„Ich heiß Idur“, lächelte der Unbekannte und legte einen Zwanzig-Schilling-Schein auf die Bar. „Zwei Wodka bitte“, sagte er dann zur Kellnerin.

Golom, der einen Augenblick lang völlig überrascht war, wie schnell er keine Rolle mehr spielte, schob sich wieder zwischen die beiden.

Mit kaltem Blick keifte er Idur an: „He, ich bin noch nicht fertig mit der Braut, verzieh dich aus meinem Jagdrevier!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er gleich Petra an: „Mäuschen, dich krieg ich auch noch, wirst schon sehen, du landest schon noch in meinem Bett.“

„Sag einmal, Golom, hast dus bis jetzt noch nicht geschnallt? Ich bin nicht an dir interessiert, und wenn du der Teufel höchstpersönlich wärst. Nein danke und danke nein! Es bleibt dabei!“

Petra drehte sich angeekelt von Golom weg und schnappte sich ihren Wodka, den ihr die rothaarige Barfrau gerade hinstellen wollte.

„Prost und danke.“ Sie stieß mit Idur an und leerte das Glas auf einen Zug. In dem Moment griff Golom nach ihrer Hand. Aber er kam nicht mehr dazu, sie zu berühren. Idur war schneller. Ehe er es sich versah, kniete Golom auf dem Boden, mit dem Kopf nach unten und die Hand auf dem Rücken fixiert. Außerdem bohrte sich Idurs Knie ins Kreuz des aufdringlichen Möchtegernverführers.

„Heast, du bist ein bisserl schwer von Begriff, oder?“ fragte Idur rein rhetorisch.

Zuerst kam nur ein knurrendes Geräusch vom Niedergerungenen, dann murmelte er durch zusammengepresste Zähne: „Aber die Braut steht doch drauf.“

„Das hättest du gerne“, amüsierte sich Idur. „Du bist doch nur so mutig, weil du hier DJ bist. Ich wette, auf eine anständige Auseinandersetzung Mann gegen Mann lässt dus sicherlich nicht ankommen, oder? Ich bin Fechtmeister, und so Würsteln wie dich mach ich leicht fertig. Spätestens, wenn du meinen Degen siehst, haust du ab.“

Idur hatte Golom in der Zwischenzeit losgelassen, und der baute sich nun wieder wichtigtuerisch vor ihm auf. Mit arrogantem Tonfall meinte er: „Ich brauch heut nicht auflegen. Um elf am Donaukanal, ein Duell du gegen mich. Ich besorg dir einen Degen und du wirst bluten dafür, dass du mich hier vor meinen Leuten bloßgestellt hast.“

Idur antwortete belustigt: „Ach, mir brauchst du keinen Degen mitnehmen. Ich hab meinen im Auto. Ohne Spielzeug geh ich doch nicht aus dem Haus.“

Idur grinste vor Freude. Es versprach ein äußerst interessanter und amüsanter Abend zu werden. Nicht nur, dass er endlich einmal eine Frau kennengelernt hatte, die ihn faszinierte, er hatte auch noch etwas zum Spielen gefunden. O, wie lustig

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Privatdetektiv Waidmann hatte seine wichtigste Waffe wieder weggesteckt: die Spiegelreflexkamera, eine Yashica. Qualitätsware aus Japan. Mit der hatte er Petra und ihren Verein mehrmals auf Film festgehalten. Jetzt musste er nur noch die Bilder in der Dunkelkammer entwickeln. Das machte er gerne, er konnte sich dabei ganz gut entspannen. Ein paar Vornamen hatte er jetzt auch. Leute, mit denen die Verdächtige unterwegs war. Den Türsteher vom U4 schien sie auch besser zu kennen.

Wie er so in der Nähe des U4 lehnte, überlegte er sich seine nächsten Schritte. In der Nähe ein Beisl suchen, ein paar rauchen und ein gutes Krügerl, das wäre verlockend. In die Disco wollte er nicht hinein. Das wäre zu auffällig gewesen. Wäre nicht die erste Nacht gewesen, dass er irgendwo warten musste, bis die zu überwachende Person wieder ein Lokal oder einen anderen ihm unzugänglichen Ort verlassen hatte. Als Mittvierziger wäre er sich im U4 auch lächerlich vorgekommen. Viel zu alt. Wahrscheinlich hätten sie eh nur einen Kinderschänder in ihm gesehen, der in der Midlife-Crisis auf der Suche nach jungem Gemüse war.

Christian Fischer war so gewesen.

Ob der Verschwundene auch etwas mit dieser Petra gehabt hatte? Sie schaute ja echt knackig aus, aber trotzdem. Auf so ein tiefes Niveau wollte Bernd nie sinken: ein einsamer Mann, der eine Siebzehnjährige mit nach Hause nehmen wollte. Auf die Art war schon manches zutrauliche Kind verschwunden. Auch in Wien. Möglicherweise in irgendwelche Keller weggesperrt. Bernd schob die kranken Gedanken schnell wieder zur Seite. Lieber nicht an sowas denken. Also hieß es einmal abwarten. Irgendwie hatte Bernd Waidmann das Gefühl, dass in dieser Nacht noch etwas geschehen würde – oder bereits geschehen war. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, wie recht er damit haben sollte.

Doch das Grauen hatte gerade erst begonnen.

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Jemand war in der Wohnung. Barbara Fischer war aus einem unruhigen Schlaf erwacht. Ihr Herz begann heftig zu schlagen. War ihr Herzblatt etwa nach ein paar Tagen zurückgekehrt? Aber warum macht er kein Licht? Warum schleicht er sich denn wie ein Einbrecher in die Wohnung? Wird er vielleicht wieder einmal von seinem Kumpel Swoberl reingeschleppt, weil er im Suff zu nichts mehr fähig ist? Wär nicht das erste Mal …

Ein eiskalter Schauer rieselte ihren Rücken hinunter. Was ist, wenn es sich um einen Einbrecher handelt? In der Kronen Zeitung liest man doch dauernd solche Sachen. Und Wien wird schließlich auch immer gefährlicher. Hatte ihr nicht Hildegard gerade erst von all den Drogensüchtigen erzählt? Sie kennt da jemanden, der ist im Prater überfallen und ausgeraubt worden, hat sie gesagt. Um ihn gefügig zu machen, hat man ihm einen Finger gebrochen. Oder auch die Hand? So genau hatte Hildegard das auch nicht gewusst. Und was ist, wenn so ein Monster jetzt bei mir ist?

Es gab nicht viel zu holen. Zwei Sparbücher, ein wenig Bargeld. Schmuck, den sie in den schönen Zeiten ihrer Ehe geschenkt bekommen hatte. Den Ring aus Caorle. Außerdem war sie für ihr Alter keine so unhübsche Frau. Was ist, wenn der mehr als nur Bares haben will?

Sie schob ihre rechte Hand vorsichtig unter der Bettdecke hervor. Auf dem Nachtkästchen lag ein Konsalik, der war dick. Besser als gar nichts. Vorsichtig ließ sie den rechten Fuß zu Boden gleiten. Sie bekam Angst, dass ihr Atem so laut war, dass der Einbrecher sie hören musste. Andererseits: sie hatte bereits einmal einen Taschendieb am Naschmarkt beim Krawattl erwischt. So ein frecher Rotzbua, der hatte sich was getraut. Aber mit ihr nicht, nicht mit der Babsi Fischer!

Mit neuem Mut gestärkt, schlich sie sich endgültig aus dem Bett. Der Einbrecher konnte was erleben. So geht das einfach nicht. Wien muss sauber bleiben.

Mit jedem Schritt erwachte ihre kämpferische Seite mehr und mehr. Barfuß bewegte sie sich aus dem Schlafzimmer. Hoffentlich quietschte jetzt die Tür nicht … aber es blieb ruhig. Ihr Blick fiel ins Wohnzimmer, das durch den bleichen Mond leicht erhellt war.

Wirklich, sie hatte recht gehabt. Da war jemand.

Eine Frau, eher ein junges Mädchen. Irgendeine … wie nannte man diese Gesetzlosen aus England doch gleich … buntes Haar, zerrissene Kleidung? Im Radio sangen die auch schon Lieder drüber. Das Mädchen hatte auf jeden Fall blaue Haare, das im fahlen Licht schimmerte. Was sich diese jungen Dinger da alles reinschmieren, schrecklich!

Obwohl Barbara so leise war, schien der unerwünschte Gast sie gehört zu haben. Das Mädchen drehte sich um – und dann blickte die Frau im besten Alter in die blauesten Augen, die sie jemals gesehen hatte. Das junge Fräulein war wunderschön, fast fremdartig, aber auf eine Art, die sie nicht zuordnen konnte. Dann vernahm sie eine Stimme, die dem Rauschen eines Baches glich. „Hilf mir bitte.“

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„Dir helfen. Na sicher. Ich helf ja gern einer jeden dahergelaufenen Göre, die bei mir einbricht!“ Barbara Fischer war empört.