Dr. Harald Kiwull, geboren 1943 in Litzmannstadt, heute Lodz. Aufgewachsen in einem Dorf in Norddeutschland. Studium der Rechtswissenschaft in Hamburg und Freiburg im Breisgau. War nach Tätigkeit als Zivilrichter lange Jahre Vorsitzender Richter einer Strafkammer am Landgericht Karlsruhe, deutschlandweit bekannt geworden als Berufungsrichter im sogenannten „Autobahnraser-Prozess“. Über 20 Jahre stellte er in dem von ihm mitbegründeten Verein „Kunst im Landgericht“ in 40 Ausstellungen Werke von mehr als 100 Künstlern aus. Seit seiner Pensionierung lebt Kiwull in Deutschland und Spanien. Sein erster Roman „Die Trüffel-Connection“ (2016) war in der Startauflage nach nur wenigen Wochen vergriffen.
Harald Kiwull
Knall 2
Ein Richter-Krimi
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
wieder für Zottel
1
Ein leises, knirschendes Geräusch weckte mich. Ich hob den Kopf und blickte auf die Uhr. Es war Viertel vor fünf. Neben mir hörte ich die ruhigen Atemzüge von Felicitas. Der Mond warf einen schrägen, bleichen Lichtstreifen über das Fußende des Bettes auf die weiße Wand links von mir. Daneben schimmerte im Halbdunkel die leicht geöffnete Tür zum dunklen Flur. Ich horchte. Wieder ein Knirschen, irgendwo in der Wohnung.
Es war kalt im Zimmer. Ich zog die Wolldecke vom Fußende hoch. Plötzlich bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Mir stockte der Atem. Ein Arm schob sich durch den schmalen Spalt in das Schlafzimmer. Eine Hand in schwarzem Lederhandschuh fasste den Griff der Tür und zog sie langsam, lautlos und gleichmäßig zu.
Ich schüttelte mich und kniff die Augen fest zusammen, öffnete sie wieder. Richtete mich weiter auf und starrte auf die Tür. Sie war jetzt geschlossen. Ein kalter Schauer fuhr mir über den Rücken.
Einen Augenblick verharrte ich entsetzt und regungslos, wie versteinert. Dann berührte ich leicht die Schulter von Felicitas, die aber nur etwas vor sich hin murmelte und weiterschlief. Ich packte sie etwas fester. Sie drehte sich verschlafen zu mir und wollte etwas sagen. Als ich ihr den Mund zuhielt, weiteten sich ihre Augen.
Leise flüsterte ich ganz dicht an ihrem Ohr: „Still! Sei still!“ Ich lauschte wieder einen Moment. „Es ist jemand in der Wohnung. Wirklich. Ich habe gesehen, wie die Tür zugezogen wurde.“
Sie sah erst mich erschrocken an, blickte zur Tür und flüsterte: „Das hast du doch geträumt!“
„Nein, nein, ich bin sicher. Da ist jemand“, antwortete ich leise. „Ich bin vollkommen sicher!“
Es war jetzt totenstill.
Ich schlug die Bettdecke zurück, schlich zum Fußende und drückte mein Ohr an die Tür. Kein Geräusch. Ich fasste die Klinke an. Felicitas hatte sich im Bett aufgerichtet und starrte her zu mir. „Bist du verrückt“, zischte sie. „Bleib hier. Du kannst nicht hinaus.“
Einen Augenblick blieb ich noch reglos stehen und überlegte. Dann versuchte ich, die Tür mit dem Schlüssel abzuschließen. Aber das Schloss war bei der letzten Renovierung überstrichen worden. Er ließ sich nicht bewegen. Von meinem Nachttisch nahm ich mein Schweizer Taschenmesser, klappte es auf und schob die Klinge als Keil unter die Tür in der wohl etwas verrückten Hoffnung, dass dem Einbrecher die Tür damit versperrt wäre. Felicitas war jetzt hellwach und beobachtete mich.
Ich lauschte erneut. Nichts.
Das Handy war natürlich wieder mal irgendwo anders, jedenfalls nicht auf dem Nachttisch.
Auf Zehenspitzen ging ich zu Felicitas und flüsterte ihr ins Ohr: „Wir klettern aus dem Fenster. Ich muss kontrollieren, ob die Wohnungstür oder die Rollläden auf der anderen Seite des Hauses aufgebrochen worden sind. Ob ich mich vielleicht doch getäuscht habe.“
Vor ungefähr zwei Monaten war ich aus dem Dachgeschosszimmer mit den schrägen Wänden des kleinen Ettlinger Hotels ausgezogen, das ich einige Monate bewohnt hatte. Nach der Trennung von meiner Frau war ich damals Hals über Kopf dorthin übergesiedelt. Und eigentlich und etwas überraschend hatte ich mich da oben ganz wohlgefühlt zwischen diesen merkwürdigen Mitbewohnern mit ihren eigenartigen Tagesabläufen und Nachtunruhen. Aber natürlich nicht als Dauerzustand.
Durch Zufall war es mir schließlich gelungen, eine gemütliche, ebenerdige Wohnung in einem alten, romantischen Haus am Hang im Vogelsang in Ettlingen zu mieten.
Kupfer, der Präsident des Landgerichtes, hatte damals im Vorbeigehen auf dem Flur zu mir gesagt: „Das wurde aber wirklich Zeit, Knall. Dass Sie da ausziehen. War ja langsam peinlich.“ Dabei hatte er mich ziemlich vernichtend angesehen.
Ich heiße Maximilian Knall, genauer gesagt Dr. Maximilian Knall und bin Richter am Landgericht Karlsruhe. Strafsachen seit vielen Jahren. Kupfer kenne ich schon lange Zeit. Wir haben ein gutes Verhältnis zueinander.
Vor dem Schlaf- und dem Wohnzimmer erstreckt sich ein kleiner Garten schräg hinunter zur Straße, genau so breit wie das Haus und zu beiden Seiten durch hohe Mauern begrenzt, die an das Haus anschließen. Es ist nicht möglich, direkt um das Haus herumzugehen.
Der Eingang ist nur von der Nebenstraße auf der anderen Seite des Hauses zu erreichen. Dort liegen auch die Küche und das Badezimmer.
Ich überlegte und schüttelte den Gedanken an den breitschultrigen, tätowierten Angeklagten ab, der mich am Dienstag, als er aus dem Sitzungssaal von zwei Wachtmeistern hinausgeführt wurde, drohend angeblickt und irgendetwas vor sich hin gemurmelt hatte. Seine drei finsteren Kumpane aus der letzten Reihe waren schon während der Urteilsbegründung lärmend rausmarschiert.
Leise machte ich die beiden Fensterflügel auf. Die kalte Luft ließ mich schaudern. Den Garten bedeckte eine dünne Schneedecke.
„Wir klettern hier raus. Ich muss auf der anderen Seite nachsehen. Es geht nicht anders.“
Felicitas stand inzwischen neben mir und blickte aus dem Fenster hinunter in den offenen, tiefen Kellerschacht, der sich unter uns über die gesamte Breite des Fensters erstreckte. Sie sah mich etwas ratlos an. Ich zeigte auf den dicken Ast der japanischen Zierkirsche vor uns, der schräg über den Abgrund ragte. „Wenn wir uns daran festhalten, wird es klappen. Ich halte dich.“ Feli öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
Wir horchten beide noch einmal. Nichts.
„Okay, ich fange an“, sagte ich, umklammerte mit beiden Händen den Ast und kletterte über die Fensterbrüstung nach draußen. Schräg über dem Schacht hängend gelang es mir, die Füße auf die seitliche Begrenzung zu bringen und mich hinüberzuziehen.
„Also, jetzt du. Ich stütze dich.“ Felicitas griff mutig den Ast, schwenkte die Füße aus dem Fenster, und ich konnte ihr zu mir herüberhelfen.
Erleichtert sahen wir uns im kalten Licht des Mondes an. Plötzlich schauderte Feli und blickte entsetzt auf ihre Füße. Sie stand barfuß im Schnee.
„Holst du mir meine Hausschuhe“, bat sie und blickte mich flehentlich an.
Fassungslos starrte ich auf ihre Füße, die sie nervös hin- und herbewegte. „Ich glaub es nicht“, stieß ich hervor. Kurz entschlossen packte ich erneut den Ast, zog mich in die Fensteröffnung und krabbelte so lautlos wie möglich wieder hinein. Ihre komfortablen grünen Filzpantoffeln standen friedlich, parallel zueinander vor ihrer Bettseite. Ich warf sie ihr nach draußen zu.
Wieder im Garten, nahm ich sie bei der Hand. Wir gingen zusammen den kleinen Weg schräg hinunter, vorbei an den fünf links an der Mauer stehenden, kleinen Buchsbäumen mit ihren runden, weiß gepuderten Köpfen. In unseren Schlafanzügen, die bloßen Füße in Hausschuhen, traten wir durch das Gartentürchen hinaus auf die Straße, auf der eine jungfräulich unberührte Schneeschicht durchaus romantisch im Mondlicht glitzerte.
Als wir um die Ecke bogen, zuckte ich zusammen. Von der Straße führte über den kleinen Fußweg eine Trittspur zum Haus. Abdrücke von großen Männerschuhen im Schnee. Zum Eingang und wieder zurück. Feli trabte vor mir her, ohne dass es ihr auffiel. Ich entspannte mich jedoch gleich wieder, als ich die „Badischen Neuesten Nachrichten“, unsere Tageszeitung, im Briefkasten stecken sah. Der Zusteller hatte schon in aller Frühe seine Arbeit getan.
Vor der unversehrten Tür und den makellos geschlossenen Rollläden der Fenster stampfte Feli wütend mit dem Fuß im Pantoffel auf.
„Du bist doch wirklich ein blöder Trottel“, schnaubte sie zitternd vor Kälte, drehte auf dem Absatz um und rauschte in ihrem Schlafanzug davon, was mich – vielleicht auch wegen der jetzt entspannten Einbruchssituation – zu einem nervösen Gekicher veranlasste, bevor ich ihr folgte. Einen Schlüssel für die Eingangstür hatten wir natürlich auch nicht.
Als ich gegen Mittag des nächsten Tages den Schwurgerichtsvorsitzenden und Freund Johannes Anglerter auf dem Gerichtsflur traf und anhielt, um ihm das nächtliche Erlebnis zu erzählen, unterbrach er mich schon nach den ersten drei Sätzen und sagte: „Das hast du nur geträumt“, während er weitereilte. Für mich hatte sich damit allerdings die Darstellung als spannendes und auch ziemlich kreatives Drama enttäuschend erledigt.
Kurze Zeit später traf ich die Kollegin Dr. Ilse Friedrich auf der Treppe und überlegte, ob ich einen zweiten Versuch starten sollte. Ich unterließ es dann aber lieber. Zivilrichterin Friedrich gehört zu der Sorte von Menschen, die schon nach einem Halbsatz brutal unterbrechen und in überbordendem Selbstbewusstsein mit einem kurzen, verblüffenden Schlenker auf ein Thema kommen, in dem sie selbst im Mittelpunkt stehen. Von dem sie dann nicht mehr abzubringen sind. Es bleibt einem dann nichts anderes übrig, als die weiße Fahne zu hissen und zu kapitulieren.
Im Weitergehen dachte ich darüber nach, ob diese Gesprächsdiktatur möglicherweise Folge einer genetischen Veranlagung, einer frühkindlichen Fehlerziehung oder die Auswirkung der grenzenlosen Bewunderung durch den unscheinbaren Ehemann sein könnte.
Felicitas, Richterin in Berlin, die mich eine Woche lang besucht hatte, war von mir am frühen Vormittag an den Zug nach Frankfurt gebracht worden. Sie wollte zu ihren spanischen Großeltern fliegen. Der Großvater war schwer erkrankt, und sie musste ihm und ihrer Großmutter beistehen. Es tat mir weh, sie so schnell wieder zu verlieren, und das vielleicht für lange Zeit.
Vor Jahren hatte ich sie kennengelernt, als ich als Assistent an der Uni in Hamburg tätig war und sie in einem Kurs betreute. Sie fiel mir damals auf, weil sie nicht nur ungewöhnlich attraktiv und sympathisch war, sondern auch besonders intelligent. Ihr Vater war Spanier und ihre Mutter Deutsche, und sie lebte seit Jahren in Deutschland.
Gegen Ende des Semesters schaffte ich es, sie näher kennenzulernen und verliebte mich in sie. Aber kurz danach verschwand sie aus Hamburg ohne Erklärung oder Abschied. Für mich äußerst rätselhaft und frustrierend. Ich litt sehr darunter.
Sie war sozusagen eine Jugendliebe von mir gewesen und erst vor wenigen Monaten überraschend wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Eine intensive, großartige Zeit hatte sich angeschlossen.
Zum Abschied umarmte sie mich zärtlich. Sie unterließ es nicht, mir ins Gewissen zu reden. Ich solle versuchen, mein Leben etwas entspannter zu gestalten. Meine Strafsitzungen etwas weiträumiger terminieren und überhaupt ruhiger werden. Solche Albträume seien doch schon wirklich bedenklich. Meine Nervosität gehe ihr langsam ziemlich auf die Nerven. Dabei strahlte sie mich aber liebevoll mit ihren blaugrünen Augen an.
Irgendwie hatte sie schon recht. Seit der Trüffel-Geschichte vor einigen Monaten war ich nicht mehr der Alte.
Bei mir war damals eingebrochen und ich brutal überfallen worden. Man hatte mich in den Kofferraum eines Autos eingesperrt, und nur durch einen glücklichen Zufall war ich freigekommen. Das anschließende Drama in den spanischen Bergen machte mir auch noch zu schaffen: Eine Bande hatte Felicitas’ Großvater erpresst und mit allen Mitteln versucht, an die Rezeptur für künstliche Trüffel zu kommen, die dieser erfunden hatte. Mit meiner Hilfe war es schließlich in Spanien gelungen, die Ganoven hinter Schloss und Riegel zu bringen. Die Rezeptur ging allerdings dabei endgültig verloren.
Obwohl das Abenteuer gut ausgegangen war, hatte es anscheinend meine Psyche doch ziemlich angeknackst. Mindestens einmal in der Woche wachte ich eine Zeit lang nachts aus einem Albtraum auf, in dem ich mich in einer dunklen Kiste befand und mir ganz stark bewusst war, dass mir etwas Grauenhaftes bevorstand. Der Traum endete immer, bevor dies eintrat, ließ mich aber ziemlich fertig zurück, wenn ich hochschreckte.
Irgendwie wurde dadurch auch einige Male eine Variante dieses Traumes aufgerührt: Ein frühes, eigentlich längst vergessenes Erlebnis bahnte sich den Weg in mein nächtliches Bewusstsein. Mein älterer Bruder und ich, er vielleicht vierzehn und ich zehn, fuhren am Spätnachmittag mit unserem Paddelboot den Entwässerungskanal zur Oste hinunter. Vor dem kleinen, offenen Eisentor der Deichdurchführung, einem dunklen, schmalen Tunnel durch den Deich, zögerte er kurz. Dann paddelte er hinein in die Dunkelheit. Mir war etwas mulmig, aber ich hatte natürlich nichts zu sagen. Nach etwa fünfzig Metern und kurz nach dem Passieren des zweiten Tores knallte dieses mit lautem Krachen direkt hinter dem Heck unseres Zweisitzers zu und einen Augenblick später danach war das Schließen des ersten Tores von der anderen Seite zu hören. Wir waren gerade noch davongekommen. Bleich im Gesicht drehte sich mein Bruder zu mir um, sagte aber kein Wort.
Auch später habe ich nie mit ihm darüber gesprochen. Aber es kamen einige Zeit Albträume bei dem Gedanken, dass wir eingesperrt zwischen den beiden Toren unter dem Deich und weitab von irgendjemand, der uns hätte helfen können, langsam im steigenden Wasser der Flut elend ertrunken wären. Eine Tragödie im Kanal, der dazu dient, die Felder bei Ebbe in die Oste zu entwässern und der automatisch verschlossen wird, wenn mit der Flut ein höherer Wasserstand im Fluss erreicht wird.
Die Erinnerung an die Herstellung des Paddelbootes im Flur unserer Dachgeschosswohnung über der Post, wo wir die frühen Jahre mit der Mutter wohnten, konnte mich nach solchen Albträumen immer etwas aufheitern.
Mein kreativer, aber etwas blauäugiger Bruder baute das vier Meter achtzig lange Boot aus Sperrholz im Flur ohne zu bedenken, dass es unmöglich sein würde, das Produkt über die enge Treppe nach draußen zu transportieren. Meine lässige Mutter ging während der monatelangen Bauzeit geduldig und lächelnd um Bretterstapel und Werkzeuge herum vom Wohnzimmer in die Küche und zurück. Auch sie machte sich keine Gedanken. Von mir konnte keine Rede sein.
Erst als das fertige Werk von Familie und Freunden bestaunt wurde, dämmerte es uns.
Unter dem Gejohle der Dorfbevölkerung wurde der dunkelgrün gestrichene Kahn schließlich aus dem kleinen Fenster des Wohnzimmers weit oben an der Stirnseite des Hauses eindrucksvoll, waagerecht hinaus in die Luft geschoben, bis es schließlich nach unten gegen die Wand krachte und an dem angeknüpften Strick herumpendelte. Der Reparaturbedarf war erheblich, und im Dorf wurde mindestens zwei Jahre lang die Geschichte in immer kurioseren Varianten erzählt und dem Brüderchen „Luftschipper“ hinterhergerufen, was ihn aber anscheinend überhaupt nicht kratzte. Seinem Erfinderimage tat es erstaunlicherweise keinen Abbruch.
Die Angeklagte in der Strafsitzung am Nachmittag trat vehement und lautstark dafür ein, dass strafmildernd bis strafausschließend zu berücksichtigen sei, dass das Opfer den Betrug hätte erkennen müssen. Wer so dumm sei, sei selbst schuld. Ihr dürfe nur ein geringer Vorwurf gemacht werden, wenn überhaupt. Ihr Verteidiger, der sie dabei ab und zu etwas gramvoll anblickte, versuchte das rechtlich zu untermauern, vermied es aber, mich bei seinen Ausführungen anzusehen.
Die 64-jährige ziemlich korpulente, wasserstoffblonde Angeklagte hatte dem Bauarbeiter, der dafür seine gesamten Ersparnisse lockermachte, zwei Kilo feine Goldkettchen, angeblich aus russischen Beständen, zum halben Preis verkauft. Tatsächlich war es natürlich kein Gold, sondern glänzend aufgearbeitetes Messing und fast wertlos.
Laut auf die Ungerechtigkeit vor Gericht schimpfend, verließ sie nach ihrer Verurteilung den Gerichtssaal, gefolgt von ihrem Rechtsanwalt, der beim Hinausgehen etwas hilflos mit seinen Händen wedelte.
Am späten Nachmittag stieg ich in einer plötzlichen Anwandlung von Einsamkeit die Stufen zu meiner Stammkneipe hinunter und setzte mich an die halbkreisförmige Holztheke.
Die gleichen Gestalten wie immer in der Runde, die ich deswegen die „Wohnsitzlosen“ getauft hatte, begrüßten mich mit einem Gemurmel und schwiegen gleich wieder. Merlin, der Mischlingshund von Karl, gegenüber auf der Sitzbank, hob kurz seinen Kopf, blinzelte mir zu und stank weiter vor sich hin. Molly schob, ohne zu fragen, ein Bier herüber und blätterte dann in ihrer Zeitschrift. An den im Hintergrund des Raumes im Halbdunkel stehenden zwei, drei Tischen saß kein Gast.
Ab und zu tat es mir gut, hier abzuspannen und vollkommen sicher zu sein, dass ich keinem Kollegen begegnen werde. Ich nahm einen großen Schluck von meinem Bier.
Irgendwie fühlte ich mich in letzter Zeit nicht gut. Vielleicht war das Drama der letzten Monate aus Spannung, Frustration und Euphorie doch zu viel für mich gewesen. Außerdem bedrückte mich, dass ich bei mir in idiotischer Weise ein finanzielles Chaos angerichtet hatte.
Vor einigen Wochen erklärte mir bei einer Geburtstagseinladung meines Freundes Wolfhart zu später Stunde ein Gast aus England das Rätsel des Geldgewinns durch fallende Kurse. John war unglaublich überzeugend. Gegen Mitternacht flüsterte er mir den absoluten Geheimtipp ins Ohr, wobei er sich immer wieder vorsichtig umsah. Er selbst habe auch sein ganzes Geld investiert. „Hundertprozentig“.
In meinem Hinterkopf spukte zu der Zeit die starke Sehnsucht nach einer großen Segeljacht. Ein Wunsch, den ich mir bei meinem Gehalt nie würde erfüllen können. Die unglaublich wunderbare Zeit im Mittelmeer auf der Segeljacht „Esperanza“ von Felicitas’ Großvater hatte sich tief in meinem Gemüt eingenistet. Wir waren nach unserem spanischen Abenteuer drei Wochen im Mittelmeer herumgegondelt. Es war traumhaft gewesen.
Je später der Abend, umso konkreter sah ich die eigene Jacht in allen Einzelheiten vor mir, lehnte schließlich auf der Luvseite, die salzigen Gischtspritzer im Gesicht und über mir das blendend weiße Großsegel.
Jedenfalls machte ich am nächsten Tag meine ganzen Ersparnisse locker, schöpfte die Kreditlinie aus und beging diesen wirklich üblen Fehler. Meinen Freunden und auch Felicitas erzählte ich vorsichtshalber nichts davon.
Das Geld war verschwunden und ebenso der englische Freund von Wolfhart. Nicht ganz verblüffend hinterließ er noch die Zeche für seinen Hotelaufenthalt und die Bewirtungen, mit denen er freigiebig um sich geworfen hatte. Wolfhart erzählte mir dann, er habe den Burschen auch nur kurz gekannt, aber er sei ihm ganz besonders sympathisch gewesen. Na, ja ...
Rudi, mein Nachbar zur Linken, fing an, mir eine etwas verworrene Geschichte über das zu erzählen, was ihm am Vortag passiert war. Meine Gedanken schweiften ab, aber ich schaffte es, ihm ab und zu Bemerkungen zuzuwerfen wie „Was du nicht sagst“ oder „Das glaubt man ja nicht“.
Ich dachte darüber nach, dass ich als Strafrichter und erfahren im täglichen Umgang mit Ganoven, diese doch eigentlich als solche erkennen müsste. Wenn nicht ein Richter, wer denn dann? Aber diese Gedanken machten mich nur noch depressiver.
Ob mir ein Ortswechsel über das verlängerte Wochenende vielleicht doch guttun würde? Ein paar Tage im Norden, wie geplant, wären möglicherweise das Richtige.
Ich hatte nämlich diesen Trip schon vor drei Wochen vorbereitet, aber eben mit Felicitas. Auch die Hotels schon reserviert und dann wieder abbestellt, als sich herausstellte, dass Feli nach Spanien fahren musste. Wir wollten eine Nacht in Stade und eine in Hamburg übernachten und jeweils unsere Freunde besuchen. Feli war vor einiger Zeit von Hamburg nach Berlin versetzt worden und ich in Stade zur Schule gegangen.
Nach dem zweiten Bier und einem Schnaps, den mir Rudi wegen meines einfühlsamen und geduldigen Zuhörens ausgegeben hatte, war ich entschlossen zu fahren.
Ungefähr zwei Stunden später saß ich in einem Abteil erster Klasse im ICE nach Hamburg. Ich würde kurz vor Mitternacht dort ankommen.
Im Gericht war ich noch vorbeigegangen und hatte das Urlaubsgesuch für den Freitag in meiner Geschäftsstelle bei Frau Kuch auf den Schreibtisch gelegt. Sie würde es am nächsten Morgen weiterleiten.
Zu meiner Verblüffung hatte ich dort trotz recht später Stunde meine Vertreterin Frau von Hühnlein angetroffen, wieder einmal in einem ihrer ungewöhnlich kurzen Röcke. Sie begann sofort, rasant mit mir zu plaudern – ihre Spezialität –, um ausführlich zu begründen, warum sie gerade heute bis jetzt im Gericht herumsprang.
Wir vertreten uns gegenseitig. Ich vermied es aber vorsichtshalber, ihr mitzuteilen, dass sie am Freitag eventuell für mich in Anspruch genommen werden könnte, und schaffte es, mich nach kurzer Zeit dem Gesprächsstrom zu entziehen.
In meiner Wohnung hatte ich ein paar Sachen in eine Tasche geworfen, außerdem in Stade und Hamburg in denselben Hotels angerufen und erneut die Zimmer für mich reserviert. In Stade würde ich am Burggraben wohnen, und in Erinnerung an alte Zeiten hatte ich in Hamburg ein Hotel im Ortsteil Bergedorf herausgesucht. Außerdem hatte ich erneut einen Mietwagen am Hauptbahnhof gebucht.
Ich war bei der Reiseplanung geblieben, weil es mir auch Vergnügen machen würde, durch Hamburg zu bummeln.
Meine ersten Semester hatte ich nämlich dort verbracht und während dieser Zeit eine kleine, dunkle Studentenbude in Bergedorf angemietet. Im Souterrain, wie man so schön sagt. Tatsächlich traf es Kellerraum besser. Aber im Sommer kühl und mit einem Fenster auf Erdniveau.
Davor hatte ich meinen Schreibtisch postiert, was zur Folge hatte, dass Henner, Jogi und meine anderen Freunde über Schreibtischstuhl, Tischplatte, Fensterbrett bei mir ein und aus gingen. Sehr lustig. Jogi konnte übrigens exzellent Klavier spielen und verblüffte einmal auf einer Nordlandreise die Finnen bei einer Faschingsveranstaltung am Polarkreis, was ja schon merkwürdig genug ist, dadurch, dass er im Pyjama zum Fest erschien.
Über mir wohnte mein Vermieter, der Herr Knannt. Er war Single und hatte bedauerlicherweise zwei Holzbeine. Was ihn aber nicht hinderte, ab und zu eine Party zu feiern, auf der getanzt wurde, auch von ihm. Das führte zu ganz ungewöhnlichen Geräuschen, die zu mir herabschallten. Insgesamt gesehen eine wunderbare Zeit.
Ein bisschen dort herumzulaufen und vielleicht auch mal nach dem Haus zu sehen, würde mir guttun.
Der Zug war ziemlich leer, und ich hatte ein Abteil für mich allein. Mit dem Rattern des Zuges und den vor dem Fenster vorbeihuschenden Lichtern der Ortschaften trat bei mir allmählich eine Entspannung ein, und ich fühlte, dass die Spontanaktion ein guter Entschluss gewesen war.
Ich würde morgen in Stade ein paar Freunde aus meiner Schulzeit anrufen, um sie zu treffen. Es könnte ein schönes Wochenende werden.
Ich lehnte meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Das Athenaeum tauchte vor meinem Geiste auf, die alte Schule. Von der Grundschule auf dem kleinen Dorf war ich dorthin mit einer gewissen und, wie sich dann zeigte, nicht unberechtigten Scheu gekommen, denn am ersten Tag meines Aufenthaltes gab mir Henner in städtischem Hochmut gegenüber dem Typ vom Land einen Tritt in den Hintern. Das war der Auftakt. Henner wurde später übrigens mein bester Freund, und seine Begrüßungsaktion tat ihm danach sehr leid.
Mit ihm und zwei weiteren Freunden gründete ich in der letzten Klasse den Geheimbund „Kokytos“. Bekanntlich in der Unterwelt der griechischen Mythologie ein Fluss, der das Totenreich umfließt. Wir fühlten uns den Kameraden damit ungeheuer überlegen und hielten ihn aus diesem Grund natürlich auch nicht geheim. Das kreidegemalte, altdeutsche „K“ mit Ausrufungszeichen dahinter war das Markenzeichen und wurde zu nächtlicher Stunde, oft dabei übereinander auf den Schultern stehend und nicht ganz nüchtern, überall in der Stadt und vorzugsweise an der Mädchenschule „Lyzeum“ angepinselt. Von den Lehrern wurde es als ein „R“ angesehen, für „Rache“. Das erfuhren wir aber erst viele Jahre später.
Vielleicht könnte ich ja mal ein bisschen herumstreifen und nachsehen, ob nach Jahrzehnten noch Fragmente unserer nächtlichen Eskapaden zu finden waren.
Ich versuchte, mich bequemer hinzusetzen, und lehnte mich an meine in der Ecke am Fenster hängende Jacke. Mit dem Kopf stieß ich gegen einen harten Gegenstand in einer der Taschen. Ich hatte den alten, schweren, gefütterten Parka, den ich seit Jahren nicht nutzte, wegen der unerfreulichen Temperaturen aus dem Schrank genommen und angezogen. Aus der Innentasche zog ich ein kleines Buch. Überrascht blickte ich darauf. Ich hatte es vor langer Zeit zum letzten Mal gesehen. Beim Anblick des Titels musste ich schmunzeln: „Die offene Ehe“.
Ich blätterte kurz darin herum, ließ es dann sinken und meine Gedanken schweiften zurück in vergangene Jahre.
Durch das Geräusch der Schiebetür des Abteils wurde ich aufgeschreckt. Ich war tatsächlich eingeschlafen und immer noch allein im Abteil. Eine schlanke, attraktive Frau im Pelzmantel mit kurzen, blonden Haaren schob ihren großen Koffer herein.
Ich half ihr aus dem Mantel und versorgte das schwere Gepäckstück. Als ich mich wieder zu ihr umdrehte, hatte sie mein Buch, das zu Boden gefallen und von ihr aufgehoben worden war, in der Hand. Sie las den Titel und sah mich mit einem reizenden, etwas spöttischen Lächeln an.