Der Autor

Corina Bomann – Foto © Nadja Klier

Corina Bomann ist in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und lebt mittlerweile in Berlin. Sie schreibt seit Jahren Romane, mit denen sie immer auf der Bestsellerliste landet. Das Schreiben und ihre Figuren sind ihre große Leidenschaft.

Von Corina Bomann sind in unserem Hause bereits erschienen:
Die Schmetterlingsinsel
Der Mondscheingarten
Die Jasminschwestern
Die Sturmrose
Das Mohnblütenjahr
Sturmherz
Die Frauen vom Löwenhof: Agnetas Erbe, Mathildas Geheimnis, Solveigs Versprechen
Ein zauberhafter Sommer
Eine wundersame Weihnachtsreise
Winterblüte
Winterengel
Ein Zimmer über dem Meer (unter dem Pseudonym Dana Paul)

Das Buch

Mathilda ist 17 und nach dem Tod ihrer Mutter allein auf der Welt. Sie hofft , ihr Leben in Stockholm irgendwie weiterführen zu können, mit ihrer Ausbildung, ihrem Heim, ihrer heimlichen Liebe Paul. Doch alles kommt anders, als Agneta Lejongård, die Gutsherrin vom Löwenhof, sie aufsucht und sich als ihr Vormund offenbart. Woher kannte die ihr unbekannte Frau überhaupt ihre Familie? Mathilda muss Abschied nehmen von allem, das ihr lieb ist, und auf dem Gut ein neues Zuhause finden. Was nicht einfach ist. Agnetas Zwillinge Ingmar und Magnus behandeln sie von oben herab, die Dienerschaft tuschelt, und Mathilda scheut zunächst vor den Pferden zurück. Dabei ist der Löwenhof für seine exzellente Pferdezucht berühmt. Mathilda ist entschlossen, sich zu behaupten, und sie gewinnt Agnetas Vertrauen. Bis die Wahrheit über Mathildas Herkunft ans Licht kommt.

Corina Bomann

Die Frauen vom Löwenhof – Mathildas Geheimnis

Roman

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage August 2018
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: plainpicture/© Dave and Les Jacobs (Tür),
Trevillion Images/© Lee Avison (Frau),
plainpicture/© Susan Dykstra (Landschaft ),
www.buerosued.de (Kopf, Fliesen, Blumen, Weg)
Autorenfoto: © Hans Scherhaufer
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Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-1790-8

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Erster Teil
1931

1. Kapitel

Ich fühlte mich schläfrig. Vor mir lag mein Heft, in das ich eigentlich etwas schreiben sollte, aber meine Arme waren viel zu schwer. Ich hatte keine Kraft, den Federhalter zu nehmen und Worte aufs Papier zu bringen. Die Luft im Klassenzimmer war trotz offener Fenster zum Schneiden dick, obwohl es erst Anfang Juni war. Der Sommer kam früh im Jahr 1931.

Am liebsten wäre ich irgendwo im Stadtpark gewesen anstatt im Unterricht von Fräulein Nyström an der Realskola in Stockholm. Ich hätte im Schatten sitzen und meinen Gedanken nachhängen können, statt etwas über Haushaltsführung zu hören und von den Blicken meiner Mitschülerinnen gepiesackt zu werden.

Doch meine Eltern hatten darauf bestanden, dass ich eine gute Ausbildung erhielt. Mein Vater hatte mich persönlich hier angemeldet und erklärt, dass ich nur so zu etwas kommen könnte. In diesen Zeiten darfst du dich nicht nur darauf verlassen, dass du einen guten Mann findest, waren seine Worte gewesen. Mutter hatte ihn seltsam angesehen, dann aber ebenfalls angemerkt, dass Schönheit allein für eine Frau heutzutage nicht ausreiche, um glücklich zu werden.

Ich wollte ihre Bemühungen nicht durch Schwänzen zunichtemachen. Erst recht nicht jetzt, wo die Beerdigung meiner Mutter erst ein paar Tage zurücklag.

Der Tod war in der Nacht zu Susanna Wallin gekommen, ganz heimlich hatte er ihre Seele gestohlen. Ich fand sie am Morgen, nachdem ich mich beim Aufstehen gewundert hatte, dass das Haus so still war. Meine Mutter ging als Erstes immer in die Küche, um den Herd anzufeuern und Frühstück zu machen. Auch nach dem Verschwinden meines Vaters hatte sie nie von dieser Gewohnheit abgelassen. Diesmal war es anders. Als ich ihr Zimmer betrat, um sie zu wecken, sah ich, dass sie mit offenen Augen an die Decke starrte. Zunächst glaubte ich noch, sie würde nachdenken, aber dann berührte ich sie und merkte, dass sie starr war und so unglaublich kalt.

Als ich einsah, dass kein Arzt ihr mehr helfen konnte, war es, als würde etwas in mir zerbrechen. Panisch rannte ich zum Doktor, der mir dann die schreckliche Gewissheit gab. Alles, was danach kam, verschwand im Dunkel meiner Erinnerung. Irgendwie hatte ich es geschafft, dem Pastor und den Nachbarinnen Bescheid zu sagen.

Tags darauf fand ich mich in meinem Bett wieder, mit dem Feuerzeug in der Hand, das einst meinem Vater gehört hatte. Während ich mir die Augen ausweinte, musste ich es an mich genommen haben. Es war warm von meiner Haut, und irgendwie tröstete es mich, auch wenn ich kaum etwas über meinen Vater wusste.

Papa hatte immer ein wenig abwesend gewirkt, und Mama hatte von einer Welt geträumt, die mir nicht zugänglich war. Die beiden hatten sich gut um mich gekümmert. Nie habe ich auch nur eine Ohrfeige erhalten. Aber sie waren manchmal wie Schaufensterpuppen, die nur in meinem Leben waren, damit ich Gesellschaft hatte.

Als mein Vater plötzlich aus meinem Leben verschwand, war ich untröstlich. Eines Tages kam er einfach nicht mehr nach Hause. Mutter hatte zwei Tage gewartet, dann die Polizei eingeschaltet. Überall suchte man nach Sigurd Wallin, doch man fand ihn nicht. Jemand erzählte den Polizisten, dass er ihn auf einer Brücke in Gamla Stan gesehen habe. Nachforschungen ergaben, dass er tatsächlich dort gewesen war. Vor einem Brückengeländer fand man ein Feuerzeug, das ihm gehört hatte. Es war vergoldet und mit einem feinen Blumenmuster bedeckt. Ich hatte es immer bewundert, wenn er sich damit seine Zigarillos anzündete. Es war das Einzige, was von ihm blieb.

Die Behörden gingen recht schnell davon aus, dass er sich im Wasser das Leben genommen habe. Die Suche wurde auf die Küste ausgedehnt. Doch die Ostsee war tief, und die Strömung trieb die Dinge weit aufs Meer hinaus.

Nach einem Jahr vergeblicher Suche wurde mein Vater für tot erklärt. Ich nahm das kleine Feuerzeug an mich, denn meine Mutter interessierte sich nicht dafür. Ohne große Trauer räumte sie die Kleidung meines Vaters zusammen, wie etwas, das abgeschlossen war und nun fortgeschafft werden konnte.

In meiner Trauer klammerte ich mich an den Gedanken, dass meine Mutter ja noch da wäre.

Jetzt hatte ich niemanden mehr, an dem ich mich festhalten konnte.

In der ersten Zeit nach ihrem Tod fühlte ich mich wie ein Geist. Ich spürte nichts, nahm kaum etwas wahr. In mir gab es nur Schmerz und Trauer. Nach einer Weile kam ich wieder ein wenig zu mir, doch noch immer fiel es mir schwer, die Tage zu überstehen. Weinkrämpfe schüttelten mich häufig, oft wenn es gerade unpassend war. Meist blieb mir dann nichts anderes übrig, als mich zu verkriechen. Wie ein Schatten schlich ich durch unser gelbes Haus an der schrägen Straße, der Brännkyrkagatan. Ich fühlte mich von den anderen, sorglos scheinenden Menschen isoliert. Der einzige Trost war Paul, der mich besuchte, um sicherzustellen, dass es mir gut ging.

Noch schlimmer, als im leeren Haus zu sein, waren die Stunden in der Schule.

Als mein Vater verschwand, hatte mich dort noch behutsames Mitleid umhüllt. Alle fanden mein Schicksal schrecklich und bedauerten mich und meine Mutter.

Nun war ich Waise. Die Großeltern väterlicherseits waren längst tot, und meine Mutter hatte nie über ihre eigenen Eltern gesprochen. Ich hatte sie nie kennengelernt. Wenn ich nach ihnen fragte, antwortete sie nur, dass ich eben keine Großeltern mütterlicherseits hätte.

In der Schule hatte ich nie viele Freundinnen. Außer Daga redete kaum ein Mädchen mit mir. Nun ließen sie mich spüren, dass ich eine Waise war. Jedes Mal, wenn sie mich ansahen und ihre Köpfe zusammensteckten, versetzte es mir einen Stich. Ohne Eltern fühlte ich mich, als hätte ich jeglichen Schutz verloren.

Ein Klopfen an der Tür des Klassenzimmers schreckte mich aus meiner Lethargie. Fräulein Nyström bat den Störenfried herein. Herr Persson, der Rektor unserer Schule, flüsterte kurz mit unserer Hauswirtschaftslehrerin, dann wandte er sich um und blickte über die Köpfe hinweg geradewegs zu mir.

»Mathilda Wallin«, sagte er schließlich. »Würdest du mich bitte begleiten?«

Sofort brandete Flüstern um mich herum, dazwischen hörte ich hier und da ein schadenfrohes Kichern.

Mein Herz begann zu rasen. Ich erhob mich und senkte scheu den Blick, doch dann straffte ich mich. Ich wusste, was die anderen dachten. Sie rechneten fest damit, dass ich nun, da ich keine Eltern mehr hatte, von der Schule genommen wurde. Wenn ich ehrlich war, erwartete auch ich genau das.

Mein Inneres barst beinahe vor Angst und Sorge. Ich lief hinter dem großen, massigen Mann her, der immer eine Fliege trug und dessen Jacketts immer ein wenig schief saßen. Dabei strömte mir der Geruch von Eau de Cologne und der Haarpomade, mit der er seine störrische schwarze Haarsträhne zu bändigen versuchte, in die Nase. Wie eine Fahne zog er sie hinter sich her.

In sein Büro wurde man nur zitiert, wenn man etwas wirklich Schlimmes angestellt hatte oder wenn es schlechte Nachrichten gab. Zuletzt war ich dort gewesen, als ich ihm erklären musste, dass meine Mutter gestorben war und ich deshalb für ein paar Tage nicht zum Unterricht erscheinen würde. Der Raum war recht groß – und braun. Braune Regale, braune, ledergebundene Bücher darin. Ein brauner Stuhl hinter dem braunen Schreibtisch. Darunter ein Teppich mit braunen Ranken auf Beige. Kein Farbtupfer sorgte hier für Ablenkung.

Als wir eintraten, erwartete uns eine hochgewachsene Frau, die ein elegantes dunkelblaues Kleid trug. Ihr blondes Haar war im Nacken zu einem Dutt zusammengesteckt, ein paar Strähnen hatten sich an den Seiten gelöst und umrahmten ihr ebenmäßiges Gesicht.

»Darf ich vorstellen«, sagte der Direktor und nickte der Fremden zu. »Gräfin, das ist Mathilda Wallin. Mathilda – Gräfin Agneta Lejongård.«

Eine Gräfin? Was wollte eine Gräfin hier? Ich blickte die Frau verwirrt an. In den Märchen, die meine Mutter mir manchmal erzählt hatte, waren Gräfinnen Frauen mit Diadem auf dem Kopf und silberglänzenden Kleidern. Diese hier trug nicht mal einen Hut.

Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Es freut mich, dich kennenzulernen«, sagte sie und reichte mir die Hand. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Knicksen? Sie war eine Gräfin! Ich knickste leicht, als ihre Hand die meine berührte. Gleichzeitig fragte ich mich, was eine Gräfin von der Tochter eines Buchhalters wollte.

»Setzen wir uns doch«, sagte der Rektor.

»Es tut mir leid, dass du deine Mutter verloren hast. Und das so kurz nach dem Verlust deines Vaters«, richtete die Gräfin das Wort an mich.

Ich blickte sie verwirrt an. Woher wusste sie das? Kam sie von der Fürsorge? Von einem Kinderheim?

Sie schien meine Gedanken zu lesen, denn sie setzte hinzu: »Aus diesem Grund bin ich hier.«

»Wegen meines Vaters?«

Sie schüttelte den Kopf. »Deinetwegen.«

Ich blickte zum Rektor, doch Herr Persson blieb regungslos. Er wirkte wie jemand, der ein spannendes Schauspiel beobachtete.

»Du bist noch nicht volljährig, das bedeutet, du brauchst einen Vormund«, fuhr die Gräfin fort.

Eine Welle heißer Panik durchzog mich. Also war sie doch von der Fürsorge.

»Ich komme ganz gut allein zurecht«, gab ich zurück. »Wenn Mutter krank war, habe ich das Haus versorgt. Und die Schule …« Ich stockte, als mir klar wurde, dass die Schule bezahlt werden musste. Mein Vater hatte dafür Geld zurückgelegt, aber ich war noch nicht mündig und man würde mir das Konto nicht übertragen.

Die Gräfin blickte zu Persson, dann sah sie mich wieder an. »Du gehst gern hierher?«

»Ja«, antwortete ich und erwischte mich dabei, wie ich unruhig an meinem Blusenärmel zupfte.

»Rektor Persson hat mir gesagt, dass du eine gute Schülerin bist.«

»Sie hat leichte Schwächen, was die Handarbeit betrifft, und auch in der Physik könnte sie besser sein. Aber in Arithmetik ist sie hervorragend. Und natürlich in der schwedischen Sprache sowie in Englisch.«

»Du hast Englischunterricht?«, fragte die Gräfin, worauf ich nickte.

»Ja, gnädige Frau«, antwortete ich.

»Nun, das könnte in deinem Leben irgendwann einmal von Vorteil sein. Und dass du sehr gut rechnen und schreiben kannst ebenso.«

Warum interessierte die Fürsorge sich für meine schulischen Leistungen?

»Was bedeutet das?«, fragte ich, bevor Persson und die Grä­fin sich noch weiter über meine Zensuren auslassen konnten. »Warum sind Sie hier? Wollen Sie mich in ein Heim ste­cken?«

Die Augenbrauen der Frau schnellten in die Höhe. »Nein, das will ich nicht«, antwortete sie ruhig. »Ich bin hier, um dir mitzuteilen, dass ich zu deinem Vormund bestellt wurde.«

Mir fiel die Kinnlade herunter. Diese fremde Frau, eine Gräfin noch dazu, sollte über mein Leben bestimmen? Über die Zeit bis zu meiner Volljährigkeit?

»Ich weiß, das kommt ein wenig plötzlich«, fuhr sie fort. »Aber ich wollte nicht, dass du es erst bei der Testamentseröffnung erfährst.«

Ich schaute sie verwirrt an. Vormund? Testamentseröffnung? Diese Frau, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, sollte für mich sorgen?

»Wieso?«, platzte mein Gedanke laut aus mir heraus.

»Wie bitte?«, fragte die Gräfin.

»Wieso gerade Sie? Welchen Grund gibt es für eine Gräfin, die Vormundschaft für mich zu übernehmen?«

»Mathilda!«, zischte der Rektor warnend, doch die Gräfin schüttelte den Kopf.

»Ist schon gut.« Sie atmete tief durch und sagte dann: »Deine Mutter hat es so verfügt.«

»Meine Mutter? Was hatten Sie mit meiner Mutter zu schaffen?«

»Wir kannten uns. Schon seit langer Zeit. Kurz nach ihrem Tod erhielt ich von einem Notar das Dokument, in dem deine Mutter ihren Wunsch geäußert hat, dass ich dein Vormund werde.« Sie zog einen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn mir.

Ich faltete ihn auseinander. Sofort erkannte ich die Handschrift meiner Mutter. Die ausschweifenden Bögen um das B und das R waren typisch für sie. Datiert war der Brief auf den 19. Februar vergangenen Jahres. Hatte sie da bereits geahnt, dass etwas nicht mit ihr stimmte? Wusste sie von ihrem schwachen Herzen? Wenn ja, hatte sie mich gut getäuscht. Wir hatten nie darüber gesprochen, dass sie krank war.

Bei einer Zeile blieb ich hängen.

Für den Fall meines Todes wünsche ich, dass Gräfin Agneta Lejongård die Vormundschaft über meine Tochter Mathilda übernimmt.

»Warum sollte sie das schreiben?«, fragte ich dann. »Mutter hat Sie nie erwähnt.«

Plötzlich war mir diese Gräfin suspekt. Was, wenn sie mich irgendwohin verkaufte? Oder gab es das nur in billigen Liebesromanen?

»Mathilda!«, sagte der Rektor. Der Ärger in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Bedenke doch, was das für dich bedeutet! Du solltest dankbar sein für dieses Geschenk.«

»Oh, ein Geschenk ist es keinesfalls«, entgegnete die Gräfin. »Es ist meine Pflicht, für dich zu sorgen. Auf dem Löwenhof wird es dir gut gehen, und vielleicht wird es so etwas wie ein Zuhause für dich.«

Diese Worte prasselten wie ein kalter Platzregen auf mich hernieder. Ich würde von hier fortmüssen. Und was wurde dann aus Paul und mir? Was aus meinem Wunsch, auf die Handelsschule zu gehen? Paul und ich hatten darüber fantasiert, wie es wäre, wenn wir seine Firma gemeinsam führten. Er ­würde Möbel bauen, und ich würde mich um die Buchhaltung kümmern, weil ich wesentlich besser rechnen konnte als er.

Doch das würde jetzt alles hinfällig sein. Versauern auf einem Gut war alles, was mir blieb. Mistkarren schieben, Heu in Schober stapeln und abends Fuchs und Hase beim Gutenachtsagen zuschauen. Keine flirrenden Jazzclubs, von denen ich gelesen hatte und heimlich träumte. Kein pulsierendes Leben in der Stadt. Ich wurde von allem fortgerissen, was ich kannte.

Ich spürte, dass mir die Tränen kamen.

»Und wenn ich es nicht will?«, fragte ich trotzig. Mein Zorn war mindestens so groß wie der Eisberg, der die Titanic zum Sinken gebracht hatte.

»Mathilda!« Rektor Persson wirkte, als würde er gleich von seinem Sitz hochschnellen. »Dir bleibt keine andere Wahl!«

Die Gräfin sah mich an. »Wenn deine Mutter nicht gestorben wäre«, fragte sie überraschend sanft. »Was hättest du dann nach der Schule gemacht?«

»Ist das denn wichtig?«, schluchzte ich.

»Für mich schon. Ich kenne dich noch nicht, Mathilda. Ich weiß nicht, was du dir wünschst. Und glaube mir, ich weiß, wie es ist, wenn eigene Wünsche nicht in Erfüllung gehen.«

Ich starrte sie an.

Der Rektor schnaufte. Er hielt mich für respektlos, aber in diesem Augenblick ging es um mich, um mein Leben!

Außer Paul hatte ich noch niemandem meinen Berufswunsch mitgeteilt. Die meisten Mädchen träumten davon, einen guten Mann und Versorger zu finden. Auf die Realskola gingen sie nur, damit sie eine kluge Hausfrau werden konnten. Wenn ich ihnen erzählt hätte, was ich mit meinem Leben vorhatte, wäre ich noch mehr zur Außenseiterin geworden.

»Ich möchte zur Handelsschule gehen und irgendwann in einer großen Firma arbeiten«, hörte ich mich sagen. »Ich finde Zahlen faszinierend. Auf jeden Fall will ich mein eigenes Auskommen haben, eine eigene Wohnung und vielleicht ein Automobil.«

Agneta Lejongård nickte bedächtig und sah mir dann direkt in die Augen. »Das sind gute Ziele. Ich sehe keinen Grund, warum du sie nicht erreichen solltest.«

»Weil ich Waise bin und kein Geld für die Handelsschule habe«, platzte es aus mir heraus. »Und wenn ich auf den Hof gehe …«

»Nun, der Löwenhof ist nicht das Ende der Welt«, sagte die Gräfin lachend. »Kristianstad ist ganz in der Nähe. Auch dort gibt es eine Handelsschule.«

Beinahe hätte ich erwidert, dass dort aber nicht Paul war. Doch ich verkniff es mir.

»Aber das alles musst du natürlich nicht sofort entscheiden«, sagte die Gräfin, nachdem sie mich noch eine Weile gemustert hatte. »Verzeih, wenn ich dich überfordert habe. Du sollst jedoch wissen, dass ich dir helfen werde, deine Träume zu verwirklichen.«

Ich nickte. Welche andere Wahl hatte ich denn auch? Rektor Persson hatte recht. Meine Mutter hatte diese Frau zu meinem Vormund bestimmt. Ich konnte sie nicht ablehnen.

»Hier ist eine Einladung zum Notar für morgen Vormittag. Wir werden dort das Testament deiner Mutter eröffnen lassen. Ich werde bei dir sein.« Die Gräfin reichte mir den Brief, erhob sich und wandte sich an den Rektor. »Sie ist doch für den Tag vom Unterricht befreit, nicht wahr?«

»Natürlich, gnädige Frau«, sagte Persson und schnellte in die Höhe.

»Gut, dann sehen wir uns morgen früh«, sagte die Gräfin und verabschiedete sich von mir.

Ich hätte zu gern gewusst, wo sie hier in Stockholm abgestiegen war, aber bevor mir die Frage einfiel, stand ich bereits wieder auf dem Flur.

Bedächtig strich ich über das Briefkuvert. Die Tränen brannten immer noch in meinen Augen.

Die Einladung zur Testamentseröffnung meiner Mutter. Es fühlte sich so endgültig an. Am liebsten wäre ich aus dem Schulhaus gelaufen und hätte mich zu Hause verkrochen. Doch da schellte die Glocke, und innerhalb weniger Augenblicke war ich von Schülerinnen umgeben.

Daga kam sofort zu mir gelaufen. »Mathilda, was ist denn?«, fragte sie besorgt, als sie meine glühenden Wangen sah.

Ich schob den Brief in die Tasche meines Rocks. »Nichts, ich … ich bin nur etwas durcheinander.« Fahrig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Aber Daga konnte ich nicht täuschen.

»Hat es schlechte Nachrichten gegeben?«, fragte sie, und als ich nicht gleich antwortete, sog sie scharf die Luft ein. »Sie haben dich doch nicht etwa von der Schule geworfen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich … ich habe meinen neuen Vormund kennengelernt.«

»Irgendein steifes Tantchen aus einem Kinderheim?«

»Nein. Eine Gräfin.«

Dagas Mund klappte auf. »Eine Gräfin? Was hat die denn mit dir zu schaffen?«

Als ich antworten wollte, sah ich die anderen Mädchen aus meiner Klasse auf uns zukommen. Sie sollten mich nicht weinen sehen. Wahrscheinlich zerrissen sie sich ohnehin schon das Maul über mich.

»Lass uns einen Platz suchen, an dem wir ungestört sind«, raunte ich und ging dann voraus zu der kleinen Mauer, die den Schulhof am südlichen Ende begrenzte.

2. Kapitel

In der Nacht war ich sehr nervös. Meine Arme und Beine fühlten sich an, als würden Ameisen über sie laufen. Nicht einmal die Stille des Hauses vermochte mich zu beruhigen.

Was heute passiert war, kam mir so unwirklich vor. Eine Gräfin erschien, um das arme Waisenkind zu sich zu nehmen? Das war zu schön, um wahr zu sein. Hatte ich das alles nur geträumt?

Ein Klacken an der Fensterscheibe ließ mich zusammenzucken. Zunächst hielt ich es für eines der zahlreichen Geräusche, die das Haus besonders in der Dunkelheit von sich gab. Doch dann richtete ich mich auf und ging zum Fenster. Auf dem Gehweg, direkt unter der Straßenlampe, sah ich eine Gestalt, die mir sehr bekannt vorkam.

Ich öffnete den Fensterflügel. Paul Ringström holte gerade zu einem weiteren Wurf aus und stockte, als er mich bemerkte.

»Was fällt dir ein, so spät noch hier aufzutauchen?«, fragte ich und klang dabei empörter, als ich es tatsächlich war.

»Mir ist da was zu Ohren gekommen, und ich wollte fragen, ob es stimmt.«

Ich konnte mir schon denken, von wem er es gehört hatte. Daga hatte es bestimmt ihrem Bruder erzählt. Und Paul war ja auch nicht irgendwer, sondern seit einiger Zeit ein fester Bestandteil meines Lebens. Mein Geheimnis, wenn man so wollte.

Wir hatten uns kennengelernt, als ich bei Daga zu Besuch war. Das geschah recht häufig, doch vor ein paar Monaten war es das erste Mal gewesen, dass ich ihren älteren Bruder wirklich wahrgenommen hatte. In den Wochen danach war er mir immer wieder über den Weg gelaufen, natürlich rein zufällig, und immer wieder hatte er sich bemüht, mir zu zeigen, wie nett er mich fand und was für ein aufmerksamer Bursche er war. Er war witzig, seine Blicke ruhten liebevoll auf mir, und er gab mir das Gefühl, mich zu beschützen. Er war ein junger Mann, mit dem ich mir eine gute Zukunft vorstellen konnte. Und der obendrein noch hervorragend aussah. Durch die Arbeit in der Werkstatt seines Vaters waren seine Schultern breit und seine Arme kräftig – und noch nie zuvor hatte ich einen Menschen mit derart grünen Augen gesehen! Wenn wir beide durch den Park gingen, gewahrte ich die Blicke, die andere Mädchen ihm zuwarfen, und freute mich, wenn er sie ignorierte.

Wir waren noch kein richtiges Paar, das hätte meine Mutter nicht erlaubt, aber ab und zu tauchte er unter meinem Fenster auf, warf ein paar Kiesel, und wenn wir die Gelegenheit dazu hatten, redeten wir.

Jetzt, wo meine Mutter gestorben war, hätte ich ihn ohne Weiteres ins Haus bitten können. Aber ich fühlte mich nicht bereit dazu. Außerdem wusste ich, dass die Nachbarinnen gute Augen hatten. Sie würden sich ihre Schandmäuler zerreißen, wenn sie herausfanden, dass ich einen Jungen ins Haus ließ.

»Warte, ich komm raus!«, sagte ich.

Paul nickte, doch im Laternenschein konnte ich ihm ansehen, dass er ein wenig enttäuscht war. Ich wusste, dass er sich wünschte, einmal mit mir allein zu sein. Doch ich fürchtete, dass ich mich dann nicht mehr unter Kontrolle hätte und zu etwas nachgeben würde, was uns beiden nicht gut bekam. Ich schlüpfte rasch in mein Kleid und warf mir Mutters dickes Wolltuch um die Schultern. Tagsüber war es zwar warm, aber in der Nacht konnte es immer noch recht kühl werden.

»Warum treffen wir uns nicht im Haus, wie andere auch?«, fragte er, als ich vor die Tür trat.

»Du weißt, warum«, sagte ich ausweichend. »Ich will nichts tun, was meine Mutter nicht gewollt hätte.«

»Das verstehe ich ja, aber würde deine Mutter nicht wollen, dass du einen Liebsten hast?«

»Doch, irgendwann sicher, aber sie hat immer gesagt, dass ich mit siebzehn noch zu jung sei.«

Ich sah ihn an. Das Laternenlicht verlieh seiner Haut einen rosigen Schimmer, verfälschte aber das wunderbare Grün seiner Augen völlig. Jetzt wirkten sie braun, wie die Erde an einem Regentag. Doch der markante Schnitt seines Kinns, seine breite Stirn und seine wundervoll geschwungenen Augenbrauen wurden vom Licht noch hervorgehoben.

»Ich möchte doch nur ins Haus kommen, nichts weiter.« Er seufzte. »Aber vielleicht ist unsere Freundschaft ja bald bedeutungslos.«

Ich schaute ihn erschrocken an. »Was meinst du?«

»Daga hat mir erzählt, dass dein neuer Vormund eine Gräfin aus der Nähe von Kristianstad sei. Stimmt das?«

»Ja«, antwortete ich und spürte, wie sich die Bedeutung der Worte schwer auf mein Herz legte. Wenn ich auf dem Löwenhof war, würde ich ihn für lange Zeit nicht wiedersehen. Für viel zu lange Zeit.

»Dann gehst du also von hier fort.«

»Ja, aber …« Ich zögerte. »Genau genommen weiß ich es nicht. Wir haben noch nicht darüber gesprochen.«

Paul schnaufte und stemmte die Hände in die Seiten. »Du hättest sie fragen sollen.«

»Das stimmt, aber … ich war zu überrumpelt. Der Direktor hat mich in sein Büro bestellt, und da war sie. Sie erzählte mir, dass sie diesen Hof besitze, und fragte mich nach meinen Träumen.«

»Und, komme ich in diesen Träumen auch vor?«

»Schon, aber das hätte ich ihr doch nicht sagen können, nicht wahr?«

Ich ging zu ihm und hob die Hände, um sie auf seine Brust zu legen. Doch dann stockte ich und ließ sie wieder sinken, als ich merkte, dass sein Körper zu einem Felsblock zu erstarren schien.

»Du wirst fortgehen«, sagte er und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es sei denn, du schaffst es, dass sie nicht dein Vormund wird.«

Ich senkte den Kopf. Wie gern wäre ich schon älter, damit ich machen konnte, was ich wollte. Vier Jahre! Warum waren mir nicht noch vier Jahre mit meiner Mutter vergönnt gewesen? Jetzt kam mir das Schicksal dreifach ungerecht vor.

»Meine Mutter hat sie sich als Vormund gewünscht«, sagte ich. »Aber selbst wenn ich von hier weggehe, müssen wir doch nicht den Kontakt zueinander verlieren … Es wäre doch nur für vier Jahre.«

»Vier Jahre!« Pauls Augen weiteten sich erschrocken. »Das ist eine sehr lange Zeit, weißt du? Ich bin nicht sicher, ob einer von uns so lange warten kann. Ich werde dann schon dreiundzwanzig sein.«

»Was hat das denn damit zu tun?«, fragte ich. »Ich bin in vier Jahren einundzwanzig. Wir sind dann noch sehr jung.«

»Aber …« Paul stockte. »Was, wenn ich dich heiraten will?«

Ich blickte ihm tief in die Augen. »Du weißt, dass ich ohne Zustimmung eines Vormundes nicht heiraten darf.«

»Eben«, antwortete er.

Ich schüttelte den Kopf. »Glaubst du nicht, dass es sich lohnen würde, so lange zu warten?« Zorn stieg in mir auf, und ich hatte Mühe, leise genug zu reden, dass es die Nachbarn nicht mitbekamen. »Paul«, fügte ich begütigend hinzu. »Ich bin doch nicht aus der Welt. Außerdem, warum reden wir beide schon vom Heiraten? Ich bin erst siebzehn und du neunzehn. Wir sind beide noch nicht mündig. Glaubst du wirklich, deine Familie wäre begeistert, wenn du ihnen jetzt mit Heiratsplänen kommst? Außerdem, was ist mit deiner Lehre? Solltest du die nicht erst abschließen? Denk an unseren Traum. Du willst doch deine eigene Möbelfabrik, oder nicht? Und ich muss auf die Handelsschule, wenn ich dir die Bücher führen soll.«

Eigentlich lächelte ich immer, wenn wir davon sprachen. Paul Ringström & Söhne, Möbelbau seit 1936. Fünf Jahre. Das war die Zeit, die sich Paul selbst gegeben hatte. Spätestens in fünf Jahren wollte er seine eigene Firma haben, die noch größer und erfolgreicher sein würde als die seines Vaters. Aber möglicherweise reichten fünf Jahre aus, damit er mich vergaß.

Paul blickte verlegen auf seine Schuhspitzen. »Ich … ich möchte dich nicht verlieren.«

»Und das wirst du nicht!«, sagte ich und begann innerlich zu zittern. »Ich ziehe doch nur für vier Jahre nach Schonen. Danach komme ich wieder zurück zu dir. Als frischgebackene Kauffrau, die dir zur Seite steht.« Jetzt legte ich meine Hände auf seine Arme. Paul ergriff sie und barg sie an seiner Brust, als müsste er mich wärmen.

Ich wusste selbst, dass meine Worte harmloser klangen, als es in mir aussah. Vier Jahre waren eine Ewigkeit. In vier Jahren konnte so viel passieren.

»Dort in Schonen gibt es sicher viele junge Männer, die dich mögen werden.«

»Keinen wie dich!«, erwiderte ich. »Aber was ist mit den Mädchen hier?«

»Ich will keine andere«, sagte er und küsste meine Hände. Dann grinste er ein wenig verlegen. »Bist du dir sicher, dass wir nicht doch reingehen sollten?«

Mein Herz begann zu klopfen. Es gab niemanden, der es mir hätte verbieten können. Dennoch konnte ich mich nicht dazu durchringen. Später würde ich mein Zögern bereuen, aber ich konnte nicht.

»Ganz sicher«, entgegnete ich. »Was allerdings nicht heißt, dass wir es nicht irgendwann tun werden.«

»In Schonen? Wenn ich denn mal freihabe und zu dir reise?« Er zog fragend die Stirn kraus.

»Warum nicht? Vielleicht besuche ich auch dich. Und dann treffen wir uns genau hier.«

»Und wenn die Gräfin dieses Haus verkauft? Als dein Vormund kann sie das.«

Seine Worte ließen noch mehr Angst durch meine Adern zucken. »Ich werde einen Weg finden.«

Ich beugte mich vor und küsste ihn auf einen Mundwinkel. Paul schlang daraufhin seine Arme um mich, zog mich an sich und küsste mich auf den Mund. Das hatte er noch nie getan. So eng, so fordernd, so leidenschaftlich. Ich spürte ein Pochen in meinem Schoß, das mich meinen Entschluss beinahe überdenken ließ. Doch dann löste ich mich von ihm.

»Ich werde dir schreiben. Jeden Monat.«

»Das ist zu wenig«, entgegnete er mit bebender Stimme.

»Jede Woche?«

Er lächelte. »Schon besser.« Er schob die Hände in die Hosentaschen und blickte auf seine Schuhspitzen. »Solltest du es dir anders überlegen, teile mir das bald mit, ja? Ich bin bereit zu warten, aber ich will mir sicher sein können, dass du mich willst.«

»Ich will dich«, antwortete ich schnell und verdrängte, dass es auf der Welt kaum Dinge gab, derer man sich sicher sein konnte. Als Kind war ich davon überzeugt gewesen, dass meine Eltern ewig leben würden. Jetzt, nur wenige Jahre später, hatte ich beide verloren. »Daran wird sich nichts ändern, hörst du? Und sobald ich frei bin, wirklich frei, werden wir heiraten, und nichts wird uns mehr im Weg stehen.«

Paul nickte und zog mich wieder an sein Herz. Ich wünschte, er würde mich noch einmal küssen, aber nach einer Weile entließ er mich, ohne dass unsere Lippen noch einmal zueinandergefunden hätten.

»Mach es gut, Mathilda! Wir schreiben uns«, sagte er mit einem traurigen Lächeln. Dann verschwand er in der Dunkelheit.

»Mach’s gut, Paul!«, rief ich ihm hinterher und hob ein wenig hilflos die Hand zu einem Gruß, doch er wandte sich nicht mehr um.

Plötzlich fühlte ich mich schrecklich einsam. Hatte ich einen Fehler begangen? Was wäre dabei gewesen, mit ihm reinzugehen? Aber ich hatte Angst, dass jemand über uns reden könnte. Dass jemand der Gräfin erzählte, ich ließe Männer ins Haus. Mutters Wunsch hin oder her, möglicherweise würde sie mich dann doch in ein Heim abschieben.

Nein, ich hatte mich richtig entschieden. Meine und Pauls Zeit würde kommen. Und dann würde uns niemand mehr auseinanderbringen können.


Tags darauf saß ich im Büro des Notars, wo mir offiziell bekannt gegeben wurde, dass Agneta Lejongård ab sofort mein Vormund sein würde. In einem musste ich der Gräfin recht geben: Es wäre wesentlich unangenehmer gewesen, erst hier davon zu erfahren. Dennoch wünschte ich mir, alles wäre so wie früher geblieben. Meine Mutter noch am Leben, mein Vater ebenso. Ich wünschte mir, Geschwister zu haben oder Großeltern. Jetzt gab es nur noch mich, und der einzige Mensch, der mir ein Zuhause anbot, war eine Fremde. Sie hatte mir versprochen, dass ich meine Träume erfüllen könnte, aber was, wenn sie nicht Wort hielt? Nicht Wort halten konnte?

Der Notar war ein alter Mann mit grauem Backenbart, wie man ihn selbst an alten Leuten nur noch selten sah.

»Setzen Sie sich bitte, meine Damen«, sagte er und nahm hinter dem Schreibtisch Platz.

Ich blickte zur Gräfin. Sie wirkte an diesem Morgen etwas abwesend. Vor dem Gebäude hatten wir nur wenige Worte gewechselt. Nun sah sie aus, als läge ein dunkler Schatten über ihren Augen.

»Ich verlese heute, am 2. Juni ​1931, das Testament von Susanna Wallin, geborene Korven«, begann er, setzte sich zurecht und fuhr fort: »Mein Letzter Wille ist es, dass meine einzige Tochter Mathilda meinen gesamten Besitz erhält, als da wären: das Haus, mein Schmuck und meine Ersparnisse im Wert von fünfhundert Kronen. Gezeichnet: Susanna Wallin, geborene Korven.«

Das war es schon. Keine persönlichen Worte, nichts. Der Notar hatte das Testament so vorgetragen, als gehörte es zu einer Fremden und nicht zu meiner Mutter. Ich wusste nicht, wie ein Testament aussehen musste, aber ich hatte erwartet, dass meine Mutter noch einen Brief beigelegt hätte, irgendwas, das mich trösten würde. Doch ihre letzten Worte waren vollkommen sachlich.

»Nehmen Sie das Erbe an?«, fragte der Notar, aber ich hörte seine Worte wie aus großer Entfernung. Ich wusste, dass ich jetzt etwas sagen sollte, doch meine Zunge löste sich nicht. In meinem Kopf war nur ein Gedanke: Warum verabschie­dete sich meine Mutter so unpersönlich von mir?

»Mathilda?«, drängte sich die Stimme der Gräfin in meine Gedanken. Wenig später fühlte ich ihre Hand auf meinem Arm. Ich zuckte zusammen. »Du musst dich nicht gleich entscheiden, wenn du nicht bereit bist«, fügte sie hinzu und zog ihre Hand wieder zurück, als unsere Blicke sich trafen.

»Ich bin bereit«, entgegnete ich beinahe schon trotzig und blickte zum Notar. »Ich nehme das Erbe an.«

Der Notar nickte, dann wandte er sich an Agneta Lejongård: »Sind Sie als gesetzlicher Vormund damit einverstanden?«

»Ja, das bin ich«, antwortete sie.

»Gut. Gräfin Lejongård, Sie werden das Vermögen Ihres Mündels verwalten, bis es Volljährigkeit erlangt hat. Ich werde die entsprechenden Papiere vorbereiten und lasse sie Ihnen zukommen.«

Der Notar raffte die Blätter zusammen und erhob sich.

»Alles Gute für Sie«, sagte er und drückte der Gräfin und mir die Hand.

Ich wusste, dass wir jetzt gehen mussten, doch ich war nicht in der Lage, auch nur einen Schritt zu machen. Obwohl wir nicht mal eine halbe Stunde hier gewesen waren, fühlte ich mich schwach und müde.

Gräfin Lejongård fasste mich am Ellenbogen. »Komm, Ma­thilda, gehen wir nach Hause. Ich bin sicher, ein Tee wird dir guttun.«

Als wir das Gebäude verließen, prasselten Regentropfen auf die Straße. Warmer Sommerregen, der der Luft ein scharfes grünes Aroma verlieh. Wir suchten unter dem Türvorsprung Schutz. Es war gut, dass ich für heute vom Unterricht befreit war. Ich hätte nicht gewusst, wie ich ihn überstehen sollte.

»Meinten Sie das ehrlich?«, fragte ich, während ich zu der dunklen Wolke aufschaute, die sich über den blauen Himmel geschoben hatte. Die Tropfen waren so dick, dass man sie schon von Weitem sah.

»Was?«, fragte sie.

»Was Sie im Büro des Rektors gesagt haben. Dass ich auf die Handelsschule gehen darf.«

»Ich wüsste nichts, was dich davon abhalten sollte. Außer dir selbst.« Agneta Lejongård machte eine kleine Pause, dann setzte sie hinzu: »Ich weiß, du hast Angst. Vor ein paar Monaten schien deine Zukunft noch geordnet und gradlinig, und jetzt … Weißt du, vor vielen Jahren habe ich eine ähnliche Zeit durchgemacht. Ich war auf dem Weg, eine Malerin zu werden, vielleicht sogar eine halbwegs berühmte. Ich träumte davon, Paris und andere Städte der Welt in Erstaunen zu versetzen. Doch das Leben kümmert sich nicht immer um die eigenen Wünsche. Es schreitet voran, mit unvorhersehbaren Wendungen. Eine davon war der Tod meines Vaters und meines Bruders.«

Sie hielt kurz inne und sah mich traurig an. »Ich stand vor der Wahl, mein Elternhaus dem Verfall preiszugeben oder die Verantwortung für das Gut zu übernehmen. Ich habe mich für die Verantwortung entschieden. Und jetzt, aus der Distanz von achtzehn Jahren, kann ich sagen, dass es richtig war. Ich habe einen Ehemann, ich habe Kinder, und der Löwenhof ist mein Zuhause.«

Wieder pausierte sie, dann trat ein kleines, mildes Lächeln auf ihr Gesicht. »Der Löwenhof ist ein sehr schöner Ort. Überall ist es grün, es gibt tiefe Wälder und weite Felder. Und Pferde. Das mag für ein Mädchen aus der Stadt nicht besonders spannend klingen, aber ich sage dir, das ist es. Wenn man einmal dort ist, möchte man nie wieder fort.«

Das glaubte ich nicht. Doch in diesem Augenblick fehlte mir die Kraft, zu widersprechen.

»Warum waren Sie eigentlich so still?«, fragte ich stattdessen. »Ich meine vorhin.«

»Was hätte ich denn sagen sollen?«, erwiderte die Gräfin, ohne den Blick zu senken.

»Ich weiß auch nicht … Nichts, vermutlich. Aber dennoch schien es mir, als würden Sie über irgendwas nachdenken. Etwas Unangenehmes.«

Die Gräfin sah mich an. Ihre Augen wirkten noch immer müde und traurig. Ich wollte zu gern wissen, warum.

»Ich habe an all die Testamentseröffnungen gedacht, denen ich schon beiwohnen musste. An Tagen wie diesem werden Leben geändert, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Man kann entweder annehmen oder ablehnen, aber das Leben verändert sich auf jeden Fall.«

»Ihr Leben ändert sich durch mich«, stellte ich fest.

»Ja«, antwortete sie. »Und dein Leben durch mich. Wir beide, die wir uns vorher nicht gekannt haben, sind durch deine Mutter zusammengeschmiedet worden. Jetzt müssen wir sehen, was wir daraus machen, nicht wahr?«

Ich nickte.

»Woher kannten Sie meine Mutter eigentlich?«, fragte ich, denn das war immer noch das große Rätsel. Welchen Grund hatte meine Mutter gehabt, mich gerade Agneta Lejongård anzuvertrauen?

»Oh, es ist schon eine Weile her«, gab die Gräfin zurück, was nicht wirklich eine Antwort auf meine Frage war. »Eines Tages werde ich dir die Geschichte erzählen, aber jetzt sollten wir erst einmal sehen, dass du dich in der neuen Situation zurechtfindest. Die Änderungen, die auf dich zukommen, werden dich eine Weile beschäftigen.«

Ich fragte mich, was es war, das die Gräfin mir nicht erzählen wollte. Waren sie und meine Mutter Schulfreundinnen gewesen? Oder etwas anderes? Aber ich spürte, dass sie mir jetzt keine Auskunft geben würde, also verschob ich meine Fragen auf später.


Minutenlang standen wir im Hauseingang, lauschten schweigend und beobachteten die Leute, die vorbeieilten und sich mit Zeitungen oder Schirmen vor dem Regen zu schützen versuchten. Schließlich ließ er nach. Die Wolke verschwand, und klarer Sonnenschein brachte das feuchte Pflaster zum Glitzern.

»Gehen wir?«, fragte die Gräfin schließlich.

»Wohin?«

»Zu deinem Haus. Du hast gehört, dass es jetzt deins ist.«

»Ja, aber erst in vier Jahren.«

»Deshalb können wir doch trotzdem hingehen, nicht?«

Mit diesen Worten schritt die Gräfin voran. Ich wünschte mir ein wenig, dass ich unter dem Torbogen der Notarkanzlei stehen bleiben könnte, doch schließlich holte ich auf und lief neben ihr her.

Zu meiner großen Überraschung empfingen mich in meinem Elternhaus der Duft von Zitronen und eine fremde Frau. Sie trug ein hellgraues Kleid und die Haare zu einem Knoten zusammengebunden. Sie musste Mitte oder Ende zwanzig sein, war schlank und auch ziemlich hübsch.

»Das ist Anna Grün«, stellte die Gräfin sie vor. »Sie wird als deine Gouvernante mit dir hier leben und dich im Haushalt unterstützen, bis du auf den Löwenhof kommst.«

Die Frau reichte mir die Hand mit einem freundlichen Lächeln. »Freut mich, dich kennenzulernen, Mathilda.«

Ich bemerkte einen leichten Akzent in ihren Worten. Aus welcher Gegend Schwedens kam sie?

Ich erwiderte ihren Händedruck ein wenig unsicher. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, sofort auf den Löwenhof zu müssen. Jetzt bekam ich eine Gouvernante? »Dann muss ich also wirklich noch nicht aufs Gut?«

Ich nickte. Alles überforderte mich, doch vielleicht würde sich das nun etwas legen.

Als die Gräfin schließlich aufbrach und sich mit dem Versprechen verabschiedete, mir zu schreiben, überkam mich doch ein wenig die Angst. Noch nie war ich mit einem fremden Menschen allein im Haus gewesen. Da war sogar die Einsamkeit besser gewesen. Jetzt musste ich wohl aufpassen, was ich tat, welche Miene ich zog und was ich sagte. Ich war kein freies Mädchen mehr, sondern ein Mündel und dem Willen der Gouvernante und der Gräfin Lejongård ausgeliefert.

An diesem Abend erschien Paul nicht, worüber ich ganz froh war, allein schon weil die Gouvernante von nun an unter meinem Dach wohnte. Ich würde ihm eine Nachricht schicken und mit ihm einen Treffpunkt ausmachen. Überall konnte das Fräulein Grün schließlich nicht sein.

Am liebsten wäre ich aufgestanden, ins Wohnzimmer gegangen und hätte dort eine meiner Schellackplatten auf dem alten Grammophon gespielt. Einfach nur, um in der Musik zu versinken und davon wach gehalten zu werden. Doch ich wollte die Gouvernante nicht wecken.

Ich langte zur Seite und zog die Schublade meines Nachttisches heraus. Nach kurzem Suchen fühlte ich kühles Metall an meinen Fingerspitzen. Ich nahm das Feuerzeug meines Vaters und barg es in meiner Hand. Viel zu schnell erwärmte es sich durch meine Haut, aber es zu halten, gab mir ein beruhigendes Gefühl.

Meine Gedanken wanderten in die Zukunft. Diesmal war ich die schöne Frau im rosafarbenen Kleid und Paul der Mann an meiner Seite. Vielleicht war ja doch nicht alles verloren. Paul hatte versprochen, auf mich zu warten. Ich hatte versprochen, auf ihn zu warten. Und ihm zu schreiben. Wenn ich die Handelsschule beendet hatte, würde die Gräfin mich vielleicht heiraten lassen.

»Einen Monat habe ich noch«, flüsterte ich dem Feuerzeug zu, dann fielen mir die Augen zu.