ERSTES KAPITEL

DAS DEUTSCHE REICH AM AUSGANG DES ERSTEN WELTKRIEGES

Als das Deutsche Reich am 1. August 1914 mit der Kriegserklärung gegen das zaristische Rußland den seit langem befürchteten europäischen Krieg, der sich bald zum Weltkrieg ausweitete, unabwendbar machte, ahnten nur wenige, daß an dessen Ausgang der Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreiches stehen würde. Die Kriegsbegeisterung der Massen, die vom Rausch des Patriotismus erfaßt wurden, schwemmte die Befürchtungen darüber hinweg, daß die Mittelmächte in einem Mehrfrontenkrieg aufgerieben werden könnten. Die Vorkämpfer des Antimilitarismus auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie sahen sich plötzlich innerhalb der Arbeiterbewegung isoliert. Die innenpolitischen Gegensätze schienen angesichts der bevorstehenden Kriegsanstrengung weitgehend aufgehoben zu sein. Reichskanzler Bethmann Hollweg setzte sich gegen die Heißsporne unter den Militärs mit der Formel des »Burgfriedens« durch; zuvor hatten die Freien Gewerkschaften zugesichert, sich den deutschen Verteidigungsanstrengungen nicht in den Weg zu stellen. Wilhelm II. fand mit der Erklärung, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche, allgemeine Zustimmung. Die Vorstellung, daß die Nation geeinigt in den ihr aufgezwungenen Abwehrkampf hineinginge, wurde von bürgerlichen Intellektuellen als beglückend empfunden und als Anfang einer nationalen Regeneration gefeiert.1

Mit dem Fortgang des Krieges zerstoben die Illusionen, daß sich die gesellschaftlichen und politischen Gegensätze einfach vertagen ließen. Der »Burgfriede« bewirkte, daß der Reichstag zunächst nur ausnahmsweise zusammentrat, in der Regel, um anstehende Kriegskredite zu bewilligen, daß man bei Nachwahlen auf den Parteienwettbewerb verzichtete und die Parteien sich in der Öffentlichkeit zurückhielten. Dies hatte zur Folge, daß die frühzeitig aufbrechenden politischen Fronten in der Kriegsziel-Debatte zum Ausdruck kamen, die vor allem von Verbänden und selbsternannten Repräsentanten des Volkswillens geführt wurde. Sie weckte völlig übersteigerte Hoffnungen und abstrahierte von den begrenzten militärischen Ressourcen der Mittelmächte. Die extremen imperialistischen Wunschvorstellungen, die in unzähligen Kriegsziel-Denkschriften festgeschrieben wurden, weil eine öffentliche Erörterung untersagt war, waren nur schwer abzubauen, als sich im Herbst 1916 herausstellte, daß der vielgeforderte »Siegfriede« in weite Ferne gerückt war.2

Ebensowenig wie der Appell an die Einigkeit der Nation die inneren Brüche auf die Dauer verdeckte, blieb die chronische Führungskrise des wilhelminischen Systems, die den Weg in den Krieg erleichtert hatte, verborgen. Letztere verschärfte sich noch dadurch, daß die verfassungsrechtlich unzureichend eingebundene militärische Macht die zivile Reichsleitung, welche die politische Gesamtverantwortung trug – sowohl was die Spitzenentscheidungen als auch was deren Durchsetzung vor Ort anging – immer mehr beiseite drängte. Das seit der Daily-Telegraph-Affäre preisgegebene »persönliche Regiment« Wilhelms II. hinterließ ein Führungsvakuum, das sich unter den Bedingungen des Krieges in vieler Hinsicht als verhängnisvoll erwies. Denn gerade militärische Grundentscheidungen lagen noch immer in der Zuständigkeit des Kaisers, dem die notwendige politische Übersicht fehlte und der von der zivilen Führung abgeschirmt wurde. Daß gerade Bethmann Hollweg den Sturz Falkenhayns und die Übertragung der Obersten Heeresleitung an Paul von Hindenburg und dessen hochbegabten, aber durch nagenden Ehrgeiz geprägten Ersten Generalquartiermeister, Erich Ludendorff, betrieb, spiegelte die unzureichende innenpolitische Durchsetzungskraft der Reichsleitung. Nach dem Scheitern der Falkenhaynschen Ausblutungsstrategie vor Verdun war sich der Reichskanzler darüber klargeworden, daß die Mittelmächte den Krieg nicht einseitig für sich zu entscheiden vermochten. Er glaubte die öffentliche Meinung nur dann für einen Verständigungsfrieden gewinnen zu können, wenn er dafür die Unterstützung des wegen seines Sieges bei Tannenberg gefeierten Feldherrn besaß. Die Bildung der Dritten OHL bot zugleich die Chance, auf den in der Öffentlichkeit nachdrücklich geforderten unbeschränkten U-Boot-Krieg zu verzichten, der, wie Bethmann wohl wußte, die USA in den Weltkrieg hineinziehen und das Übergewicht der Gegner der Mittelmächte besiegeln würde.

Die Berufung Hindenburgs und Ludendorffs verstärkte deren gewaltiges Prestige in der deutschen Öffentlichkeit; es begründete eine Art »Ersatzkaisertum« durch die OHL und bedeutete die völlige Zurückdrängung des Monarchen aus dem politischen Entscheidungsprozeß. Hindenburg und Ludendorff griffen von Anfang an in die innere und äußere Politik selbstherrlich ein und errichteten eine schleichende Militärdiktatur. Die OHL stellte sich in der Frage der preußischen Wahlreform und der verfassungspolitischen Neuordnung im Reich auf die Seite der preußischen Konservativen, die jegliche Reform zumindest bis Kriegsende aufschieben wollten. Hauptziel des von ihr geforderten umfassenden Aufrüstungsprogramms war die rückhaltlose Ausschöpfung der Arbeitskräfteressourcen auf Kosten des zivilen Produktionssektors. Aus taktischen Erwägungen stimmte die OHL der parlamentarischen Verabschiedung des nach langen Verhandlungen mit den Gewerkschaften im Dezember 1916 eingebrachten Vaterländischen Hilfsdienstgesetzes zu. Entgegen den ursprünglichen Erwägungen Ludendorffs, die aus seiner Sicht erforderlichen Maßnahmen mittels Oktroi unter Ausschaltung des Reichstages zu verwirklichen, hatten sich das Kriegsministerium und Wilhelm Groener, der Leiter des Kriegsamtes, für eine Verständigung mit den Gewerkschaften eingesetzt.

Bethmann Hollwegs Kalkül, mit der Deckung Hindenburgs und Ludendorffs den Weg eines Verhandlungsfriedens einschlagen zu können, erfüllte sich nicht. Das von ihm mit Mühe durchgebrachte Friedensangebot der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 war zu vage gehalten, um bei den Westmächten auf ernsthafte Resonanz zu stoßen. Dessen brüske Zurückweisung bedeutete eine schwere Niederlage für den Kanzler und räumte die politischen Widerstände gegen den uneingeschränkten U-Boot-Krieg beiseite, den nun auch die OHL forderte, weil sie sich davon eine kriegsentscheidende Wende versprach. Um so wehrloser stand Bethmann den diktatorischen Machtansprüchen der OHL gegenüber. Immerhin raffte er sich noch einmal dazu auf, durch eine Initiative zur Reform des preußischen Wahlrechts die verkrusteten innenpolitischen Fronten wieder in Bewegung zu bringen und die von ihm verfolgte »Politik der Diagonale« zu realisieren. Aber über die Ankündigung einer nach dem Ende des Krieges eintretenden Wahlrechtsreform in der Osterbotschaft Wilhelms II. vom April 1917 gelangte er nicht hinaus.

Die hinhaltende Politik des Reichskanzlers, der klare Zusagen in der Frage der Parlamentarisierung unterließ, rief bei den bürgerlichen Parteien im Reichstag, aber auch bei der SPD den Eindruck hervor, daß unter Bethmann Hollweg eine Änderung der bloß dilatorischen Politik der Reichsleitung nicht erwartet werden konnte. Matthias Erzberger nutzte interne Informationen über die kritische militärische Lage Österreich-Ungarns zu einer offenen Polemik gegen den Reichskanzler. Seine Rede vor dem Hauptausschuß des Reichstages am 6. Juli 1917 zielte zugleich darauf, durch das grundsätzliche Bekenntnis zu einem Verhandlungsfrieden die psychologischen Voraussetzungen für eine verstärkte Kriegsanstrengung unter Einschluß der Arbeiterschaft zu schaffen.3 Im Zusammenhang damit kam es zur Bildung des Interfraktionellen Ausschusses, dem neben dem Zentrum, der Fortschrittlichen Volkspartei und der SPD die Nationalliberalen angehörten. Der Interfraktionelle Ausschuß fungierte bis zum Sturz des Kaiserreiches als parlamentarisches Koordinierungsinstrument, das die Interessen der Reichstagsmehrheit gegenüber der kaiserlichen Regierung und der OHL zum Ausdruck brachte.

Der sich bildenden Mehrheit im Interfraktionellen Ausschuß fehlte die letzte Konsequenz, die Bewilligung weiterer Kredite von der Durchsetzung der uneingeschränkten Parlamentarisierung abhängig zu machen. Selbst innerhalb der SPD überwogen die Bedenken, die volle parlamentarische Mitverantwortung zu verlangen. Sie verzichtete deshalb darauf, im Ausschuß eine Führungsrolle oder den Vorsitz zu beanspruchen. Die Mittelstellung, die sie zwischen indirekter Einflußnahme auf die Regierungsentscheidungen und Zugehörigkeit zur Opposition einnahm, entsprang der Rücksichtnahme auf ihren linken Flügel, vor allem aber auf die konkurrierende USPD, die sie bewußt aus dem informellen Parteienbündnis heraushielt. Auch die Initiative, die die Mehrheitsparteien mit der Verabschiedung der Friedensresolution ergriffen, wurde nicht zu Ende geführt. Die Rückkehr zu den Bedingungen des »Burgfriedens« und des Verteidigungskrieges, die damit angestrebt war, war auch von dem Motiv bestimmt, der SPD die sonst politisch untragbare Zustimmung zu den Kriegskrediten zu ermöglichen und damit die innere Verteidigungsbereitschaft des Reiches zu erhöhen. Die SPD reagierte auf das informelle Bündnis, das in mancher Hinsicht die spätere Weimarer Koalition vorwegnahm, mit Erleichterung. Es ersparte ihr, durch eine sonst unvermeidliche Ablehnung der Kriegskredite ins politische Abseits zu geraten und den inzwischen erlangten personellen Einfluß innerhalb des Regierungssystems preiszugeben.4

Die halbherzige Politik der Mehrheitsparteien erreichte in mancher Hinsicht das Gegenteil zur angestrebten innenpolitischen Liberalisierung. Kurzsichtigkeit, zugleich die Überschätzung der Machtstellung der Reichstagsmehrheit brachten den Interfraktionellen Ausschuß in einen offenen Gegensatz zu Bethmann Hollweg, der aus Rücksichtnahme auf die Krone, aber auch aus seinem politischen Selbstverständnis heraus nicht bereit war, sich mit der Friedensresolution förmlich zu identifizieren, obwohl er in vieler Hinsicht mit ihrem sachlichen Inhalt übereinstimmte. Die Mehrheitsparteien honorierten seine Bemühungen nicht mehr, die Wahlrechtsreform in Preußen durchzusetzen, die schließlich vom Kaiser positiv beschieden wurde.5 Auf Initiative Erzbergers und mit nachdrücklicher Unterstützung Stresemanns ließen die Parlamentarier den Hof wissen, daß der Kanzler nicht mehr mit einer Mehrheit rechnen könne. Doch die entscheidende Aktion ging von der OHL aus, deren ultimative Rücktrittsdrohung den Sturz Bethmann Hollwegs erzwang.

Die Mehrheitsparteien hatten nicht bedacht, daß es wenig Sinn hatte, den Kanzler zu stürzen, bevor eine personelle Alternative in Sicht war. Erzbergers Liebäugeln mit Bernhard Fürst Bülow war fern aller Realität, weil dieser außen- wie innenpolitisch nicht genügend Vertrauen besaß. So präsentierte die OHL unerwartet den Unterstaatssekretär im Kriegsernährungsamt, Georg Michaelis, ohne daß der Reichstag hinzugezogen worden wäre. Zwar brachte der Kanzlerwechsel personelle Umschichtungen in einigen Ressorts und stellte insofern eine Niederlage der mit der OHL verbündeten konservativen Kräfte dar, aber Michaelis war ein erklärter Gegner des von den Mehrheitsparteien nur halbherzig geforderten Übergangs zum parlamentarischen System. Die Bildung eines beratenden Siebener-Ausschusses, dem führende Parlamentarier angehörten, sowie die Einbeziehung einiger Mitglieder des Reichstages in die Reichsregierung stellten einen fragwürdigen Ersatz dafür dar.

Die Ernennung von Michaelis ohne die Einschaltung der Parteien des Interfraktionellen Ausschusses bedeutete für sie einen empfindlichen Prestigeverlust. Die Reformmehrheit des Interfraktionellen Ausschusses erwies sich gleichwohl als die einzige verläßliche politische Kraft gegenüber den Verbänden der politischen Rechten, die im Einvernehmen mit der OHL nun die offene Militärdiktatur ins Auge faßten. Durch die Gründung der Deutschen Vaterlandspartei, die faschistische Organisations- und Agitationsmethoden vorwegnahm, versuchten sie, ihren weitgesteckten außen- und innenpolitischen Zielen eine populistische Grundlage zu verschaffen.

Das semiparlamentarische System, das sich herausgebildet hatte, hinderte die Reichstagsmehrheit daran, ihr Gewicht bei der Besetzung von Führungspositionen zur Geltung zu bringen. Sie war zwar in der Lage, sich gegen Reichskanzler Michaelis durchzusetzen und dessen Rücktritt zu veranlassen, zumal auch die OHL einsah, daß dieser den Aufgaben des Kanzleramtes in keiner Weise gewachsen war, konnte aber keine Entscheidung über die Wahl des Nachfolgers herbeiführen. Erneut zeigte sich der chronische Mangel an qualifizierten Führungskräften, als sich schließlich nur der Zentrumspolitiker und bayerische Ministerpräsident Georg von Hertling dazu bereitfand, das Kanzleramt zu übernehmen. Von den ihm aufgetragenen Reformen wurde nur der kleinere Teil realisiert. Mit der Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus scheiterte der Kanzler auf der ganzen Linie.

Die Frage, ob eine volle Parlamentarisierung und entschiedene Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Preußen die innere Stabilität des Kaiserreiches grundlegend gestärkt hätten, ist vermutlich falsch gestellt. Denn selbst die Parteien des Interfraktionellen Ausschusses ließen sich mit Halbheiten abspeisen, und zu keinem Zeitpunkt waren sie ernstlich entschlossen, das Mittel der Kreditverweigerung im innenpolitischen Kräftemessen einzusetzen. Vor allem aber blieb, solange der Krieg nicht offenkundig verloren war und die Siegesillusionen der Vaterlandspartei und des Unabhängigen Ausschusses für einen deutschen Frieden nicht verblaßt waren, die Stellung der OHL unüberwindlich, ja sie verstärkte sich noch aufgrund der Schwäche der Nachfolger Bethmann Hollwegs. Die Zurücksetzung von Reichsleitung und Reichstag wurde daran deutlich, daß die OHL ihnen den Rücktritt des Staatssekretärs des Äußeren, Richard von Kühlmann, aufzwingen konnte, dessen Stellung deshalb unhaltbar wurde, weil er öffentlich erklärt hatte, der Krieg könne nicht mehr allein mit militärischen Mitteln gewonnen werden.

Die Vetoposition, die die Oberste Heeresleitung im Hinblick auf die politischen Spitzenentscheidungen innehatte, war ungebrochen. Desgleichen hatte sich an der weitreichenden Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens nichts Wesentliches geändert, obwohl das preußische Kriegsministerium sich nachdrücklich um einen sozialen Ausgleich bemühte – im Unterschied zu den Stäben der OHL, die mit Aufgaben der zivilen Kriegführung befaßt waren. Da eine befriedigende verfassungsrechtliche Regelung fehlte, übten die Wehrkreisbefehlshaber die ihnen übertragene vollziehende Gewalt in den Armeekorpsbereichen nach Maßgabe des preußischen Gesetzes über die Handhabung des Belagerungszustands von 1851 aus. Es hing vom Gutdünken der Armeebefehlshaber ab, wie weit die Zensur, die Einschränkungen des Versammlungsrechts und die Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen im einzelnen reichten. Das preußische Kriegsministerium war im allgemeinen zur Kooperation mit den Gewerkschaften bereit, die sich ihrerseits bemühten, Konflikte in den Betrieben beizulegen. Dabei kam es nicht selten zu einem stillschweigenden Zusammengehen gegen linksoppositionelle Gruppen.6

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Das Vaterländische Hilfsdienstgesetz stärkte die Stellung der Gewerkschaften, die in den dort vorgesehenen Arbeiter- und Schlichtungsausschüssen vertreten waren. Allerdings geschah dies um den Preis, daß sie für die Beibehaltung der Kriegsanstrengungen, für Ruhe in den Betrieben und Streikverzicht zu sorgen hatten. Dies hinderte die Schwerindustrie nicht daran, bis in den Spätherbst 1918 hinein eine Revision des Hilfsdienstgesetzes zu fordern, da sie nicht bereit war, die Gewerkschaften als Tarifpartei anzuerkennen.7 Gerade weil die Gewerkschaften in weitem Umfang eingeschaltet wurden, um die immer unlösbarer erscheinende Lebensmittelversorgung sicherzustellen, waren sie in den Augen der Arbeiterschaft für die verheerende Ernährungslage mitverantwortlich. Diese spitzte sich schon im Winter 1916/17 verhängnisvoll zu und machte seit dem Sommer 1917 eine auch nur einigermaßen ausreichende Lebensmittelversorgung für die breiten Massen unmöglich, wobei selbst die Mittelschichten immer weniger in der Lage waren, die horrenden Schwarzmarktpreise zu zahlen, und nahezu ein Drittel der Agrarproduktion in behördlich nicht kontrollierte Kanäle gelangte. Trotz Lohnerhöhungen, die freilich beträchtliche regionale und branchenbedingte Unterschiede aufwiesen, hielten die Arbeitereinkommen mit der galoppierenden Inflation nicht Schritt; sie ließ sich durch Preisbindungsvorschriften nicht wirksam eindämmen. Seit 1917 kam es wegen mangelnder Brotrationen und unzureichender Belieferung immer wieder zu Streiks; desgleichen häuften sich Felddiebstähle und Mundraub.

Die Einbindung von SPD und Gewerkschaften in das politische System erwies sich in vieler Hinsicht als erfolgreich. So unterblieben Streikbewegungen größeren Ausmaßes in den ersten Kriegsjahren. Hingegen wurden SPD und Gewerkschaften von den Ausstandsbewegungen überrascht, die im April 1917 in zahlreichen Großstädten ausbrachen und teils auf die Initiative der inzwischen gegründeten USPD, teils auf diejenige der Revolutionären Obleute zurückgingen. Der spektakuläre Berliner Munitionsarbeiterstreik konnte nur durch das Eintreten der Freien Gewerkschaften und der SPD-Führung in die Streikleitung unter Kontrolle gebracht werden.8 Die spontan ausbrechende Streikbewegung bewies, daß SPD und Gewerkschaftskommission die Fühlung mit den Massen weithin verloren hatten. Revolutionäre Parolen spielten trotz der Bestrebungen der Gruppe Internationale, die sich als Spartakus-Bund am Vorbild der Bolschewiki orientierte, keine nennenswerte Rolle, wohl aber Forderungen nach Verbesserung der Ernährungslage, nach einem Frieden ohne Annexionen und nach innenpolitischen Reformen wie der Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in den Bundesstaaten und den Kommunen. Obwohl sich die Anzeichen einer wachsenden Verbitterung der arbeitenden Massen häuften, die sich im Hochsommer 1917 auch in mit übertriebener Härte beantworteten Ausständen bei der Hochseeflotte ausdrückte, unterblieben die angekündigten Verfassungsreformen und sah sich die Reichsregierung immer weniger in der Lage, die unhaltbar gewordenen sozialen Verhältnisse zu verbessern.

Das mit großen Verzögerungen eingeführte und zunächst auf die Rohstoffverteilung begrenzte kriegswirtschaftliche System entfaltete sich vornehmlich auf Kosten der mittelständischen Unternehmen und der kleineren und mittleren Gewerbe, während es die Schwerindustrie und die rüstungswichtigen Branchen der chemischen Industrie begünstigte und die wirtschaftliche Konzentrationstendenz unterstützte. Als entscheidender Engpaß erwies sich frühzeitig das Arbeitskräftepotential. Im Verlauf des Krieges wurden Beschäftigte der Konsumgüterindustrie in schwerindustrielle Branchen umgeschichtet, wodurch die Gewerkschaften in den letzteren Fuß zu fassen vermochten. Die Mobilmachung löste einen beträchtlichen Mitgliederschwund in der Gewerkschaftsbewegung aus; er konnte erst 1917 wieder ausgeglichen werden. Die Unzufriedenheit ergriff zunehmend breite Gruppen des gewerblichen Mittelstandes und die Beamten und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Nicht die Nachricht über den Sieg der Oktoberrevolution in Rußland, sondern dessen Ausscheiden aus dem Krieg wirkte als Fanal und verstärkte die allgemeine Friedenssehnsucht.

Demgegenüber glaubte die OHL, den Sieg über Rußland zu einer umfassenden Mobilisierung aller Kräfte nutzen zu können, um die Entscheidung im Westen zu erzwingen. Mangels materieller Ressourcen verlegte sie sich auf eine weitgreifende Propagandaaktion, für die sie einen eigenen Presseapparat bereitstellte. Dazu gehörte die Einführung des »vaterländischen Unterrichts« in den öffentlichen Schulen, durch den die Wehrbegeisterung gestärkt und die zersetzenden Bestrebungen des Sozialismus bekämpft werden sollten. Die Vaterlandspartei sollte die erforderliche populistische Massenbasis schaffen. Sie war ausschließlich als Propagandainstrument zur Verstärkung der Kriegsanstrengungen konzipiert und stellte eine Art außerparlamentarische Bewegung dar. Sie wurde vor allem durch Spenden finanziert, die ihr von der Schwerindustrie, dem Bund der Landwirte und anderen einflußreichen Interessenverbänden der politischen Rechten zuflossen. Ihre indirekte Organisation beruhte auf der kollektiven Mitgliedschaft von Parteien und Interessenverbänden, die vom Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband bis zu den christlichen Gewerkschaften und konfessionellen Arbeitervereinen reichte. Mit 1,2 Millionen Mitgliedern war sie die größte Massenorganisation des Kaiserreiches. Im gleichen Sinne war der Alldeutsche Verband tätig, der einen Kranz von Nebenorganisationen völkischen Zuschnitts ins Leben rief, zu denen der im Spätherbst 1918 gegründete Germanenorden gehörte.9

Der extreme Nationalismus, der von der Agitation dieser Organisationen ausging, täuschte weite Kreise der Bevölkerung über den Ernst der Kriegslage hinweg. Anknüpfend an die »Ideen von 1914«, nahm er zunehmend völkisch-antisemitische Elemente auf, die bewußt eingesetzt wurden, um die proletarischen Massen der Sozialdemokratie zu entfremden. Im Umkreis der OHL faßte man den Gedanken, eine Zwangsrepatriierung der Juden polnischer Staatsangehörigkeit durchzuführen,10 und Überlegungen zur Gewinnung von Siedlungsraum im Osten nahmen die spätere Lebensraumideologie des Nationalsozialismus vorweg. Nicht zufällig gehörte Anton Drexler, der spätere Gründer der DAP, der Vaterlandspartei an. Gegenbewegungen der bürgerlichen Mitte wie der Volksbund für Freiheit und Vaterland vermochten sich im Vergleich zur nationalistischen Rechten weit weniger Gehör zu verschaffen.11

Die Politik der Maßlosigkeit und Gewalt, die in der Propaganda der Vaterlandspartei anzutreffen war, fand einen konkreten Niederschlag in den dem Friedensschluß von Brest-Litowsk vorausgehenden Verhandlungen. Die OHL rechnete mit einer dauernden politischen Instabilität des entstehenden bolschewistischen Staatswesens und antizipierte bereits künftige militärische Interventionen. Den neugeschaffenen Staatsgebilden – den baltischen Randstaaten und der Ukraine – war eine Satelliten-Rolle zugedacht. Der Friedensschluß hinderte die OHL nicht daran, weite russische Gebiete bis zur Krim und zum Kaukasus militärisch zu besetzen, um die kriegswirtschaftlichen Bedürfnisse des Reiches durch die koloniale Ausbeutung dieses Raumes sicherzustellen. Die Mehrheitsparteien des Reichstages waren sich bewußt, daß der Friedensvertrag von Brest-Litowsk und die flankierenden Maßnahmen im Osten mit der Friedensresolution sowie mit den von Präsident Woodrow Wilson verkündeten »Vierzehn Punkten« unvereinbar waren. Die Schwäche des informellen Parteienbündnisses im Interfraktionellen Ausschuß zeigte sich auch darin, daß es auf die Führung der Friedensverhandlungen keinerlei Einfluß zu nehmen vermochte. Für die Mehrheitssozialdemokraten war der offene Bruch mit dem feierlichen Verzicht auf Annexionen äußerst unbequem. Eine Ablehnung der Ostverträge im Reichstag hätte ihr eben eingegangenes Bündnis mit den bürgerlichen Parteien der linken Mitte abrupt beendet und die Partei in die gefürchtete Isolation zurückgeworfen. Zwar gab es auch im bürgerlichen Lager Kritik an Brest-Litowsk, aber es überwog die Befriedigung über diesen in seinem Gewicht weit überschätzten deutschen »Machtfrieden«. Die MSPD entschied sich schließlich, trotz gewichtiger Vorbehalte bei der Ratifizierung des Vertrags sich der Stimme zu enthalten, während die USPD an ihrer Ablehnung keinen Zweifel ließ.12

Der Zusammenbruch Rußlands und die Schwäche der Bolschewiki bestärkten die OHL in der Illusion, durch eine gewaltige Anspannung aller verfügbaren Kräfte den Sieg erringen zu können, Die Bolschewiki sahen sich gezwungen, die auch noch während der laufenden Verhandlungen verschärften deutschen Friedensbedingungen und die sich daran anschließenden militärischen Operationen, die gegenüber dem Reichstag als Polizeimaßnahmen bezeichnet wurden, hinzunehmen. Innenpolitisch führte dies eine verschärfte Polarisierung herbei. Der annexionistische Fieberwahn ergriff erneut die politische Öffentlichkeit, und die Parolen der Vaterlandspartei unterstützten das bei den konservativen Führungsschichten noch immer dominierende Wunschdenken. Demgegenüber verschlechterte sich die Ernährungslage der Industriearbeiterschaft; die erhofften Importe aus dem Ostraum trafen nicht mehr rechtzeitig ein. Zugleich kündigte sich eine Ausweitung der Militarisierungsmaßnahmen gegen die Arbeiterschaft an. Die Verhaftung von Streikführern nach dem Januarausstand und präventive Maßnahmen gegen Protestschritte der Arbeiter riefen eine resignative Stimmung hervor, die bis zum Spätherbst anhielt.

Während die zivilen politischen Kräfte, vor allem die Parteien des Interfraktionellen Ausschusses, die Selbstherrlichkeit der OHL mit Sorge betrachteten, glaubte Ludendorff, den Krieg mit einer entscheidenden Durchbruchsschlacht im Westen beenden zu können. Die sorgfältig vorbereitete Frühjahrsoffensive 1918 und die sich daran anschließenden Angriffsoperationen brachten taktische Erfolge, nicht aber den strategisch entscheidenden Durchbruch durch die gegnerische Front. Trotz der sich täglich vergrößernden Überlegenheit der Westmächte an Material und Mannschaften verweigerte sich Ludendorff der bei den Stäben selbstverständlich gewordenen Einsicht, daß die Mittelmächte bestenfalls zu einer defensiven Kriegführung in der Lage waren. Die französischen und englischen Gegenangriffe am 18. Juli und 8. August machten offenkundig, daß sich die Kriegslage zugunsten der Entente gewendet hatte, obwohl sie die Chance, die Niederlage der deutschen Verbände am 8. August, dem »schwarzen Tag des deutschen Heeres«, zum strategischen Durchbruch zu nutzen, nicht wahrnahm. Trotzdem unterließ es die OHL, die Reichsleitung darüber zu unterrichten, daß sich die militärische Lage im Westen dramatisch verschlechterte.

Erst unter dem Eindruck der erfolgreichen alliierten Offensive am 26. September und der gleichzeitig eingehenden Nachricht von der Kapitulation Bulgariens am Vortag vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der rumänischen Front und der sich abzeichnenden Auflösung Österreich-Ungarns zog die OHL Konsequenzen aus der bestehenden militärischen Situation.13 Das Umschwenken der Militärs auf die von den Mehrheitsparteien bislang nur zögernd geforderte Parlamentarisierung kam für sie völlig überraschend. Mit der Begründung, daß er für die Stabilität der Westfront keine Garantie übernehmen könne, verlangte Ludendorff die unverzügliche Herausgabe eines Waffenstillstandsangebotes. Die damit verfolgte Absicht lag klar zutage. Ludendorff ging es darum, eine Kapitulation und Gefangennahme des Westheeres und damit die offene Niederlage abzuwenden und gleichzeitig die Verantwortung für den Verlust des Krieges der zivilen Reichsleitung zuzuschieben. Von Anfang an war die Lebenslüge angelegt, daß nicht die Front, sondern die Heimat versagt hätte. So äußerte der Generalquartiermeister im Zusammenhang mit der Parlamentarisierung, daß diejenigen, die die Suppe eingebrockt hätten, sie nun auslöffeln sollten.14

Ludendorffs übereilter Schritt, von dem er sich später zu distanzieren versuchte, traf mit gleichzeitigen Bemühungen der Mehrheitsparteien zusammen, eine arbeitsfähige Regierung unter Einschluß der SPD zu bilden.15 Dies lief auf die Auswechslung Georg von Hertlings hinaus, dessen mangelnde Durchsetzungskraft gegenüber den Eigenmächtigkeiten der OHL allgemein beklagt wurde. Insbesondere die SPD bestand auf einem Rücktritt Hertlings, den sie für unfähig hielt, den Verhandlungsfrieden, an den der Interfraktionelle Ausschuß noch glaubte, zustande zu bringen. Das Programm der Mehrheitsparteien ging nur geringfügig über die Forderungen hinaus, über die sie sich im Juli 1917 grundsätzlich geeinigt hatten. Auch jetzt blieb die volle Parlamentarisierung zwischen den Mehrheitsparteien und gegenüber der Regierung umstritten, wobei die verfassungsrechtliche Verbindung von Bundesrat und Reichsregierung den eigentlichen Differenzpunkt bildete, obwohl sie die praktische Anwendung parlamentarischer Verfahrensregeln nicht ausschloß.

Die Berufung des Prinzen Max von Baden war von Conrad Haußmann lanciert worden und fand die Zustimmung der OHL. Der badische Thronfolger erschien wegen seiner Zugehörigkeit zu einem deutschen Fürstenhaus und seiner liberalen Grundeinstellung als geeigneter Kompromißkandidat. Die wenigsten wußten, wie sehr er von persönlichen Beratern aufgebaut worden war. Prinz Max war zudem keineswegs ein uneingeschränkter Befürworter des parlamentarischen Systems. Er hatte sich vielmehr kritisch über die »westliche Demokratie« geäußert und ihr die unklare Formel einer »deutschen Freiheit« entgegengestellt.16 Paul von Hintze, der neue Staatssekretär des Äußern, setzte sich für die Ernennung des Prinzen vor allem deshalb ein, weil dadurch die Forderung Präsident Wilsons nach einer Abdankung des Kaisers, gegen die sich alle Parteien einschließlich der SPD entschieden verwahrt hatten, unterlaufen und an die Solidarität der deutschen Fürstenhäuser appelliert wurde. Aber ganz unabhängig von der politischen Einstellung Max von Badens war es fraglich, ob er hinreichende politische Erfahrung und Willenskraft besaß, um die Nation in der Stunde des militärischen und politischen Zusammenbruchs verantwortlich zu führen.17

In richtiger Erkenntnis der Nachteile, die der Verzicht auf eine diplomatische Vorbereitung des deutschen Waffenstillstandsgesuchs mit sich bringen mußte, bat der neuernannte Kanzler die OHL um entsprechenden Aufschub, ohne sich damit durchzusetzen. Ebensowenig gelang es ihm, die OHL darauf festzulegen, daß die militärische Situation die unverzügliche Einleitung von Waffenstillstandsverhandlungen erfordere. So erging das deutsche Waffenstillstandsgesuch an Präsident Wilson noch in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 1918. Es wurde allgemein als Eingeständnis der deutschen Niederlage aufgefaßt und löste einen tiefen Schock in der Öffentlichkeit aus. Aufgrund der geschönten Presseberichterstattung und der Zensur, aber auch aufgrund der Propagandakampagne der OHL und der Vaterlandspartei hatten sich viele trotz der Verschlechterung der außenpolitischen Lage an die Hoffnung auf einen deutschen Sieg geklammert. Die mangelnde Einstimmung der öffentlichen Meinung trug dazu bei, daß nunmehr lähmende Resignation und tiefe Verbitterung Platz griffen. All dies gab jenen Kräften Auftrieb, die sich für einen raschen Frieden einsetzten.

Ludendorff hatte die Regierung zwar zum sofortigen Waffenstillstand gedrängt, war sich aber nicht im klaren darüber, daß nach einem solchen Schritt selbst bei unerträglich erscheinenden Bedingungen der Gegner kein Rückweg zur Fortsetzung des Krieges bestand. Er hielt an dem Wunschdenken fest, nach einem Rückzug der deutschen Verbände auf die Rhein-Linie die Kriegführung wieder aufzunehmen. Die wirtschaftliche Ausbeutung der Ostgebiete sollte die notwendigen Ressourcen bereitstellen. Ohne Gründe angeben zu können, wurde die Behauptung ins Feld geführt, daß die Alliierten im Frühjahr zu wesentlich günstigeren Bedingungen Frieden schließen würden. Die OHL versuchte, als sie nach Eingang der Antwortnote Wilsons die Tragweite des von ihr übereilt erzwungenen Schritts erkannte, die Verantwortlichkeiten mit dem Argument zu verschleiern, daß die Armee zusammenzubrechen drohe, weil die Heimat nicht mehr hinter ihr stünde. Das hinderte sie allerdings nicht daran, die von Walther Rathenau vorgeschlagene Levee en masse, für die alle inneren Voraussetzungen fehlten, mit der zweifelhaften Begründung zurückzuweisen, sie werde nur zur Verseuchung des Heeres mit revolutionären Kräften führen. Die Rückwirkung des Waffenstillstandsgesuchs auf die Kampfmoral der eigenen Truppen war weder von der OHL noch von den verantwortlichen politischen Kräften vorhergesehen worden.

Die OHL stand mit ihren Überlegungen nicht allein. Noch in der ersten Oktoberhälfte 1918 waren die herrschenden Eliten, und das galt auch für die Parteien im Interfraktionellen Ausschuß, entschlossen, einen Frieden um jeden Preis abzulehnen. In einem Telegramm an die Reichsleitung verlangte Hindenburg am 14. Oktober, »in öffentlichen Kundgebungen aller Art« müsse der Wille zum Ausdruck gebracht werden, »daß es für das deutsche Volk nur zwei Wege gibt: Ehrenvoller Friede oder Kampf bis zum Äußersten«.18 Diese fiktive Alternative hatte bereits der Bildung des Kabinetts Max von Baden zugrunde gelegen. Ein maßvolles Friedensangebot galt als Voraussetzung dafür, die letzten verfügbaren Kräfte zu mobilisieren. Der Gedanke einer nationalen Sammlung fand Sympathien bei den Freien Gewerkschaften und bei rechtsstehenden Sozialdemokraten. Es kam sogar zu inoffiziellen Verhandlungen zwischen Vertretern der Vaterlandspartei und der Generalkommission, die allerdings ohne jedes Ergebnis endeten und im bürgerlichen Lager Tendenzen zur Bildung einer gegen die Sozialdemokratie gerichteten Abwehrfront bestärkten. Endgültig nahmen Generalkommission und Gewerkschaften erst am 26. Oktober von einer solchen Eventualität Abstand. Zuvor hatte das Kabinett mit Zustimmung der MSPD einen Aufruf zur nationalen Verteidigung für den Fall vorbereitet, daß die Verhandlungen mit Wilson scheitern würden.

Für die sozialdemokratische Führung stand der Entschluß, sich an einem Koalitionskabinett zu beteiligen, von vornherein fest, obwohl es nicht an Warnungen fehlte, daß die Partei damit zur Stützung einer verhüllten Militärdiktatur beitrüge. Ihre Haltung war von dem Motiv bestimmt, daß die patriotische Pflicht es gebiete, den völligen Zusammenbruch des Vaterlandes abzuwenden. Sie wollte sich nicht nachsagen lassen, in der Stunde der Gefahr versagt zu haben. Das Trauma, mangelnder nationaler Zuverlässigkeit geziehen zu werden, haftete der Partei immer noch an. Der von ihr formulierte Forderungskatalog enthielt neben der Bekräftigung der Friedensresolution, der Revision der Ostverträge, der Wiederherstellung Belgiens, Serbiens und Montenegros die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in den Bundesstaaten und die Aufhebung der Vorschriften der Reichsverfassung, die einer vollen Parlamentarisierung entgegenstanden. Die MSPD ließ sich freilich davon eine Reihe von Punkten abhandeln, darunter die direkte Erwähnung des Brest-Litowsker Friedens und die Aufhebung der Unvereinbarkeit einer Mitgliedschaft im Bundesrat und im Reichstag. Statt dessen einigte man sich auf die unbefriedigende Formel der Berufung von Regierungsvertretern aus dem Parlament, deren Reichstagsmandat erhalten bleiben sollte.19

Die Mehrheitssozialdemokratie zögerte noch immer, volle politische Verantwortung zu übernehmen. Hierbei spielte die Rücksicht auf die USPD mit, die der Schwesterpartei vorwarf, sich zum Handlanger des deutschen Imperialismus zu machen. Entscheidend war, daß die betont reformistisch eingestellte Parteiführung einen Konflikt mit den bürgerlichen Partnern scheute, um die Kriegsanstrengungen nicht zu beeinträchtigen. Friedrich Ebert stellte den Gedanken an eine sozialdemokratische Kanzlerschaft als verfrüht zurück. Die anfängliche Neigung des Prinzen Max von Baden, die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder als Quantité négligeable zu behandeln, wurde von Ebert mit Entschiedenheit bekämpft. Aber indem nur Philipp Scheidemann – als Staatssekretär ohne Portefeuille – und der Gewerkschaftsführer Gustav Bauer – als Staatssekretär an der Spitze des neugeschaffenen Reichsarbeitsamtes – im Kabinett vertreten waren und die parlamentarischen Vertreter sich gegenüber den Repräsentanten der traditionellen Führungsschicht in der Minderheit befanden, blieb der Einfluß der SPD auf die Ressortentscheidungen eng begrenzt. Nach Entgegennahme der Regierungserklärung am 5. Oktober stimmten die Mehrheitsparteien einer Vertagung des Reichstages zu.

Das Kabinett des Prinzen Max von Baden repräsentierte daher keine entschiedene Abkehr von der semi-autoritären Verfassungsstruktur des Kaiserreiches.20 Es stützte sich auf die virtuelle Koalition des Interfraktionellen Ausschusses und vermischte parlamentarische mit bürokratischen Elementen insofern, als der Kanzler zwar dem Kaiser verantwortlich, aber auf Betreiben der Mehrheitsparteien berufen worden war. Kritischen Beobachtern drängte sich der Eindruck auf, daß die Reformschritte der Regierung nur so weit bemessen waren, wie es erforderlich schien, um den in der dritten Note Präsident Wilsons enthaltenen Einwand auszuräumen, daß das deutsche Volk nach wie vor keine Machtmittel habe, um »die Unterwerfung der Militärbehörden des Reiches unter den Volkswillen zu erzwingen«, daß »der beherrschende Einfluß des Königs von Preußen auf die Reichspolitik ungeschwächt« fortbestehe und die Entscheidung immer noch bei denjenigen liege, »die bis jetzt die Herren von Deutschland gewesen sind«.21 Der Druck von außen war sicherlich nicht der allein maßgebende Faktor, der die Umgebung Wilhelms II. bewog, den Reformforderungen der Linken nachzugeben. Ohne die innenpolitischen Bedingungen Wilsons wäre dies jedoch schwerlich denkbar gewesen.

Im Grunde bestätigte die Kraftprobe, die die zivile Führung in der letzten Oktoberwoche zu bestehen hatte, Wilsons Skepsis hinsichtlich der Verläßlichkeit der deutschen Friedensbereitschaft. Die dritte Note des Präsidenten, die am 24. Oktober einging, brach endgültig mit der Illusion, nach einer Waffenruhe die Kampfhandlungen wiederaufnehmen zu können. Die OHL beantwortete sie mit einem Tagesbefehl, der die Armee zur Fortsetzung des heroischen Widerstandskampfes aufrief und die Bedingungen Wilsons für unannehmbar erklärte, ohne daß eine Rücksprache mit der Reichsleitung erfolgt war.22 Diesmal setzte sich Max von Baden unter Androhung seiner Demission beim Kaiser gegen Ludendorff, dessen Rücktrittsdrohung inzwischen stumpf geworden war, mit dem Argument durch, daß die Einmischung der beiden Generale die Einheitlichkeit der Führung bedrohe und den Verständigungsfrieden ernsthaft gefährde und daß ein Übereinkommen mit Wilson nur nach Beendigung der bisherigen »Doppel-Regierung« möglich sei.23 Es kam jedoch nur zu einer halben Lösung. Während Ludendorff erbittert zurücktrat, blieb Hindenburg auf Drängen des Kaisers im Amt. Als Erster Generalquartiermeister wurde ihm der durch seine Leistungen für die Kriegswirtschaft hochverdiente General Wilhelm Groener beigegeben.

Immerhin rückte die Reichsregierung mit der Entlassung Ludendorffs endgültig von der Erwägung ab, unzumutbare Waffenstillstandsbedingungen mit der Ausrufung des nationalen Verteidigungskrieges zu beantworten. Zur Annahme der im Verlauf des Notenwechsels deutlich verschlechterten Bedingungen des amerikanischen Präsidenten gab es keine Alternative. In Anbetracht der offenkundigen militärischen Niederlage verfingen die Durchhaltebefehle nicht mehr. Gehorsamsverweigerung im Heimatheer, Nichtbefolgung von Gestellungsbefehlen, Renitenz gegenüber örtlichen Militärorganen waren an der Tagesordnung, und ähnliche Vorgänge ereigneten sich in den Etappen des Feldheeres. Man war nicht bereit, für eine verlorene Sache zu sterben. Währenddessen erhielten Tausende von zuvor reklamierten Arbeitern Gestellungsbefehle. Noch am 27. Oktober rief der »Vorwärts« zur Zeichnung der neunten Kriegsanleihe auf. Nahezu alle politischen Gruppierungen des sterbenden Kaiserreiches wurden von den Ereignissen überrollt.

Denn nun setzte sich der Friedenswille der breiten Masse in eine stündlich anwachsende Protestbewegung um.24 Es bedurfte dazu nicht der Agitation von USPD, Revolutionären Obleuten und Spartakus-Bund, dessen Führer erst in diesen Tagen aus der Haft entlassen wurden. Der Industriearbeiterschaft stand das Vorbild der russischen Oktoberrevolution vor Augen, der es gelungen war, die Beendigung des Krieges zu erzwingen. Bolschewistische Zielsetzungen rückten demgegenüber völlig in den Hintergrund. Die Mehrheitssozialdemokratie, die eine schrittweise Demokratisierung wünschte und in das Kabinett eingetreten war, um ein Abrutschen in »russische Verhältnisse« zu verhindern, glaubte noch immer, den Bestand der Monarchie nicht antasten zu müssen. Auch in der Parlamentarisierungsfrage nahm sie zunächst eine abwartende Haltung ein. Erst am 26. Oktober wurde die überfällige Verfassungsreform unter dem Druck der dritten Note Wilsons vom Reichstag verabschiedet. Sie verwandelte das Reich in eine parlamentarische Monarchie.25 Von nun an bedurfte der Reichskanzler des Vertrauens der Volksvertretung und war ihr und dem Bundesrat verantwortlich. Mitglieder des Parlaments konnten nunmehr Minister werden, ohne ihr Mandat aufzugeben. Die Entscheidung über Krieg und Frieden und die militärische Kommandogewalt lagen nicht länger beim Kaiser, sondern bei der parlamentarisch verantwortlichen Reichsregierung, deren politischer Aufsicht nun auch die Militärbefehlshaber unterstanden. Die bisher selbständige Stellung des preußischen Kriegsministers wurde beseitigt. Hingegen unterblieb die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in den Bundesstaaten durch eine entsprechende Vorschrift in der Reichsverfassung. Nur auf schärfsten Druck hin stimmte das preußische Herrenhaus, allerdings nur in erster Lesung, seiner Einführung zu. Die revolutionären Ereignisse überholten die zögerlichen Reformschritte in Preußen.

Obwohl die am 28. Oktober in Kraft tretenden neuen Verfassungsvorschriften den Forderungen der Linksliberalen und der Sozialdemokraten weitgehend entsprachen, blieben wichtige Verfassungsprobleme, nicht zuletzt aufgrund ihrer improvisierten Entstehung, ungeregelt, so vor allem die Frage der Prärogative des Monarchen und seiner Rechte im Falle fehlender parlamentarischer Mehrheiten. Ein Rückfall in den vorangegangenen »Kryptoparlamentarismus«, wie Eduard David formuliert hatte, war deshalb keineswegs ausgeschlossen.26 Erst im letzten Moment kam es zu einer grundlegenden Umformung der militärischen Kommandogewalt zugunsten des Reichskanzlers. Demgegenüber blieben die verhaßten Symbole des politischen Systems bestehen, und ihre überwiegend militärischen Träger wurden nicht ausgewechselt. Als »Revolution von oben« konzipiert, vermochten die Reformen das tiefe Mißtrauen der Bevölkerung nicht auszuräumen, das in der Forderung nach Abdankung des Kaisers, die wie ein Lauffeuer um sich griff, zum Ausdruck kam.

Daß die Parlamentarisierung nur halbherzig und erst unter dem Einfluß der Wilsonschen Bedingungen herbeigeführt worden war, neutralisierte die ihr zugedachte innenpolitische Entlastungsfunktion. Vermutlich hätte eine sofortige Abdankung des Kaisers, wie sie seit Mitte Oktober auch Vertreter der bürgerlichen Mitte forderten, die – so der Staatswissenschaftler Max Weber – die monarchische Staatsform bewahren wollten, den Lauf der Dinge nicht aufhalten können. In den Augen der Bevölkerung war in erster Linie die Person des Kaisers mit der Verantwortung für den Kriegsausgang belastet. Es rächte sich bitter, daß Wilhelm II. das plebiszitäre Nebenregiment Hindenburgs zugelassen hatte. Das wirkte sich um so nachteiliger aus, als er auch jetzt nicht bereit war, sich von den hochkonservativ eingestellten Hofkreisen und seinen militärischen Beratern zu lösen. Es stellte einen schweren Affront gegenüber Max von Baden dar, daß er sich durch die Abreise in das Große Hauptquartier in Spa dem unmittelbaren Einfluß der Reichsleitung entzog. Die Annahme der Einladung Hindenburgs fiel auch deshalb unverzeihlich ins Gewicht, weil der Kaiser damit die Militärs politisch aufwertete, was an der Aufrichtigkeit zweifeln ließ, mit der er der Verfassungsreform zugestimmt hatte. Höflinge und legitimistische Offiziere suggerierten Wilhelm II. das grotesk anmutende Vorhaben, an der Spitze der getreuen Feldtruppen in Berlin einzurücken und die Ordnung im Reich wiederherzustellen.

Die Parlamentarisierung konnte den Zerfall der militärischen Macht nicht aufhalten, sie war vielmehr dessen Folge. Ebenso konnte die Protestbewegung der Massen, die die Mehrheitssozialdemokraten und Gewerkschaften in legale Bahnen zu lenken bemüht waren, nur in der Beseitigung der Militärherrschaft ihren Endpunkt finden. Eine frühzeitige Abdankung des Kaisers hätte ihr noch größeren Auftrieb verschafft. Die historische Verschränkung von Militärherrschaft und Hohenzollernmonarchie konnte durch verfassungspolitische Maßnahmen allein nicht aufgehoben werden. Dies verkannt zu haben gehört zu den psychologisch begreiflichen, politisch verhängnisvollen Fehleinschätzungen Friedrich Eberts und seiner Parteigänger. Nur eine entschiedene und sofortige Desavouierung der militärischen Führung hätte dem Übergangskabinett breitere Sympathien erwerben können. Statt dessen diente es zur Kaschierung des militärischen Bankrotts und trug wesentlich zu den illusorischen Hoffnungen bei, die die Öffentlichkeit noch immer mit einem »Wilson-Frieden« verband.

Seit dem 4. November 1918 setzte die zuvor noch zurückgedämmte revolutionäre Bewegung ein. Sie war provoziert durch das einseitige Vorgehen der Seekriegsleitung, die im Einklang mit dem gleichzeitigen Armeebefehl Ludendorffs einen Vorstoß der Hochseeflotte vorsah, um die britischen Seestreitkräfte zum »Endkampf« herauszufordern.27 Die Marinebefehlshaber begründeten diesen ohne ausreichende Unterrichtung der Reichsleitung unternommenen Schritt damit, daß nach Einstellung des unbeschränkten U-Boot-Krieges, die gegen ihren Willen verfügt worden war, eine Reaktivierung der zuvor auf dessen Sicherung beschränkten Hochseeflotte wünschenswert sei. Das eigentliche Motiv bestand darin, die Marine vor dem Odium des militärischen Versagens zu bewahren. In einem Memorandum des Hochseekommandos, das sich für eine Flottenaktion aussprach, hieß es: »Aus einem ehrenvollen Kampf der Flotte, auch wenn er ein Todeskampf wird in diesem Kriege, wird – wenn unser Volk nicht national überhaupt versagt – eine neue deutsche Zukunftsflotte hervorwachsen.«28 Es war der Seekriegsleitung, die diesen Plan billigte, nicht darum zu tun, dem bedrängten Heer durch eine Operation im Ärmelkanal zu Hilfe zu kommen. Ihr ging es um die Bewahrung des Flottengedankens angesichts eines als schmachvoll empfundenen Friedens. Die Ausführung dieses Vorhabens hätte nicht nur zur nutzlosen Opferung von zahlreichen Menschenleben geführt, sondern auch die Waffenstillstandsverhandlungen ernsthaft behindert.

Die Besatzungen der auf Schillig Reede zusammengezogenen Flottenverbände standen unter dem Eindruck der rasch umlaufenden Gerüchte, daß ein letzter »Todeskampf« der Hochseeflotte beabsichtigt sei, worauf die Operation letztlich hinausgelaufen wäre. Sie weigerten sich, den Befehlen zum Auslaufen zu folgen, und leisteten auch dann noch Widerstand, als die vorgesehene Operation bereits aufgegeben worden war. Die unklare Befehlsgebung des Hochseekommandos, das die Rückkehr des Dritten Geschwaders, bei dem die Meuterei begonnen hatte, nach Kiel anordnete, rief dort eine Revolte der Besatzungen hervor, der sich die Garnison und die sympathisierende Industriearbeiterschaft sofort anschlossen. Matrosenräte, die zur Führung von Verhandlungen mit dem Marinebefehlshaber gebildet wurden, gaben den Anstoß zu einer allgemeinen revolutionären Erhebung. Während die Reichsleitung Gustav Noske als Vertreter der MSPD und Staatssekretär Conrad Haußmann nach Kiel entsandte, um durch Verhandlungen mit den Streikenden einen friedlichen Ausgleich zu erreichen, sprang der Funke von Kiel auf andere Flottenstützpunkte und bald auf nahezu alle deutschen Großstädte über. Überall kam es zur Entwaffnung der Offiziere und zur Übernahme der politischen Macht durch spontan gebildete Soldaten- und Arbeiterräte. Die Revolution war damit unabwendbar geworden.

Unabhängig von der Frage, inwieweit die Seekriegsleitung die Reichsleitung über ihre Absichten verständigt hatte, mußte die geplante Operation unmittelbar vor dem erhofften Waffenstillstand als Versuch verstanden werden, die Verhandlungen zu torpedieren. Das tiefe und nicht unberechtigte Mißtrauen der Soldaten und Arbeiter in die militärische Führung, deren moralische Autorität verlorengegangen war, erklärt die Schnelligkeit, mit der sich die Erhebung ausbreitete. Es gab kaum jemanden, der sich der rasch anschwellenden Protestbewegung in den Weg zu stellen wagte. Nach einer Periode größter äußerer Entbehrungen und psychologischer Anspannung entlud sich nun das aufgestaute soziale Konfliktpotential, welches durch die beibehaltenen Klassenschranken zwischen Mannschaften und Offizierskorps ständig geschürt worden war. Der Haß auf die Symbole der Militärherrschaft macht verständlich, warum den Offizieren allenthalben die Rangabzeichen von den Uniformen gerissen wurden. Analog dazu verschafften sich auch in den Betrieben elementare demokratische Gleichheitsforderungen Luft. Dem Kampf gegen den »Kadavergehorsam« im militärischen Bereich entsprach die Ablehnung der Unternehmerwillkür in der Produktionssphäre.

Die zaghaften sozialen Reformen des Kabinetts Max von Baden, die Errichtung von Arbeiterausschüssen in den Betrieben, die Beseitigung der gesetzlichen Einschränkungen des Koalitionsrechts, die erst Mitte Oktober ausgesprochene Amnestie wegen politischer Straftaten Inhaftierter reichten keinesfalls aus, um die politisch bewußte Arbeiterschaft zufriedenzustellen. Von einer breiten revolutionären Bewegung des industriellen Proletariats konnte zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein, wenngleich die Mehrheitssozialdemokraten wegen ihrer ambivalenten Politik im Vergleich zur USPD deutlich an Sympathie einbüßten. Die revolutionären Kräfte in der Arbeiterbewegung, die Revolutionären Obleute, der linke USPD-Flügel unter der Führung Georg Ledebours und die vor dem 8. November noch kaum aktionsfähige Spartakus-Gruppe erlangten größeren Einfluß erst, als die Autorität der Militärs spürbar ausgehöhlt war.

Es paßte in das Bild der von der OHL systematisch aufgebauten Legende, daß die Niederlage zustande gekommen sei, weil die Heimat der Front in den Rücken gefallen sei, der revolutionären Linken die Schuld an der Entfesselung der Revolution anzulasten. Schon Ende November 1918 äußerte Ludwig Beck, damals Major im Generalstab: »Im schwersten Augenblick des Krieges ist uns die – wie ich jetzt keinen Moment mehr zweifle – von langer Hand vorbereitete Revolution in den Rücken gefallen.«29 Die im Lager der politischen Rechten kursierenden Gerüchte und bewußten Fälschungen wurden wenige Wochen später in einem Bericht der »Neuen Zürcher Zeitung« unter das Stichwort des »Dolchstoßes« gerückt. Seitdem gehörte der Begriff zum Repertoire der antirepublikanischen Propaganda von rechts.30 Der Zusammenbruch des Kaiserreiches war in erster Linie der Unfähigkeit der maßgebenden Eliten zuzuschreiben, die nicht nur die militärische und wirtschaftliche Kraft der Mittelmächte überschätzten, sondern auch der Illusion erlagen, durch den Krieg die überfällige Modernisierung des gesellschaftlichen und politischen Systems aufhalten zu können, die ihre privilegierte soziale Stellung bedrohte.

Die Volksbewegung, die das Regime in den ersten Novembertagen hinwegschwemmte, richtete sich gegen die angemaßte Autorität der militärischen Träger des Systems und die ihm zugrunde liegende soziale Ungerechtigkeit.31 Dieser Protest war elementar, aber nahm nicht den Charakter zügelloser Gewaltanwendung und hemmungsloser Exzesse an. Mit dem Ende des Krieges schien eine neue Epoche anzubrechen, die Klassenjustiz und Kadavergehorsam, Willkür und soziale Ungleichheit beseitigen würde. Es zeigte sich bald, daß es an politischen Führerpersönlichkeiten mangelte, welche die Fähigkeit aufbrachten, diese Hoffnungen und das in ihnen liegende demokratische Potential für einen politischen Neuanfang fruchtbar zu machen.

Anmerkungen zum Kapitel

1. Vgl. I. Geiss, Juli 1914, Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, München 21980; F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, Königstein 1979, S. 46 ff.

2. Vgl. W. J. Mommsen, Die deutsche öffentliche Meinung und der Zusammenbruch des Regierungssystems Bethmann Hollwegs, in: GWU 19, S. 656667.

3. K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Berlin 21976 (Rede vom 6. Juli 1917).

4. S. Miller, Burgfrieden und Klassenkampf, Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974, S. 306 ff.

5. P. Kielmannsegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Frankfurt am Main 1968, S. 474 ff.; D. Orlow, Weimar Prussia 19181925, The unlikely rock of democracy, Pittsburgh, PA, 1986, S. 51 f.

6. Vgl. W. Wette, Gustav Noske, Eine politische Biographie, Düsseldorf 21988, S. 153 ff.

7. G. D. Feldman, Army, industry and labour in Germany 19141918, Princeton 1966, S. 327 ff.

8. Vgl. H. A. Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 19181924, Berlin 21984, S. 34 ff.; G. D. Feldman, E. Kolb und R. Rürup, Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges 19171920, in: PVS 18, 1978, S. 84105.

9. Vgl. H. Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei, Düsseldorf 1997.

10. Vgl. W. E. Mosse und A. Paucker (Hg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 19161923, Tübingen 1971.

11. Vgl. W. Maser, Die Frühgeschichte der NSDAP, Hitlers Weg bis 1924, Frankfurt am Main 1965, S. 145.

12. Vgl. S. Miller, Burgfrieden und Klassenkampf, S. 365 ff.

13. Vgl. G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Zum Problem des deutschen Militarismus, Bd. 4, München 1968, S. 388 ff.; H. Potthoff, Der Parlamentarisierungserlaß vom 30. September 1918, in: VfZ 20, 1972, S. 319332.

14. A. von Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der OHL, aus: Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 19151918, hg. von S. A. Kaehler, Göttingen 1958, S. 234 f.

15. U. Bermbach, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung in Deutschland, Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18 und die Parlamentarisierung der Reichsregierung, Köln und Opladen 1967, S. 219 ff.

16. Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Stuttgart 1927, S. 292; zur Regierung des Prinzen vgl. E. Matthias und R. Morsey in: Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Reihe I, Bd. 2, Düsseldorf 1962, S. XIff.

17. T. Eschenburg, Prinz Max von Baden, in: Ders., Die improvisierte Demokratie, Gesammelte Aufsätze zur Weimarer Republik, München 1963, S. 97109.

18. E. Matthias und R. Morsey, in: Quellen, S. 206.

19. S. Miller, Die Bürde der Macht, Die deutsche Sozialdemokratie 19181920, Düsseldorf 1978, S. 26 ff.

20. W. Sauer, Das Scheitern der parlamentarischen Monarchie, in: E. Kolb (Hg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Köln 1972, S. 7799.

21. Papers relating to the foreign relations of the United States (FRUS) 1918, Suppl. 1, Vol. 1, S. 387.

22. G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. 4, S. 441 ff.

23. E. Matthias und R. Morsey, in: Quellen, S. 359.

24. Vgl. H. A. Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 27 ff.

25. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5, Stuttgart 1978, S. 158 ff.; D. Grosser, Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie, Den Haag 1970.

26. Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte, Bd. 310, S. 3689 (5. Oktober 1917).

27. H. Michaelis u. a. (Hg.), Ursachen und Folgen, Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung in der Gegenwart, Bd. 2, S. 501; W. Deist, Die Politik der Seekriegsleitung und die Rebellion der Flotte Ende Oktober 1918, in: VfZ 14, 1966, S. 341368.

28. Deist, Die Politik der Seekriegsleitung, S. 353.

29. K.-J. Müller, General Ludwig Beck, Studien und Dokumente zur politisch-militärischen Vorstellungswelt und Tätigkeit des Generalstabschefs des deutschen Heeres 19331938, Boppard 1980, S. 323.

30. F. Frhr. Hiller von Gaertringen, »Dolchstoß«-Diskussion und »Dolchstoß«-Legende im Wandel von vier Jahrzehnten, in: W. Besson u. a. (Hg.), Geschichte und Gegenwartsbewußtsein, Festschr. für H. Rothfels, Göttingen 1963, S. 122160.

31. W. J. Mommsen, Die deutsche Revolution 19181920, Politische Revolution und soziale Protestbewegung, in: GuG 4, 1978, S. 362391.