Nur zu leicht verwechselte man Anita Brookner mit ihren unglücklichen Protagonistinnen – allesamt alte Jungfern – aber die Gewinnerin des Booker Prize war eine Romanschriftstellerin von unvergleichlichem Witz und Lebensklugheit, und eine der angesehensten Kunsthistorikerinnen der jüngeren Geschichte.
Anita beugte sich bei unserem Mittagessen über den Tisch, um zu inspizieren, was ich auf dem Teller hatte. „Wie schmeckt das?“, fragte sie. Und dann, mit einem breiteren, erwartungsvolleren Lächeln: „Enttäuschend?“
Anita erzählte mir, dass sie gerade einen Roman fertiggestellt habe, und dann fügte sie in gedämpftem, vertraulichem Ton hinzu: »Er handelt von … einer einsamen Frau.«
Anita, die grundsätzlich als Erste da war, egal wie früh ich kam, begrüßte mich mit ihrem üblichen, beunruhigenden Einstieg: »Na, was hast du Schönes für mich?«
So ein Mittagessen dauerte nie länger als 75 Minuten, für gewöhnlich bestellte sie Fisch und hinterher einen schwarzen Kaffee, zu dem sie zwei Zigaretten rauchte. (Eine ganze Weile waren es Sovereigns, eine Art Benson & Hedges für Arme: Das war das einzige nicht vollkommen elegante Element ihres Auftritts, das ich jemals an ihr beobachtet habe.)
Anita erzählte mir, dass sie gerade einen weiteren Roman fertiggestellt habe, und dass sie jetzt, wo sie ihn vom Schreibtisch habe, tun könne, was sie wolle.
»Tja, in deinem Fall«, witzelte ich, »heißt das wohl, dass du jetzt noch mal den gesamten Proust liest.« Es folgte eine leicht erschrockene Schweigepause. »Wie hast du das jetzt erraten?« In regelmäßigen Abständen fragte sie mich, wie alt ich sei. Ich gab Auskunft, und dann antwortete sie mit einer Art enthusiastischer Melancholie: »Da hast du ja noch zehn gute Jahre vor dir.« Die Frage wurde über die nächsten Jahrzehnte wiederholt, und auf meine Antwort erwiderte sie jedes Mal dasselbe. Allerdings fiel mir auf, dass der Enthusiasmus im Laufe der Zeit zu einer Art mitleidiger Hoffnung zusammenschrumpfte.
Sie war geistreich, funkelnd intelligent, reserviert und unberechenbar, und zwar noch viel mehr, als sie selbst beabsichtigte. Ich wüsste keinen Romanschriftsteller, bei dem es unwahrscheinlicher wäre, dass er eine Autobiographie verfasst. Sie war entschieden moralisch, ohne moralinsauer zu sein, und entschieden wahrheitsliebend. Einmal war ich für ein Interview bei einem Lokalradiosender in London, und das Team befand sich immer noch im Schockzustand, weil tags zuvor Anita einen ihrer (seltenen) Auftritte bei ihnen gehabt hatte. Ich erkundigte mich, was passiert war. »Sie hat jede Frage wahrheitsgemäß beantwortet«, erwiderten sie. Allerdings, und so etwas waren sie eben nicht gewöhnt. Ich kannte sie – nicht besonders gut – über dreißig Jahre. Es gab niemanden, der ihr auch nur ansatzweise vergleichbar gewesen wäre, und niemanden, dessen Präsenz auch nur annähernd denselben Effekt gehabt hätte. Ich war nicht der Einzige, der anders sprach, wenn er ihr gegenübersaß. Ich unterzog Vokabular und Grammatik blitzschnell noch einmal einer kritischen Prüfung, bevor sie meinen Mund verließen; ich merkte, wie ich bei meinen eigenen Äußerungen in Gedanken die Interpunktion berücksichtigte – ich setzte sogar geistige Semikolons, unglaublich! Sie selbst blieb immer ruhig, amüsiert, beherrscht. Aber dann sagte man so was wie: »Was hältst du von Boucher?« (oder irgendeinem anderen von ungefähr tausend Malern), und sie verwandelte sich und war lebendiger als bei allen anderen Gelegenheiten. Sie antwortete sehr präzise, intensiv, ausführlich, mit großer Leidenschaft und leuchtenden Augen, und manchmal ließ sie dabei sogar ein persönliches Detail mit einfließen. Sie erzählte mir einmal, die glücklichste Zeit ihres Lebens sei die gewesen, als sie in Frankreich ihre Doktorarbeit über Greuze geschrieben und dafür im Bus durch den Nebel zu Kunstgalerien in der Provinz gefahren sei. Dabei hatte man das Gefühl, dass der Nebel ein sehr wichtiger Bestandteil dieses Glücks gewesen war.
Bei all dem darf man nicht vergessen, dass sie über einen viel längeren Zeitraum über Kunst nachdachte, schrieb und lehrte, als sie Romane schrieb. Wenn wir nicht die »Booker-Prize-Gewinnerin Anita Brookner« zu betrauern hätten, würden wir uns an eine der glänzendsten, scharfsinnigsten Verfasserinnen von Kunstbüchern in neuerer Zeit erinnern, und an eine Lehrerin, die zu lebenslanger hingebungsvoller Arbeit inspirierte. Ihr Schwerpunkt war die französische Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts: Sie schrieb brillant über Watteau und David und mit ähnlichem Sachverstand über die zwei Gegenpole der französischen Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts – Delacroix und Ingres. Ihre Texte über Kunst sind akademisch im besten Sinne des Wortes: Anspruchsvoll und kompakt, das Ergebnis eingehender Forschung, bleiben sie jedoch auch verständlich für normale, intelligente Leser. Ihre Präzision ist ebenso zwingend wie ihr Stil, und wenn sie einmal negative Urteile fällt, sind sie ätzend. So verdammt sie »den unsterblichen und morbiden Flair«, den Baudelaire Delacroix zu verpassen versuchte, und zeigt sich unnachsichtig, was den »infantilen Schutzanstrich« angeht, den William Blake und andere sich zulegten. Ihre Kritik war erwachsen, ebenso wie ihre Weltsicht. Ein Satz aus ihrer stichhaltigen, umwerfend komischen Kritik einer Neuausgabe des Buches Hiob: »Bildad der Schuchiter teilt die öde Auffassung, dass Leiden den Menschen nobler mache.«
Wir lernten uns 1984 kennen, nachdem wir beide auf die Shortlist des Booker Prize gekommen waren. Als unsere gemeinsame Lektorin Liz Calder sie anrief, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen, erwiderte Anita: »Ich glaube, dann gehe ich jetzt mal los und lasse mir ein Paar Schuhe neu besohlen. Damit ich mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen stehen bleibe.« Als sie den Preis gewann, ging sie aufs Podium, nahm den Scheck in Empfang, wandte sich mit tadelloser Haltung ans Publikum und begann: »Wenn ich aufstehe, laufe ich normalerweise erst mal 50 Minuten.« Es folgte eine Pause mit perfekt kalkulierter Länge, bevor sie hinzufügte: »In Pantoffeln.« Hinterher kam Malcolm Bradbury (den ich noch nie getroffen hatte) zu mir und legte mir einen Arm um die Schulter. »Tja«, sagte er. »Ich finde nicht, dass du hättest gewinnen sollen. Aber ich finde auch nicht, dass du gegen so ein Buch hättest verlieren sollen.« Das war eine unehrenhafte Bemerkung, die sich später allerdings als ein wenig prophetisch herausstellte. Die (hauptsächlich männliche) Presse nannte sie »Die bescheidene Anita« und schob sie – unter Missachtung ihrer herausragenden Karriere als Kunsthistorikerin – in die Schublade der einsamen alten Jungfer, deren Leben gescheitert ist, und die sich jetzt damit tröstet, dass sie jedes Jahr einen Roman schreibt. Das vornehme Äquivalent zur Schachtel Pralinen quasi. Die erste Zeile ihres ersten Romans Ein Start ins Leben deuteten sie autobiographisch: »Im Alter von vierzig Jahren wurde Dr. Weiss klar, dass die Literatur ihr Leben ruiniert hatte.« Doch Dr. Brookners Leben war nicht von der Literatur ruiniert worden. Mit vierzig war Dr. Brookner gerade zur ersten Slade-Professorin der Schönen Künste in Cambridge ernannt worden. Die Literatur hatte geholfen, ihr die Welt zu erklären, und sie tat es weiterhin. Und später, als sie selbst mit dem Romaneschreiben begann, bescherte ihr die Literatur eine weitere Portion vom Ruhm, wenn auch ganz anderer Art.
Sie hielt die Welt oft auf Distanz, aber das machte sie nicht einsam. Sie war über vierzig, als sie endlich dem emotionalen Pandämonium des Zusammenlebens mit ihren Eltern entkam (die sie »schmerzhaft« liebte), und danach lebte sie genau so, wie es ihren Wünschen entsprach, glaube ich. Damit will ich nicht sagen, dass sie nie größere emotionale Erschütterungen erfahren hätte, sondern einfach, dass sie – wenn man das denn jemals wirklich selbst entscheidet – auf ihre Art lebte. Wenn sie etwas nicht tun wollte, lehnte sie ab. Sie empfand es als ihre gesellschaftliche Pflicht, zu bestimmten Partys zu gehen, aber ihre Strategie sah so aus, dass sie pünktlich zu Anfang da war, dann eine schnelle Runde drehte, sich bei ihren Gastgebern bedankte, und genau in dem Moment wieder ging, wenn die lautesten Gäste durch die Tür kamen. Einmal erklärte sie sich bereit, zu unserem gemeinsamen Verlag zu kommen und ihren neuesten Roman zu signieren. Man hatte einen nicht allzu bedrohlichen Stapel von 100 Exemplaren hingelegt. Sie setzte sich, zückte ihren Stift, signierte 25 und sagte dann: »Ich glaube, das reicht, oder?« Und dann ging sie. Ich schickte ihr immer Kunstpostkarten, wenn ich auf Reisen im Ausland war, bis mir irgendwann auffiel, dass sie das nie erwähnte, also hörte ich damit auf, und auch das blieb unerwähnt. Einmal sah ich eine Vorankündigung für einen Filmabend im National Film Theatre, der wie für Anita gemacht schien: eine Zusammenstellung der frühesten Filmaufnahmen in und um Paris. Ich rief sie an und hatte gerade ein Viertel meines Anlaufs zu einem begeisterten Vorschlag vorgebracht, als sie mich unterbrach mit einem: »Nein, ich glaube, eher nicht …« Ich fühlte mich linkisch, tölpelhaft, als hätte ich irgendeine Grenze überschritten. Das hatte ich auch, und ich machte nie wieder einen Vorstoß in dieser Richtung. Einmal im Jahr ein Mittagessen, gelegentlich mal ein Dinner, das war’s. Ein Freund von mir war einmal mit einem Kamerateam in ihrer Wohnung in Elm Park Gardens. Sie war karg möbliert, auf dem Fensterbrett waren mehrere Topfpflanzen aufgereiht. Ein nervöser Assistent versuchte eine Art sozialen Eisbrecher und bemerkte: »Das sind aber schöne Blumen, Miss Brookner!« – nur um mit der Antwort zum Schweigen gebracht zu werden: »Die sind alle neu.« Ich bin sicher, dass Anita niemals vernichtend sein wollte, aber sie wollte ganz deutlich machen, was ihrer Meinung nach Sinn und Zweck einer angemessenen Unterhaltung war.
In ihren Romanen kommen oft einsame alte Jungfern vor, die anscheinend nicht viel mehr tun, als Bücher in die Leihbibliothek zurückzubringen, Teesalons zu besuchen und über ihr ungelebtes Leben nachzusinnen. Aber sie hatte mit ihren Protagonistinnen nicht mehr gemeinsam als John Updike mit Rabbit Angstrom. (Ihr gefielen schicke Häuser – wir aßen meistens im Caprice oder im Durrants Hotel zu Mittag – aber es gefiel ihr irgendwie auch, wenn sie von ihnen enttäuscht wurde. Einmal war sie gerade aus Paris zurückgekommen: »Ich habe im Crillon gewohnt«, berichtete sie. »Die haben mir ein Dienstmädchenzimmer gegeben.«) Ihre schriftliche Ausdrucksweise war ebenso perfekt und strukturell ausgewogen wie ihre mündliche; tatsächlich kamen sich die beiden so nah, dass ich bezweifle, dass man bei Durchsicht ihrer Manuskripte viele Korrekturen finden würde. In ihren Romanen findet sich oft eine moralische Antithese: Da werden die Tugendhaften, Aufrichtigen, Höflichen und Eleganten den Betuchten, Vulgären und Gleichgültigen gegenübergestellt. Letztere haben ein glücklicheres Leben, denn ihnen fehlt sowohl die moralische Integrität als auch die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis oder zum Selbstzweifel. In Brookner-Land besiegt der Hase grundsätzlich die Schildkröte, und es wäre sentimental, etwas anderes zu glauben oder zu erwarten. Diese Sicht aufs Leben war gleichbleibend und unerschütterlich. Doch jeder Biograph oder Kritiker, der mit der Idee spielte, Anita Brookner sei in irgendeiner noch so subtilen Weise auf unser Mitleid aus, würde einem törichten Irrtum unterliegen. Sie war die am wenigsten selbstmitleidige Person, die ich je kennengelernt habe. Sie wusste einfach, dass die Welt unfair ist, und fand es naiv, wenn jemand das nicht erkannte. Sie war in ihrem tiefsten Inneren eine Stoikerin. Und diesen Stoizismus hob sie auf eine aristokratische Ebene. Wahrscheinlich fände sie diese Behauptung entsetzlich, aber viele, die sie kannten, würden mir Recht geben.
Sie las Proust; sie las Simenon – wobei sie die romans durs den Maigret-Romanen vorzog (ihr Lieblingsroman, verriet sie mir einmal, war Der fremde Vetter); in ihren späteren Jahren schrieb sie alljährlich für den Spectator eine Rezension von ungefähr tausend Worten für jedes Buch, das auf der Auswahlliste für den Prix Goncourt stand. Aber ich glaube nicht, dass ihre Romane stark französisch beeinflusst waren. Für mich hatte sie eher etwas Europäisch-britisches. Und obwohl sie in Literatur badete, hatte sie wenig Interesse am Literaturbetrieb, geschweige denn an der entferntesten Art von Karrierismus. Niemals hätte man sie auf einem Literaturfestival erwischt oder sich vor irgendeine Kameralinse drängen sehen. Sie freute sich über ihren Erfolg, aber sie tat nichts, um ihre Leser zu ermutigen oder abzuschrecken, außer das, was wirklich zählte: Sie schrieb ihren nächsten Roman. Ich bin überzeugt, hätte sie nur alle zwei Jahre ein Buch veröffentlicht statt alljährlich, wäre sie heute doppelt so hoch angesehen. Ich bin sicher, dass sie eine solche Berechnung vulgär gefunden hätte. Trotzdem glaube ich, dass es stimmt. Sie beklagte sich nie über die manchmal herablassende Behandlung, die ihr von einheimischen Kritikern zuteil wurde. Nur manchmal zeigte es sich, aber nur ganz indirekt. Ich erzählte ihr von einer Buchvorstellung in Paris, die einiges an Aufsehen erregt hatte. »Ja«, kommentierte sie. »Sie zeigen wirklich Interesse, nicht wahr?«
Ihre Romane waren, was sie waren; sie brachten ihre Stärken zur Geltung: Klarheit, Ironie, Witz, Lebensklugheit. Ihre Erzählstimme erkannte man schon an der ersten Zeile. (Nehmen Sie nur die ersten drei Worte der Nachzügler: »Hartmann, ein Genießer …« Niemand anderer hätte so etwas geschrieben.) Was sie weniger gut konnte, ließ sie sein. Die meisten Schriftsteller sind sich ihrer Schwächen bewusst – oder ihrer Eigentümlichkeiten – und versuchen, sich durchzumogeln. Bei Anita gibt es nichts Falsches. Vielleicht kommt es der Wahrheit näher, wenn ich sage, beim Schreiben machte sie – ebenso wie im Leben – selten Dinge, die sie nicht machen wollte. Einmal nahmen meine Frau und ich ihren neuesten Roman mit in den Sommerurlaub in Frankreich. Ich las ihn als Erster, am nächsten Morgen setzte sich meine Frau mit dem Buch in den Schatten eines Baumes. Nach ungefähr einer Stunde gab es eine Explosion ungläubiger Wut – und ich wusste schon ganz genau, worum es gehen würde. »Ich bin auf Seite 35«, rief sie zu mir herüber, »und ich bin gerade zur ersten Dialogzeile gekommen – und die ist auf Französisch!« In einem von Anitas späteren Romanen trinkt die Protagonistin regelmäßig ein Glas Weißwein, wenn sie in ihrer Wohnung allein zu Abend isst. Da ich mich für Wein interessiere, kam ich nicht umhin zu bemerken, dass es bei jedem Abendessen ein anderer Wein war: erst ein Chardonnay, dann ein Pinot Grigio, dann ein Sauvignon, und so weiter; doch der letzte Wein, der in diesem Buch getrunken wurde, war unerwarteterweise ein süßer Wein – ein Sauternes. Ich fragte mich, ob dieser Bruch eine Bedeutung haben mochte, vielleicht ein Sinnbild der Unbeständigkeit der Protagonistin. Ich erwähnte diese Theorie beim Mittagessen und wies auf diesen verblüffenden Wechsel von trockenem zu süßem Wein hin. »Oh nein«, erwiderte Anita unbekümmert. »Ich bin einfach nur in ein Geschäft gegangen und hab mir die Namen abgeschrieben.«
Zum letzten Mal sah ich sie im Sommer 2010, als unsere Verlegerin Carmen Callil sie zum Mittagessen mitbrachte. Sie war zerbrechlicher geworden und brauchte einen Gehstock. Ich hatte einen Krabbentopf gemacht, aber sie sagte, sie sei allergisch, und es war mir peinlich (hätte ich es wissen müssen?). Stattdessen aß sie ein bisschen Käse, etwas grünen Salat und eine Grilltomate; die rote Bete lehnte sie ab. Wir fragten sie, wie sie lebte. Sie erzählte, sie gehe jeden Morgen ganz früh zu Sainsbury’s und hole sich »ein Croissant, ein Brötchen und einen Laib Brot«. »Jeden Tag, Anita?« »Ich esse eine Menge Brot.« Sie hatte Stefan Zweig noch einmal gelesen und war besonders begeistert von dem sehr brooknerhaft betitelten Roman Beware of Pity (dt. Original: Ungeduld des Herzens). Als Carmen meinte, zu den Vorteilen des Alters gehöre es, dass man die Prüfungen des Herzens hinter sich hatte, stimmte sie ihr zu. Sie behauptete, sie habe keine religiösen Gefühle oder Glaubensgrundsätze. Sie hatte immer noch einen gemieteten Fernseher (keine Digibox oder Freeview) und rauchte immer noch acht bis zehn Zigaretten am Tag. »Rauchst du die erste nach dem Frühstück, Anita?« »Selbstverständlich.«
Sie hatte die Times abonniert, aber wenn sie ihren Korbvoll Brot holte, kaufte sie auch noch Independent, Mail, Guardian und Telegraph. Sie las sie alle, was bis halb elf dauerte. »Es steht nie irgendwas Interessantes drin.« Ich schlug ihr vor, sie solle in Zukunft vielleicht nur noch eine Zeitung kaufen, aber ich merkte, dass sie in diesem Stadium nicht mehr geneigt war, noch ihre Gewohnheiten zu ändern oder ihre Erwartungen an das Leben.
(»Wie sind die Zeitungen, Anita?« »Enttäuschend.«)
Nachdem sie gegangen war, fühlte ich mich erschöpft – von dem Wunsch, ihr alles recht zu machen. Als Carmen nach Hause kam, musste sie sich erst mal hinlegen. Doch Anita freute sich unverdrossen auf die Spectator-Party am selben Abend – wo sie schätzungsweise wieder ihre vollen zwanzig Minuten absolvieren würde.
Obwohl sie mir danach fehlte – sie lehnte es ab, noch einmal aus dem Haus zu gehen – und ich mir Sorgen um sie machte, machte ich mir doch weniger Sorgen um sie als um andere in einer ähnlichen Situation. Ich war ganz sicher, dass ihr Stoizismus und ihre mentale Stärke ihr hindurchhelfen würden. Ich nahm nicht an, dass sie Angst vor dem nahenden Tod hatte; sie hatte die Welt so umfassend verstanden, dass dazu auch das Verstehen des Todes gehörte, und ich hatte das Gefühl, dass dieses Wort sie nicht aus der Ruhe bringen konnte. Ich weiß zwar nicht, ob es wirklich so war; aber ich bin mir ziemlich sicher.
Für meine Freunde in jenem Sommer
1Im Alter von vierzig Jahren wurde Dr. Weiss klar, dass die Literatur ihr Leben ruiniert hatte.
Überlegt und akademisch gebildet, wie sie war, schrieb sie das ihrer misslungenen moralischen Erziehung zu, die ihr mittels der widerstreitenden, aber in diesem einen Fall doch einig handelnden Parteien ihrer Mutter und ihres Vaters nahelegte, die Laufbahn von Anna Karenina und Emma Bovary in Erwägung zu ziehen, dann aber der von David Copperfield und Klein-Dorrit nacheiferte.
Doch in Wirklichkeit hatte es viel früher angefangen, als sie nämlich in einem nicht genau zu bestimmenden Moment ihrer frühesten Kindheit verzückt eingeschlafen war, während das Kindermädchen ihr die Worte zuhauchte: »Aschenputtel wird auf den Ball gehen.«
Aus diesem Ball war nie etwas geworden. Dafür war die Literatur jetzt ihr Handwerkszeug, wenn Handwerk denn eine passende Beschreibung war für den Austausch, der drei Mal wöchentlich in ihrem hübschen Seminarzimmer stattfand, wo Studenten, die kühner waren, als sie es jemals zu sein gewagt hatte, schmerzlich die Stirn runzelten, wenn man sie bat, über einen Schriftsteller nachzudenken, der weniger entfremdet war als Camus. Sie waren groß und schön, blickten mit klaren Augen in die Welt, und in ihren Stimmen hörte man das Selbstvertrauen. Ihre Übersetzungen jedoch waren phantasielos und übervorsichtig.
Dr. Weiss, die Männer bevorzugte, war eine Expertin für Frauen. Frauen in den Romanen Balzacs war der Titel der Arbeit, die wahrscheinlich bis zum Rest ihres Lebens Bestand haben würde. Ein Band war bereits veröffentlicht und mit diskretem Lob aufgenommen worden. Ihr Verleger hatte das Interesse an den zwei noch ausstehenden Bänden verloren, weil er sich um seine eigenen Probleme kümmern musste. Dr. Weiss lud ihn alle sechs Monate zum Essen ein und umriss die nächsten Kapitel, aber er reagierte nur verhalten. Beide wünschten, sie würde sich nicht zu diesen Treffen verpflichtet fühlen. Das Buch würde auf jeden Fall fertig gestellt, veröffentlicht und halbwegs anerkennend besprochen werden.
Dr. Weiss gab den Büchern auch die Schuld an ihrem Aussehen. Sie bemühte sich instinktiv um eine leicht altmodische Erscheinung. Ihr schönes langes, rotes Haar, das einzige ihrer Attribute, das etwas Undiszipliniertes hatte, wurde in einen klassischen Chignon gepresst, der dringend nötig war, um dem Flachrelief ihrer Gesichtszüge abzuhelfen. Ihr Körper war schmal und zartgliedrig, und schon mancher hatte ihn anziehend gefunden. Ein leichtes Zögern in ihrem Gang, das ihr ein jungfräuliches Flair verlieh, war in Wahrheit das Erbe einer Meningitis-Erkrankung, für die sie sich hatte krankschreiben lassen müssen – zum ersten und, so nahm sie es sich vor, auch zum letzten Mal in ihrem Berufsleben. Ihre Erscheinung und ihr Charakter passten genau in die Mitte zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert: Sie war übergenau, leidenschaftlich, nachdenklich und neigte zur Selbstanalyse, doch ihre Kollegen fanden sie einfach nur übergenau, nahmen ihre Akkuratesse beifällig auf und hielten ihren abwesenden, leicht verhärmten Gesichtsausdruck für das Abbild einer schwierigen Passage bei Balzac. Tatsächlich war sie extrem in ihren Erwartungen, und obwohl diese Erwartungen nie erfüllt worden waren, hatte sie nichts dazugelernt. Wenn das Leben mal wieder besonders unangenehm war, wünschte sie sich, sie könnte die Zeit zurückdrehen und noch einmal zu den schönsten Worten einschlafen, die ein kleines Mädchen nur hören konnte: »Aschenputtel wird auf den Ball gehen.«
Aber sie arbeitete an Eugénie Grandet, und Balzacs grässlich akkurate Analyse von Eugénies unschuldiger, hoffnungsloser Liebe bereitete ihr Unbehagen, wie immer. »Je ne suis pas assez belle pour lui.« Warum hatte ihr Kindermädchen ihr nicht eine Übersetzung von Eugénie Grandet vorlesen können? Ihr ganzes Leben hätte anders aussehen können. Denn moralische Stärke war ziemlich irrelevant im Leben, wie Dr. Weiss sehr wohl wusste, ihren Studenten aber nie erzählte. Es war besser oder zumindest einfacher, einnehmend zu sein. Und attraktiv. Manchmal hatte Dr. Weiss das Gefühl, dass ihre Besessenheit von Balzac darauf zurückzuführen war, dass er ihr dieses Wissen zu spät enthüllt hatte. Sie trauerte um Eugénie, und das war die einzige Trauer, die sie sich gestattete. Sie lauerte jenseits der auferlegten Grenzen, bedrohlich, aufdringlich, subversiv. Da lud sie lieber Ned zum Dinner ein und legte ihm ihre Theorien bezüglich Eugénies Verhältnis zu ihren Eltern dar, denen sie immer noch die Schuld daran gab, dass ihr Liebhaber sie verlassen hatte. Sie war im Unrecht, das wusste sie. Denn hatte Balzac selbst nicht die richtige Erklärung geliefert? »Aussi, se dit-elle en se mirant, sans savoir encore ce qu’était l’amour. ›Je suis trop laide, il ne fera pas attention à moi.‹«
Es ist nicht nötig, in einer akademischen Institution sein Innenleben zu verbergen. Mörder, große Kriminelle, wären idealerweise Professoren: jede Menge Zeit, den Coup zu planen, und keine neugierigen Fragen oder forschenden Blicke, nachdem die Tat geschehen ist. Dr. Weiss’ Kollegen standen ihrer Vergangenheit vollkommen gleichgültig gegenüber. Gelegentlich lud man sie ein, bei einem Kaffee einen Anfall stillen Amüsements mitzuerleben, ausgelöst durch einen Artikel in der History Today oder der Modern Language Review, aber da sie wusste, dass es ein Soloauftritt zu werden versprach, lehnte sie normalerweise dankend ab und murmelte, sie werde sich den Artikel später ansehen, auch wenn sie ihn längst gelesen hatte. Auf diese Art wurden akademische Ängste beschwichtigt. Nur Tom, der Pförtner, der jeden Morgen mit seinen meteorologischen Informationen herausgeschossen kam, schien mit der Außenwelt und dem Klima in Kontakt zu kommen. Sekretärinnen, denen die Schmeicheleien eines höherrangigen Dozenten den Kopf verdreht hatten, schwebten vorbei und schlugen die Lider nieder wie Meerjungfrauen, Bibliothekarinnen schrieben meistens einen Bericht über die letzte Konferenz, und die Studenten waren redselig und desinteressiert. Dr. Weiss’ blasses Gesicht löste bei niemandem irgendwelche Spekulationen aus.
Und doch hatte auch sie großen Schrecken und große Gefühle gekannt. Sie war geliebt worden, vor allem von einem führenden Philologen an der Sorbonne, aber das war nicht ihre Geschichte. Ihr Abenteuer, das ihr Leben in Literatur verwandeln sollte, war nicht der Stoff, aus dem der Tratsch gemacht wird. Es war tatsächlich der literarische Stoff selbst. Und seltsamerweise hatte Dr. Weiss noch nie jemanden kennengelernt, weder Mann noch Frau, weder Freunde noch Kollegen, die Literatur ertragen konnten, wenn sie ihnen nicht auf einer Buchseite begegnete. Die endlosen Geschichten, die vertraute Menschen einander erzählen, sind trivial, banal, auch wenn sie von Geheimnissen handeln. Wer hatte die Zeit, sich eine Erzählung anzuhören, die in einer anderen Dimension komponiert sein mochte? So kam es Dr. Weiss vor, die an manchen Abenden schweigend zusah, wie sich die Abenddämmerung in ihrem kleinen Wohnzimmer sammelte. Dann stützte sie den Kopf auf die Hand und dachte zurück an das Stück, in dem man ihr eine so anspruchsvolle Rolle zugewiesen hatte.
2Sie hatte sich selbst als blasses, adrettes Kind in Erinnerung, mit außergewöhnlichem Haar, das ihr Kopfschmerzen machte. Die meisten Dinge kosteten sie große Mühe. Noch heute konnte sie sich erinnern, wie sie mit unelegant vorgeschobener Zungenspitze und angestrengt schnaufend versuchte, ihre Tasse genau in die Aussparung auf der Untertasse zu stellen. Ihr Kindermädchen war geduldig, aber energisch gewesen, man erwartete von ihr, dass sie so schnell groß wurde, wie sie es im Rahmen ihrer Möglichkeiten bewerkstelligen konnte, und zu diesem Zweck gab man ihr traurige, aber lehrreiche Bücher an die Hand. Von den Gebrüdern Grimm und Hans Christian Andersen schritt sie weiter zu den Werken von Charles Dickens. Das moralische Universum wurde enthüllt. Denn die Tugend würde immer triumphieren, und Geduld würde immer belohnt werden. Sie brannte so sehr darauf, sich diesem Streben nach oben, zum Licht anzuschließen, dass ihr kaum auffiel, dass ihr Zuhause denen ähnelte, die ihr in den Büchern begegneten: ein oberflächlicher Lack von Amüsement über dem abgrundtiefen Brunnen der Enttäuschung.
Schuld an diesen Verhältnissen war die Natur ihrer Eltern und ihrer Großmutter, und die bedauerliche europäische Vergangenheit ihrer Großmutter, die ihren Vater George (eigentlich Georg) Weiss ständig umschwebte, wo er sich doch so verzweifelt um britische Lässigkeit bemühte. Mrs. Weiss senior trug Schwarz, schlief nachmittags, führte die Oberaufsicht über die Küche, kochte zu schwere Gerichte und missbilligte ihre Schwiegertochter. Missbilligen? Hassen traf es eher. Aber sie hätte jeden gehasst, der Ansprüche auf ihren Sohn erhob und ihre Oberhoheit an sich reißen wollte. Die arme lebhafte Helen nahm sich das nicht allzu sehr zu Herzen; sie war Schauspielerin, brillierte in Rollen als Wildfang, für die sie mit ihrem kurzen roten Haar und ihrem hinreißenden Lächeln prädestiniert war. Sie hasste Kochen, nahm nie zu und fand es wunderbar, dass die häuslichen Angelegenheiten ihres Mannes und der Tagesablauf ihrer Tochter von jemand anders geplant und beaufsichtigt wurden.
Mrs. Weiss hatte aus Berlin unglaublich klobige Möbelstücke aus dunklem Holz mitgebracht, die aussahen wie in Pferdeblut getränkt. Kleiderschränke mit massiven Türen und abgesetzten Leisten schienen Heerscharen zwergenhafter Renaissance-condottieri zu beherbergen. Auf Sideboards im Louis-XIII-Stil, dunkel angelaufen und verwinkelt, mit Brüchen und Schnörkeln in ihren dumpf brütenden Silhouetten, standen Tafelaufsätze, silberne Tortenplatten, Vorspeisenteller, während sich im Schrankteil darunter Saucieren, Servierplatten und Sektkühler stapelten. Es gab eine extra Mangel für die Tischwäsche, und die Messer und Gabeln lagen in mit grünem Filz ausgeschlagenen Schubladen in wuchtigen Anrichten. Der Esstisch war immer halb gedeckt, obwohl die Mitglieder des Haushalts eher getrennt aßen. Mrs. Weiss hätte es gefallen, den Vorsitz über ein Zimmer voller Söhne mit ihren Gattinnen zu führen, aber wegen der heruntergekommenen und provisorischen Umstände ihres verpflanzten Lebens war sie nun gezwungen, erst mit George zu frühstücken, um dann das Mittagessen mit Kind und Kindermädchen einzunehmen, ebenso wie das Abendessen. Wenn Helen arbeitete, kam sie spät nach Hause, und George nahm dann einen kleinen Imbiss mit ihr ein, was sich immer ein bisschen verboten anfühlte und von Gekicher begleitet war. George vergötterte seine englische Frau, sie hatte den Reiz einer fremden Spezies. Einer verbotenen obendrein, denn er hatte sie gegen den Willen seiner Mutter geheiratet.
Dem Kind schien es, als müssten Esszimmer grundsätzlich dunkel sein, als wären sie durchtränkt mit einem Gifthauch aus Sauce und Tränen. Es stellte sich überall im ganzen Land schweigende Großmütter vor, lila Velourstapeten, Ölgemälde von stürmischen Ozeanen, schwere Mahlzeiten, die im Eiltempo eingenommen wurden. Samtvorhänge, das Damasttuch nur halb über den Tisch gebreitet, die verschlungene Belagerungsarchitektur der Stuhlbeine und Querstreben. Und dazu ein fröhliches, englisches Kindermädchen, durch nichts zu beeindrucken als durch gutes Essen. Die trübselige Atmosphäre bei den Mahlzeiten setzte das Kind als allgemein üblich voraus, als hätten die säuerlichen Aromen von Buttermilch, Roggenbrot, Kümmel und Gurken etwas Büßerhaftes. Sie war nach ihrer Großmutter benannt worden – Ruth. Sie verstanden sich gut, beide gleichermaßen schweigsam, grüblerisch, besessen von ihren nicht anwesenden Familien, die eine real, die andere zwischen den Buchdeckeln desselben unendlichen Buches. Das Kindermädchen schien dabei fremd, eine Betreuerin, eine Dienstbotin. Wenn ihr die Großmutter in diesem Esszimmer ein Mohnbrötchen mit Butter bestrich, lernte das Kind enorm viel über Verantwortung. Nach der Mahlzeit, wenn ihre Großmutter auf einem kleinen Samtsessel beim Fenster schlief, akzeptierte das Kind Stille als natürlichen Zustand. Sie mochte andere Kinder nicht, weil sie so ungehemmt Lärm machten.
Während das Esszimmer ihrer Großmutter gehörte, war der Salon Helens Reich. Er war hell und fröhlich und frivol, und es stand ein Klavier darin und jede Menge Fotos in silbernen Rahmen und Kristallvasen mit nicht mehr ganz frischen Blumen, und am Boden lag ein weißer Teppich. Es sah genauso aus wie das Set für eine von Helens erfolgreicheren Komödienrollen, und sie benutzte es als eine Verlängerung ihres Ankleidezimmers. Wenn Helen keinen Auftritt hatte, kamen Freundinnen vorbei, und dann tranken sie Tee und knabberten Kekse und rauchten. Eine Tante von Georges Seite der Familie hatte eine ganze Menge zartes Porzellan gesammelt, das in den Schränken stand und nie benutzt wurde, weil Helen sich aus solchen Dingen nichts machte und lieber die Tassen aus der Küche benutzte. Ihre Freunde stammten aus der Zeit vor ihrer Heirat, es waren Schauspielerinnen oder Sängerinnen, ziemlich laut, gutmütig und kräftig geschminkt. »Arme Helen«, sagten sie zueinander, wenn sie wieder gingen. »Kannst du dir vorstellen, mit dieser Schwiegermutter das Haus zu teilen? Natürlich ist George schon ein ganz besonders Süßer, aber ein bisschen langweilig ist er doch. Und das Kind scheint ja auch nicht der Schlauesten eins zu sein.« Aber Helen schien es nichts auszumachen. Sie war immer noch schön und erfolgreich, ihre schmalen Wangen und die Linie ihres Kiefers von ihrem fortschreitenden Alter unangetastet, und sie interessierte sich nur für das Leben in der Gegenwart. Ihre Zimmer wirkten irgendwie weniger substanziell als die der Großmutter. Attraktiver zwar, aber weniger sicher. Das Kind hatte das Gefühl, als könnten die Freundinnen jeden Moment versuchen, ihre Mutter aus der fremden Atmosphäre zu retten, in die sie da gefallen war, und sie wieder mitnehmen ins West End, zu einer gemeinsamen Vergangenheit aus Tourneezimmern und späten Abendessen. Sie hatten sich die ihrem Berufsstand eigene Mädchenhaftigkeit bewahrt, und sie waren temperamentvoll und launisch und bezaubernd.
Es waltete eine ganze Menge Charme in diesem Haus, und zwar nicht nur der von Helen, sondern auch von George beziehungsweise Georg. Als Georg aß George morgens brav zwei weiche Eier unter den Blicken seiner Mutter, zog sich dann in sein Ankleidezimmer zurück und kam als George wieder heraus, schick und vergnügt, ein bisschen dandyhaft sogar, und marschierte in die Mount Street, wo er mit seltenen Büchern handelte.
Dieser Beruf ließ ihm sehr viel Freizeit, und da er ein geselliges Gemüt hatte, kam er häufig zu den Proben seiner Frau, oder er tauchte mit frischem Zigarettenvorrat oder einer Einladung zum Mittagessen im Theater auf. Wenn Helen wenig substanziell war, dann war es George trotz seiner soliden Erscheinung noch weniger. Oder vielleicht war er einfach schwer zugänglich. Trotz seines lockeren Lächelns, der schicken Tweedanzüge und des dicken Goldrings besaß George im Gegensatz zu den weiblichen Familienmitgliedern weder Zimmer noch Attribute. Sein Geschäft, das das Kind einmal besucht hatte, war nicht einmal ein richtiges Geschäft. George war leutselig, von Natur aus, aber auch von Berufs wegen. Er war ein guter Sohn und zärtlicher Vater, aber trotz dieser bewundernswerten Gefühle, die seine Mutter zu schätzen wusste, war er leidenschaftlich in seine Frau verliebt. Dennoch war er ihr nicht treu. Er hatte eine Assistentin, eine Miss Moss, mit der er die Abende verbrachte, bis es Zeit wurde, seine Frau vom Theater abzuholen. Miss Moss gestand er, dass er unglücklich war, vage und unbestimmt unglücklich, ein Mann mit unerfüllten Plänen, die er fast schon vergessen hatte. Um Miss Moss zu gefallen, tat er sogar so, als würde er die Treue seiner Frau in Zweifel ziehen. Miss Moss, die ihm abends auch gerne einen Happen kochte, nahm ihn ernst und machte sich dadurch unschätzbar wertvoll für ihn. Georges Unglück rührte hauptsächlich daher, dass er die meiste Zeit zuhören musste. Dabei bereitete ihm das Reden großes Vergnügen. Miss Moss verstand das, sie war auch eine große Leserin und wusste, dass es vielleicht irgendetwas in Georges Vergangenheit gab, was eine gewisse Unsicherheit in ihm hinterlassen hatte. Wenn George gegen halb elf ging, spülte sie ab, räumte ihre kleine Wohnung auf und ging mit einem Roman ins Bett. George nahm seine erträgliche Melancholie (denn sie war durchaus echt) erfrischt mit zur Bühnentür. Für seine Frau musste er immer lächeln. Und das tat er auch. Er setzte sich rittlings auf einen Stuhl, scherzte mit den anderen Schauspielern, ganz der fröhliche, herzliche Versorger. Er ermöglichte es Helen, ihr hinreißendes Selbst zu verwirklichen. Wenn sie sich kindischer und frecher gab, schlüpfte er ebenfalls in seine Rolle, half ihr auf die Sprünge, wenn ihr ein Name nicht einfiel, gab ihr Feuer, nahm ihre Hand und küsste sie, ohne jemals ihre Suada zu unterbrechen, die unablässig weiterplätscherte, bis der aufregendere Teil des Abends verebbt war und George mit ihr nach Hause ging.