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Verlag Das Neue Berlin – eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-50157-8

ISBN Buch 978-3-360-01342-2

1. Auflage 2018

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Was denken politisch Engagierte, Parteilose und Parteifunktionäre, was neutrale Beobachter und Zeitgenossen über die linke Sammlungsbewegung »aufstehen«? Ist sie nötig oder überflüssig? Ist sie eine Kopf- oder gar eine Totgeburt? Bislang gibt es mehr Fragen als Antworten. Was in Erfahrung zu bringen war, hat der Autor aufgeschrieben und daraus seine Schlüsse gezogen. Er bietet hier den ersten fundierten Überblick nach der Gründung der Bewegung.

Über den Autor

Rainer Balcerowiak, geboren 1955 in Berlin (West), studierte Popularmusik in Hamburg und arbeitete als Musiker und Musikpädagoge, bevor er 1998 hauptberuflich zum Journalismus wechselte. Nach langjähriger Redakteurstätigkeit bei der Tageszeitung »junge Welt« ist er seit 2012 freiberuflich tätig und veröffentlicht unter anderem in taz, cicero, MieterEcho, Neues Deutschland. Vom ihm erschienen »Faktencheck Flüchtlingskrise« und »Die Heuchelei von der Reform«. Balcerowiak lebt und arbeitet in Berlin.

Rainer Balcerowiak

AUFSTEHEN

UND WOHIN GEHTS?

Das Neue Berlin

Inhalt

RUNTER VOM SOFA

START MIT PAUKEN UND TROMPETEN

WER STEHT HINTER DER SAMMLUNGSBEWEGUNG »AUFSTEHEN«?

GIBT ES ÜBERHAUPT EIN »LINKES REFORMLAGER«?

DER FALL KEVIN KÜHNERT

DIE SPD KONNTE AUCH MAL ANDERS – DIE ÄRA BRANDT

NOSTALGIE HILFT NICHT WEITER

SAMMLUNGSBEWEGUNG – EIN ALTER HUT?

HARTZ IV ALS WENDEPUNKT

LINKE SPD WILL SELBER SAMMELN. EIN GESPRÄCH MIT CANSEL KIZILTEPE

VON KOSMOPOLITEN UND KOMMUNITARISTEN

ISLAM, INTEGRATION, HEIMAT – ALLES VERMINTES GELÄNDE

ALLES »RECHTE DISKURSE«?

MIGRATION BLEIBT ZANKAPFEL

EIN GEWERKSCHAFTER VERSUCHT DEN BRÜCKENSCHLAG

BERLIN: EINIGELN GEGEN »AUFSTEHEN«

EIN BEZIRKSVORSITZENDER ALS »EXOT«

RECHTE PARTEIEN AUF DEM VORMARSCH

DIE LINKSPOPULISTEN

Syriza als Hoffnungsträger

Spanien: Realos und Fundis

Jean-Luc Mélenchon – Frankreichs linker Volkstribun

Großbritannien: Der Kampf um die Labour Party

»AUFSTEHEN« IM EUROPÄISCHEN KONTEXT

DEUTSCHE BESONDERHEITEN

POPULISMUS? JA BITTE!

»DANN HABEN WIR VERLOREN!« EIN GESPRÄCH MIT SAHRA WAGENKNECHT

FAZIT UND AUSBLICK

Wir erleben Wut und Protest auf deutschen Straßen, hin- und herfliegende Empörungsfetzen, Hass und Gewaltausbrüche. Wir erleben Dauerempörung, eine sozialmoralische Rage, mit der Gruppen regelrecht gegeneinander in den Kulturkampf ziehen. […] Es ist die schiere Überflutung, das tägliche Feuerwerk von Beschimpfungen und Beleidigungen, das die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen zusehends verschwimmen lässt, und das moralische Immunsystem überlastet und zersetzt. Die Kommunikationsexplosion im Netz bedeutet jedenfalls nicht nur mehr Kommunikation – was an sich ja zu begrüßen ist –, sondern vor allem lauter, schriller. Und so ist, online und offline, die Wirklichkeit dieser Tage viel zu oft: Deutschland spricht nicht, Deutschland brüllt.

Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident, 23. September 2018

Man muss was tun. So kann es nicht weitergehen. Ich habe mich eingeschrieben.

Andreas Schmidt-Schaller, Schauspieler

RUNTER VOM SOFA

Ein Gespenst geht um in Europa. Doch es nicht der von Karl Marx beschriebene Aufzug des Kommunismus, sondern der Versuch, aus den Ruinen der europäischen Linken so etwas wie eine neue Sozialdemokratie auferstehen zu lassen. Was sich in Großbritannien als Machtübernahme des linken Flügels innerhalb der alten Labour Party entwickelt hat, manifestiert sich in Frankreich, Spanien und Deutschland in Gestalt neuer linkspopulistischer Bewegungen.

Einige Parallelen sind augenfällig. Mit Pablo Iglesias, Jeremy Corbyn, Jean-Luc Mélenchon und Sahra Wagenknecht stehen charismatische Persönlichkeiten an der Spitze dieser neuen Bewegungen, die weit über ihre jeweiligen politischen Lager hinausgehende Popularitätswerte verzeichnen. Einig ist man sich ferner in der Analyse, dass die traditionellen sozialdemokratischen Parteien ihre früheren programmatischen Grundsätze verraten und sich dem Neoliberalismus zugewandt haben. Das heißt, sie haben sich von den »einfachen Leuten«, deren Interessenvertreter sie ursprünglich waren, abgewandt. Damit leisteten und leisten sie einerseits der allgemeinen Politikverdrossenheit Vorschub und andererseits mehrten sie Zweifel am Funktionieren der bürgerlichen Demokratie, wodurch rechtspopulistische Bewegungen, die angeblich Lösungen für die gesellschaftliche Krise bieten, erstarkten und erstarken.

Allerdings weist die maßgeblich von Wagenknecht repräsentierte Bewegung »aufstehen. DIE SAMMLUNGSBEWEGUNG« Besonderheiten auf.

Sie will als starke gesellschaftliche Opposition in drei Parteien (SPD, Grüne und Die Linke), die vermeintlich ein »linkes Lagers« bildeten, hineinwirken. Ein solches »Lager« existiert in Großbritannien und Frankreich nicht. (Und es muss gefragt werden, ob es in Deutschland ein solches »linkes Lager« überhaupt gibt.)

Von ihren Gegnern wird die neue linke Sammlungsbewegung »aufstehen« häufig zur Kopf- oder Totgeburt erklärt. Das ist gewiss eine Fehleinschätzung, denn die Initiative bewegt sich in einem politischen Umfeld, das ihre Gründung nahezu zwingend erscheinen lässt. »aufstehen« nimmt objektiv eine Massenstimmung auf.

Laut einer vom Magazin Focus im August 2018 in Auftrag gegebenen Umfrage stimmten 58 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass es in der deutschen Gesellschaft »eher ungerecht« zugehe. In Ostdeutschland waren es sogar 66 Prozent. 34 Prozent der Befragten konnten sich vorstellen, ein neues Linksbündnis zu wählen, falls dieses als Partei antreten würde. Unter den Anhängern der Linkspartei waren es 87 Prozent, bei den Grünen 53 Prozent und bei den SPD-Anhängern 37 Prozent.

Auch 29 Prozent der AfD-Anhänger bezeichneten sich als potenzielle Wähler einer derartigen Gruppierung. In Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt waren es 46 Prozent.

Bekanntlich sagen Umfragen nur wenig aus über ein tatsächliches Kräfteverhältnis in der Gesellschaft, folglich auch nur bedingt etwas zu den Wahlchancen einer neuen politischen Kraft. Sie sind allerdings ein Indikator, der die Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik anzeigt. Diese Politik wird nicht nur als unsozial, sondern vor allem als bürgerfern und unfähig zu wirklicher Veränderung empfunden. Die Neuauflage der gar nicht mehr so Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD hat zu dieser Stimmungslage erheblich beigetragen.

Verschärft wird die Situation durch die Etablierung einer rechtspopulistischen, in Teilen offen rassistischen, nationalistischen und in Teilen faschistischen Partei im Bundestag sowie in den Landtagen. Diese »Alternative für Deutschland« (AfD) ist Ausdruck einer beachtlichen gesellschaftlichen Strömung. Der AfD ist es offensichtlich gelungen, die allgemeine Unzufriedenheit insbesondere über die Migrationspolitik aufzugreifen und zu bündeln. Es gelang ihr, diese Stimmung in erstaunliche Wahlerfolge umzumünzen.

Die AfD, daran soll erinnert werden, war am 6. Februar 2013 in Oberursel im Taunus von 18 unzufriedenen älteren Männern – 14 aus dem Westen, vier aus dem Osten – gegründet worden. Eine klassische Kopfgeburt. Sie einte die Wut auf den Euro und die Griechenland-Politik der Bundesregierung. Die meisten Meckerer kamen aus der Finanzbranche oder waren Wirtschaftswissenschaftler wie Prof. Bernd Lucke. Ein ehemaliger dpa-Journalist, dann Kulturredakteur der FAZ und schließlich Chefkorrespondent der Welt bis 2007 – als Rentner in Oberursel lebend – hatte die Zusammenkunft im Auftrag von Lucke organisiert. Dieser Konrad Adam ist einer von vier Gründern, die heute noch in der »Partei der Professoren und Proleten« (Konrad Adam über die AfD) sind. Vermutlich hadert er mit ihr, weil der Mittsiebziger nie ein Amt bekam, in das er drängte. Deshalb sagte er vor der Wahl 2017, dass mehr als die Hälfte der AfD-Politiker, die sich um ein Bundestagsmandat bewarben, nur »an Bimbes interessiert« seien, sie »spekulieren auf Geld und Stellen und sonst nichts«.

Die etablierten Parteien hatten und haben dieser Partei, die keine sechs Jahre alt ist, wenig Wirksames entgegenzusetzen. Das gilt auch für das seit Jahren beschworene »linke Lager«. Neben den bereits genannten drei Parteien zählen dazu ihnen traditionell nahestehende Institutionen wie Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbände, Mieterorganisationen und bürgerschaftliche Initiativen. Eine daraus in der letzten Legislatur konstruierte »rot-rot-grüne Machtoption« (r2g) erwies sich als Truggebilde, das auf Arithmetik und nicht auf tragfähiger politischer Basis fußte. Denn jenseits einiger programmatischer Schnittmengen war und ist es die reale Politik, welche diese Parteien in Regierungsverantwortung auf den verschiedenen Ebenen betreiben, die sie zum Teil des gesellschaftlichen Problems und nicht der Lösung machen. Bei der Partei Die Linke kam und kommt hinzu, dass sich offenkundig eine Mehrheit inklusive des geschäftsführenden Parteivorstandes auf eine Position zur Migrationsfrage und weitere postmoderne Politikansätze versteift hat, die mit der Lebensrealität der meisten Menschen im Kernklientel dieser Partei außerhalb der urbanen Mittelschichten wenig bis gar nichts zu tun haben.

Mittlerweile ist auch die rechnerische Mehrheit, über die ein »rot-rot-grünes« Bündnis in der vergangenen Legislaturperiode im Bundestag zeitweise verfügte, endgültig dahin. Diese Machtoption auf Bundesebene ist passee. Es muss stattdessen ein deutlicher Rechtsruck im Wahlverhalten konstatiert werden, nebst einer SPD, die nahezu willenlos in den Abgrund taumelt und überhaupt nicht mehr als eigenständige politische Kraft wahrnehmbar ist, geschweige denn als möglicher Partner in einem »linken Lager«.

Die Idee einer neuen linken Sammlungsbewegung lag somit seit einiger Zeit in der Luft. Sahra Wagenknecht, die in ihrer Partei heftig und häufig angefeindete Ko-Vorsitzende der Fraktion der LINKEN im Bundestag, hat sie aufgenommen und kurz nach der Bundestagswahl im September 2017 in die politische Debatte eingebracht. Die Protagonisten der Sammlungsbewegung sehen die große Lücke, die von der Agenda 2010-SPD, den in ökoliberaler Beliebigkeit schwelgenden Grünen und nicht zuletzt von den postmodernen »No Border«-Linken im Spektrum der Bundesrepublik geschaffen wurde. Sie sehen eine historische Chance, diese Lücke zu füllen. Und zwar mit einem verblüffend einfachen Konzept: klassische sozialdemokratische Reformpolitik als kleinster gemeinsamer Nenner.

Im Zentrum stehen sozialpolitische Themen wie gut bezahlte reguläre Beschäftigung, Sicherheit vor Alters- und Kinderarmut, umfassende soziale Wohnraumversorgung, menschenwürdige Pflege, bessere Bildungschancen für alle, Steuergerechtigkeit und eine Friedenspolitik, die diesen Namen auch verdient. Hinzu kommen aber auch Themen außerhalb des klassischen sozialdemokratischen Kanons wie Digitalisierung, Ökologie und Tierschutz. Dem verbreiteten Vorwurf, »aufstehen« biedere sich auch bei Rassisten an, nimmt man mit eindeutigen Bekenntnissen zum Asylrecht und zur Integration von Flüchtlingen den Wind aus den Segeln. Man scheut sich dabei nicht, oftmals als »Teil des rechten Diskurses« gemiedene Themenfelder wie innere Sicherheit, Heimatverbundenheit und Verteidigung nationalstaatlicher Souveränität zu besetzen.

Dass eine derartige Orientierung keineswegs »veraltet« ist, wurde schon im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 deutlich. Bereits wenige Andeutungen des frisch gekürten sozialdemokratischen Spitzenkandidaten und Parteivorsitzenden Martin Schulz über einen Politikwechsel hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit reichten im Februar 2017 aus, die SPD binnen Monatsfrist in den Umfragen von 23 auf 32 Prozent zu katapultieren. Doch da Schulz allmählich wieder auf den »Konsens der politischen Mitte« einschwenkte, stürzte die Partei ab und bewegt sich inzwischen deutlich unter 20 Prozent. Das hält die Parteiführung nicht davon ab, so weiterzumachen wie bisher.

Dass das Projekt einer neuen linken Sammlungsbewegung neben viel Zustimmung auch auf schroffe Ablehnung oder gar nacktes Entsetzen stößt, verwundert kaum. »aufstehen« trifft ins Mark der Parteien des »linken Lagers« und stellt deren Monopol auf die gesellschaftliche und politische Vertretung von irgendwie links gesinnten Bürgern massiv in Frage. Nicht wenige der großen und kleinen Funktions- und Mandatsträger dieser Parteien empfinden das auch als unmittelbare Bedrohung ihres eigenen Arbeitsplatzes. Das Rauschen im Blätterwald ist beträchtlich. Denn der Überbau der Gesellschaft ist konservativ und fürchtet Veränderung. Und wie die Politiker verstehen viele Journalisten nicht, dass ihnen die Gefolgschaft verweigert wird und ein übles Wort reanimiert wurde, das besonders gern die Nazis benutzten, um die antifaschistischen Medien vor 1933 zu diffamieren: »Lügenpresse«. Jetzt signalisierte dieses stigmatisierte Wort jedoch den Verlust an Glaubwürdigkeit. Man wählte es 2015 zum »Unwort des Jahres«.

Noch bevor die Sammlungsbewegung »aufstehen« ins Leben trat, sorgte sie also für reichlich Erregung. Offiziell wurde die Bewegung am 4. September 2018 mit einem kollektiven Auftritt im Haus der Bundespressekonferenz aus der Taufe gehoben. Das mediale Interesse war groß, die Nachricht schaffte es auf die Titelseiten der meisten Zeitungen und selbstredend auch in die »Tagesschau«. Im Vorfeld hatte es lediglich einige öffentliche Stellungnahmen ihrer Protagonisten und eine professionelle Internetpräsenz nebst intensiver Kontaktpflege mit Unterstützern in den sozialen Medien gegeben. Seit jenem Tag liegen programmatische Eckpunkte vor, wurden ein »prominenter Unterstützerkreis« und einige Festlegungen zu Struktur und Arbeitsweise der Bewegung bekanntgegeben.

Inhaltliche Auseinandersetzungen innerhalb dieser Bewegung sind in der Frage der Migrationspolitik zu erwarten. Doch die entscheidende Klippe dürfte über kurz oder lang die Frage der Wählbarkeit sein. Nichts spricht derzeit dafür, dass die von Wagenknecht und Unterstützern ausgegebene Marschrichtung, die bestehenden Parteien des linken Lagers durch gesellschaftlichen Druck auf einen anderen Kurs zu treiben, Erfolg haben könnte. Derzeit nimmt niemand das P-Wort in den Mund, doch die Gründung einer neuen linken Volkspartei könnte die unausweichliche Konsequenz sein, wenn man nicht riskieren will, die zahlreichen Anhänger von »aufstehen« enttäuscht oder auch wütend im politischen Niemandsland stehen zu lassen.

Für die spätestens seit dem Beginn der »Ära Merkel« 2005 zunehmend retardierte politische Kultur in Deutschland kann das alles nur positiv sein. Die Karten werden neu gemischt, die Lager könnten sich neu sortieren und eine bürgerlich-konservative und eine linke Volkspartei als politische Zentren könnten den – gerne erbitterten – Streit über die richtige Politik für Deutschland führen.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg mit vielen Gabelungen, Unwägbarkeiten und Hindernissen.

Diese Bewegung ist eine Kampfansage an die herrschende »Politik der Mitte«.

Bernd Stegemann, Dramaturg

START MIT PAUKEN UND TROMPETEN

Was sich am 4. September in der Bundespressekonferenz unweit des Deutschen Bundestages abspielte, besaß alle Kennzeichen eines politischen Großereignisses. Dort, wo sich sonst Angela Merkel, ihre Sprecher und Minister, führende Oppositionspolitiker und Spitzenvertreter der etablierten großen Verbände den Fragen der akkreditierten Journalisten stellen, verkündeten Sahra Wagenknecht, Flensburgs SPD-Oberbürgermeisterin Simone Lange und Ex-Grünenpolitiker Ludger Volmer die offizielle Gründung einer neuen linken Sammlungsbewegung mit dem Namen »aufstehen«. Fernsehteams aus mehreren Ländern und zahlreiche Journalisten der schreibenden Zunft drängelten sich im proppenvollen Saal. Wem dieses Privileg nicht zuteil wurde, der konnte das rund zweistündige Spektakel bei einer Live-Übertragung des öffentlich-rechtlichen TV-Senders Phoenix verfolgen.

Die Spannung war enorm, denn trotz intensiver Medienpräsenz waren bis zu jenem Tag weder die programmatischen Leitlinien noch der angekündigte Kreis der »prominenten Unterstützer« bekannt, stattdessen gab es jede Menge Spekulationen und Fake News.

Bei dem Gründungsaufruf handele es sich nicht um ein vorgefertigtes Programm, dieses solle vielmehr mit den Anhängern der Bewegung gemeinsam erarbeitet werden, betonte Wagenknecht bei dessen Vorstellung. Es gehe um die »grundsätzliche Gesinnung« der neuen Bewegung.

Dennoch machte der Aufruf deutlich, wofür diese Bewegung im Wesentlichen steht. Nämlich für eine Kampfansage an die herrschende »Politik der Mitte« – so der Dramaturg Bernd Stegemann, einer der Initiatoren. In der »Mitte« hätten sich CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne, wenngleich mit verteilten Rollen, aber im Prinzip kaum unterscheidbar, als eine einzige große Blockpartei formiert. Stegemann meinte, dort würde Politik als eine Art »Gefühlsanästhesie« veranstaltet.

In der Präambel des Aufrufs heißt es: »Es geht nicht fair zu. Nicht in unserem Land, nicht in Europa und auch nicht auf der großen Bühne der Weltpolitik. Profit triumphiert über Gemeinwohl, Gewalt über Völkerrecht, Geld über Demokratie, Verschleiß über umweltbewusstes Wirtschaften. Wo nur noch Werte zählen, die sich an der Börse handeln lassen, bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. Dagegen stehen wir auf: für Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt, für Frieden und Abrüstung, für die Wahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.«

Es folgt eine kurze, prägnante Beschreibung der Zustände. »Seit der Sozialstaat keine ausreichende Sicherheit mehr gibt, kämpfen viele für sich allein. Wer seinen Job verliert oder durch längere Krankheit ausfällt, ist schnell ganz unten. Hartz IV enteignet Lebensleistung, egal, wie lange jemand gearbeitet und in die Sozialkassen eingezahlt hat. Im öffentlichen Bereich wird gekürzt und privatisiert. Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Wasser, Bahnverkehr, Schwimmbäder … – mit allem wird heute Profit gemacht. Besonders dramatisch sind die Veränderungen am Wohnungsmarkt, seit nicht mehr Städte und Gemeinden, sondern renditeorientierte Investoren den Takt angeben. Menschen mit normalen Einkommen, vor allem Alleinerziehende und Familien mit Kindern, können sich Wohnungen in den Innenbezirken großer Städte kaum noch leisten.

[…] Die Zerstörung des sozialen Zusammenhalts, wachsende Unzufriedenheit und empfundene Ohnmacht schaffen einen Nährboden für Hass und Intoleranz. Auch wenn der Hauptgrund für Zukunftsängste die Krise des Sozialstaats und globale Instabilitäten und Gefahren sind: Die Entwicklung der Migration hat zu zusätzlicher Verunsicherung geführt. Übergriffe auf Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Religion häufen sich. Wir lehnen jede Art von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass ab. Gerade deshalb halten wir die Art und Weise, wie die Regierung Merkel mit den Herausforderungen der Zuwanderung umgeht, für unverantwortlich. Bis heute werden Städte, Gemeinden und ehrenamtliche Helfer weitgehend allein gelassen. Viele bereits zuvor vorhandene Probleme wie der Mangel an Sozialwohnungen, überforderte Schulen oder fehlende Kita-Plätze haben sich weiter verschärft. Am Ende leiden vor allem die ohnehin Benachteiligten.«

Viel konkreter hingegen wurde man in der Frage der Migrationspolitik, was im Vorfeld der Gründung zu hitzigen Debatten bis hin zum Vorwurf des »Rassismus« und der »AfD-Nähe« gesorgt hatte, nicht. Ludger Volmer, ehemaliger Vorsitzender der Grünen und für diese Partei von 1998 und 2002 als Staatsminister im Auswärtigen Amt tätig, skizzierte den Rahmen, in dem sich diese Debatte in der Sammlungsbewegung abspielen sollte. Tabu sei jegliche Form von ethnischer und religiöser Ausgrenzung – aber auch die Forderung nach »offenen Grenzen« und einem unbegrenzten Niederlassungsrecht für alle Menschen in Deutschland. Denn dieses Verlangen liefe auf eine Abschaffung des Nationalstaats hinaus, zu dem es mangels supranationaler Regulierungsinstitutionen (»Weltregierung«) derzeit keine vernünftige Alternative gebe.