Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.
Lektorat: Katja Schurter
© Querverlag GmbH, Berlin 2018
Erste Auflage September 2018
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Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Vorlage von Katharina Zimmerhackl.
ISBN 978-3-89656-652-2
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„Was würdest du tun, wenn ein Wunder geschähe und wir kämen morgen früh hier raus und könnten ganz neu anfangen? Keine Strafanzeigen und niemand wäre hinter uns her?“
„Na, ich glaube … ich würde alles anders machen. Vor allem würde ich nicht im selben Bundesstaat leben, wo wir den Job machen. Wir würden in einem anderen Staat leben. Wir würden dort ehrliche Leute bleiben, und wenn wir eine Bank hochnehmen, machen wir das im anderen Staat.“
Bonnie und Clyde (1967)
Das Erste, woran ich mich deutlich erinnere, ist: Wir fahren übers Meer, Vater, Mutter und ich; Vater hebt mich über die Reling des transatlantischen Segelschiffs, in den scharfen Wind hinaus, ich sehe unendliche Flächen Blau, die sich kräuseln, und feine Wassertröpfchen springen mir ins Gesicht; während Mutter unten in der Kabine liegt und kotzt. Der Wind bauscht die Segel, kraftvoll gleitet das Schiff durchs Wasser, der große Ozean schäumt und zischt, und groß und feierlich sind auch Vaters Worte, er sagt: Wir fahren in die Freiheit, Anne.
Ich freue mich, ich bin noch keine vier Jahre alt, und mir gefällt dieses Wort: Freiheit, es steckt zwei Mal ei darin, wie die Spiegeleier, die es zu Hause, das jetzt Alte Welt heißt, manchmal gegeben hat. Dorthin werden wir nie wieder gehen, sagt Vater, und wieder zittert sein Schnauzbart in heiligem Ernst.
Dann kommt Mutter herauf, um frische Luft zu schnappen, bleich und ein wenig grün im Gesicht; und Vater stellt mich auf meine zwei Füße zurück und nimmt sie beim Arm.
So kamen wir in Amerika an, und hier beginnt meine Geschichte.
Jetzt, im Herbst des Jahres 1721, sitze ich wieder auf gepackten Truhen; und eines der Dinge, die ich verwahren muss für eine lange Reise, ist meine Geschichte.
Wahrscheinlich ist es nicht die Zeit, Geschichten zu erzählen, jetzt, da alles westwärts drängt; auch bin ich kein Geschichtenerzähler wie John Reckham oder mein Freund Snaterbek. Und doch will ich erzählen. Ich will sie stückchenweise verpacken, meine Geschichte, sie in Papier und Stofflappen hüllen, dass sie mir nicht kaputt und verloren geht unterwegs.
Denn meine Eltern sind tot, desgleichen mein Kapitän und meine Geliebte; mein Ehemann, steht zu hoffen, auch. Ich habe kein Land, in das ich gehören würde: weder die südlichen Kolonien noch Irland, und schon gar nicht die Bahama-Inseln. Einen Gott, der Anspruch auf meine unsterbliche Seele erhebt, habe ich nur in brenzligen Augenblicken. Also muss ich selbst mir meine Geschichte erzählen. Ich muss mir die Wörter gefügig machen, wie Calico es konnte, wenn er großartige Panoramen von Wasserschlachten entwarf und jeder Zuhörer glaubte, die blutgefärbte See mit eigenen Augen zu sehen.
Meine Vergangenheit ist tot: Anne Bonnie gibt es nur noch in Teilen, ebenso wie Anne Brennan, Anne Cormac und den Seemann Bonnie, der ich einmal war. Ich habe mir ein Kleid mit engem Kragen und feste Schuhe angezogen, um Anne Burleigh zu werden, eine ehrbare Pioniersfrau, die auszieht, den Westen des nordamerikanischen Kontinents urbar zu machen.
Aber noch bin ich nicht diese Anne Burleigh; noch laufe ich durch Pfarrer Burleighs Haus und sortiere seine Haushaltswaren und seine Bücher, sein bisschen weißes Zeug und alles andere, was mit muss ins große Abenteuer. Selber habe ich keine Sachen zu sortieren. Ich besitze nichts, was sich zu transportieren lohnte; ich bin frei – gottlos und vogelfrei. Ich reise besitzlos gen Westen, nackt wie der erste Mensch, und das Einzige, was ich einzupacken habe, ist diese Geschichte.
Sie beginnt in Charles Town in der königlich-britischen Kolonie Carolina, wo mein Vater, William Cormac, nach unserer Ankunft etwas Land kaufte – eine kleine Stadt, eher ein großes Dorf, das sich von den Dörfern zu Hause am auffälligsten dadurch unterschied, dass es trotz der frühen Jahreszeit außerordentlich heiß war. Das Klima, in das wir geraten waren, war mild und seenah wie das irische, es ging eine salzige Brise, aber die schwarze Erde, über die die Kutsche mit all unseren Gepäckstücken rollte, dampfte vor Feuchtigkeit und Wärme. Ansonsten gab es wenig Aufregendes in Charles Town, das von Engländern, Iren, Deutschen und einem Häuflein Hugenotten besiedelt war: Häuser, Hunde, Pferdewagen, barfüßige Kinder, die sich in den Gassen herumdrückten, einen Hafen; und als höchsten Punkt das weiße Holzkreuz überm Dorfplatz, das nach unten hin in eine kleine Kirche mündete. Ich war, meinem geringen Alter zum Trotz, enttäuscht nach all der glitzernden Verheißung, die Vater allabendlich über mich ausgestreut hatte, wenn von der Neuen Welt die Rede gewesen war.
Im Laden, wohin man mich mitnahm, steckten, sobald wir den Mund aufgetan hatten, zwei Damen die Köpfe zusammen und sagten: Mein Gott, schon wieder Iren. Sie sagten es weniger über meine Mutter, die zart und aschblond war und Dolores hieß wie eine Engländerin oder Spanierin; sondern über meinen Vater, der vierschrötig und schwarzhaarig und mit einer Donnerstimme gesegnet war wie ich.
Cormac, der die Iren nie geliebt hatte, verkündete, seinen Sohn und Erben Charles zu nennen – zu Ehren dieses englischen Königs, des Stadtvaters von Charles Town, der seine besten Männer ausgesandt hatte, der übervölkerten Alten Welt die fruchtbare amerikanische Wildnis zum Geschenk zu machen. Die Iren von Charles Town schüttelten die Köpfe über Cormac, den Quertreiber; die englischen Familien ignorierten den verrückten Iren und blieben wie seit jeher unter sich. Und so kam es, dass niemand meine Familie besonders mochte, weder die Iren noch die Engländer; von den paar Deutschen, die abseits auf ihren Rübenfeldern wühlten, ganz abgesehen.
Leider gebar Dolores meinem Vater keinen Charles; er hatte nur mich, ein Mädchen. Und so gern er mich damals hatte und obwohl ich kein Bastard mehr war, sondern eine legitime Tochter und Erbin: Es wurmte ihn. Noch viel später hörte ich ihn regelmäßig fluchen, dass seine Zeugungskraft, die ihn in Irland Kopf und Kragen gekostet hatte, ihn in Amerika so schmählich im Stich ließ.
Und ich blieb allein, wie ich es gewohnt war.
Vorerst aber hatte Cormac wenig, was er einem Sohn hätte vererben können. Den Großteil seiner Besitztümer hatte er in Irland verloren. Er, der in Kinsale in der beschaulichen Grafschaft Cork ein geachteter Rechtsgelehrter gewesen war und daneben vor allem Schafe besessen hatte, sah keine Wahl, womit er in Amerika unser täglich Brot verdienen müsste. Er widmete sich der gängigen Anbaupflanze der südlichen Kolonien – oder, wie Mutter, die stets sehr einfache Worte fand, sagte: Er machte in Baumwolle.
Baumwolle – ich musste lachen, als Vater zum ersten Mal davon sprach: Ich stellte mir Wollknäuel vor, die von hohen Ästen hingen. Im Grunde war ich nicht sehr verwundert, dass Vaters neues Geschäft mit solch sonderbaren Dingen zu tun haben sollte, befanden wir uns doch in der Neuen Welt, wo die Dinge anders waren als zuvor, wo manches eben auf dem Kopf stand.
Unser neues Haus war anfangs nur eine große Holzhütte, die Vater zusammengezimmert hatte; später verwandelte sie sich in ein richtiges Haus, ein schmuckes zweistöckiges, in dem Mutter eifrig kochte, nähte, putzte; es war sogar ein bisschen zu groß für uns drei.
Hinter dem Haus lag ein Garten, wo Mutter Gemüse zog, ich fand ihn bald eng und langweilig; und dahinter kamen Plantagen, die gingen weit, weit. Auf diesen Feldern wuchs die Baumwolle, die uns Wohlstand bescheren sollte. Das Land um Charles Town herum war nicht sonderlich geeignet für Baumwolle, doch Cormac, der bereits beschlossen hatte, dass die Baumwolle uns reich machen würde und nichts anderes, verbrachte einen guten Teil der nächsten Jahre damit herauszufinden, wie sich die verdammte Schwarzerde am besten austrocknen ließe.
Wie alle Baumwollfarmer in Carolina besaßen wir eine Handvoll Arbeiter, halb unsichtbare, dunkle Leute, die die hüfthohen Pflanzen beschnitten und, wenn es an der Zeit war, die weißen Bällchen pflückten. Fünf oder sechs waren es, jedenfalls so wenige, dass sie sich in der Weite der Plantagen verloren und man dort für gewöhnlich keinen Menschen antraf, sondern meilenweit nichts als das Gestrüpp der Baumwollpflanzen und schwarze Erde. Und wenn Vaters Felder zu Ende waren, fingen die der Nachbarn an, die ebenfalls Baumwolle züchteten, Plantage folgte auf Plantage, bis zum Horizont und darüber hinaus.
Manchmal lief ich zwischen den Pflanzungen auf und ab, weil ich nicht begreifen konnte, dass sie kein Ende hatten, dass kein Zaun kam, kein Wald, nur irgendwann ein kleiner Fluss. Ich lief und lief, bis ich ganz außer Atem war und die Sonne mir in den Hinterkopf stach, ohne dass je ein Ende gekommen wäre.
Drüben in der Alten Welt hatten wir auf einem Hof gewohnt, der rechts und links von anderen Höfen begrenzt wurde. Rechts war eine hohe Mauer, eine etwas unheimliche, an der dunkler Efeu rankte; links befand sich ein Tor zum Nachbarhof, ein Durchgangstor, das nicht mehr benutzt wurde; ich habe seine Flügel nie geöffnet gesehen. Aber es musste dort Menschen geben – eine Familie wie meine, stellte ich mir vor, mit einem Knecht und Mägden, einem Vater-Herrn und seiner Frau. Manchmal hörte ich Stimmen, die sich unterhielten, auch Kinderstimmen, oder es schnüffelte im Spalt zwischen Pflaster und Hoftor eine schwarze Hundeschnauze hin und her. Aber nie sah ich die Menschen, die dort drüben wohnten, ich glaubte wohl, sie lebten in einer anderen Welt.
Dabei war das Tor, das mich von dieser Welt trennte, alt und löchrig, nachmittags fiel zwischen die einzelnen Bretter hindurch Licht und zeichnete schmale Streifen quer über unseren schattigen Hof. Drückte ich mein Gesicht gegen das trockene Holz, war verschwommen Grünes zu sehen, Apfelbäume, glaube ich, und auch der Abstand zwischen Hoftor und Pflaster war so breit, dass ich bequem hätte drunter gucken können, wenn ich mich hingehockt hätte, aber das traute ich mich nicht, auch wegen der Hundeschnauze. Ich sah ein, dass am Hoftor die Welt zu Ende wäre und mich die Dinge drüben nichts angingen.
Umso erstaunter war ich, als eines Tags, als ich allein auf dem Hof saß und mit Murmeln spielte, ein Gesicht aus der anderen Welt herüberkam und mich anschaute. Es war ein Mädchengesicht, braun mit strohgelben Zöpfen und so schmutzig, wie ich noch nie ein Kind gesehen hatte. Ich starrte zurück, und das fremde Mädchen schob seinen ganzen Körper unterm Hoftor durch, stand auf und kam zu mir herüber. Es war viel größer als ich, schmal, mit wunden Knien und Ellenbogen: halb grindig und halb rosa verheilt. Auch seine Kleider waren verdreckt, als wäre das Mädchen unter die Räuber gefallen. Es kam zu mir und nahm mir meine Murmeln aus der Hand, um damit zu spielen.
Schöne Murmeln waren es, richtige Glaskugeln, die Vater mir gerade erst geschenkt hatte, sie nahmen das Sonnenlicht in sich auf, färbten es hellrot, blau oder purpurn und spiegelten es wider, als käme es aus ihnen selbst. Sie beleuchteten die Hände des fremden Mädchens, das sie zu einem Glasgebilde aufschichtete: einem Gebilde aus fünf Schichten immer kleiner werdender Vierecke. Ich staunte es nur immer an, dies Mädchen, das neben mir kniete, selbstverständlich wie die Hofkatzen, die sich in der Sonne aalten, und es war sonderbar schön, ihm zuzusehen. Feine Schauer liefen über meine Haut, es war, als löste ich mich langsam auf; ich bestand nur noch aus Augen und aus Frieden. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte das Mädchen immer weiter mit meinen Murmeln spielen können.
Das ging so ein Weilchen, dann hörte ich die Frau kommen, vielleicht war es auch Mutter, die mich hereinrufen wollte. Das Mädchen horchte, dann sprang es auf, trat dabei gegen das Murmelgebilde, dass die Kugeln in alle Richtungen davonrollten, und kroch unter das Tor hindurch zurück in seine Welt. Als Mutter bei mir angekommen war, saß ich allein im Hof und putzte meine Glasmurmeln, die ganz staubig geworden waren. Mutter glaubte mir nicht, dass von drüben ein Kind gekommen sein sollte.
Einige Male kam das Mädchen wieder, ab und zu sprachen wir auch miteinander, wenn es sich meine Murmeln nahm oder meine Lumpenpuppe oder meine Holztiere. Aber immer verschwand es, wenn einer der Erwachsenen sich näherte. Jedes Mal erzählte ich Mutter davon, beteuerte, dass es dieses Mädchen wirklich gab, aber Mutter glaubte mir nicht recht. Sie kannte alle Kinder im Ort und wollte immer wissen, wie das Mädchen mit dem schmutzigen Gesicht denn heiße, aber das wusste ich nicht.
Heute bin ich – natürlich – versucht zu erzählen, dass dies erste Mädchen, das ich kannte, Mary geheißen hat.
Aber eine ordentliche Geschichte – so habe ich es von Vater, meinem Lehrer Nathan und von Kapitän Calico gelernt – springt nicht von da nach dort, je nachdem, was dem Geschichtenerzähler gerade einfällt. Eine ordentliche Geschichte hat einen Anfang und ein Ende, und zwischen diesen beiden Ereignissen fließt ein Flüsschen, dem jedermann folgen kann, der möchte. Dies Flüsschen mag Inseln, seichte Stellen und Nebenarme aufweisen, dennoch fließt es in eine bestimmte Richtung und mündet an einer nur ihm bestimmten Stelle ins Meer. Daran muss ich mich halten, sonst komme ich am Ende ganz woanders heraus und nicht im Jahr 1721 in Charles Town über meinen gefüllten Truhen, als Anne, die Überlebende. Diesen Ausgang der Dinge will ich nicht in Kauf nehmen.
Von nun an erzähle ich also der Reihe nach, wie es sich gehört.
Eine ordentliche Geschichte kann gut eine Vorgeschichte gebrauchen, und meine Vorgeschichte spielt in der Grafschaft Cork in Irland. Sie beginnt einige Zeit vor meiner Geburt mit Vater, Mutter und drei Silberlöffeln.
Im grünen, kühlen, katholischen Irland hatten überhaupt die Dinge ganz anders gelegen. Vater und Mutter waren nicht verheiratet; und ich war nicht Vaters Tochter, sondern die einer seiner Dienstmägde. Vater selbst spazierte sonntags über seine Wiesen und Weiden, ein richtiger Herr mit Spazierstock und glänzend polierten Stiefeln, und ließ sich von den Schafhirten und Knechten grüßen, die über ihrem Feiertagsbier saßen.
Auch eine Herrin gab es in Irland, die ich hätte Herrin nennen müssen, hätte sie jemals zu mir gesprochen; ich kannte sie als die Frau, wie alle anderen Bediensteten. Sie war eine Riesin wie Vater – kein zartes Geschöpf wie meine Mutter – und trug eine mächtige Haube, die anzeigte, wie reich und vornehm sie war, und immer war sie rot im Gesicht, als stünde sie unter übergroßem Innendruck und drohte zu zerplatzen. Sie litt unter der Melancholie, was sie nötigte, zur Kur ans Wasser zu fahren: an die Keltische See oder in die Normandie. Dort saß sie dann auf einem stillen Anwesen, aß feurige Gewürze, steckte die Zehen in kaltes Meerwasser und schrieb meinem Vater schwermütige Briefe.
Sie fürchtete, dass ihm nicht zu trauen wäre. Sie war einige Jahre älter als er; ihre Familie, die Killigrews, war reich und ein einflussreicher Clan gewesen und sie selbst daher eine gute Partie. Vielleicht liebte sie Cormac aus Gründen, die mit ihrer Trauer und Weltferne zu tun haben mochten.
Auch Dolores Brennan, ihrer Magd, traute sie nicht für fünf Pennys. Wer weiß, ob sie beobachtet hatte, wie ihres Mannes Blicke dem neuen Mädchen folgten, das stets frohgemut herumlief, ein wenig zum Lamentieren geneigt, im Ganzen nicht besonders klug … Und so steckte sie eines finsteren Novembermorgens, bevor sie zu einer medizinischen Kapazität nach Cork City aufbrach, Dolores drei silberne Löffel aus dem Familienbesitz der Cormacs ins Bett. Natürlich hätte einer ausgereicht, aber Madame Cormac besaß einen Sinn für große Gesten. Als sie, nach Kinsale zurückgekehrt, auf Zehenspitzen in die Mägdekammer schlich, fand sie ihre Löffel unberührt zwischen jungfräulichen Laken; womit bewiesen war, dass Dolores die zwei Nächte ihrer Abwesenheit nicht in ihrem eigenen Bett zugebracht hatte, sondern in demjenigen des Hausherrn.
Madame Cormac, eine wohlerzogene Dame der oberen Schicht, bewahrte Haltung und schwieg, bewahrte auch Haltung, als sich die Dienstmädchengeschichte als längerfristig herausstellte, als sie zunächst vermutet hatte. Sie zuckte nicht zusammen, wenn sie, zum Fenster hinaussehend, ihren Eheherrn mit der lächelnden Dolores am Arm die grünen Hügel hinauf und hinab spazieren sah. Sie verzog keine Miene, als sich ganz Kinsale darüber das Maul zerriss, welchen Narren William Cormac an seiner Magd gefressen hatte. Sie hielt sich sogar noch zurück, als die Affäre in ihrem Haus Früchte trug: mich, Anne Brennan, geboren im süßesten Sommer des Jahres 1700.
Wenn ich versuche, mich an Madame Cormac zu erinnern, sehe ich eine düstere Gestalt still und allein in einem der Gesellschaftsräume sitzen, die ich nicht betreten durfte. Ihrer aufrechten Haltung zum Trotz war sie nicht unähnlich den Großmüttern, die an Markttagen zusammen in einer Ecke hockten, große Krähen in schwarzen Witwenkleidern; unbehelligt und unbeachtet vom Trubel ringsum hockten sie, unter sich, selbst schon halb Vergangenheit. Denselben Eindruck verströmte Madame Cormac: abgelebt und von allen guten Geistern verlassen mit ihren vierzig Jahren. Meine Existenz muss ihr, der Kinderlosen, Freudlosen, ein Gräuel gewesen sein. Ich hatte Angst vor ihr, und sie faszinierte mich. Ich war zwei, drei Jahre alt und träumte, die Frau käme nachts in Mutters und meine Kammer und schlachtete mich mit Vaters Degen, der gegenüber der zweiflügligen Eingangstür an der Wand hing.
Aber ich hatte meine Eltern, die mich schützten. Meine Mutter, das Dienstmädchen, nahm ihr Kind an, fraglos, klaglos, wie eine Tiermutter ihr Junges; wie sie vorher hingenommen hatte, dass der Herr sie in sein Schlafzimmer gebeten hatte. Den Erzählungen meines Vaters nach müssen wir einen schönen Anblick geboten haben: meine liebliche blonde Mutter, an der Brust mich, einen stattlichen Säugling mit dunklem Haarflaum.
Manchmal, an besonders schönen Tagen, summte Dolores mir die Liedchen ihrer Kindheit vor. Noch viel später erinnerte ich mich an eines, in dem immer wieder von Brot und von Rosen die Rede war, Dingen, die ich bald kannte und die doch, wenn Mutter davon sang, wie tiefe Geheimnisse klangen, unendlich ersehnenswerte Dinge.
Mein Vater war vernarrt in uns beide. Was mich betrifft, so kann ich verstehen, dass dem gesetzten Mittdreißiger, der Cormac damals war, sein erstes Kind eine Herzensfreude war, eine gewisse Erfüllung vielleicht. Zwar handelte es sich um ein Mädchen, doch um ein kräftiges, lebhaftes, dem er allerhand Gescheitheit zutraute. Er erklärte mir die Namen der Menschen und der Dinge – irische Namen, die ich vergessen habe über die Jahre. Sobald ich laufen konnte, ging er mit mir herum und zeigte mir alle Räume des Hauses, die Weiden, die Ställe, die Schafe und die Straße, die nach Cork City führte, in die große Stadt. Ich lief Cormac hinterher wie ein Entenküken, und jedes Wort, das ich ihm wiederholte, brachte ihn zum Lachen und überzeugte ihn mehr von meinem hellen Kopf.
Was ihn an meiner Mutter fesselte, habe ich nie ganz verstanden. Sie war jung und recht hübsch, zugegebenermaßen, aber ist das Grund genug, Haus und Hof in Unordnung zu stürzen – für einen Menschen, der nichts weiß und nichts versteht? Seit mir mein Vater die Geschichte meiner Eltern zum ersten Mal erzählt hat, komme ich nicht umhin, das leidvolle Unverständnis der armen Madame Cormac zu teilen. Meine Mutter ist mir immer vorgekommen wie ein Schäflein auf der Weide, das auf sich nimmt, was ihm geschieht, und darüber doch eine stetige Unruhe empfindet, die es sich nicht erklären kann. Dolores Brennan erfüllte ihre Pflichten, aber nichts schien ihr etwas zu bedeuten, an nichts lag ihr etwas, am allerwenigsten an mir; ab und zu kam ein kleines Lachen von ihrer Seite, ohne jede Ursache, das mir fern und fremd blieb. Mein Vater aber betete es an, dies leise verwunderte Mäh.
So vergingen meine ersten Jahre, und es hätte noch eine Zeitlang so weitergehen können, wäre nicht Jahrmarkt gewesen in Kinsale. Cormac, der zuweilen in leutselige Stimmung geriet, führte Dolores dorthin aus, und sie kamen an einer Schießbude vorbei, an der sich die jungen Liebhaber drängten. Ein guter Schütze, schoss er meiner Mutter einen Sommerhut, geflochten aus grobem Stroh und mit wippenden roten Stoffblüten daran, und überreichte ihn ihr mit tiefer Verbeugung. Und Dolores Brennan stolzierte mit dem hoffärtigen Hut über den Jahrmarkt von Kinsale, an der Hand ihr Kind, das seinerseits den unverkennbaren schwarzen Haarwust der Cormacs auf dem Kopf trug.
Die Kunde davon drang rasch in Madame Cormacs stille Gemächer, und diese Demütigung war sie, die schon so viel ertragen hatte, nicht mehr gewillt zu tragen.
Das Städtchen Kinsale besaß einen zweiten Advokaten, der bei Gericht gewöhnlich Vaters Widersacher war. Zu dem lief Madame Cormac, in den Händen drei Silberlöffel, und erhob ein solches Geschrei, dass dieser, ein alter Herr, der keine lauten Worte vertrug, in aller Eile eine Gerichtssitzung anordnete. Zwei Wochen später war die Ehe William Cormacs, der sich öffentlich zu seiner Geliebten und zu seinem Bastard bekannt hatte, in aller Form für nichtig erklärt und er selbst im gesamten Westen Corks unmöglich geworden. Mehr als die Hälfte seines Reichtums ging in Madame Cormacs – nun wieder Miss Killigrews – persönlichen Besitz zurück, die sofort nach der Verkündigung des Urteils an die See fuhr, um ihr verdunkeltes Gemüt aufzuhellen.
Aber auch mein Vater hegte Reisepläne. Er überredete einen schwärmerischen jungen Priester, den Bund mit Dolores zu legitimieren, wandelte den Rest seiner Ländereien in Geld um, kaufte drei Plätze auf einem Überseeschiff, zwei Erwachsene, ein Kind, und fuhr mit uns nach Amerika, der Freiheit entgegen.
Im Laufe der Jahre wuchsen die Plantagen. Vater war fleißig, ein findiger Geschäftsmann war er auch, und so erfolgreich wie einst als Rechtsgelehrter wurde er jetzt als Baumwollfarmer – nur, dass es ihn mehr Kraft kostete.
Unsere Plantagen waren am dichtesten bewachsen und trugen die gesündesten Pflanzen von allen. Und sie waren riesig und wurden immer riesiger; viel zu groß für uns drei, dachte ich oft; und schließlich saugten sie meinen Vater in sich auf. Jeden Morgen verschwand er in den Feldern, überwachte Entwässerung oder Ernte, prüfte die Güte der Pflanzen, suchte sie auf Fäulnis und Ungeziefer ab; mittags ging er in die Stadt und erkundigte sich nach Samenpreisen und Angeboten, die er aus England für das fertige Produkt bekam. Pünktlich zum Abendbrot ritt er zurück, um anschließend einen zweiten Rundgang zu tun; und wenn ihn die Plantagen spätabends endlich freigaben, war er wieder ein bisschen weniger mein Vater, wie ich ihn gekannt hatte.
Die Zeiten sind härter, sagte Cormac, mit seinem neuen Baumwollgesicht, das eine angestrengte Maske ohne jede Bewegung war, der ich kein Lächeln, keinen Übermut mehr entlocken konnte. Er, der in Kinsale behaglichen und geselligen Wohlstand gekannt hatte, den Pfaden seiner Väter folgend, lebte in Amerika nur für die Plantagen; der Wind der Freiheit blies ihm ins Gesicht, und Vater verstand es, ihn in seinen Mühlen einzufangen, wenn auch der Preis dafür hoch war: Es verstärkte sich seine Neigung zum Jähzorn und zum Schnaps. Doch die Plantagen wuchsen, und Vater konnte hohe Beträge in seinen Geschäftsbüchern verzeichnen. Bald war er reicher, als er jemals zuvor ein Cormac gewesen war.
Ein Teil des Preises – ein Verlust, mit dem sich mein neureicher Vater abzufinden hatte – war ich. Nämlich fiel Cormac nun in aller Deutlichkeit auf, dass sein Kind nicht männlich war: kein Stammhalter und Erbe, den er mit hinaus auf die Felder nehmen würde, den er das kaufmännische Wissen lehren könnte, das er sich so hart erarbeitet hatte. Es kam nur auf die Heirat an, die ich bewerkstelligen würde zum Wohl unseres Besitzes. Meine Mitgift, die Cormac’sche Baumwollwirtschaft, würde einmal stattlich sein.
Es ließ sich nicht ändern: Mein Vater verschwand und ließ nichts von sich zurück als endlose Reihen störrischen Gestrüpps mit weißen Bällchen daran. Vor der Überfahrt war ich sein Liebling gewesen, seine Hauptsache. Jetzt sah ich ihn kaum noch, nur mehr abends in der Stube bei Mutter, wo er mit aufgeschlagener Zeitung ins Kaminfeuer starrte, seine Tabellen durchging und ihr bei ihrer Handarbeit Gesellschaft leistete, bis er einnickte. Diese Feierabendstunde schien ihm eine Art Frieden zu geben: Die Baumwollmaske fiel von seinem Gesicht, er wurde ruhig und schläfrig, sobald er neben Dolores saß, die mit leeren Augen auf ihre Stricknadeln niedersah, Masche um Masche aneinanderreihend.
Ich selbst war – wie Mutter schon früh hatte feststellen müssen – für Handarbeiten zu ungeschickt. Trotzdem legte sie mir oft genug Strickzeug hin oder einen Stickrahmen: weil es nun einmal nicht anging, dass die Tochter des Hauses weder sticken noch stricken noch nähen konnte. Dann dirigierte sie mit magerem Erfolg meine zwei linken Hände, denen es bestenfalls gelang, ein Loch in Vaters dicken grauen Wollsocken zu stopfen. Ich schwitzte und fluchte unter Mutters Joch und floh bei der ersten Gelegenheit.
Manchmal geschah es, dass während dieser Dressurstunden Cormac von einem kurzen Schläfchen aufsah und sich jäh zu mir drehte, scharfen und unerbittlichen Blicks mein haustöchterliches Tun verfolgend. Er mochte an meinen zukünftigen Mann denken, wenn er zusah, wie meine untauglichen Finger unter seinen Augen zu zittern begannen und alles verdarben. Dann wies er mich zurecht: Nun nimm dich zusammen, das bisschen Sticken kann so schwer nicht sein!
Glücklicherweise war er zu müde und zu unwillig, um sich eingehend mit meinen mangelhaften Fertigkeiten auseinanderzusetzen. Bald glitten seine Augen wieder hinüber zum prasselnden Kaminfeuer, und stirnrunzelnd wandte sich mein Vater von mir ab.
Die Einförmigkeit meiner Tage vergrößerte sich noch. Ich zählte sieben Jahre, acht, neun, und strolchte den lieben langen Tag herum, nur mit mir selbst und meinen Spielen beschäftigt.
Ich rannte durch die Baumwolle, mit angehaltener Luft, bis mir schwarz vor Augen wurde, und versteckte mich klopfenden Herzens vor allen Sorten Ungetümen und Gespenstern: vor der Mittagsfrau, von der Vater mir früher erzählt hatte, oder vor Gott, der sonntags manchmal umgehen mochte, um mich barfuß in den Feldern vorzufinden anstatt in der Kirche.
Unten am Flüsschen, verborgen im Schilf, fand ich eine kleine schlammige Landzunge; dort formte ich Höhlen und Häuschen aus feuchter Erde, ein Städtchen, das ich Neu-Kinsale nannte – viele Städtenamen kannte ich damals nicht. Für mein Städtchen, dessen Kleinheit und überschaubare Enge mich entzückten, bastelte ich eine Bevölkerung aus Baumwollzweigen, Holzstückchen und glänzenden Kastanienfrüchten. Diese Figuren waren für lange Zeit mein bevorzugtes Spielzeug. Ich gab ihnen Namen: Vater, Mutter, Frau, Magd, Kind, und tat ihnen Kleider aus Laub und Stofffetzen an. Die winzigen Hütten, in denen sie lebten, trennte ich mittels einer starken Mauer aus Steinen von den garstigen Baumwollwäldern ringsum.
Das Zusammenleben im Kinsale aus Schlamm war nicht einfach. Oft waren meine Leute sehr lieb zueinander, so sehr, dass der Großvater, um die Kinder zu retten, sich dem Krokodil zum Fraß vorwarf. Dann weinten alle und schworen, den Großvater nie zu vergessen, und der Vater kaufte dem kleinen Mädchen ein Pferd, auf dem es immer schnell wegreiten könnte, käme das Krokodil zurück. Das Pferd – eine verletzte Bisamratte, die ich gefunden hatte und gern behalten wollte – starb allerdings noch am selben Tag, nicht ohne mich vorher ordentlich in den Finger gebissen zu haben. Das Blut, das ich nun zur Verwendung hatte, kam dem großen Krieg zugute, der gleich darauf ausbrach. Alles zankte und raufte sich, bis die Kleider kaputt waren und Köpfe rollten. Der Vater warf die Mutter in den Sumpf, aber das Krokodil kam nicht, und so ging sie einfach unter. Zum Schluss war ich der Streitereien so überdrüssig, dass ich unten am Fluss – in aller Heimlichkeit – ein Feuerchen entzündete und die ganze Sippe verbrannte, den Vater, die Kinder und auch die Großmutter.
Die gläsernen Murmeln und all die andern hübschen Sachen aus Irland hatte ich längst verloren.
Nach dem bösen Ende, das es mit meiner Lehmfamilie genommen hatte, empfand ich wieder die überwältigende Langeweile, der ich ausgesetzt war. Die Langeweile dehnte sich durch diese Jahre: ein riesiges zahnloses Maul, das jeden einzelnen Tag verschlang und niemals satt wurde, da die Tage aus nichts als Leere bestanden. Oft vergaß ich nicht nur, welcher Wochentag es war, sondern auch, welche Tageszeit: weil die Zeit, die seit dem Aufstehen vergangen war, und die, die noch bis zum Abendbrot vergehen würde, mir gleichermaßen lang und kurz und dehnbar erschien. Auch ich selbst erschien mir dehnbar; einmal ganz gewaltig groß, riesengroß, dann wieder klein wie eine Ratte. Mitunter brach ich in Panik aus, weil ich überzeugt war, auf Insektengröße geschrumpft zu sein und nie mehr nach Hause zu finden. Einige Male auch war ich zerteilt in mehrere Annes, und die eine lief der andern durch die Felder hinterher, voll Grauen, was geschehen müsste, bekäme sie tatsächlich deren schwarze Zöpfe zu fassen.
Tagsüber, fern von meinen Eltern, nutzte ich den Stand der Sonne und die Höhe der Baumwollpflanzen, um mich zurechtzufinden. Trotzdem verlief ich mich oft. Ich fand nicht genügend verlässliche Koordinaten, um mich durch die Felder zu navigieren; zu einförmig war das Einerlei aus Baumwolle um mich herum.
Manchmal, an dösig warmen Tagen, lag ich bäuchlings auf der Erde, die Nase auf dem Boden, und stellte mir vor, tot und begraben zu sein. Ich stellte mir vor, wie Vater und Mutter weinend einige Fuß über mir auf der Erdoberfläche stünden und mir alle Leckereien und alles Spielzeug der Welt versprächen, wenn ich nur wieder hinaufkäme, aber ich wäre ja tot und alles zu spät, zu spät. Aber auch dieses Spiel langweilte mich schnell. Meist lag ich nach kurzer Zeit einfach nur da, ganz leer im Kopf und zu träge zum Aufstehen, und wartete, dass Käfer über meine nackten Arme und Beine kletterten, bis hinauf zum Hals und zum Gesäß; überaus gern mochte ich dies sachte Kribbeln, das mich ganz stillhalten ließ, es war die angenehmste Berührung, die ich mir denken konnte.
Mittags, oft auch erst abends, ging ich zurück. Wie eine Insel kam mir Cormacs Hof vor, wenn er am Horizont auftauchte: das breite dunkle Dach, das Wasch- und Schlachthaus, der Stall, in dem Vaters Pferd stand, und ringsum ein Meer von Plantagen, die, wenn der Wind sie bewegte, mich an die Wellen des Ozeans denken ließen, wie ich sie in Erinnerung hatte: bläulich grau und rauschend und unendlich verheißungsvoll.
Trocken und grau und braun und weiß gepunktet hingegen wogte das Baumwollmeer, das mich von allem abschnitt. Seine Bewohner, unsere Sklaven, waren außer Mutter und Vater die einzigen Menschen, die ich regelmäßig zu Gesicht bekam.
Aus den anfänglich vier Sklaven waren bald sechs geworden, dann neun, später fünfzehn; sie erhielten eine eigene Hütte inmitten der Plantagen, auf denen sie tagsüber arbeiteten. Männer wie Frauen waren sehr dünn, weil sie viel arbeiten mussten und kein gutes Essen bekamen. Waren die Zeiten schlecht, wurden sie noch dünner. In Afrika, woher sie kamen, wohnten gewiss nur schwarze und dünne Menschen mit ganz kurzen Haaren, malte ich mir aus.
Abends saßen sie im Kreis in der Nähe des Flusses, wo sie Feuer machen durften; ich sah dies Feuer von Weitem und hörte ihre Stimmen. Wenn ich sie auf den Feldern belauschte, sprachen sie nicht viel, und wenn doch, dann in einer Sprache, die ich so wenig verstand wie das Kauderwelsch der Franzosen von Charles Town. Auch was die Schwarzen auf Englisch sprachen, klang kurios und enthielt weniger Wörter als das Geplapper der kleinsten und dümmsten Dienstmagd aus Irland.
Den Vorarbeiter mochte ich vor allem, einen Langen, den mein Vater Artus rief. Er war so dünn, dass er wie ausgetrocknet aussah. Artus nannte mich, die Achtjährige, Miss Cormac, wenn ich ihm auf den Plantagen begegnete. Das beeindruckte mich: ein großer, erwachsener Mann, der Miss zu mir sagte und sich dazu verneigte! Es half nichts, dass Vater mir erklärte, die Schwarzen seien etwas weniger richtige Menschen als wir Iren. Die Miss war mir in den Kopf gestiegen, und manchmal hieß ich Artus und die andern Sklaven Verbeugungen machen oder mir die Zöpfe neu flechten, aus der bloßen Lust zu befehlen heraus. Sie befolgten meine Wünsche umstandslos, ohne viel Worte, und kehrten daraufhin zu ihren Pflanzen zurück, während ich mich totlachte. Bald aber war Schluss mit diesem Vergnügen: Vater wies die Sklaven an, mich zu übersehen und in ihrer Arbeit fortzufahren, wenn ich ihnen Befehle erteilte.
Von nun an sah Artus nicht mehr auf, wenn ich auf meinen Rundgängen an ihm vorbeikam. Ich bedauerte das und verlor die Lust daran, in der Nähe der Sklaven herumzuspazieren; und ich hatte verstanden, dass ich keine Herrin war, sondern nur die Tochter des Herrn.
Im nächsten Winter starben uns zwei Sklaven, die Vater nicht mehr rechtzeitig hatte verkaufen können; Artus war zum Glück nicht unter ihnen. Es waren zwei Frauen, eine ältere und eine junge, die beide Rosie genannt worden waren. Sie hatten nie mit mir geredet, aber häufig hatte ich sie bis zum Haus herüber singen hören: düstere Weisen im Takt ihrer Arbeit.
Sie wurden auf dem Sklavenfriedhof beigesetzt, der am Rande Charles Towns lag. Ich war Artus und den Andern gefolgt und beobachtete, dass die Sklaven auch während der Beerdigung sangen. So fromm und traurig waren ihre Lieder, dass ich zu weinen begann und nicht mehr aufhören konnte, auch nicht, als der Trauerzug langsam um die offenen Särge schritt. Ich war gekommen, weil ich noch nie tote Leute gesehen hatte. Jetzt sah ich nur sehr undeutlich die schwarzen Gesichter in den hellen Brettersärgen. Ich schämte mich und lief nach Hause, und als ich Vater von der Beerdigung erzählte, verbot er mir scharf, noch einmal auf den Sklavenfriedhof zu gehen.
Mutter zuliebe, die über Rückenschmerzen und allerlei andere Gebrechen klagte, wurde eine Köchin angeschafft, die ihr Handwerk ausgezeichnet verstand; dazu eine Magd, eine rothaarige Schleswigerin namens Kathrine, der Einfachheit halber Trine gerufen, die fleißig und ruhelos war wie meine Mutter und ebenso belanglos.
Die Baumwolle kostete Cormac nicht nur sein Herzenskind, sondern auch seinen Gott. Vater entschied, dass er hier, in Amerika, keinen Bedarf mehr hatte am irisch-katholischen Gott seiner Väter, und blieb folglich sonntags zu Hause; und eigensinnig, wie er war, erstreckte sich dieser Bruch auch auf Ostern und Weihnachten und alle übrigen heiligen Tage.
Charles Town besaß eine katholische Kirche für die Iren und eine puritanische für die Engländer und die meisten Deutschen. Wie überall in den Kolonien diente die puritanische Kirche, die eigentlich nur ein Gemeindehaus war, wochentags als Schule. In ganz Charles Town war es allein der puritanische Prediger, ein allseits geschätzter Mann namens Burleigh, der Stunden in Lesen, Geschichte und Rechnen abhielt, während sich zum Bibelunterricht die Klasse peinlich in Katholische und Gereinigte aufteilte.
brauchte keinen Menschen, darauf war ich stolz.
Trotzdem war ich natürlich zu jung, um alleine in den Gottesdienst zu gehen. Das, fand ich, musste auch Gott einsehen, sollte er mir zürnen ob meines Abfalls vom Glauben.
Aber Gott gab nicht leicht auf. Nachts suchte er mich heim und führte mir vor, wie Vater einst im Höllenfeuer braten würde und Mutter und ich dazu. Ich träumte, Christus und sein Vater, der Herr, kämen über mich, rissen mich aus meinem Bett und stürzten mich ins ewige Feuer. Der Abgrund tat sich auf und drohte mich zu verschlingen, himmelweite Flammen schlugen mir entgegen, um mich zu Asche zu verbrennen.
Als ganz kleines Kind, in der Kirche von Kinsale, hatte ich mir die Bilder vom Fegefeuer gut eingeprägt. Ich hatte gesehen: Finster und schwarz war es dort, höhlenartig, und von den Wänden troffen die geschmolzenen Leiber, von haarigen und stiergesichtigen Teufelsgehilfen in großen Kesseln gekocht, Suppen und Eintöpfe kochten sie aus bleichen Gliedern, die sich um Gnade flehend gen Himmel streckten, ganz vergeblich. – Ich wachte auf, bedeckt von Schweiß, überglücklich, dass ich noch am Leben war, und lag dann so starr wie möglich, dass die glühenden Augen des Teufels mich in der Finsternis nicht fänden.
Nach einer Weile hörten die Alpträume auf. Gott nahm hin, dass ich mit ihm gebrochen hatte wie mein Vater, und überließ mich mir selbst.
Merkwürdig, dass die Stille, die daraufhin meine Nächte erfüllte, schwerer auszuhalten war als vorher Gottes Ringen um meine Seele. Ich horchte auf meinen Atem, wenn ich nachts aufwachte, und fühlte über mir den leeren Himmel rotieren, gestaltlos, riesengroß – und es wurde völlig gleichgültig, was ich, Anne Cormac, hier unten trieb, ja, dass es diese Anne Cormac überhaupt gab.
Die Freiheit, von der Vater in Irland gesprochen hatte: Für mich bedeutete sie Langeweile, ein großes Nichts, das alle Ritzen meiner Tage und meiner Nächte durchdrang, eine Leichtigkeit, als befänden sich Luftblasen an allen meinen Gliedern, die ich nicht abschütteln könnte. Ich war nichts als ein Teilchen der allgemeinen Leere.
Cormacs Abwesenheit hinterließ eine schmerzliche Leere in meinem Alltag, die leere Form des Vaters, dessen Hauptsache ich einmal gewesen war. Meine Mutter war nie anders als leer gewesen, sie spürte die Leere nicht, von der sie ganz ausgefüllt war, und auch die Baumwollfelder, die sich still und unendlich bis zum Horizont erstreckten, waren weite Flächen Leere, auf denen ich spielte, tobte, schrie und sang, ohne dass je eine Menschenseele Notiz von mir genommen hätte.
Ich konnte, mehr oder weniger, tun und lassen, was ich wollte; wahrscheinlich war ich das unbeschwerteste, das schwebendste Kind von Charles Town.