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Impressum
Artur Becker
Der unsterbliche Mr. Lindley
Ein Hotelroman
© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2018
Alle Rechte vorbehalten
Konzept Design
Gottschalk+Ash Int’l
Satz
Publikations Atelier, Dreieich
Umschlaggestaltung
Julia Borgwardt, borgwardt design
unter Verwendung eines Artwork von
Pixelgarten, Frankfurt am Main
Foto Artur Becker
© Susanne Schleyer
Erste Auflage 2018
ISBN 978-3-86337-144-9
weissbooks.com
arturbecker.de
Artur Becker, geboren 1968 in Bartoszyce (Masuren), lebt seit 1985 in Deutschland. Becker schreibt Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Zuletzt veröffentlichte er den Essayband Kosmopolen. Bei weissbooks.w erschienen zudem die Romane Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken (2008), Der Lippenstift meiner Mutter (2010), Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang (2013) und die Novelle Sieben Tage mit Lidia (2014). Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Adalbert-von-Chamisso-Preis und dem Dialog-Preis.
Der unsterbliche Mr. Lindley
»Ihr System muss so eingerichtet sein, dass wenn abends
um elf Uhr der Bürger sich in sein Bett legt, er sich sagen
kann: ›Jetzt sind alle Haus- und Küchenwasser, alle Fäkalmaterien
aus Frankfurt draußen. Frankfurt ist rein!‹«
John Louis William Thudichum
Öffentlicher Vortrag in Frankfurt am Main, 8. Juni 1865
»In der Konsumgesellschaft sind die Menschen selbst
Konsumprodukte, erst diese Eigenschaft macht sie zu
vollwertigen Mitgliedern dieser Gesellschaft. Sie müssen
eine Ware sein (und dies auch bleiben).«
Zygmunt Bauman
Leben in der Flüchtigen Moderne (2007)
Für Magdalena
Freitag
1001 Nacht
oder Anonyme Verbrecher
Samstag
Open Your Eyes
Sonntag
Der Rücken von Larissa
Montag
Auferstehung in Frankfurt am Main
Es reichte, nur ein paar Schlagzeilen zu lesen: Von links nach rechts schien kein weiter Weg zu sein, man ärgerte sich über die Radikalen und stopfte aus Frust Leckereien in sich hinein. Beim Frühstück im Sachsenhäuser Hotel hatte sich Robert Brikschinski den Bauch vollgeschlagen, obwohl draußen schon wieder eine unbarmherzige Hitze herrschte, und wahrscheinlich waren die Google-News an seinem Bärenhunger schuld und nicht das Hotel, das mit einem üppigen Büffet aufgewartet hatte. So mochte er Frankfurt am liebsten, heiß am frühen Vormittag, unberechenbar, satt und trotzdem gierig, weil in ständiger Erwartung, dass etwas Überraschendes passieren würde. Gestern zum Beispiel hatte Robert auf dem Main einen nackten Ruderer auf einem Surfbrett gesehen, dem kein Passant auf der Flusspromenade Aufmerksamkeit schenken wollte. Der arme Wicht war in Eile gewesen, als fürchtete er um sein Leben. Der Main kam Robert in dieser Stadt schon immer etwas fehl am Platz vor, und die Begegnung mit dem nackten Ruderer bestätigte Roberts Impression: ein Fluss wie ein verlorener Damenschuh am Straßenrand.
Robert Brikschinski saß im Taxi und schaute sich noch einmal die Postkarte an, die ihm sein Bruder Jack vor ein paar Tagen aus dem Hotel Lindley geschickt hatte. Unglaublich, dachte er, Jack hat mir nicht einmal aus London geschrieben, obwohl er dort ein ganzes Jahr gewesen war, und seit wann wachsen in Frankfurter Hotels masurische Birkenpilze?, fragte er sich beim Betrachten der Postkarte erneut. Der Künstler war jedenfalls nicht sonderlich einfallsreich gewesen, die Fotomontage, eine Kreuzung aus Wolkenkratzern und Birkenpilzen, sah nicht besonders gelungen aus, eher bedauernswert – als Werbung reichte sie jedoch allemal. Man konnte im Lindley offenbar verschiedene Sorten Pilze kaufen wie auf einem Wochenmarkt, scheinbar hervorragende Produkte aus ganz Europa, was die italienische Pilzmafia freuen musste. Robert las noch einmal den Text, den sein Bruder in Eile verfasst hatte:
Ich hasse unsere sogenannten Familientreffen! Alljährlich die gleichen Rituale, die gleichen Diskussionen, der gleiche Shit! Komm bitte nicht zu spät! Lass mich mit unseren Eltern nicht allzu lange allein! Vielleicht kannst Du Dich von Deiner Konferenz etwas früher abseilen?! Tu doch endlich etwas für Deinen armen Bruder, der es nach dem Umzug aus London hier in Frankfurt wirklich nicht einfach hat! Das ist so, als wäre man aus dem Paradies auf einen Wüstenplaneten verbannt worden. Frankfurt ist klein, hässlich und aufgeblasen. Komm schnell zu mir und rette mich und unser gemeinsames Wochenende! Aus Bruderliebe und weil Du Psychiater bist. Ich küsse Dich, Dein Jack.
Robert staunte über die Ehrlichkeit der Liebeserklärung seines jüngeren Bruders, der in London ein zweiter David Gilmour hatte werden wollen, was natürlich kaum gelingen konnte, weil in London Gitarristen wie am Fließband gebacken werden, jeden Tag zwanzig, dreißig neue Klone von Gilmour und Page und wie sie alle hießen. Im Übrigen ließ Roberts Bruder an London kein gutes Haar, zumindest seit er dort vor genau einem halben Jahr die Segel hatte streichen müssen. Und seine dreiste Bemerkung »weil Du Psychiater bist« ließ Robert kalt, Jack wollte ihm nur schmeicheln.
Das Taxi verließ endlich Sachsenhausen, das Viertel, dessen Namen Robert selbst noch während seiner Hamburger Studienzeit mit dem KZ bei Berlin in Verbindung gebracht hatte, wie peinlich, dachte er im Nachhinein stets. Frederick, sein bester Freund und obendrein ein echter Frankfurter wie auch einer der einflussreichsten Psychiater weit und breit, machte ihn Anfang der Neunziger auf die fatale Verwechslung aufmerksam. Aber das lag schon weit zurück, Robert war inzwischen neunundvierzig Jahre alt und leitete in Berlin das Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, und Frederick, sein Mentor, ging schon auf die Fünfundsiebzig zu und sagte, er sei zwar ein alter Sack, der jedoch nach wie vor Mut und Lust habe, einen Wichtigtuer in seine Schranken zu weisen oder eine junge Frau zu vernaschen, die seine Bücher lese, seine Vorträge anhöre und ihn bewundere.
Robert war froh, dass er nach zwei Tagen und Nächten Sachsenhausen und der Konferenz, auf der er einen Vortrag über die Geschichte der deutschen Homosexuellen im Dritten Reich gehalten hatte, den Rücken kehren konnte. In der Nacht vor dem Familientreffen drückte er kaum ein Auge zu. Nicht deshalb, weil der August wieder einmal verrückt spielte und afrikanische Temperaturen nach Frankfurt brachte, sodass der Schlaf selbst unter einem dünnen Bettlaken einem Schweißbad glich. Roberts Hotelzimmer, das er während der Konferenz bewohnt hatte, war etwas ungünstig gelegen – die Fenster gingen auf einen Innenhof hinaus, der an die türkische Diskothek und Bar 1001 Nacht angrenzte. Und das Lüftungsfenster dieser Disco stand die ganze Nacht sperrangelweit offen, sodass Robert im Bett das Gefühl hatte, in seinem Zimmer trete ein ganzer Armeechor türkischer Sänger und Sängerinnen auf. Gegen zwei Uhr morgens war er vor Wut aus seinem Bett gesprungen und fluchend und spuckend vor die Tür gelaufen, doch als er von draußen einen Blick durch die verglaste Eingangstür der türkischen Disco wagte, stellte er verwundert fest, dass auf der geräumigen Tanzfläche zum einen deutsche Blondinen in engen Jeanshosen und zum anderen muslimische Frauen mit Kopftüchern und in knöchellangen Röcken tanzten, allesamt im zarten Alter von zwanzig oder höchstens dreiundzwanzig Jahren. Sie brauchten offenbar keine Männer zu ihrem Vergnügen, denn es gab nicht einmal einen polnischen oder arabischen Halunken mit Bart zu sehen, nirgendwo. Wenn das Fritz Bauer gesehen hätte, freute sich Robert in diesem Moment. Über diesen berühmten deutschen Juristen und seinen speziellen Beitrag zur Liberalisierung der BRD hatte er auf der Konferenz einen weiteren Vortrag gehalten. Und als Robert letzte Nacht vor den Türen der Bar konfus und praktisch halbnackt stand und die jungen Mädchen glücklich tanzen sah, war ihm sofort die Lust vergangen, sich bei den Türken über den Lärm zu beschweren. Er wollte außerdem nicht in einem Zeitungsartikel als Störenfried der bundesrepublikanischen Gesellschaft bezeichnetet werden, er sah schon die Schlagzeile vor sich: Berliner Psychiater beschwert sich über den nächtlichen Multi-Kulti-Lärm in einer Frankfurter Gaststätte.
Beim Auschecken erfuhr er dann von einer offenbar aus der Gegend stammenden Concierge namens Hortensia, dass im 1001 Nacht eine Band live gespielt habe, deren bekanntestes Stück Mach bitte das Licht aus heiße. Robert war enttäuscht, hatte er doch nachts im Halbschlaf das Gefühl gehabt, in der türkischen Bar singe ein Chor von heiligen Kriegern und rufe junge Mädchen zum Krieg gegen den verdorbenen Westen auf. So ein Albtraum fehlte bislang in seiner Sammlung.
Im Taxi erinnerte sich Robert an seine Japanreise und den Besuch im Sentō, an ein japanisches Bad und den Schlaf unter einem schattigen Baum. Das alljährliche Familientreffen mit den Eltern, dem Bruder und seiner Frau und deren drei Kindern würde ihn aber wieder wach machen, zumal Karolina, mit der er seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war und die sich in der Familie oft als sein Schutzschild entpuppte, zu ihrer hypochondrischen Mutter nach Warschau geflogen war. Roberts Schwiegermutter Elżbieta lag schon seit vielen Jahren im Sterben, obwohl sie kerngesund war. Trotz allem freute er sich, seinen Bruder und seine Eltern wiederzusehen.
Auf der Alten Brücke sah Robert in der Ferne das verglaste und architektonisch ziemlich gelungene Gebäude der Europäischen Zentralbank: Es waren eigentlich zwei Hochhäuser, die den Eindruck erweckten, an einer Straßenecke stünden zwei Riesen, die sich nach einem Saufgelage oder einer verlorenen Schlacht gegenseitig stützten, um nicht umzufallen; Robert dachte sofort an Frankreich und Deutschland. Dort in der Nähe sollte sich auch das neue Hotel Lindley befinden, in dem sein Bruder angeblich einer anständigen Arbeit nachging. In Wahrheit dealte er mit halluzinogenen Pilzen, riss junge Frauen auf, die im Lindley übernachteten, und spielte am liebsten in der hauseigenen Bar Gitarre, um sich vor der Arbeit zu drücken. Jack erzählte jedem stolz, er sei nun Kulturmanager und verantwortlich für den sogenannten Kräuterraum, wo man unter anderem masurische Birkenpilze kaufen könne, und auch um die Bar und den Kinosaal müsse er sich kümmern; allerdings habe er nichts dagegen, wenn man ihn gelegentlich als einen Hofnarren bezeichne, da er endlich ausreichend Geld verdiene, um seine Frau und seine drei Töchter anständig zu ernähren. Das Wichtigste für ihn sei jedoch das Aufnahmestudio gleich gegenüber dem Fitnessraum: Dort verbringe er ganze Nächte und nehme mit seiner Gitarre Erste-Sahne-Songs auf, auf die selbst ein Zappa stolz sein könne. Robert war erleichtert, dass Jack wieder mit seiner Frau und den Kindern zusammen war, und er hoffte, sie würden hier am Main genauso glücklich werden wie in Berlin.
Robert hasste allerdings die Art, wie sein Bruder immer wieder die deutsche Sprache vergewaltigte, um möglichst jugendlich zu wirken, hasste sein Vokabular und die Gebärden, die er dabei immer wieder einsetzte. Jack benahm sich manchmal wie ein exaltierter Teenager, alles war cool oder krass oder megageil. Das machte ihn vollkommen lächerlich: Schließlich war Jack schon Mitte Vierzig, und durch seinen Rheumatismus wie auch durch den Drogenkonsum all die Jahre hatte er ein stark gealtertes Gesicht. Robert spottete, wenigstens in diesem Punkt habe Jack das Klassenziel erreicht, er sehe aus wie ein betagter Rockstar. Passanten konnten den Eindruck haben, es komme ihnen da ein Fragezeichen entgegen, weil Jack schon einen erkennbaren Buckel hatte und weil er sich beim Gehen so anstellte, als würde er gleich eines seiner Beine oder einen seiner Arme verlieren. Das ähnelte der Gangart des kultigen Protokolldruiden C-3PO aus Star Wars – gezwungenermaßen, denn der Rheumatismus hatte Jacks Knochen zunächst einmal elastisch und nachgiebig gemacht, um sie nach vielen Jahren der im Körper wütenden Entzündung steif werden zu lassen. Und da Jack Ärzte hasste und sich mit verschiedenen Pilzen und makrobiotischen Kräutern selbst zu heilen versuchte, sah er aus, als wäre er einmal unter einen Trecker geraten und im Krankenhaus wieder zusammengesetzt worden. Jacks Brustkorb war schmal und flach geworden, während Robert aufgrund des Alkoholkonsums immer dicker wurde.
Vielleicht hatte Jack recht, vielleicht war Frankfurt – eine Stadt, die Robert im Übrigen liebte, und zwar vor allem wegen der Besuche bei seinem alten Freund und Mentor Frederick – bloß ein Wüstenplanet, der bekannteste deutsche Wüstenplanet: Hinter dem kalten, spiegelnden Glas der Banken verkroch sich nicht das Geld, sondern der Sand, mit dem die hohlen Männer ihre Geschäfte machten. In der Umgebung der Europäischen Zentralbank konnte man nicht einmal an einem Geldautomaten zwanzig Euro abheben, war man dort am Mainufer unterwegs, um nach einem Spaziergang in der Frankfurter Sonne ein Bier zu trinken. Wohin fließt eigentlich die ganze Kohle, konnte man sich fragen, auf dem Main in den Rhein und dann wohin weiter?
Aber in Sachsenhausen – und Robert fand, dass er nicht übertrieb –, wo sich der Sperrmüll an jeder Straßenecke stapelte, konnte man mitten am Tage oder in der Nacht einen Mann, eine Frau oder ein Kind vor aller Augen umbringen und anschließend auf einer Bank vor einer der zahlreichen Gaststätten seelenruhig einen Döner verspeisen oder ein Bier trinken – kein Passant würde sich wundern, in Ohnmacht fallen oder die Polizei rufen. Anschließend schleppte man sich nach so einer mörderischen Orgie ins Erdnüsschen, wo man für seine tragische Lebensgeschichte dankbare Zuhörer fand, auch hinter der Theke. Im Erdnüsschen durfte sich Robert einer Sache stets vollkommen sicher sein: Er würde dort weder seine Kollegen von der Konferenz noch seinen Frankfurter Freund treffen, denn sie alle besuchten keine Spelunken, sie bespuckten sie eher und schrieben am liebsten ihre wissenschaftlichen Artikel über die Verkommenheit der Sitten in der sogenannten Flüchtigen Moderne, ohne jemals ein Kilo Erdnüsse zu fünf Litern Bier oder Apfelwein verspeist und anschließend auf der vollgepissten Toilette gekotzt zu haben, was doch eine gute Alternative war zu einer teuren und aufwendigen Diätkur in den Schweizer Bergen. Und sie alle, diese Erdnüsschenverweigerer, wohnten in Hamburg, in Berlin oder in Frankfurt in solchen Vierteln, wo man nie einen zahnlosen oder nach Schweiß stinkenden Penner traf; Frederick zum Beispiel lebte in Frankfurt in der Nähe des Palmengartens, einer Gegend, in der Hunde wegen der zahlreichen Auslandsreisen ihrer Herrchen eigene Reisepässe und Kreditkarten besaßen und die aufgrund der homöopathischen Behandlungen oft genauso alt wurden wie ihre Besitzer. Und sie trugen die Nachnamen ihrer Herrchen: Steinbach, Feuerbach oder Moosbach. Sie waren eigentlich Menschen geworden und damit auch Ehepartner und Liebhaber.
Solche Sorgen hätte ich gern, dachte er während der Fahrt in Richtung des Ostend-Bahnhofs, denn er war seit einigen Tagen ratlos und verunsichert wie noch nie in seinem Leben.
Ein BZ-Journalist hatte in einem Artikel ihn und eines seiner erfolgreichen Projekte hart angegriffen, woraufhin im Internet ein Shitstorm folgte, dessen Heftigkeit Robert überrascht und erschüttert hatte. Es ging um sein Vorzeigeprojekt Anonyme Verbrecher: Jeder, der in ständiger Angst lebte, dass er bald jemanden umbringen oder vergewaltigen oder Nächte lang mit dem Schweizer Taschenmesser in einem dunklen Kellerversteck quälen würde, durfte Roberts Therapiegruppe an seinem Institut besuchen. Er durfte dann von seinen dunklen Wünschen, Wolllüsten und Verbrechensabsichten, die ihn bedrängten und die ihm dadurch den Alltag erschwerten, erzählen. Der Betroffene erhielt sofort eine Therapieberatung und erkannte dadurch, dass er mit seinem Problem nicht allein war.
Der präventive Kurs für Anonyme Verbrecher entpuppte sich schnell als totaler Erfolg, die Anzahl der Teilnehmer nahm stetig zu, und sie kamen aus allen Berufsgruppen – Topmanager diskutierten im Kreis zusammen mit Lagerarbeitern. Und Roberts Geldgeber, die auch im Vorstand der Charité saßen und für die er alljährlich plausible Forschungsprojekte aus dem Hut zaubern musste, zeigten sich großzügig und unterstützten auch sein neuestes Kind. Robert hasste es nichtsdestotrotz, wenn er bei den verehrten Herren Professoren und dem Dekan auf dem roten Teppich auftreten und seine Projekte und Ausgaben vorstellen und alle Dokumente offenlegen sollte. Manchmal kam er sich, obwohl er als Direktor seines Instituts und Professor selbst alle Freiheiten der Welt genoss, so vor, als wäre er Schatzmeister in einem Schützenverein.
Und nun erzählte der dämliche BZ-Journalist der ganzen Welt, Professor Brikschinski beschütze potenzielle Verbrecher und Psychopathen und verharmlose all die schrecklichen Taten, die von Patienten einer geschlossenen Anstalt oder von zu Gefängnis verurteilten Verbrechern begangen worden seien. Der Psychiater und Arzt Brikschinski stelle – mit anderen Worten – allen zukünftigen Psychopathen und Kriminellen einen Freifahrtschein aus. Und der Shitstorm im Internet erwischte Robert deshalb besonders heftig, weil einer der Trolle auf Twitter geschrieben hatte, Prof. Brikschinski sei ein Enkelkind von Dr. Josef Mengele, er dürfe niemanden belehren, was Moral sei.
Das Taxi bog in die Lindleystraße ein, wo das neue Hotel stand.
Der Fahrer war Palästinenser, der sofort Roberts polnischen Akzent erkannt hatte und auch wusste, wer das Hotel gebaut hätte: russische Mafia, die damit elegant ihr Geld in Deutschland waschen würde. Er sagte zum Schluss der kurzen Fahrt: »Polen und Palästina große Freunde! Scheißisrael! Meine Frau aus Krakau! Große Freunde Polen und Palästina!«
Wortlos bezahlte Robert den Taxifahrer, verlangte nicht einmal eine Quittung, und als er auf dem Bürgersteig neben seinem Trolley stand, wurde ihm bewusst, in was für einen Stadtteil Frankfurts er gebracht worden war: in ein ehemaliges Industrie- und Hafengebiet, so schien es zumindest. Hotels wuchsen hier wie masurische Birkenpilze nach dem Regen und versuchten, die Autohäuser und Fitnessstudios zu verdrängen; man wartete hier auf die jungen Banker aus London, denen der Brexit womöglich mehr und mehr auf die Füße fiel. Ihre Jachten, die noch an den Kais von Nizza und Capri lagen, würden sie selbstverständlich ebenso umpflanzen müssen. Der Main roch schon nach Gin Tonic, Piña Colada und nach meersalziger, verschwitzter Bikinihaut junger Göttinnen.
Robert rauchte auf dem Vorplatz des neuen Hotels eine Zigarette. Er ließ sich dabei Zeit, niemand war da, der ihn für das Rauchen rügte oder gar verdammte, wie zum Beispiel sein Sohn und seine Tochter, die beide Anfang Zwanzig waren, sich vegan ernährten und sogenannte iSticks zum Verdampfen süßlicher Liquids benutzten. Die beiden Geschwister ließen sich zu Hause kaum noch blicken, denn sie studierten in Süddeutschland vor sich hin, erwischten sie jedoch ihren Papa bei ihren immer seltener werdenden Besuchen in Berlin beim Rauchen, wollten sie ihn am liebsten umgehend steinigen. Ihre Mutter ließen die Kinder seltsamerweise in Ruhe, obwohl Karolina jeden Tag ihre zehn Zigarettchen konsumierte, aber sie hatte ja mit dieser Sucht spät angefangen, genau genommen erst dann, als sie mit Anfang Vierzig in die Wechseljahre hineinrutschte, die bei ihr ziemlich früh angesetzt hatten; damals beschloss sie, ihre Abende lieber in einem Pilates-Kurs zu verbringen und nicht mehr mit ihrem Mann in einem Restaurant oder Kino. Und plötzlich beschwerte sie sich in jener Zeit der hormonalen Metamorphose darüber, dass er sexbesessen sei und unter der Promiskuität leide … Robert behauptete das Gegenteil, er trete sogar auf die Bremse, und er könne wohl am besten beurteilen, wer nun krank oder psychotisch sei.
Robert genoss auch deshalb die Zigarette, weil er wusste, dass er nach dem Betreten des Lindley für ganze drei Tage Sklave seiner Eltern und seines Bruders werden würde. Er hatte Jack während seiner Londoner Zeit selten gesehen, und das sollte sich jetzt ändern: nach seiner coolen Rückkehr nach Deutschland, die Jack nicht als eine Niederlage betrachtete, nachdem er doch sofort einen lukrativen Job habe finden können, wie er jedes Mal ganz erregt konstatierte. Und die pensionierten Eltern wiederholten, seit sie in Calgary lebten, alljährlich das Ritual ihres Urlaubsflugs nach Europa – ihrer Reise nach Hause –, die sie jeden Sommer pompös als ein Großereignis stilisierten. Sie blieben in Deutschland meistens nicht länger als ein paar Tage und fuhren für zwei, drei Wochen nach Polen, und auf dem Rückweg nach Kanada landeten sie wieder in good old Germany – wegen des Familientreffens wie auch in diesem August. Beide sagten sie, dass sie eines Tages ein letztes Mal in ihre polnische Heimat fliegen würden, denn sterben müsse man natürlich zu Hause, in Europa. Für Robert sah die ganze Sache etwas kurios aus: Nachdem sein Vater Henryk und seine Mutter Klarysa in Deutschland in Rente gegangen waren, sprangen sie sofort in die Fußstapfen ihrer westdeutschen Mitbürger, die es sich leisten konnten, auf Mallorca bis ans Ende ihrer Tage Rotwein zu schlürfen und deutsches Fernsehen zu gucken. Im Fall von Henryk und Klarysa war es natürlich klar, dass für sie nur Kanada infrage kam, weil dort Klarysas geliebte Schwester lebte – und eine riesige polnische Gemeinde.
Noch wenige Minuten trennten Robert von der Begegnung mit seiner Familie, doch er war jetzt schon ein Nervenbündel – es plagte ihn ein schlechtes Gewissen. Eigentlich wollte er an diesem Wochenende seinen Artikel über Zygmunt Baumans Buch Leben in der Flüchtigen Moderne zu Ende schreiben, zumal der polnische Soziologe jüdischer Herkunft in diesem Jahr gestorben war und einen Nachruf auch von den Psychiatern verdiente. Robert war zwar Chefredakteur der Zeitschrift für Sexualforschung, für die er seinen Text verfassen musste, doch auch für ihn galten die Spielregeln wie für alle anderen: In sieben Tagen war Deadline, alle Texte sollten bis dahin auf seinem Schreibtisch landen, selbst der liebe Gott hielt sich an den Redaktionsschluss, und Robert kam in seinem Institut gleich nach Gott. Ihm war natürlich sonnenklar, dass er unter der klassischen Direktorenkrankheit litt: Er bestieg ein Taxi wie ein Direktor, redete mit dem Kellner in einem Restaurant wie ein Direktor, und selbst in der Sauna schwitzte er wie ein Direktor.
Robert begriff eine Sache so oder so nicht: dass viele seiner Kollegen nach Feierabend ihre Zeit oft mit dummem Zeug vergeudeten, sie hingen – wie es Jack sagen würde – auf Facebook herum, sie gaben sich mit ihren Artikeln und Unterrichtsvorbereitungen zufrieden, da sie seit vielen Jahren von ihrer Routine profitierten und nichts Neues mehr wagten. Und wenn man sie fragte, wie sie ihr Wochenende verbracht hätten, erklärten sie lächelnd: im Kreis ihrer Familie. Aber Robert wusste genau, was sie mit diesem Kreis meinten. Sie flohen nicht bloß vor der Arbeit, sie hatten längst aufgegeben, ihre Karriere voranzutreiben, weil sie sich sagten, sie hätten der Welt nichts Wichtiges mehr zu sagen, und es reichte, wenn es gelänge, Patienten wenn schon keine vollständige Heilung so doch wenigstens ein bisschen Linderung zu bringen.
Du Klugscheißer, dachte Robert, aber wirst du es denn schaffen? Du musst anfangen, richtige Bücher zu schreiben, wie Frederick es tut, deine Zeitschriften- und Lehrbuchartikel taugen nicht für die Ewigkeit. Frederick hat wenigstens die Bibel der modernen deutschen Psychiatrie nach 1945 geschrieben, sein Tausendseitenbuch muss jeder, der Ahnung haben will oder muss, lesen! Und was mache ich? Ich sammle Artikelchen und Lehrbüchlein … und liste sie in meiner Bibliografie jedes Mal brav auf, das nennt man dann: das Werk! Lachhaft.
Er rauchte die Zigarette zu Ende, und in dem Moment, als er sie auf dem funkelnagelneuen Vorplatz des Lindley mit dem Schuh ausdrückte, bemerkte er eine bizarre Gestalt, die gerade aus einem Taxi ausgestiegen war. Ein kleiner Mann von etwa sechzig Jahren und offenbar ein Kambodschaner oder Vietnamese, bekleidet wie ein vornehmer wohlhabender Herr aus dem 19. Jahrhundert (Frack, Zylinder, Gehstock), ging mit regungsloser Miene an Robert vorbei und steuerte strammen Schrittes den Haupteingang des Lindley an, der sich in einem sechs- oder gar siebenstöckigen, dem Hotel vorgesetzten Glaskasten befand und wie ein gewaltiges Aquarium für Taucher aussah.
Was hat der verrückte Asiate hier zu suchen? Robert schüttelte den Kopf: Bin ich vielleicht unter einer falschen Adresse ausgestiegen? Vor der neuen Frankfurter Oper etwa?
Und erst jetzt, als er sich ebenso auf den Weg ins Hotel machte, um endlich den Arbeitsplatz seines Bruders kennenzulernen, sah Robert, dass der merkwürdige Vorbau mit dem Haupteingang riesig und unüberschaubar wirkte, weil er, gänzlich verglast, über unzählige Räumlichkeiten verfügte, wie in einem Flughafenterminal. Es gab in dem Aquarium offenbar Einkaufsläden, Restaurants, Bars und sogar Bäume, und auf allen Stockwerken irrten Menschen umher.
Komisch, dachte Robert, das soll ein Hotel sein? Die russische Mafia hat sich wohl wieder einmal etwas Bahnbrechendes ausgedacht. Robert folgte dem Asiaten aus dem 19. Jahrhundert, und als er das Lindley betrat, staunte er wieder. Es gab keine Rezeptionstheke, sondern Automaten zum Einchecken und ein paar Tische mit Computern sowie eine Bar, wobei die Concierges keine dunkelblauen Kostüme trugen, obschon man den Eindruck hatte, man sei wirklich in einem modernen Flughafenterminal angekommen. Und sofort suchte er nach Jacks Oase mit den Birkenpilzen aus Masuren, dem Kräuterraum, in dem sein Bruder seine Hauptgeschäfte tätigte. Doch dieser Raum lag scheinbar in einer anderen Dimension, die nur Jack kannte und besuchte: Die Postkarte, die ihm sein Bruder aus dem Lindley geschickt hatte, war für Robert kein ausreichender Beweis …
Es ging auf zwölf Uhr zu, aber niemand empfing ihn, obwohl Robert sich im Foyer des Hotels mit seinen Eltern und seinem Bruder verabredet hatte: Typisch Jack, dachte er, eine Liebeserklärung nach der anderen, und dann ist er nicht da! Seinen Eltern konnte Robert leichten Herzens verzeihen, dass sie auf ihn nicht warteten – sie verspäteten sich immer, er hatte sich daran gewöhnt. So ließe sich die Unsterblichkeit auch erreichen, sie kämen bestimmt selbst zu ihrem Begräbnis zu spät, spottete Jack des Öfteren.
Robert dachte: Ich bleibe einfach hier stehen, in der Mitte der Empfangshalle und unter dem gigantischen Kronleuchter, aber für alle schön sichtbar – ich habe keine andere Wahl.
Der Kronleuchter des Foyers rief in ihm Erinnerungen wach: an seine Reisen nach Venedig. Er fragte sich: Ist das Murano-Glas? Zersplittert und wieder zusammengeklebt? Was stellt der bizarre Lüster dar? Einen chaotischen Sternenhaufen?
Robert war nicht ungeduldig, er kannte seine Familie und ihre Marotten, die zum Teil auch seine eigenen waren – er hatte sie sich schon als Kind einverleibt. Im Grunde genommen freute er sich sogar darüber, dass er sich bald auf sein Zimmer zurückziehen durfte. Und er dachte plötzlich an den Film Sommerliebelei mit Romy Schneider und Nino Castelnuovo in den Hauptrollen, zumal er in einem Hotel spielte. Ihm war klar, dass er im Lindley seiner Romy nicht begegnen und auch keine Liebelei erleben würde, trotzdem ließ er sich von dem Gedanken, er wäre Romys Partner und Liebhaber in dem Kurort Vittel, wo der Film gedreht wurde, inspirieren. Seine Inspiration war aber von kurzer Dauer. Karolina hätte keine einzige Sekunde gezögert und ihn sofort vor die Tür gesetzt, wenn sie ihn bei einer Liebelei und Affäre erwischt hätte, sozusagen auf frischer Tat mit Romy oder irgendeiner Göre aus Frankfurt am Main – das wäre sein Untergang gewesen, seine Kreuzigung, Karolina hätte ihm so einen Ausrutscher nicht verziehen.
Frederick kannte Roberts Sorgen und die ihn quälenden Dämonen, sein Freund warnte ihn jedoch vor panischen Schlüssen, und er war nicht zimperlich, was das Stellen von schwierigen Fragen anging: Robert fühlte sich im Gespräch mit ihm manchmal vollkommen nackt und wehrlos – dem Intellekt seines Freundes total ausgeliefert. Und Frederick wiederholte seit Jahren, Robert solle auf seine Gesundheit achten (womit er nicht nur die Raucherei meinte) und sich in Frankfurt ab und zu eine Auszeit von seiner Ehe gönnen; eine kleine Liebelei mit einer jungen Doktorandin würde ihm nicht schaden, ganz im Gegenteil.
Also musste er doch ständig aufpassen und die Ehe mit Karolina jeden Tag neu erfinden und retten – seine Frau würde es sofort merken, sie würde es riechen, spüren und letztendlich sehen, wenn er sie hintergangen und mit einer anderen Frau geschlafen hätte. Außerdem war sie selbst Ärztin und betrieb in Berlin eine kleine psychiatrische Praxis, in der sie sich jeden Tag die Probleme der Ehebrecher anhörte. Sie sagte ihm: »Gegen einen Pornofilm habe ich nichts, du schaust dir diesen Dreck sogar in deinem Institut an. Aber wenn du mich einmal betrügen solltest, verlasse ich dich sofort! Ich weiß nicht, wie die Frau von Jack es mit ihm aushält! Er betrügt sie andauernd, das letzte Mal bestimmt in London …« – »Woher willst du das wissen?«, protestierte er.
Vor Kurzem erst hatte Robert im Namen seines Instituts eine Befragung durchgeführt: Es handelte sich dabei um eine anonyme Befragung, obwohl er sie per E-Mail auch seinen Freunden geschickt hatte. Und es ging um den Konsum von Pornofilmen, wobei manche Fragen, die er sich mit seinem Team ausgedacht hatte, ziemlich dreist waren: »Würden Sie sich einen pornografischen Film mit einem siebzehnjährigen Mädchen ansehen?« Es hatte natürlich auch die klassischen Fragen gegeben wie zum Beispiel: »Wie oft sehen Sie sich pornografische Filme an? Bitte ankreuzen: jeden Tag, jeden zweiten oder dritten Tag, einmal in der Woche, gar nicht …«
Eine junge Dame, die offenbar als Concierge im Lindley arbeitete, sprach Robert an und weckte ihn aus seiner pornografisch-psychologischen Versenkung: »Kann ich Ihnen helfen? Sie warten auf jemanden?«
»Ich suche eigentlich die Rezeption! Ich bin der Bruder von Jack!«
»Ach! Herr Professor Brikschinski! Wie schön, dass Sie mir hier in die Arme laufen. Willkommen im Lindley. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Ihre Eltern einen Ausflug in den Taunus machen und dass Ihr Bruder noch ein Weilchen im Tonstudio beschäftigt ist. Aber er wird Sie so schnell wie möglich in Ihrem Zimmer besuchen!«
»Danke«, sagte Robert und dachte: Eine Romy Schneider ist die Concierge Gott sei Dank nicht, obwohl sie der wunderbaren Wahlfranzösin in Sachen Schönheit in nichts nachsteht – doch die piepsige Stimme der Concierge trieb ihn sogleich in die Flucht, worüber er froh war. Karolina hasste es, wenn er auf Partys zu viel trank und irgendwelche lächerlichen Flirts begann. Sie sagte oft, er mache sich vor diesen jungen Frauen zum Narren, es sei erbärmlich, wie er sich benehme, um ein wenig Eindruck zu schinden. Am nächsten Morgen entschuldigte er sich dann hundertmal und beteuerte, er werde die schrecklichen Dämonen seiner Unreife endlich zähmen, aber Karolina glaubte ihm kein Wort und lachte: »Ohne mich wirst du diesen Kampf verlieren … Merk dir das, Freundchen!«
Die Romy Schneider vom Lindley war freundlicher, als das üblicherweise bei Rezeptionsdamen der Fall ist: Sie nahm Robert sogar kurz an der Hand, um ihn zu einem Automaten zu führen, an dem er das Check-in durchführen musste. Sie erklärte ihm geduldig die einzelnen Schritte auf dem Touchscreen. Die Concierge vermittelte ihm das Gefühl, dass sie Freunde wären und einander schon lange kennten.
So läuft hier also der Hase, dachte Robert, fühle dich wie zu Hause, fühle dich sicher! Hotel als Wohngemeinschaft, als selbstständiger Organismus, der keine Symbiose mit der verführerischen Großstadt eingehen muss, mit der gefährlichen Außenwelt: Das ist also das neue Konzept, das in der Gesellschaft des Westens immer populärer wird; man soll sich in einem Hotel wie zu Hause fühlen – und man ist zu nichts verpflichtet, da man jederzeit jede Bekanntschaft und Freundschaft canceln kann wie in einem sozialen Netzwerk … Zygmunt Bauman lässt grüßen!
Auch noch andere Gedanken von Bauman kamen ihm in den Sinn: Der Soziologe behauptete in Leben in der Flüchtigen Moderne, das Bedürfnis nach Sicherheit habe dazu geführt, dass das Ideal der Freiheit diesem Bedürfnis – der Angst um den Verlust von Sicherheit – zum Opfer gefallen sei, was leider fatale Folgen gehabt habe. Der moderne, sich über den Konsum definierende Mensch, der selbst zum Konsumprodukt geworden sei, habe seine persönliche Freiheit um der Gewissheit willen, sozial und ökonomisch abgesichert zu sein, freiwillig abgegeben – aus Angst vor Risiken, letztendlich vor der Zukunft.
Die Concierge musste plötzlich telefonieren, und Robert, den die überall ausliegenden Hotelprospekte neugierig gemacht hatten, sah sich nicht nur im Foyer des Lindley ein wenig um; er nahm die Treppe ins erste Stockwerk: in den Kinoraum des riesigen Aquariums, wobei das Kino eine zusätzliche Funktion besaß – es diente auch als ein Internetcafé.
Dann fuhr er kurz in die vierte und dann auch in die fünfte Etage und warf einen Blick in die Räume des Glaskastens – tatsächlich, den Kräuterraum von Jack gab es wirklich. Und den masurischen Wald ebenso: na ja, rein symbolisch, denn es handelte sich hier bloß um einen einzigen Baum, der durch eine Öffnung in der Decke des Kräuterraums in den nächsten Stock schoss wie eine Rakete. Und er hatte keine leichte Aufgabe zu erfüllen, der Baum musste die masurischen Wälder würdig repräsentieren, die Kiefern und Birken, die Fichten und Eichen, die Lärchen und Ebereschen, und dafür, dass er ihr alleiniger Vertreter im Lindley war, sah er etwas mager aus.
Seltsamerweise störte Roberts ästhetisches Auge nicht, dass der Architekt und der Innendesigner Altes mit Neuem vermengten und überall üppig präsentierten: Jugendstilakzente fielen vor allem beim Mobiliar auf; es gab aber auch Möbelstücke, Couchen und Sessel, die stilistisch in den Sechzigern des 20. Jahrhunderts beheimatet waren; die Kronleuchter und Wandlampen vermischten Merkmale von Art déco mit futuristischen Ideen wie in einem Science-Fiction-Film. In den Fluren brannte wohl ständig Licht, zumindest gewann Robert schnell den Eindruck, man habe nicht bloß eine Beleuchtung der üblichen Sorte installiert, da manche Ecken, vor allem solche, in denen Gemälde, Skizzen, Skulpturen oder vereinzelte Möbelstücke vorzufinden waren, dezent ausgeleuchtet oder ein wenig im Schatten gehalten wurden wie in einer Inszenierung von Robert Wilson.
Das Hotel Lindley war also ein Haus, das sowohl das Alte wie auch das Ultramoderne – eben nicht nur architektonisch – miteinander zu verbinden suchte; es war auch ein Ort der Sicherheit. Man brauchte das Lindley nur noch selten zu verlassen, denn alles, was eine kleinstädtische Fußgängerzone zu bieten hatte, war hier unter einem Dach zu finden, zumindest schien es so auf den ersten Blick: Bio-Produkte aus der hauseigenen Bäckerei und dem Kräuterraum, ein Fitnessraum, ein Kino und all die üblichen Dienstleistungen sowie die gemeinschaftlichen Räume – eine Familienküche oder ein Wohnzimmer wie zu Hause.
Robert kehrte von seiner kurzen Besichtigungstour in die Rezeptionshalle zurück: Die Romy Schneider, die nicht mehr telefonierte, hatte ihn schon gesucht. Er bekam von ihr einen Code für seine Zimmertür: 070302. Nach der Besichtigung neugierig geworden, stellte er Romy ein paar Fragen und erfuhr von ihr, dass es im Lindley mehr als einhundert Zimmer gebe und dass sein Bruder Jack besonders auf den Kräuterraum und den Wald aus seiner Heimat stolz sei.
»Wald ist gut«, sagte er.
»Na ja! Da ist nur ein Baum und der steht wiederum in dem sogenannten Pilzsalon, wo man auch eine Dauerausstellung besichtigen kann …«, freute sich Romy.
»Eine Dauerausstellung?«, fragte er, obschon ihm im Kräuterraum vorhin in der Tat ein paar eigenartige Bilder und Plakate aufgefallen waren, die er jedoch kaum beachtet hatte – vielleicht aus dem Grund, weil er sich an die Atmosphäre eines sozialistischen Klassenraums erinnert fühlte, in dem Geschichte unterrichtet wurde; und die Erinnerung an den kommunistischen Schulalltag hatte ihn in die Flucht geschlagen.
»Ja. Über die Entstehung der Frankfurter Kanalisation und Unterwelt – das hat sich eine Künstlerin aus Venedig ausgedacht …«
Jetzt verstehe ich, dachte Robert, warum überall an den Wänden der Hotelflure diese vergilbten technischen Zeichnungen hängen, von Ingenieuren aus dem 19. Jahrhundert … Selbst im Foyer …
Roberts Zimmer mit der Nummer 420 lag im vierten Stock, und die junge Romy begleitete ihn zum Fahrstuhl und fuhr gleich mit, um ihm auch noch die Bedienung der elektronisch gesperrten Tür zu erklären, wobei sie Robert mehrmals fragte, ob sie ihm beim Tragen seiner Laptoptasche und des Trolleys helfen dürfe, was ihn wiederum in Verlegenheit brachte, sogar noch mehr als die Tatsache, dass die Concierge ihn hin und wieder mit seinem Namen ansprach und duzte.
»Jack wartet auf dich in seinem Tonstudio, er hat mir gerade eine Nachricht geschickt«, sagte Romy, die vor der geöffneten Tür zu seinem Zimmer stehen geblieben war, nachdem sie ihm die elektronische Entsperrung erklärt hatte. »Und Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie etwas brauchen … Einen Drink, ein Wärmekissen oder ein Flugticket …«
Robert bedankte sich, grinste und dachte, man muss mich schnellstens nach Hause schicken, zu meiner Frau und an meinen Schreibtisch, ich ahne hier nichts Gutes … Der Hoteldirektor scheint ja ein mutiger Bursche zu sein: Jack ist zwar der beste Verführer und Hofnarr der Welt, gleichzeitig aber auch der schlechteste Kulturmanager, den es gibt! Seine Spezialität sind halluzinogene Pilze und Tattoos, die er sich für junge, ihn vergötternde Frauen ausdenkt, sowie stundenlange Gitarrensoli …
Es war schade, aber Romy musste zurück an ihren Arbeitsplatz im Foyer, und augenblicklich änderte sich für Robert die im Hotel herrschende Atmosphäre, die einem vorgaukelte, man sei bei seiner Tante zu Besuch und werde am Abend die schöne Cousine treffen, natürlich zum Essen im hauseigenen Restaurant … Das Gefühl der Sicherheit und familiären Wärme löste sich in Luft auf, die aufwendig dekorierten und gestrichenen Wände und das Sechzigerjahre-Mobiliar seines Zimmers im vierten Stock wirkten auf einmal fremd und kalt – bis auf die seltsame Stuckrosette an der Decke, die ihm gefiel, weil sie aus geometrischen Figuren bestand und eine Galaxie oder einen Stern darstellte. Dort hing auch eine weiße Kugellampe.
Robert musste an ein spätsommerliches Bad in der dunkelblauen Ostsee denken, die blaue Kälte umhüllte ihn gänzlich, und er spürte wieder die Auswirkungen der kurzen Sachsenhäuser Nacht, in der er kaum geschlafen hatte. In seiner Brust und in seinem Kopf pulsierte ein unangenehmes Stechen – er war todmüde und versuchte sich zu erinnern, wo die Ibuprofen-Packung stecken mochte, in seiner Kultur- oder Laptoptasche? Oder lag sie auf dem Nachttisch in seinem Hotelzimmer in Sachsenhausen?
Robert trat in sein Zimmer ein, ließ alles liegen und stehen und warf sich der ganzen Länge seines Körpers nach aufs Bett. Er war sich sicher, dass er in wenigen Minuten einschlafen würde, und richtete im Liegen und kurz vor dem Einnicken ein paar Blicke auf sein neues Zuhause.
Sein marinegrau gestrichenes Zimmer war nicht groß, zwischen seinem Bett und der Dusche neben der Toilette stand ein Regal, allerdings ohne Rückwand, dafür aber mit einem Waschbecken und mit viel Platz für Hemden und Jacken und Hüte. Im Bett liegend konnte man seinem Partner beim Duschen zusehen – diese Lösung verleitete zum Voyeurismus, und Gott sei Dank besaß die Toilette eine Tür, deren ockerfarbener Anstrich ausgezeichnet zu den kalten grauen Wänden passte. Und überall entdeckte man Triangel-Muster und geometrische Spielchen – so auch an der Wand, an der ein hauchdünner TV-Monitor hing. Diese Spielchen mit der Geometrie vermittelten dem Gast den Eindruck, dass jemand in den Mauern eine geheime Tür öffnen und die Welt von innen nach außen kehren wollte, und wenn man davon immer noch nicht genug hatte, drang man tiefer ein und sah plötzlich die Elementarteilchen und die dunklen Geheimnisse der Materie.
Und die Matratze ist sehr bequem, das ist das Wichtigste, dachte Robert.
Er drehte sich auf den Rücken und bemerkte erst jetzt, dass auf dem Schreibtisch ein Longdrink-Glas stand, das zur Hälfte mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt war. Und er glaubte, Geräusche auf der Toilette zu vernehmen, ganz leise Geräusche, als würde jemand sich beim Niesen die Nase mit dem Daumen und dem Zeigefinger zuhalten … Wer oder was ist das, fragte er sich, in einem nagelneuen Hotel wird’s doch noch keine ungebetenen Gäste geben – Mäuse oder Ratten …
Er bemühte sich, langsam und ruhig zu atmen. Er wollte sich vergewissern, dass er nicht eingeschlafen war, und dachte: Also, auf dem Schreibtisch steht ein mit grüner zäher Flüssigkeit gefülltes Glas, und auf der Toilette hockt jemand und niest. Ein Geist, der Jack heißt? Oder der Alien aus Ridley Scotts Science-Fiction-Filmreihe? Wer zum Teufel sitzt auf meinem Klo?, fragte er sich und bekam Gänsehaut, als wäre er wieder elf Jahre alt und läge in seinem Kindheitszimmer, in dem er häufig Todesängste hatte ausstehen müssen – zusammen mit seinem jüngeren Bruder.
Der Vater verwandelte die Nächte ihrer beider Kindheit oft in alkoholische Orgien mit Beschimpfungstiraden, und man geriet auch als Unschuldiger unter Beschuss und wurde zum Opfer seiner Wutausbrüche. Damals hatte Robert überhaupt nicht verstanden, warum die Regierung, warum die Mutter, warum er und sein Bruder so vulgär und aggressiv beschimpft wurden. Am nächsten Tag sangen Engelsstimmen wieder ihr Lied vom schlechten Gewissen, und der Vater benahm sich wie der schlimmste Arschkriecher, den man sich vorzustellen vermochte. Wie der letzte Vollhonk, würde Jack sagen.
Und erst viele, viele Jahre später hatte Robert begriffen, warum der Vater seiner Familie und der Menschheit ab und zu so terroristische und besoffene Nächte zumuten musste. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, war Henryk ein Kind des Hungers, der Spiele mit Handgranaten und Pistolen sowie der ständigen Stigmatisierungen und Beschimpfungen, er wäre ein Hitlerjunge, er hätte doch einen österreichischen Vater. Die neue Bevölkerung Masurens war in den ersten Nachkriegsjahren nicht gerade wählerisch, was die Wortwahl im Umgang mit den verschiedenen Nationalitäten anbetraf; Polen beschimpften Deutsche, Litauer beschimpften Polen, Ukrainer beschimpften Deutsche, Polen beschimpften Ukrainer.
Plötzlich wurde es auf der Toilette ganz still, aber Robert hatte keine Angst: In den masurischen Wäldern hatte er als Kind nicht nur Birkenpilze gesammelt, Wildschweine mit einem Schießbogen erlegt oder die Landung eines UFOs beobachtet, nein, er hatte auch die verführerische Sprache der Wälder kennengelernt, die als Nachbarn der Seen besonders heimtückisch waren, weil sie sich mit dem Wasser verbrüderten. Henryk war kein begabter Gute-Nacht-Geschichten-Erzähler für seine Söhne gewesen, da er damals immer wieder erzählte, im Wald würden Tote hausen, Wehrmachtssoldaten, Rotarmisten, Juden, Ertrunkene und Selbstmörder – sie würden sich dort im Wald verstecken, sie seien aus den Seen geflüchtet, wo es kalt und ungemütlich sei. Der Vater wollte seinen Söhnen nur Angst machen.
Aber Robert hatte jetzt keine Angst.