Inhaltsverzeichnis

Originaltitel: Hantō o deyo I

© 2005 by Ryū Murakami

All rights reserved

 

 

In Liebe, Dein Vaterland wurde 2005 in Japan in zwei separaten Bänden veröffentlicht.

Band 2 der deutschen Ausgabe trägt den Untertitel:

II: Der Untergang

ISBN/HC: 978-3-902711-80-9

ISBN/E-Book:

Erscheint im März 2019

 

 

© 2018, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-63-7

 

Lektorat: Zeus E. Jungrecht

Cover: Jürgen Schütz

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-76-2

 

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Ryu Murakami

Jahrgang 1952, ist neben seiner Tätigkeit als Filmemacher einer der interessantesten japanischen Schriftsteller der Gegenwart. Mit dem Akutagawa-Preis ist er Inhaber des wichtigsten Japanischen Literaturpreis.

 

Klappentext

Band II: Der Untergang erscheint im Frühjahr 2019

Japan befindet sich in einer dystopischen Gegenwart. Amerika lässt seinen einstigen Verbündeten im Stich und Hunderttausende von Obdachlosen ziehen durch das von einer gigantischen Wirtschaftskrise gebeutelte Land. 
Nordkorea, das seine Beziehungen zu den USA inzwischen verbessert hat, beschließt, die Schwäche des verhassten Nachbarn auszunutzen, und plant eine heimtückische Invasion. Getarnt als aus Nordkorea geflüchtete Dissidenten besetzt eine Einheit aus neun Elite-Soldaten das Baseball-Stadion der japanischen Hafenstadt Fukuoka und nimmt die 30.000 Zuschauer als Geiseln. Während die ohnmächtige japanische Regierung hysterisch sinnlose Maßnahmen ergreift, nimmt in Fukuoka ein absurder Albtraum seinen Lauf. Im Zuge der Geheimoperation »In Liebe, Dein Vaterland« sollen weitere 120.000 Soldaten folgen und den Süden Japans in eine Provinz Nordkoreas verwandeln. 

Ryu Murakami zeichnet in seiner zweiteiligen Dystopie über einen möglichen Einmarsch nordkoreanischer Truppen im friedliebenden Japan eine bitterböse Satire über eine Nation, in der die Schere zwischen Arm und Reich zwar immer größer zu werden scheint, aber Tradition vor Effizienz gestellt wird; und die nordkoreanische Diktatur, die ohne Zweifel Jahrzehnte hinter der westlichen Welt zurückliegt. 

Unparteiisch, furios, zynisch und raffiniert durchdacht. Ein epischer Politthriller von beklemmender Aktualität, wie nur Altmeister Ryu Murakami ihn schreiben kann. 

»Eine phänomenale Meisterleistung der Erzählkunst.«
METRO

»Im Jahr zuvor war Coin Locker Babys von Ryu Murakami erschienen 
und hatte mich stark beeindruckt.«
HARUKI MURAKAMI, IN: VON BERUF SCHRIFTSTELLER(DUMONT)

 

Ryū Murakami

In Liebe, Dein Vaterland

I: DIE INVASION

 

Roman | Septime Verlag

 

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

 

 

Prologue 1

Kawasaki, Japan

14. Dezember 2010

 

Der Junge mit dem Bumerang

 

 

Nobue schlummerte auf einem Feldbett aus amerikanischen Armeebeständen in seinem Zelt, als er vom Gackern eines Huhns geweckt wurde, das auf dem Boden nach Krümeln suchte. Er zögerte, die Augen zu öffnen. Das linke Handgelenk schützend vors Gesicht gelegt, schaute er blinzelnd auf seine Armbanduhr. Der kleine Zeiger stand auf elf, was nicht hieß, dass es auch elf war. Er hatte die Uhr vor über zwanzig Jahren von Ishihara bekommen, und schon damals hatte sie verrückt gespielt. Hundertmal wollte er sie schon wegwerfen, aber er war zu faul, sich eine neue zu kaufen. Außerdem betrachtete er sie seit der Trennung von Ishihara als eine Art Andenken und brachte es nicht über sich, sie so mir nichts dir nichts zu entsorgen. Seine Erinnerung an die Zeit mit Ishihara war intensiv und ungreifbar zugleich, fast als wäre alles nur ein Traum gewesen. Sie lagerte irgendwo in der Tiefe seines Gehirns verborgen, wie eine im Moor versunkene Leiche. Es hatte noch andere Gefährten gegeben. Sugioka, Yano, Katō und noch so einer. Er hatte sich ihre Namen nie richtig merken können, aber Ishihara würde er nie vergessen. Die Uhr war vor ungefähr einem halben Jahrhundert in der Schweiz hergestellt worden. Silberfarbene Zeiger auf weißem Zifferblatt. Immer wenn Nobue auf diese Uhr sah, wurde er sentimental.

Licht schimmerte durch die blaue Plastikplane, die ihm als Zelt diente. Zelt war allerdings definitiv zu viel gesagt. Die Plane wurde in der Mitte von einem Stock gehalten und war außen an drei Punkten am Boden befestigt. Es gab kein Fenster, also wusste er nicht, wie das Wetter war. Von draußen ertönten Stimmen, aber hier war es immer laut, sodass Krach kein Hinweis auf die Tageszeit war. Aber was machte ein Huhn in seinem Zelt? Nobue stöhnte bei dem Versuch, sich aufzusetzen. Seine rechte Schulter schmerzte derart, dass er den rechten Arm nicht zu heben vermochte. Sein linker Ellbogen fühlte sich taub an, das Gelenk knackte. Beim Aufrichten stützte er sich vorsichtig mit der rechten Hand auf. Das Huhn pickte wahllos an einem Stück Süßkartoffelschale und an den in einer zerbeulten Kasserolle klebenden Essensresten herum. In dem Ölfass, das ihm als Ofen diente, schwelte es noch. Wahrscheinlich brannte es ihm deshalb in den Augen und im Hals. Neuerdings waren mehrere Obdachlose an Kohlenmonoxidvergiftung gestorben, und die gemeinnützige Organisation, die sich um sie kümmerte, warnte davor, das Feuer in den Ölfässern über Nacht brennen zu lassen. Dennoch hatte er es vor dem Einschlafen nicht gelöscht. Es war immerhin Anfang Dezember und eiskalt. Ohne ein wärmendes Feuer wären die Schmerzen in Nobues Gelenken und in seinem Rücken unerträglich gewesen und hätten ihn bereits im Morgengrauen geweckt.

»Entschuldigen Sie, Herr Nobue! Hat unser Ken Sie gestört?«

Ein Mann, der nur noch vier Vorderzähne hatte, schob die Plane beiseite und steckte den Kopf ins Zelt. Alle nannten ihn Kuri. In Wirklichkeit hieß er vermutlich Kuriyama oder Kurita. Er war früher Bankangestellter oder Sachbearbeiter oder so etwas gewesen.

»Ken? Wer soll das sein? Etwa das Hinkel hier?«, fuhr Nobue ihn an.

»Ja, das ist er. Ich sage ihm ständig, dass er nicht zu anderen Leuten ins Haus laufen soll. Komm, Ken, du störst Herrn Nobue. Komm raus da!«

Kuri bückte sich durch den Spalt, um nach seinem Huhn zu greifen.

»Glaubst du, das Vieh versteht dich? Außerdem ist das hier ein Zelt und kein Haus. Das Zelt eines Obdachlosen.« Nobue hustete und Kuri erstarrte, sichtlich erschrocken. Nobue war gefürchtet, nicht nur bei den Obdachlosen, sondern auch bei den Helfern. Er war so etwas wie eine Legende. Es kursierten Geschichten, denen zufolge er mehrere Menschen mit einer selbst gebauten Waffe getötet und aus reinem Vergnügen einen größeren Teil der Stadt Fuchū mit einer – ebenfalls selbst gebauten – thermobarischen Bombe in die Luft gejagt hatte. Doch all das war vor langer Zeit geschehen und Nobue selbst scherte es nicht, eine Legende zu sein oder auch nicht. Doch seine markanten Züge und sein furchteinflößendes Gelächter hatten etwas, angesichts dessen auch gewichtige Dinge wie Leben, Glück oder Frieden bedeutungslos wurden und das Bewohner sowie Helfer stark beeindruckte.

»Ken-chan, komm jetzt! Du darfst Herrn Nobue nicht stören!« Kuri schob eine Hand unter das Huhn, hob es auf und trug es hinaus. »Es tut mir wirklich leid, Herr Nobue. Ich sage es ihm immer wieder«, entschuldigte er sich erneut, während er sich mit ängstlicher Miene zurückzog.

»Mach das nur.« Nobue grinste. »Einem Huhn muss man immer kräftig Bescheid geben.« Plötzlich erschien ihm Kuris Gerede so ungeheuer komisch, dass er einen Lachanfall bekam. Zuerst klang es wie das Gurren einer Taube, doch bald hielt er sich den Bauch, und Tränen traten ihm in die Augen. Er lachte wie ein Verrückter. Früher hatten Ishihara und er oft so gelacht, dass er die Schmerzen in seiner Schulter und seinem Ellbogen vergaß.

Beim Aufstehen stieß er mit dem Kopf gegen die Plastikplane. Als sein Lachen verebbt war, wischte Nobue sich die Tränen ab, hob einen ovalen Spiegel mit weißem Holzrahmen, wie ihn nicht mehr ganz junge Frauen benutzten, vom Boden auf, um sich darin zu betrachten. Eine zehn Zentimeter lange Narbe verlief von seinem rechten Wangenknochen bis hinunter zum Kinn. Er hatte gehofft, im Alter würde sie in den Falten verschwinden, aber vor einigen Jahren hatte sich an ihren Rändern Narbengewebe gebildet, wodurch sie nun noch auffälliger hervortrat. Der Spiegel zeigte die schlaffe Gesichtshaut eines Mannes jenseits der Fünfzig. Der größte Teil seiner Haare war ausgefallen. Da Nobue seit über zehn Jahren nicht beim Friseur gewesen war, hingen ihm die wenigen noch verbliebenen Strähnen wie alte Wollfäden ins Gesicht. Oder wie Spinnweben. In seinem Mund war ungefähr nur noch jeder zweite Zahn vorhanden. Sein lückenhaftes Gebiss war von Zahnstein und Belag völlig verfärbt und das Zahnfleisch beinahe schwarz. Nobue erschrak jedes Mal aufs Neue, obwohl er sich täglich im Spiegel betrachtete. Kein Wunder, dass alle die Hosen voll haben vor mir, dachte er. Hätte ich auch, bei so einer Fresse. Er legte sich die Daunenjacke um, die ihm auch als Zudecke diente, und trat, seine Narbe massierend, vor das Zelt.

Die schwachen Strahlen der winterlichen Sonne, die durch die kahlen Äste fielen, zeichneten abstrakte Muster auf Nobues Gesicht. Anscheinend war es noch nicht Mittag. Auf der Westseite war der Park durch einen hohen Lattenzaun von der Straße abgegrenzt, sodass Nobues Zelt nachmittags vollständig im Schatten lag. Der Stadtverwaltung zufolge sollte der Zaun verhindern, dass betrunkene Obdachlose Verkehrsunfälle verursachten, obwohl dazu statt eines sechs Meter hohen Zaunes vermutlich auch eine Leitplanke genügt hätte. Der Park lag inmitten einer ausgedehnten Wohnsiedlung, die einem Konsortium mehrerer privater Eisenbahngesellschaften gehörte. Bestimmt hatten die Anwohner verlangt, vom Anblick der unzähligen Obdachlosen, die im Park hausten, verschont zu werden.

»Morgen, Nobue!«, rief jemand hinter ihm. Ohne sich umzudrehen, grunzte er eine passende Antwort.

Nobue wohnte jetzt seit anderthalb Jahren im Ryokichi-Park, der Unmengen von Obdachlosen aus dem ganzen Land als Heimstatt diente und von allen »Ryokkō« genannt wurde. Der Ryokkō erstreckte sich von Yokohama bis Kawasaki und zog sich mehrere Kilometer an der Autobahn zwischen Kawasaki und Fuchū entlang. Der Zaun im Westen war drei Kilometer lang. Im Park gab es eine ausgedehnte Rasenfläche, die die Größe von etwa drei Fußballfeldern hatte. Hinter den Waldstücken an seinen nördlichen und südlichen Rändern lagen Wohngebiete. Östlich der Rasenfläche hatten sich, bevor die Obdachlosen Einzug gehalten hatten, Sportanlagen befunden, von denen aber kaum noch etwas übrig war, da die neuen Bewohner sämtliche Torpfosten, Netze und Seile für den Bau ihrer Behausungen entwendet hatten. An einem Hang hatten früher Bänke gestanden, auf denen Spaziergänger die Aussicht genießen konnten. Mittlerweile waren dort die Zelte der sogenannten Hilfsorganisation, die die Obdachlosen betreute.

Nobue beschloss, zuerst auf die Toilette zu gehen und anschließend etwas zu trinken. Dazu musste er um ein paar »Klötze« herumgehen, die auf ihrer Pappe den Weg blockierten. So nannte man die Neuankömmlinge, die weder Schlafsack, Zelt oder Hütte hatten und auf Pappe oder Zeitungspapier lagen. Um sie herum stank es nach Abfall und Schmutz. Im Ryokkō gab es ein paar Stände, die Material zum Hüttenbau wie zum Beispiel Plastikplanen verkauften, aber ohne Geld war nichts zu machen. Die öffentlichen Toiletten kosteten und auch die mobilen, die die Hilfsorganisation im Park aufgestellt hatte, waren nicht umsonst. Dennoch riss der Zustrom in den Ryokkō niemals ab. Gegenwärtig lebten dort über viertausend Obdachlose, und es wurden ständig mehr.

Eine von in- und ausländischen Gangsterbanden kontrollierte Hilfsorganisation hatte sich breit gemacht und unterhielt einen sogenannten »Markt«, auf dem für Geld alles zu haben war, ohne dass sich jemand von außen einmischen konnte. Obdachlose, die in anderen Parks oder auf der Straße campierten, wurden häufig von Jugendlichen attackiert, und es gab jeden Tag mehrere Todesfälle.

Als Nobue einem Kothaufen ausweichen wollte, verlor er das Gleichgewicht und trat einem Klotz aufs Haar. Die Person – es war nicht einmal zu erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war – rührte sich nicht. Vor Erschöpfung und sicher auch Erleichterung verfielen die meisten in eine Art Schockstarre, sobald sie im Ryokkō angekommen waren, sodass sie auf nichts mehr reagierten.

Die öffentlichen sowie die mobilen Toiletten befanden sich am Parkeingang. Daneben gab es einen Trinkbrunnen und zwei Stände, die Kaffee und Tee ausschenkten. Als Nobue sich den Toiletten näherte, hielt ihn ein Mann in mittlerem Alter auf. »Nobue, das trifft sich gut. Hast du einen Moment für mich? Ich war gerade auf dem Weg zu deinem Zelt.«

Der Mann gehörte zu den für die Toiletten zuständigen Helfern. Er trug ein Polyesterblouson mit der Aufschrift Frieden und Sicherheit für alle im Park und einem Bild von zwei kleinen Tieren, die sich an den Händen hielten. Sein Kopf und seine Augenbrauen waren rasiert und auf seine Schläfen waren in Rot und Grün die Worte Love und Peace tätowiert. Sämtliche ehrenamtlichen Helfer im Ryokkō gehörten den Yakuza oder einem anderen Gangstersyndikat an. Anfangs hatte es eine seriöse gemeinnützige Hilfsorganisation gegeben, die die Obdachlosen medizinisch versorgte und ihnen Jobs vermittelte, aber als der Zuzug in den Park immer gewaltigere Ausmaße annahm, sodass auch die Polizei nicht mehr Herr der Lage war, rückten kriminelle Banden ein und übernahmen die Herrschaft.

»Was ist los? Ich bin eben aufgestanden und will scheißen«, grollte Nobue.

Der Mann entschuldigte sich mit einer tiefen Verbeugung.

»Wenn du erlaubst, werde ich hier warten. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst.«

Er wandte sich an einen langhaarigen jungen Mann und deutete mit dem Kinn auf die Schlange vor den Toiletten. »Nobue will aufs Klo.«

Der Langhaarige nickte. »Macht Platz«, befahl er barsch und riss die Tür zu einer der Toiletten auf. Ein hustender älterer Mann saß darin. »Raus da!«

»Jawohl«, antwortete der Mann eingeschüchtert und stürzte, ohne sich die Hose hochzuziehen, aus der Kabine.

»Hier, Herr Nobue, bitte.« Der Langhaarige wollte ein Stück Toilettenpapier von der Rolle abreißen, die er in der Hand hielt.

»Du Vollidiot!«, brüllte der Rasierte. »Gib ihm gefälligst die ganze.«

Der Langhaarige entschuldigte sich und reichte Nobue die Rolle. Die Leute in der Schlange glotzten ausdruckslos. Niemand beschwerte sich. Der aus der Toilette vertriebene Alte zog sich die Hose hoch, die ihm noch immer um die Beine hing.

Erfreut stellte Nobue fest, dass der Klositz noch warm war. Bei kalten Klobrillen schmerzte seine Hüfte besonders. Die cremefarbene Plastikwand der Kabine war lückenlos mit Graffiti beschmiert. Nobue las brummelnd ein säuberlich mit Filzstift geschriebenes Gedicht mit dem Titel »Terrorist«:

Seht des Terroristen trauriges Herz

Seine Güte ist sein Schmerz

Verraten vom ureigenen Vaterland

Das ihm geraubt hat Glück und Wohlstand

Schafe seid ihr, eine lächerliche Herde

Und wenn der Tag der Rache werde

Dann auch ihr Schafe wohl erkennt

Was man das Herz des Terroristen nennt

Was für ein Volltrottel, dachte Nobue beim Lesen. Bestimmt einer, dem sie die ganzen Ersparnisse geklaut hatten. Der Gedanke belustigte ihn derart, dass er sich vor Lachen krümmte und so die ganze Kabine ins Wanken brachte.

Nachdem dieser affengesichtige Präsident von Amerika endlich kapiert hatte, dass es nichts wurde mit der Demokratie in Afghanistan, im Irak und im Iran, war der Dollar rasant abgestürzt. Der Yen war kurz gestiegen, anschließend aber genauso schnell gefallen wie der Dollar. Die Börsenkurse waren ins Bodenlose gestürzt, bis der Yen und sämtliche Staatsanleihen kaum noch etwas wert waren. Der Aktienmarkt brach zusammen und die Banken wurden geschlossen. Banken, die große Mengen an Staatsanleihen besaßen, gingen pleite, und der Yen fiel weiter. Brennstoff und Lebensmittel wurden knapp. Bald wurde unverhohlen prognostiziert, dass Menschen verhungern und erfrieren würden.

Wenn Nobue sich nicht täuschte, war es im Frühling 2007 gewesen, als der Premier- und der Finanzminister im Fernsehen unter Tränen und tiefen Verbeugungen versichert hatten, es gebe nur einen Weg, Japan aus dieser dramatischen Krise zu führen, nämlich sofort sämtliche Geldautomaten im ganzen Land zu schließen. Die Kunden durften nur noch begrenzte Beträge von ihren Giro- und Sparkonten abheben. Es wurde ihnen nur noch ein für ihre Lebensführung als notwendig erachtetes Minimum zugestanden: Ledige soundsoviel, Ehepaare mit Kindern soundsoviel. Als Nächstes schränkte man durch eine Gesetzesänderung den Umtausch beliebiger Summen von Yen in Dollar oder Euro ein. Doch auch die Devisen, die einige gehortet hatten, erwiesen sich am Ende als weniger wertvoll als erhofft. Die Mehrwertsteuer wurde auf 17,5  % erhöht. Andernfalls wäre der Yen nicht mehr das Papier wert, auf das er gedruckt sei, erklärten Premier- und Finanzminister auch diesmal unter Tränen. Japan wäre bankrott. Ausländer würden alle Firmen und sämtlichen Grund und Boden aufkaufen, wodurch, so erklärte man dem Volk, sein Vaterland nicht mehr sein eigen wäre. Auf diese Maßnahmen folgte eine Inflation, und am Ende hatte das liebwerte Vaterland seine Bürger um etwa 40 % ihrer Barschaft erleichtert.

Woraufhin Premier- und Finanzminister selbstverständlich und unverzüglich zurücktraten. Auch als der Dollar immer weiter fiel, befand sich Japan noch immer im Besitz einer gewaltigen Menge von US-Schatzbriefen, wurde aber zwangsweise daran gehindert, diese zu verkaufen. Obwohl die Amerikaner ihrem Verbündeten damit großen Schaden zufügten, gingen sie weiterhin mit großer Rücksichtslosigkeit vor. So erhöhten sie die Preise für Mais um fast 30 %, obwohl die japanische Viehwirtschaft bekanntermaßen von diesen Lieferungen abhing. Außerdem verkauften sie ganz offen Waffen an China und verhandelten ohne Absprache über einen Nichtangriffspakt mit Nordkorea. Demzufolge verloren alle im Land – Politiker, Medien, Intellektuelle, die Bevölkerung – jegliche noch vorhandene Sympathie für die Vereinigten Staaten.

Es war, wie viele meinten, nicht nur, als würde man einem alten treuen Hund sein Futter verweigern, sondern ihm auch noch Prügel verpassen. Im Nu schlug die schon lange schwelende Abneigung gegen die USA in brodelnden Hass um. Die Verachtung, die Japan stets für seine Nachbarn empfunden hatte, schlug nun, da es verarmt war, zurück und trieb das Land nur noch weiter in den Ruin. Für die anderen Nationen spielte es nicht mehr die geringste Rolle, ob Japan für oder gegen sie war. Es wurde einfach ignoriert und fühlte sich von Asien, Amerika und Europa im Stich gelassen. Die Verbitterung wuchs, sodass Japan sich mehr und mehr abkapselte. Bejubelt vom Mob auf der Straße, prahlte eine steigende Zahl von Politikern unentwegt damit, dass Japan nahezu vierzig Tonnen Plutonium besitze und somit die Herstellung von Atomwaffen ein Kinderspiel sei. Was offenbar auch stimmte. Dank einer besonderen Methode der Erzeugung von Atomkraft, dem »geschlossenen Kernbrennstoffkreislauf«, war es dem Land gelungen, Unmengen von waffenfähigem Plutonium anzureichern.

Ebenso wie glücklose, verbitterte Nationen von ihren Nachbarn gehasst und geächtet werden, ergeht es auch Individuen. Wer arm und verbittert ist, verliert häufig die Fähigkeit, sich zu beherrschen. Das heißt, solche Leute werden leicht wütend. Sie drehen durch, werden gewalttätig oder drohen, sich die Pulsadern aufzuschneiden – manche tun es wirklich. Sobald die Schergen der Hilfsorganisation eine solche Person im Park aufspürten, schlugen sie sie halb tot. Menschen, die sich nicht beherrschen konnten, waren gefährlich. Man musste jede Aggression aus ihnen herausprügeln, sodass sie sich nicht mehr rühren konnten. Die Opfer dieser Maßnahme konnten sich, wenn man mit ihnen fertig war, nicht einmal mehr anständiges Essen besorgen. Sie mussten den Müll nach Resten durchwühlen, und Hygiene spielte keine Rolle mehr. Da man ihnen den Zugang zu den mobilen Toiletten verwehrte, mussten sie sich in Löchern erleichtern, die man in die Erde gegraben hatte. Toilettenpapier bekamen sie natürlich auch nicht, sodass sie meilenweit gegen den Wind stanken. Körpergeruch war ein übliches Merkmal von Obdachlosigkeit, aber mit Leuten, die auch noch nach Scheiße stanken, wollte nun wirklich niemand etwas zu tun haben. Wenn die Ehrenamtlichen solche Stinker entdeckten, schlugen sie derart erbarmungslos zu, dass sie sich nie wieder im Park blicken ließen. Was für sie galt, galt auch für Nationen – sobald sie die Kontrolle über sich verloren hatten, wurden sie zum Gegenstand der Verachtung, isoliert und schließlich aus der Weltgemeinschaft ausgestoßen.

Während Nobue auf der Toilette saß, dachte er an seine Zeit mit Ishihara in Fukuoka. Damals hatte die Regierung seine Landsleute gezwungen, auf 40 % ihrer Ersparnisse zu verzichten. Sobald Nobue die Muskeln in seinem Unterleib anspannte, verschärfte sich der Schmerz in seiner Hüfte, und als er sich bückte, um sich den Hintern abzuwischen, tat ihm die Schulter höllisch weh. Er stand langsam auf, um sein Kreuz zu schonen, und fragte sich, in welcher Zeit er jetzt die Hundertmeter laufen würde. Von der Mittelschule bis zu dem sinnlosen Massaker, an dem er sich mit Ishihara und den anderen ergötzt hatte, hatte er nur wenig über elf Sekunden gebraucht. Das würde er nicht mehr schaffen, und wäre ihm auch der Teufel auf den Fersen. Seine Hüften, seine Schultern, seine Ellbogen, eigentlich alle seine Gelenke, waren derart verschlissen, dass er sie kaum noch gebrauchen konnte. Sollte er es jemals schaffen, so schnell zu rennen wie früher, würde er wahrscheinlich in sämtliche Einzelteile zerfallen wie eine Marionette, bei der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Er stellte sich bildlich vor, wie ihm die Gliedmaßen abfielen, und musste wieder fürchterlich lachen.

Der junge Helfer mit dem langen Haar wartete vor der Toilette auf ihn.

»Herr Nobue«, rief er beflissen. »Ich hoffe, alles ist gut raus …«

Als er Nobue lachen sah, verschluckte er den Rest und hielt ihm lediglich ein heißes Handtuch hin. Nobue, der sich vor Lachen kaum noch halten konnte, nahm es und sah den Langhaarigen an. Seine Spinnenwebhaare flatterten im Wind.

»Weißt du was?«, prustete er. »Wenn ich jetzt rennen würde, würde ich komplett auseinanderfallen. Wie eine Marionette ohne Schnüre!« Er packte die Schulter des Jungen, um sich abzustützen und sich mit der freien Hand das Gesicht abzuwischen. Dann kam der Hals an die Reihe, dann wischte er unter den Armen und schließlich fuhr er sich in die Hose und rubbelte dort herum. Das anfangs weiße Handtuch färbte sich braun und brauner, bis es am Ende fast schwarz war. Hin und wieder machte Nobue eine Pause, um daran zu riechen und es wie eine Fahne herumzuschwenken. Dem Langhaarigen fehlten die Worte, so fasziniert war er von der Vorstellung. Die Leute, die vor der Toilette Schlange standen, glotzten stumm und mit offenen Mündern.

 

»Da ist so ein komischer Typ aufgetaucht. Ich hätte gern, dass du ihn dir mal ansiehst, Nobue«, erklärte ihm der Mann mit dem rasierten Schädel, während sie über die Wiese in Richtung des südlichen Wäldchens gingen.

»Wieso komisch?«, fragte Nobue, als sie an dem von Spazier- und Fahrradwegen umgebenen »Volksmarkt« angekommen waren, auf dem sich ein Stand an den anderen reihte. Es gab dort alles und alles war billig, weshalb auch Leute, die nicht im Ryokkō kampierten, an den Ständen, Zelten, Buden und Fertighütten einkauften. Die meisten hatten Lautsprecher, aus denen Musik oder Werbedurchsagen dröhnten. Nobue gefiel der Lärm und das Durcheinander. Das Getümmel um die Stände gab ihm das Gefühl, sich auf einem unbekannten Planeten zu befinden, auf dem es von seltsamen Lebewesen nur so wimmelte. Doch der Mann mit dem rasierten Kopf schien den Trubel zu verabscheuen und zog ein finsteres Gesicht.

»Wieso komisch?«, schrie er ihm noch einmal ins Ohr.

»Er spricht nicht. Und er hat diese merkwürdige Waffe dabei.«

»Warum jagt ihr ihn nicht weg?«

»Er will einfach nicht abhauen. Wir haben ihn schon zweimal fast totgeprügelt. Er verzieht keine Miene, du kannst ihn schlagen und treten, wie du willst. Ein unheimlicher Bursche.«

Hin und wieder tauchten solche Typen auf. Zwei Jahre zuvor hatte sich ein bleicher dürrer Jüngling namens Shinohara im Ryokkō eingeschlichen. Er hatte einen großen Koffer mit unzähligen giftigen Hundert- und Tausendfüßlern bei sich gehabt, und wenn ihm langweilig war, hatte er ein paar davon auf die Obdachlosen losgelassen und zugesehen, wie sie sich nach den Bissen vor Schmerzen wanden. Einige seiner Opfer bekamen heftige Ausschläge und hohes Fieber und wären fast gestorben, was wiederum das Gesundheitsamt in Panik versetzte, da man den Ausbruch einer Seuche befürchtete. Die Ehrenamtlichen hätten Shinohara gern aus dem Park verjagt, trauten sich aber wegen der Tausendfüßler nicht an ihn heran. Shinohara hatte leblose Augen – wie ein Toter – und pflegte ohne ersichtlichen Grund vor sich hinzukichern. Sprach man ihn an, reagierte er überhaupt nicht. Doch Nobue hatte sich einfach eine Weile neben ihn gesetzt, worauf er tatsächlich beinahe kindlich lächelte und über sein Leben und seine Eltern zu sprechen begann.

»Angeblich redest du doch mit niemandem? Wieso redest du mit mir?«, hatte Nobue ihn gefragt.

»Weil du wie ein Alien aussiehst. Deshalb fühle ich mich bei dir sicher«, antwortete Shinohara.

Shinohara hatte mit seinen Eltern in Setagaya in Tokio gelebt. Sein Vater war Gelehrter, seine Mutter Übersetzerin. Seine jüngere Schwester wollte Cellistin werden. Seit früher Kindheit interessierte er sich für giftige Lebewesen. In der Schule gab er sein ganzes Taschengeld für Frösche, Spinnen und Skorpione aus, die er im Internet bestellte. In der neunten Klasse fing er an, Hundert- und Tausendfüßler zu züchten. Als er einige davon mit in die Schule brachte, wurde einer seiner Klassenkameraden gebissen und blieb halbseitig gelähmt. Bevor die Polizei ihn erwischte, versuchte Shinohara seine Eltern und seine Schwester zu töten. Seine Eltern hatten anscheinend die erfolgreichere Schwester bevorzugt, und er hatte sich ausgeschlossen und betrogen gefühlt. Als er aus der Erziehungsanstalt entlassen wurde, hatte er kein Zuhause mehr. Er bekam zwar einen Bewährungshelfer, aber der Mann fürchtete sich so sehr vor den Tausendfüßlern, dass er sich nicht mal in Shinoharas Nähe traute. Shinohara hatte sich schon vorher gut mit Insekten ausgekannt, aber in der Anstalt hatte er sich dann eingehend mit Biochemie und Pharmakologie beschäftigt und sich erstaunliches Wissen angeeignet. »Die Typen dort – richtige Vollidioten«, erzählte er Nobue. »Natürlich durfte ich keine Bücher über Toxikologie lesen, aber Pharmakologie ist ja nur die andere Seite davon – im Grunde geht es um das Gleiche. Aber das haben diese Blödmänner natürlich nicht kapiert.«

 

»Warum kommen eigentlich immer mehr von diesen abartigen Typen?«, fragte der Kahle. Nobue antwortete nicht. Nicht dass er nicht wollte, aber er verstand den Sinn der Frage nicht. Er fand Menschen, die den gesellschaftlichen Normen entsprechend lebten, weitaus abartiger. Sugioka, ein alter Freund von ihm, hatte eines Morgens sehr schlechte Laune, weil er nicht gut geschlafen hatte. Zufällig wackelte vor ihm eine nicht mehr ganz junge Frau mit dem Hintern und er fühlte sich bewogen zuzugreifen. Doch als die Begrapschte ihn anschrie, schnitt er ihr mit seinem Klappmesser die Kehle durch. Jeder konnte einen Mord begehen. Wie eben Sugioka. Nobue fand die Leute, die Sugioka oder Shinohara für merkwürdig hielten, viel merkwürdiger. Schließlich besaß der Mensch die Freiheit und meist auch die Möglichkeit, alles zu tun, was ihm in den Sinn kam. Das war das eigentlich Furchterregende.

Leute wie Sugioka und Shinohara waren durchaus gefährlich, aber nicht so unberechenbar wie viele andere, die es in den Park verschlagen hatte. Obwohl man sie aus der Gesellschaft, aus ihren Familien ausgestoßen hatte und ihre eigene Regierung sie ihrer Ersparnisse beraubt hatte, bemühten sie sich noch immer, an irgendetwas zu glauben. Nicht weil sie das unbedingt wollten, sondern weil sie nicht leben konnten, ohne sich an etwas zu klammern. Anders als Sugioka, Shinohara oder auch Ishihara hatten diese Obdachlosen und auch die Ehrenamtlichen keine festen Konturen. Ihre Gesichter, ihr Verhalten und ihre Bewegungen hatten immer etwas Ungreifbares und gaben der ganzen Szenerie etwas Tagtraumhaftes.

»Außerdem hatte er von Anfang an keinen Code. Er hat ihn nicht verkauft, er hatte nie einen. Ganz sicher wird dieser Typ irgendeinen Unsinn fabrizieren.«

Der Kahle sprach von dem elfstelligen Registriercode, der in den Ausweis eingespeichert oder verschlüsselt in ein Mobiltelefon eingegeben wurde und zur Identifizierung des betreffenden Staatsbürgers diente. Einige Obdachlose im Ryokkō hatten ihren Code an Ehrenamtliche von der chinesischen Mafia verkauft. Die Betreuung des elektronischen Einwohnermelderegisters, genannt Juki Net, war an große chinesische und indische Firmen outgesourct worden. Der Besitz eines solchen Codes versetzte die chinesische Mafia in die Lage, ins Juki Net einzudringen und die dort gespeicherten Informationen zu manipulieren. Anschließend verkauften sie den Code für viel Geld an illegale Ausländer oder Leute, die eine neue Identität brauchten. Allerdings gab es auch – einige wenige – Japaner, die keinen Code besaßen. Shinohara hatte keinen und Nobue und Ishihara auch nicht.

Dies lag nicht daran, dass sie straffällig geworden waren. Bei der Einführung des Meldesystems waren einige Personen herausgefallen – beispielsweise wer aus seinem Familienregister gestrichen worden war, oder Kinder von Sektenmitgliedern, die jegliche Registrierung verweigerten. Nobue hatte seine Codenummer nie gesehen und auch kein Interesse daran. Er war bei seinen Eltern in Hachiōji in Tokio registriert gewesen, aber als er mit Ishihara wegen des Bombenanschlags in Fuchū verhaftet worden war, hatten seine Eltern ihn aus dem Familienregister streichen lassen. Er besaß keinen Ausweis, keine Kreditkarte, keinen Führerschein und keine Versicherung. Seinen Code nicht zu kennen war das Gleiche, wie keinen zu haben.

 

»Da ist er. Du redest mit ihm, Nobue, ja? Sag ihm, er soll abhauen.«

Der Junge saß auf einem Klappstuhl zwischen einem Stand mit alten Zeitungen und Zeitschriften und einer Metzgerei. Nobue ließ den Kahlköpfigen stehen und ging langsam auf den Jungen zu, der ihn noch nicht bemerkt hatte. Die wenigen Zwischenräume zwischen den unzähligen Läden dienten als Gassen. Rauch quoll aus dem Ofenrohr eines Imbiss-Zeltes mit der Aufschrift Soba – Udon. Bis vor zwei Jahren hatten sie im Rahmen eines Ernährungsprogramms die Nudeln kostenlos ausgegeben, aber seit die Ehrenamtlichen von der Mafia aufgetaucht waren, gab es nichts mehr umsonst. Eine Schale Udon kostete dreihundert Yen, dennoch kosteten die Dinge im Ryokkō nur halb so viel wie draußen. Ein Mann und eine Frau teilten sich gerade eine Schale Udon, wobei sie sich die Nudeln mit ihren abgenutzten Wegwerfstäbchen einzeln und fürsorglich in den Mund schoben.

Neben dem Udon-Zelt gab es einen Laden mit Camping-Laternen und Kerzen und gegenüber einen mit Lampenöl und Benzin, neben dem sich gebrauchte Autoreifen stapelten. Dann kam ein kleiner Stand, an dem ein dürres Männlein leere Einwegfeuerzeuge wieder auffüllte. Auf wenigen Metern drängten sich die verschiedensten Buden, einschließlich einer Werkstatt für tragbare Generatoren, einem Stand mit gebrauchten Strumpfhosen und einem mit hausgemachtem Lippenbalsam. Die Strumpfhosen verkaufte eine junge Frau mit ungesunder Gesichtsfarbe und der Figur eines Dinosaurierbabys. Hinter einem Laden mit Gemüse und Eingelegtem türmten sich Essensabfälle. Ein alter Mann, der mehrere Lagen Pullover übereinander trug, wühlte darin. Auch Nobue spürte die Kälte, und seine Hüfte schmerzte wieder mehr. Er sehnte sich nach einem heißen Getränk. Eigentlich hatte er schon nach der Toilette etwas trinken wollen, es aber über der Annehmlichkeit des heißen Handtuchs vergessen.

»Morgen, Nobue«, sprach ihn ein Mann an, der eben noch über Lautsprecher zwei Flaschen Scotch zum Preis von zehntausend Yen angepriesen hatte. Er war Ende zwanzig, hatte ein hübsches Gesicht und trug das gleiche Kunststoffblouson wie der Kahlköpfige, nur mit der Aufschrift Frieden und Harmonie. Er war halb Kolumbianer, halb Japaner. »Ich brauche was Heißes zu trinken«, sagte Nobue, woraufhin der Mann den Lautsprecher auf das Regal mit den Whiskyflaschen legte, Haltung annahm und fragte, was »Herr Nobue« denn zu trinken wünsche. »Egal, irgendwas. Kakao oder so. Zwei Becher«, erwiderte dieser. Nobue hatte die Ahnung, dass der Junge vielleicht auch einen wollte.

»Kakao. Zu Befehl.« Der gut aussehende junge Mann verließ den Laden.

»Hast du nicht gehört? Ich sagte egal. Nur heiß muss es sein. Kakao oder sonst was.« Erschrocken über die barsche Zurechtweisung stürzte sich der junge Mann ins Getümmel und kehrte binnen Kurzem ein wenig außer Atem mit zwei Pappbechern dampfend heißen Kakaos zurück.

Der Junge, mit dem Nobue reden sollte, blickte ziellos in die Ferne. Ein Schnitt an seiner Lippe hatte sich entzündet und war rot und geschwollen. Auf dem Rücken trug er eine Art flachen Rucksack aus schwarzem Leder in einer sonderbaren Winkelform. Das weiche Haar fiel ihm in die Stirn. Nobue überlegte, wie alt er sein mochte. Er hätte dreizehn, aber auch Ende zwanzig sein können. Je nach Perspektive. Nobue reichte ihm einen der Pappbecher, und der Blick des Jungen wanderte von den Wolken zu dem Becher, von dort über Nobues Hand seinen Arm hinauf bis zu seiner Schulter und blieb an seinem Gesicht hängen. Der Dampf stieg zu seinen Stirnhaaren hinauf. Er wirkte verständnislos.

Gegenüber war ein Stand mit allen möglichen großen und kleinen Batterien. Auf dem Boden lagen Werbeblätter für eine Samenbank, auf denen in großen roten Zeichen stand: ABSOLVENTEN DER UNIVERSITÄTEN TOKIO, KIOTO UND HITOTSUBASHI MIT ZERTIFIKAT – JEWEILS 30.000 YEN. Etwa zehn Meter hinter dem Batterienstand in Richtung Südwäldchen gab es einige provisorische Latrinen. Eigentlich waren es nur Löcher im Boden, die mit ein paar Pappdeckeln abgeschirmt waren. Sie waren für die Leute, die sich die richtigen Toiletten nicht leisten konnten. Eine dicke Frau mit gelb gebleichtem Haar verrichtete dort gerade ihr Geschäft. Dabei kämpfte sie mit ihrem verschlissenen Strickrock, sodass ihr ausladendes Gesäß durch einen Spalt zwischen den Pappdeckeln sichtbar war. Als sie sich gleich darauf erhob, um sich den Hintern abzuwischen, exponierte sie ihre wabbligen Beine, aber keiner der Leute, die dort herumlungerten, würdigte sie auch nur eines Blickes.

Der Junge nahm den Kakao. »Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte Nobue. Der Junge musterte ihn einen Moment und nickte.

»Dein Rucksack hat aber eine komische Form. Was hast du denn da drin?«, fragte Nobue, woraufhin der Junge zu Boden starrte und etwas Unverständliches murmelte. »Was? Ich kann dich nicht hören. Kannst du ein klein wenig lauter sprechen?« Nobue musste lachen, sodass sein Kakao überzuschwappen drohte.

Vor der Fleischerbaracke brutzelten Schnitzel, Frikadellen und Kroketten in einer Fritteuse, die einen stechenden Geruch nach kochendem Öl und verbranntem Teig aussandte. Zwei Männer mittleren Alters aßen panierte Hamburger und starrten Nobue mit verschmierten Mündern voller Brotkrümel an.

»Was ist los? Hab ich was Komisches gesagt?«, fragte der Junge mit heiserer Stimme.

»Nein, aber du sprichst so leise, dass man überhaupt nichts hört. Genierst du dich? Wo so eine Fette in der Öffentlichkeit kackt, braucht man sich nicht zu genieren.« Sein Lachanfall schien mit jedem Wort stärker zu werden, bis er gar nicht mehr aufhören konnte.

»Tut mir leid«, sagte der Junge, als Nobue sich endlich wieder gefasst hatte und sich die Tränen aus den Augen wischte.

»Du musst dich nicht entschuldigen. Sag mir nur, was du in deinem Rucksack – «

»Einen Bumerang«, fiel ihm der Junge nun laut und deutlich ins Wort.

»Ach was?« Nobue wusste nicht genau, was ein Bumerang war. Der Junge stand auf und ging durch die Gasse an der Metzgerbaracke in Richtung Wäldchen. Nobue folgte ihm. Auf dem Brachland vor dem Südwäldchen gab es lediglich die mit Pappe abgeschirmten Klolöcher und einen Müllplatz. Auf einer der überquellenden Tonnen saß eine Krähe. Die Ehrenamtlichen stellten für gewöhnlich ein paar Obdachlose ab, die den Müll einsammeln sollten, aber da es Winter war, hatte sich niemand darum gekümmert. Das Gelände war auch bei Frost immer ein wenig matschig, und das Wasser auf dem Gras durchnässte Nobues Turnschuhe und tränkte den Saum seines langen Daunenmantels. Die Ehrenamtlichen ließen nicht zu, dass dort jemand eine Hütte oder ein Zelt aufstellte. Wer es dennoch versuchte, wurde brutal vertrieben, denn die Leute aus dem Wohngebiet hinter dem Wäldchen bezahlten dafür. Oben auf dem Hang, wo die Bäume spärlicher wurden, hatte man einen Stacheldrahtzaun gezogen. Unmittelbar dahinter lag das Wohngebiet, dessen Bewohner, wenn sie ihre Hunde ausführten, häufig am Zaun stehen blieben und den Park durch ihre Ferngläser beobachteten.

Der Junge machte Halt, nahm den Rucksack ab und zog einen sichelförmigen silbrigen Metallgegenstand daraus hervor. Der Bumerang hatte in etwa die Länge einer Whiskyflasche. Der Griff war mit Schnur umwickelt und die innere Kante messerscharf geschliffen. Der Junge fasste den Griff, fasste ihn noch einmal und zeigte auf die Tonne mit der Krähe. Aha, ein Bumerang war also ein Wurfgegenstand, dachte Nobue. Schon zischte der Bumerang über das Feld und schien dabei immer schneller zu werden, bis Nobues Augen ihm nicht mehr folgen konnten. Hin und wieder funkelte das Metall in der Sonne. Es sah aus, als würde der Bumerang Blitze aussenden. Die Klinge sauste in gerader Linie auf die Tonne zu. Weder Vögel noch Flugzeuge noch Gewehrkugeln oder Pfeile flogen auf diese Weise. Offenbar wurde dieses Ding durch die Drehung immer schneller, fing den Wind ein und hielt dabei die Richtung. Etwas barst auf der Tonne wie ein schwarzer Ballon. Der Bumerang schien kurz inne zu halten, bevor er die Richtung änderte, rotierend mit womöglich noch größerer Geschwindigkeit zurückraste und schließlich zu Füßen des Jungen im Boden stecken blieb.

»Ist das eine Waffe?«, fragte Nobue den Jungen, als sie die blutigen Reste der Krähe an der Tonne inspizierten.

Dieser nickte, während er Schleim, Blut und Schmutz von der Klinge abwischte und seinen Bumerang wieder einpackte. Sein Blick war nun ein anderer. Wie der von Sugioka, nachdem er die Frau getötet hatte. Der Junge fühlt sich vermutlich nur am Leben, wenn er mit seinem Bumerang etwas Lebendiges zerfetzt, dachte Nobue. Am besten, er schickte ihn zu Ishihara nach Fukuoka. Hier war es nur eine Frage der Zeit, bis er jemanden umbringen würde.

 

 

 

Prologue 2

Pjöngjang, Demokratische Volksrepublik Korea

21. März 2010

 

Büro 3, Vorführraum 1

 

 

Pak Yong-su hatte spät am Abend zuvor den Befehl erhalten, sich im Büro 3 einzufinden, in dem sich das für gegen den Süden gerichtete Maßnahmen zuständige Sekretariat der Arbeiterpartei befand. Eine Order nach zehn Uhr abends verhieß nichts Gutes, zumal ihm die Botschaft auch noch Jang Jin-myeong vom Kultusministerium übermittelt hatte. Jang Jin-myeong und er waren schon Kommilitonen an der Universität gewesen, aber so etwas war noch nie vorgekommen. Dreißig Jahre politische Laufbahn hatten Pak Argwohn gegenüber außergewöhnlichen Vorkommnissen gelehrt. Jang Jin-myeongs Fachgebiet an der Kim Jong-il-Militärakademie war osteuropäische Kunst gewesen, und er war eigens von der Parteiführung ins Kultusministerium berufen worden. Pak selbst hatte Philosophie und Anglistik studiert und einen Posten im Politbüro der Volksarmee erhalten. Als Mitglied des Führungskaders der fünften Einheit für Sondereinsätze hatte er sechzehn Jahre lang Japanisch gelernt und unterrichtete es seit vier Jahren selbst an seiner Universität.

»Es ist lange her, aber du siehst gut aus«, sagte Jang Jin-myeong lächelnd, als er den Raum betrat, doch die Augen hinter seiner Brille lächelten nicht. Ihre letzte Begegnung lag in der Tat etwa zehn Jahre zurück. Jang war ein gerissener alter Fuchs, dessen Wachsamkeit nie nachließ, aber so angespannt wie heute hatte Pak ihn noch nie erlebt. Das verstörte ihn. Jangs blaue Jacke war zu eng, wie bei einem Komiker im Film, er trug einen roten Polyester-Schlips, und auf seinem über den Bauch gespannten Hemd, das ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem berühmten Riesenwaran im Zoo von Pjöngjang verlieh, prangte ein gelber Fleck. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht, obwohl die Temperatur in Paks Büro keineswegs hoch genug war, um einen Mann selbst von Jangs Umfang ins Schwitzen zu bringen.

Als ihm ein Wachmann per Telefon angekündigt hatte, dass Jang auf dem Weg zu ihm sei, hatte Pak den Computer auf seinem Schreibtisch hastig ausgeschaltet, denn er hatte die Homepage der japanischen Regierung aufgerufen. Obwohl er durchaus die offizielle Berechtigung besaß, solche Seiten zu lesen, durfte er nicht annehmen, dass sein Kollege notwendigerweise ein Verbündeter war. Er hatte jüngst den Befehl erhalten, noch strikter auf alles zu achten, was innerhalb des Politbüros gesagt oder getan wurde. Unter ihrer demokratischen Regierung hatten die USA ihre Position gegenüber der nordkoreanischen Republik in den letzten drei Jahren deutlich gemildert. Mit dieser Annäherung hatte sich auch die politische Lage in Nordkorea leicht verschoben. Das Resultat war ein Aufstieg der Reformfraktion, mit dem ein Niedergang der Hardliner einherging. Aber auch die Befürworter eines drastischen Umschwungs und einer wirtschaftlichen Liberalisierung waren einer Säuberung zum Opfer gefallen.

Es hatte Gerüchte gegeben, dass der Geliebte Führer und oberste Befehlshaber der Koreanischen Volksarme Genosse General Kim Jong-il die Herrschaft abgeben könnte, aber diese den militärischen Falken zu überlassen kam nicht infrage, und unter den Reformern gab es keine charismatische Führerfigur. Weder die Amerikaner noch die Chinesen hatten Interesse daran, dass ein Machtwechsel womöglich einen Konflikt auslöste. Ganz gleich, ob die Reformer die Zügel an sich reißen würden oder die Hardliner erneut an die Macht kämen, die Aussicht, dass Kim Jong-il durch eine kollektive Führung ersetzt würde, lag in weiter Ferne. Der Geliebte Führer hatte selbst zweimal in der Presse und im Fernsehen verkündet, dass »das Tauwetter noch lange auf sich warten lassen« würde. Überdies hatte er das Sprichwort »Pilze im März sind giftig« zitiert und damit angedeutet, dass überstürzte Worte und Taten sich als schädlich für die Gesamtpolitik erweisen könnten. Einige hatten gewagt zu äußern, dass nun Japan eine größere Bedrohung für die Nation darstelle als Amerika, aber niemand brauchte Pak daran zu erinnern, wie gefährlich diese Position sein konnte. Sich mit den Reformern oder den Traditionalisten zu verbünden war gleichermaßen riskant. Vielleicht diente Jangs später Besuch, ohne die Vermittlung ihrer jeweiligen Sekretäre, der Suche nach einem Sündenbock, einem der in der Mitte feststeckte. Vielleicht kam er, um in Paks Arbeiten oder seiner Einstellung eine heimliche Hinwendung zu Amerika zu entlarven.

»Entschuldige meinen plötzlichen Besuch um diese späte Stunde, Genosse Pak«, sagte Jang, während er sich wieder die Stirn wischte und auf seine Armbanduhr sah. Es war eine silberne Rolex, auf deren Rand die Initialen des Geliebten Führers eingraviert waren. Jangs Beziehungen zur europäischen Filmbranche hatten der Republik einige Rolex-Uhren beschert.

»Das macht überhaupt nichts«, antwortete Pak. »Wie du weißt, bin ich noch immer Junggeselle. Außerdem heißt es ja ›Schmetterlinge im Winter sind seltener Besuch‹.«

Er schmeichelte Jang aus Vorsicht, dennoch war es Pak unangenehm, seinen fünfzigjährigen, fetten und hässlichen Besucher mit einem Schmetterling zu vergleichen.

»Danke. Es geht nichts über alte Freundschaft. Aber was für eine wunderbare Aussicht auf den Taedong du hast! Und die Beleuchtung auf der Chungsong-Brücke funktioniert auch wieder. Sie ist vielleicht noch ein wenig schwach, aber man sollte sie als Symbol für das vergangene Jahrzehnt sehen – und für die Stabilität der Führung unseres Genossen Generals.«

Die Vorhänge waren halb geöffnet und die feuchte Märzluft strömte in den Raum. Durch das Fenster hatte man einen Ausblick auf den ruhig dahinfließenden Fluss und die von der schwachen Straßenbeleuchtung erhellte Brücke, die zuvor zehn Jahre lang im Dunkeln gelegen hatte. Neuerdings schien es sogar einen bescheidenen Anstieg in der Zahl der Schiffe zu geben, die tagsüber den Fluss befuhren. Vielleicht war, wie Jang sagte, das Schlimmste vorbei, selbst wenn dies nicht an einer Verbesserung der Wirtschaft lag, sondern an der Hilfe aus den Vereinigten Staaten von Amerika und China, wo man fürchtete, das Land stünde am Rande eines Zusammenbruchs.

»Arbeitest du eigentlich immer so lange, Genosse Pak? Es heißt, deine Augen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren.«

Machte Jang sich über ihn lustig, weil er unverheiratet geblieben war und im Grunde ein ewiger Student? Oder kritisierte er unterschwellig, dass er den Computer so spät noch laufen ließ, obwohl die Nation neben allen anderen Mangelerscheinungen an chronischer Unterversorgung mit Strom litt?

Jang stammte aus Pjöngjang, Pak hingegen aus einem kleinen Dorf am Fuße des etwa zweihundertfünfzig Kilometer nordöstlich der Hauptstadt gelegenen Puksubaek-Berges. Pak war ein außergewöhnlich fleißiger Mann und hatte seit der Grundschule nicht mehr als vier Stunden pro Nacht geschlafen. Geheiratet hatte er nie, weil Ri Sol-su, das Mädchen aus seiner Klasse, in das er sich verliebt hatte, an Tuberkulose gestorben war. Pak war überzeugt, er würde nie wieder ein Mädchen wie die patente und gutherzige Ri Sol-su finden, und war deshalb allein geblieben.

Jang hatte recht mit der Bemerkung über seine Augen: Paks Sehkraft hatte rapide nachgelassen, seit er am Computer arbeitete, und das Politbüro gewährte ihm kostspieligen Neunaugen-Tran, um Abhilfe zu schaffen. Aber warum forschte Jang, der all dies ganz bestimmt wusste, nach den Gründen für Paks Arbeitseifer?

»Ich lebe allein«, erwiderte er mit einem gekünstelten Lächeln. »Ich habe keinen anderen Sinn im Leben.«

Es klopfte an der Tür, und eine Wache brachte ihnen Tee. Der Schreibtisch war so voll belegt, dass der Mann nicht wusste, wohin er die Schalen stellen sollte. Sein Blick blieb dennoch unverbindlich, denn es war streng verboten, sich im Zimmer umzusehen oder etwaigen Besuchern oder dem Computer auch nur die geringste Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Pak schob einige Papiere beiseite, um Platz zu machen. Der Wachsoldat stellte die Schalen ab und glitt lautlos wie ein Schatten aus dem Zimmer.

Pak trank von seinem Tee. »Neuerdings haben wir eine überwältigende Menge an Material, das gelesen und analysiert werden muss.« Es stimmte. Seit der amerikanischen Präsidentschaftswahl hatte sich die Situation in Ostasien drastisch verändert.

»Ich würde gern mehr über deine Nachforschungen erfahren«, sagte Jang. Er wandte sich vom Fenster ab und musterte Pak mit ernster Miene. »Welche Tendenzen gibt es in Japan? Und was bedeuten sie?«

Pak fand Jangs Interesse an diesem Thema nur zu begreiflich, dennoch fragte er sich, warum es nötig war, sich so spät am Abend zu treffen. Außerdem berichteten die japanischen Medien unablässig von der in ihrem Land herrschenden Krise. Vielleicht ging es Jang aber auch nur um eine Überleitung zu dem bevorstehenden Gespräch.