Frank L. Mause

Jetzt wird´s grenzlich:

Mord(s)genau!

Der Grenzkrimi vom schmalen Grat
zwischen
Sauerland und Waldeck

Regionaler Kriminalroman

Juli 2018

Frank L. Mause: Mord(s)genau

Übersicht

• Kurzgefasst

• Hauptrollen

• Autor

04.05. Vorspiel

04.06. Mord?

06.06. Zuständig

07.06. SoKo 843

08.06. Tatort

09.06. Tatverdächtig

10.06. Verfolgungsjagd

11.06. Hausdurchsuchung

12.06. Pressekonferenz

13.06. Fahndung

14.06. Zweifel

15.06. Verhör

16.06. Endlich

• Anhänge:

A: Personenregister

B: Sauerländisch – Hochdeutsch

C: Das Sauerland

Danksagung

Kurzgefasst

Ein Notruf geht in der Nacht zu Pfingstsonntag bei der Leitstelle der Briloner Polizei ein. Als die Beamten den Anrufer mitten im Wald finden, hat ein gefällter Baum seinen Wagen völlig zerstört. Helmuth Höhle, genannt der „singende Wirt von der Upländer Alm“, ist tot, die Tageskasse fort. Die Leiche befindet sich exakt auf der Ländergrenze, wie ein Vermessungstrupp feststellen muss; die Zuständigkeiten sind zunächst unklar. Also wird eine länderübergreifende SoKo gegründet.

Es stellt sich heraus, dass der „singende Wirt“ mit nahezu jedem im Streit lag: Er hatte die Kasse seiner Gaststätte ausgeplündert, drohte den Sohn zu enterben, behandelte sein Personal wie Sklaven und geriet auch sonst mit jedem Willinger in Zwist. Kein Wunder, dass seine Frau ihm nicht treu bleibt. Nacheinander prüfen die Polizisten Jo Nigge und Wil Wagner alle Verdächtigen. Der erste Hauptverdächtige ist der Kellner. Er war am Tatort und braucht Geld. Allerdings hatte er die Beute definitiv nicht dabei, als er direkt nach dem Mord durchsucht wurde. Trotzdem: Hier stimmt etwas nicht. Ist es sein Konkurrent, der wegen des Opfers in die Pleite abdriftet? Oder ist es etwa der große Unbekannte?

Hauptrollen

Hinweis: Ein ausführliches Personenregister ist am Ende des Romans.

Titelheld ist Johannes Nigge, genannt Jo. Er ist noch jung, hat den besten Abschluss auf der Polizeischule in Münster gemacht und wollte in Köln seine Karriere starten. Das ging gründlich schief, und er wurde zurück ins Hochsauerland strafversetzt – in seine Heimat. Dort hofft er auf Rehabilitation.

Dabei läuft ihm wieder seine Jugendliebe Susanne Balkenhol über den Weg, die er damals sitzen ließ. Sie ist jetzt Vermessungsingenieurin und weiß genau, wo es lang geht.

Sein unfreiwilliger Partner ist Wilke Wagner, genannt Wil. Der gebürtige Offenbacher hatte bei der Frankfurter Kripo einen Burn-Out. Ins beschauliche Waldeck versetzt, dachte er eigentlich, eine ruhige Kugel schieben zu können.

Doch er hat die Rechnung ohne den Mörder von Helmuth Höhle, den Wirt von der „Upländer Alm“, gemacht. Denn wer von den zahlreichen Tatverdächtigen kommt als Täter in Frage? Es ist eben kein alltäglicher Fall im Grenzgebiet von Sauerland und Waldeck, woll?

Autor

Frank L. Mause, geboren 1964 in Bruchhausen an den Steinen (Hochsauerland), durchlief ab 1984 eine knapp zehn Jahre währende Laufbahn vom Rekrut bis zum Offizier. In dieser Zeit studierte er Geodäsie an der Universität der Bundeswehr München und leistete Verwaltungshilfe beim „Aufbau Ost“ in Sachsen-Anhalt. 1996 schloss er das 2. Staatsexamen ab und trat in den hessischen Landesverwaltungsdienst ein. Seit 2010 ist er Leiter des Amtes für Bodenmanagement Korbach.

Sein Debüt als Autor gab er 2016 mit dem Science-Fiction-Roman „Der ganz reale Tod – Verloren zwischen Netz und Wirklichkeit“, ebenfalls bei Tredition erschienen.

Mause lebt mit seiner Familie in Bad Arolsen, fährt gern Rennrad und liest viel – meist Science-Fiction und Krimis.

Vorspiel

„Wir haben heute Donnerstag, den

4. Mai.

Liebe Leute, hier ist wieder Radio Hochsauerland, der Sender aus den Höhenlagen unserer Heimat.

Das Wetter ist fabelhaft, Sonne satt bis zum Abwinken, gegen Abend aufkommende leichte Bewölkung, die Nacht bleibt vielleicht sogar trocken. Der Regen kommt bestimmt – aber erst morgen.

Mein Name ist Konny Kracht. Ich moderiere die allseits beliebte Morning-Show „Bis es Kracht“.

Weiter geht es nach der spannenden Werbung mit dem Klassiker ‚Sauerland, mein Herz schlägt für das Sauerland‘ von Zoff, …“

#

CINDY BUTTERWECK hasste ihren Job. Er brachte mit sich, dass sie sich allerlei gefallen lassen musste. Höhle, ihr cholerischer Chef, meinte, die Bayerntracht wäre das ultimative Accessoire, um Touristen in die Upländer Alm zu locken. Das saublöde Mieder im Dirndl engte ganz schön ein, sie bekam kaum Luft. Und dann noch dieses extrem tiefe Dekolleté! Wer hatte sich nur so einen Quatsch überlegt?

Vor allem Kegelclubs, Junggesellenabende und ähnliche Veranstaltungen kamen ihr wie Spießrutenlaufen vor. Jeder Trottel meinte, lustig zu sein, obwohl er nur noch peinlich lallte.

Ihr Chef verlangte sogar, dass sie bayrisch klingen sollten. Er hatte ihnen unzählige Videos mit bayerischen Jodelfilmen als Anschauungsmaterial mitgegeben. Trotzdem im Resultat natürlich hoffnungslos: Wie ihre Vorfahren seit ungezählten Generationen lebte sie im Upland und hatte sich niemals dem Weißwurschtäquator auch nur im Entferntesten angenähert. Sie fuhr lieber an die Nordsee und ließ die weißschäumenden Wellen um ihre nackten Füße spülen, während sie die würzige Salzluft inhalierte. Das fühlte sich besser an als in diesem depperten Bayern! Deppert? Hatte sie gerade tatsächlich ‚deppert‘ gedacht? Der Job färbte allmählich ab. Sie sollte aufhören!

Das Schlimmste am Job war ihr Chef selbst. Der meinte, alle Mädels stünden auf ihn, obwohl er gut und gerne ihr Vater, ach was, ihr Opa sein könnte. Schon öfter hatte er ihr wie zufällig die Hände um die Taille gelegt, gerne auch höher. Sie wehrte sich jedes Mal energisch, aber sie brauchte den Job. Sie hatte nichts anderes gelernt. Wenn er sie entließe, gäbe ihr niemand in Willingen und Umgebung einen Job. Dazu verfügte der Chef über zu viel Einfluss. Den einzigen Trost spendeten die wirklich reichhaltigen Trinkgelder, darüber mochte sie sich nicht beschweren.

Außerdem brüllte Höhle ständig herum. Er könnte einfach ruhig sagen, was er wollte. Stattdessen schrie er wie am Spieß, wenn ihm, was auch immer, nicht passte. Da er stets unzufrieden war, war es ihr mittlerweile egal, was sie tat, er zeterte ja doch rum.

Heute gebärdete er sich abermals unausstehlich! Wahrscheinlich hatte ihn seine Alte wieder nicht rangelassen. Überhaupt schien es zwischen den beiden gar nicht gut zu laufen. Wenn der Scheinwerfer die zwei in grelles Licht tauchte, strahlten sie zwar um die Wette, aber sobald die Beleuchtung erlosch, fegten die Schatten das gegenseitige Lächeln sofort weg: Alles nur Show!

„Leute, macht schon, der Boden sieht aus wie im Saustall“, verbreitete er auch in der Küche mal wieder Panik. Wenn er sich wenigstens auf die Bühne beschränkte. Aber nein, er mischte sich überall ein.

Höhle entdeckte sie. Anzüglich lächelnd näherte er sich. „Ach Cindy, für dich habe ich noch einen Spezialauftrag. Komm mal mit ins Lager.“

Höhle schob sie ungeduldig vor sich her.

Sie seufzte, was sollte das wieder? Aber er war nun mal der Boss.

Die Tür zum Schankraum schwang auf. Horst Höhle, der Sohn vom allmächtigen Boss, erschien. „Oh, hallo Cindy!“ Der Juniorchef strahlte. „Wie geht´s?“

Sie lächelte erleichtert zurück. Die Kellnerin verstand gar nicht, wie der fast schüchterne Sohn einen so dominanten Ätzvater haben konnte.

„Cindy hat keine Zeit für dich, Hotte. Ich muss mit ihr ein Erwachsenengespräch führen“, fertigte ihn sein Vater ab. Dann öffnete er die Tür in das Warenlager. Wie ein Gentleman ließ der Wirt sie vorgehen. Danach schloss er die Tür wieder.

Butterweck drehte sich verwirrt um: „Ja, Herr Höhle?“

„Warte, um die Ecke.“ Er zeigte voraus.

Sie ließ sich widerstrebend weiter drängen. Seltsam, hier lag doch sonst keine Matratze auf dem Boden?

„Also Cindy, wie lange kennen wir uns schon?“

„Äh, Herr Höhle, das werden sicher einige Monate sein, oder?“

„Es ist auf den Tag ein Jahr! Zeit, dass wir das ein wenig feiern“, er deutete auf das Regal, in dem zwei Sektgläser und eine Flasche Schampus auf ihren Einsatz warteten, „und uns etwas näher kennen lernen, nicht wahr?“

Das Mädchen erstarrte. Eine dunkle Ahnung kroch kalt in ihr hoch. Sie wollte weg, ihre Augen suchten nach einer Fluchtmöglichkeit.

„Neulich hast du doch wegen einer Gehaltserhöhung gefragt. Und die Mathilde hat endlich gekündigt. Und nun, also, wenn du willst, kannst du ihre Stellung einnehmen.“ Er lächelte gewinnend, genau wie auf der Bühne. Wie zufällig schnitt er ihr den Rückweg ab.

Die Kellnerin war jetzt unsicher: ihr Chef und Gehaltserhöhung? Was sollte das Ganze? Etwas in ihr schrie ‚Lauf weg!‘ Bloß konnte sie sich nicht bewegen.

Höhle kam langsam auf sie zu und ergriff ihre Hände. „Habe ich dir schon gesagt, dass du ein echt flotter Käfer bist? Die Tracht steht dir ausgezeichnet, du besitzt nämlich Kurven da, wo sie sein müssen. Lass dich einmal richtig anschauen!“

Wie paralysiert starrte Butterweck ihren Chef an. Der mutierte jetzt zum fleischgewordenen Alptraum! Wie kam sie hier nur heil wieder raus?

Mord?

„Wir haben heute Pfingstsonntag, den

4. Juni.

Liebe Leute, das ist das Nachtprogramm von Radio Hochsauerland, dem Sender vom Dach Westfalens.

Das Wetter ist wechselhaft, Regenwahrscheinlichkeit halbe-halbe. Das heißt, die eine Hälfte Regen und die Andere Niederschläge.

Mein Name ist Konny Kracht auf Sendung mit der bekannten Mitternachts-Show „Bis es Kracht“.

Nach der Werbung geht es weiter mit Falco und seinem Song ‚Der Kommissar‘ …“

#

JO NIGGE hatte seine blauen Augen auf ‚unendlich‘ fokussiert. Seit einer dreiviertel Ewigkeit stierte er in die endlosen Dimensionen von Raum und Zeit - wie weggetreten. Wie hatte es nur so weit kommen können? Eine einzige Katastrophe - und er spielte darin die Hauptrolle! Er hatte als Bester auf der Kriminalpolizeischule in Münster abgeschlossen. Jetzt saß er erneut da fest, wo er nie wieder hinwollte. Dort, wo er geboren war: im tiefsten, nein im höchsten Sauerland. Dort, wo nach der Feststellung der Hauptstadtpresse „im Hort des Grauens die Katholiban hausen1“. Darum zog er weniger wohl und mehr übel wieder ins alte Fachwerkhaus seiner verstorbenen Eltern: Dabei hatte er gedacht, das verschlafene Hoperinghausen für immer hinter sich lassen zu können. Die hiesige Chefin hatte ihm abermals Bereitschaft aufgebrummt. Es war spät, er konnte wie seit dem Vorfall nicht richtig schlafen. Zuviel „Warum nur“ schwirrte ihm im Kopf herum. Wieder mal verbrachte er die Nacht nicht im Bett, sondern nebenan im Sturen Landmesser. Er war seit Stunden der einzige Gast. Der Wirt schnarchte inzwischen längst in seinem Ohrensessel neben dem leise bollernden Kachelofen.

Jo überlegte zu verschwinden. Wenn er sich jetzt schlafen legte, wälzte er sich wieder nur von einer Seite auf die andere. Also blieb er sitzen, wo er war: Auf seiner abgewetzten Eckbank, deren in die Jahre gekommener Stoff nur noch in seiner Erinnerung rotweiß leuchtete, dämmerte er vor sich hin. Als in die Provinz zwangsversetzter Polizist hatte er viel Zeit zum Grübeln. Ein Glas trüber Apfelsaft, Alkohol kam bei Bereitschaft nicht in Frage, wartete vergeblich darauf, getrunken zu werden.

Dabei hatte alles vielversprechend angefangen. Jo erinnerte sich noch genau an die aufregende Fahrt mit dem ICE nach Köln. Als er über die majestätische Hohenzollernbrücke die trägen Fluten des Rheins überquerte, bedeutete das für ihn das Überschreiten einer roten Linie: endlich am Ziel! Er bestaunte die Doppeltürme des Doms, die wie ein gigantisches Victoryzeichen in den tiefblauen Himmel ragten; schließlich erreichte er gleich seine Wunschstelle im Kölner Zentrum. Die Einfahrt in den geschäftigen Hauptbahnhof, wie oft hatte er sich das vorgestellt! Wie er im Schatten der allgegenwärtigen Kirchen in der uralten Stadt ermittelte, seine erste Verhaftung, sein erstes Verhör. Dann dieser bescheuerte Anfängerfehler! Das gänzlich unerquickliche Gespräch mit dem Vizepolizeipräsidenten, die Versetzung, nein, eher Verbannung zurück nach Hause. Ausgerechnet wieder ins Hochsauerland, als wüsste der Vize genau, wie er Jo am meisten ärgern könnte. Er hatte noch versucht, das Schlimmste zu verhindern, kapierte aber schnell, dass er nicht in der Position zum Verhandeln stand.

Es dauerte eine Weile, bis etwas an seiner Aufmerksamkeit zupfte. Ein merkwürdiges, durchdringendes, immer wiederkehrendes Schrillen. Überrascht scannten die Augen die Umgebung: ein fleckiger Holztisch, ein halbleeres Glas Apfelsaft in der Faust, im Hintergrund die hölzerne Theke. Die Standuhr zeigte zwanzig vor vier, allerdings Sauerländer Ortszeit, wie Tante Flitze zu sagen pflegte: Das Uhrwerk ging täglich nach. Was hatte seine Aufmerksamkeit erregt? Was? Das Telefon! Natürlich, jemand rief ihn an!

Ungeschickt kramte Jo das Mobile aus der Tasche des Jacketts. Ein stilisiertes Blaulicht auf dem Bildschirm blinkte im Takt mit dem Signalton. Tatsächlich: Die Einsatzzentrale! Ein Fall? Wohl kaum. Jetzt hockte er seit Wochen in seinem winzigen vermieften Büro unter dem steilen Dach der Polizeistation Brilon und kein Schwein hatte angerufen. Sicher verwählt. Der Anrufer blieb hartnäckig. Schließlich seufzte der Polizist. Er nahm ab.

„Nigge?“

„Hier is’ Beule, Einsatzzentrale, woll?

Ah, ausgerechnet Paul Beule: „Was liegt an, Paul?“

„N’Abend Jo, wir ham ’nen Einsatz.“

Bestimmt ein besoffener Tourist aus den niederen Landen, der wissen wollte, ob die Sommerzeit auch im Sauerland gilt. „Um was handelt es sich?“

„So wie’s aussieht, ham wer ’nen Toten.“

Jo sog scharf die Luft durch die Nase ein. „Mord?“

„Genau kann ich datt nich’ sagen, die Verbindung zur Streife is’ tinnef, wurde unterbrochen, praktisch Zero Empfang. Aber datt jemand tot ist, daran besteht kein Zweifel. Die Leiche is’ voller Blut. Was nich’ gerade ein Wunder is’, sitzt im völlig zerbeulten Auto unter ’nem umgestürzten Baum.“

„Was ist los? Ein umgestürzter Baum ist auf einen Wagen gekracht? Ist das nicht eine Sache für die Streifenhörnchen von der Verkehrspolizei?“

„Nö! Weil der Tote vorher einen automatisierten Notruf abgegeben hat, datt ihn jemand überfallen tut!“

„Moment, das ist jetzt ein kleines bisschen verwirrend. Ein Raubüberfall mit einem … Baum? Wer hat denn alarmiert?“

„Oh, dass is’ne irre Geschichte: Helmuth Höhle, ick buchstabiere: Heinrich-Ökonom-Heinrich-Ludwig-Emil, woll?“ Beule zögerte, offensichtlich wartete er auf einen Kommentar.

„Ja, und?“

„Tut’s nich’ klingeln?“

Jo durchforschte die Untiefen seines Gedächtnisses: „Du meinst doch nicht etwa den Helmuth Höhle, den singenden Wirt von der Upländer Alm?“

„Abba genau den!“

„Paul, das ist drüben in Willingen, das gehört zu Waldeck! Und das wiederum liegt in Hessen. Wieso läuft der Notruf bei uns auf?“

„Also, der hat doch so’nen automatisierten Oschi von Notrufpieper bei sich, weil der praktisch mit de’ ganze Kasse durch’n Wald muss und dort niemals nie Handyempfang is’. Forderung von de’ Versicherung oder so. Das Ding is’ besonders stark und ’nen Funkmast auf unserer Seite hat datt Signal gekricht. Die Verbindung ist schließlich abgebrochen. Darauf hab’ ick d’e Hessen informiert un’en Kalle raufgeschickt. Der hat datt Malheur dann entdeckt. Aber d’e Funkverbindung ist dann wie’er zusammengeklappt.“

„Kalle? Du meinst Karl-Heinz von und zu Wiegelmann? Ist das der verkappte Motorsportler? Gut, also Karl-Heinz und wer noch?“

„Äh … praktisch keener.“

„Das ist gegen die Dienstvorschrift!“

„Verdorrich nochma’, Pfingsten krank werden praktisch auch, woll? Den Kai-Maximilian hat’s doch kalt erwischt. Wir ham halt praktisch keenen mehr da.“

Jo seufzte ergeben: „Gut, oder eben nicht gut. Wo ist der Tatort?“

„Irgendwo im Wald, Moment, ah hier, ja praktisch zwischen Bruchhausen und Willingen, gleich beim Langenberg umme Ecke.“

„Du, ich sitze praktischerweise in Hoperinghausen. Wo genau?“

„Tja, im dichten Wald hat auch datt GPS kein richt’ges Signal, woll? Ick givv’ dir mal dem Kalle seinen letzten Standort.“

Ein Signalton. „Okay, ich habe die Koordinaten erhalten.“

„Am besten kommt de’ Kalle widder runner und holt dich in Hoperinghausen ab oder ihr trefft euch beim Skilift. Das Navi kannsse da oben vergessen.“

„Ich weiß. Aber Kalle soll bleiben, wo er ist. Vielleicht ist der Täter noch im Wald und hofft darauf, dass Kollege Wiegelmann wieder geht - falls es kein Fehlalarm ist. Ich finde den auf jeden Fall.“

„Ach stimmt, du biss’ doch von hier wech. Watt ick schon imma fragen wollte: Wieso hass’e dich praktisch denn gezz von Köln wieder zurückversetzen lassen?“

„Weil ich anregende Gespräche mit dir in der lauen Pfingstnacht schätze.“

„Echt? … Ach komm gezz!“

„Erst der Notruf und dann der Tote augenscheinlich von einem umgestürzten Baum erschlagen. Also ein mögliches Verbrechen. Kriminaltechnik verständigt?“, wechselte Jo rasch das Thema.

„Ja, abba im HSK ha’m wir keine Nachtschicht, weisse doch, woll? Die müssen erst von Dortmund hochkommen. Datt dauert mindestens anderthalb bis zwei Stunden.“

„Klar, ich mache mich auf den Weg.“ Jo klickte auf das Hörersymbol. Dann streckte er sich ausgiebig.

Der Wirt rieb sich den Schlaf aus den Augen: „Wass’n los?“

„Ich habe einen Einsatz, Onkel Au. Ich habe dir doch schon vor Stunden gesagt: Geh Schlafen.“ Jo angelte sich seine Jacke von der Garderobe hinter der Tür.

„Schlafen? Aber ich bin nicht müde.“

Jo verdrehte die Augen. „Geh ins Bett, Tante Flitze wartet bestimmt.“

„Wenn meine bessere Hälfte müde ist, soll sie selber schlafen. Ich bin nicht müde, ich kann genug pennen, wenn ich im Altersheim bin.“

Jo verkniff sich ein Grinsen. So fit wie Onkel Au mit seinen knapp achtzig Jahren die Wirtschaft betrieb, musste das Altersheim wohl noch warten. „Dann bis morgen und schreib bitte an. Ach ja, und schließ ab.“

„Abschließen? Wir sind immer noch in Hoperinghausen.“

Jo winkte resigniert ab. Sein Atem dampfte in der kühlen Nacht, als er leise die Tür der Kneipe hinter sich schloss. Alles finster, nur durch die Sprossenfenster der Gaststube sickerte schwacher Lichtschein auf den Weg. Dann fiel sein Blick auf den Dienstwagen. Er sackte sichtlich zusammen: Da stand der Stolz der Briloner Wache, ein uralter Passat. Dreihundertfünfzigtausend auf dem Tacho und sprang nur an ganz besonderen Tagen an. Da Mitternacht durch war, hoffte er das Beste: Hatte der Papst heute nicht Geburtstag oder so? Na, wenn das kein besonderer Tag war, um anzuspringen, dann wusste er es auch nicht.

#

POLIZEIHAUPTMEISTERIN SCHLUCKEBIER nahm den Anruf an: „Also Einsatzzentrale, was genau sollen wir tun?“

Ihr junger Kollege drückte bereits das Gaspedal durch das Bodenblech. Gekonnt steuerte er den Streifenwagen die zahlreichen Kurven entlang nach Willingen rein. Eben passierten sie im Höllentempo das Eisenbahnviadukt. Blau zuckende Lichter spiegelten sich in den Fensterscheiben der Häuser. Zum Glück zeigten sich um diese Uhrzeit nur noch die härtesten Feierbiester.

„Vor wenigen Minuten erreichte ein Notruf die Einsatzzentrale Hochsauerland. Mutmaßlicher Überfall auf, jetzt hör zu, den ‚singenden Wirt‘ von der Upländer Alm. Kennst du doch, oben am Hang des Langenbergs. Und der hat die Tageseinnahmen dabei. Folgende Planung: Ihr fahrt erst auf der Hoppecketalstraße auswärts und postiert euch am Abzweig zur Hoppeckequelle, ihr wisst schon, da, wo es vom Waldweg zur Alm abgeht. Die Koordinaten schicke ich gleich. Damit sperrt ihr den einzigen befahrbaren Weg runter nach Willingen. Der oder die Täter müssen dort vorbei.“

Schluckebier kannte sich aus: „Was ist mit dem Waldweg über den Langenberg nach Hoperinghausen?“

„Den sperren bereits die Kollegen vom Hochsauerland.“

Der Fahrer fluchte, als er einem Betrunkenen gerade noch ausweichen konnte, der trotz blitzendem Blaulicht auf die Straße wankte. Kurz ließ er das Martinshorn dröhnen. Erschrocken zuckte die Gestalt zurück.

„Verstanden Einsatzzentrale.“

Mit röhrendem Motor bogen sie in den Feldweg ein. Krumme Zaunpfähle mit verbogenem Stacheldraht huschten durch das Fernlicht. Ein Schlagloch nach dem anderen ließ den Wagen ächzen. Kies spritzte klackernd zur Seite, als die Streife abrupt bremste: Sie hatte die Abzweigung erreicht. Hier begann der dichte Fichtenwald, jenseits des Lichtkegels nur zu erahnen.

„Stell’ den Wagen quer hin, damit, wer auch immer, sich nicht durchquetschen kann“, kommandierte die Streifenführerin. „Und lass Abblend- und Blaulicht an. Wir steigen besser aus und stellen uns dahinter. Ich habe keine Lust, dass der Typ in uns rein kracht, nur weil er ohne Licht fährt oder so.“

Sie griff nach ihrer Dienstlederjacke, denn die Nächte zeigten sich noch kalt. „Willst du auch eine?“ Schluckebier bot ihrem Kollegen eine Zigarette an, natürlich ohne Filter.

„Ne, du weißt doch, ich habe aufgehört.“

„Stimmt. Ich habe darauf gewettet, dass du binnen einer Woche wieder anfängst.“

„Wenn du dich da mal nicht täuschst.“

„Du bist noch verdammt jung. Die Nacht kann noch sehr lang werden, glaube mir, Baby.“

Schweigend standen sie da und warteten. Ab und an sog Schluckebier an der Zigarette. Genüsslich stieß sie den Rauch in den Nachthimmel aus. Befriedigt sah die Streifenführerin, wie ihr Kollege unruhig von einem Bein auf das andere trat. „Jetzt zappel’ nicht so rum und nimm endlich eine!“

Sie hielt ihm das Päckchen hin. Nach kurzem Zögern nahm er eine. Schluckebier sparte sich das triumphierende Grinsen. Dass ihr Partner nicht standhielt, entsprach ihrem Weltbild. Für gewöhnlich hatte sie in derlei Dingen recht.

Wenig später zückte er sein Handy: „Sag mal, haben die hier nicht neulich ein Rudel wilder Wölfe gesichtet?“

Hörte Schluckebier da einen Hauch Besorgnis? Sie lächelte nur müde: „Mit neulich meinst du vor einem Vierteljahr, und das wilde Rudel bestand aus einem abgemagerten und verwilderten Schäferhund, wie sich am nächsten Tag herausstellte.“

„Ich meine ja nur. Die Sichtungen nehmen jeden Tag zu.“

„Du hängst zu viel im Netz rum. Wenn du unbedingt Wölfe sehen willst, fahr mit den Kindern in den Tierpark am Edersee.“

Ihr Kollege verfiel in Schweigen.

„Ist da nicht was?“, fragte ihr Kollege nach einer Weile beunruhigt.

„Stimmt, aber nur ein einzelnes Licht. Für ein Motorrad zu schwach, oder? Und ich höre auch nichts.“

Gespannt warteten die beiden, die gezückten, aber noch gesicherten Dienstwaffen auf das Wagendach gestützt. Das Licht kam nur langsam näher.

„Ein Fahrrad!“, raunte Schluckebier und lauter „Halt, stehenbleiben, Polizei!“

Das Licht schwächte sich ab, bis es erlosch, als das Rad anhielt. Mit der Linken schaltete Schluckebier ihre Taschenlampe ein. Ein junger Mann trat in den Lichtkegel des Streifenwagens, schlank, etwa eins-achtzig. Unter dem sportlichen Fahrradhelm quollen lange Haare, doch die großflächige Schutzbrille ließ das Gesicht nur vage erahnen. Mit der Handfläche versuchte er, die Augen zu schützen: „Hallo, was ist denn los?“

„Stehenbleiben! Nehmen Sie die Arme hoch, so dass wir die Hände sehen können!“

„Was soll das?“

„Dies ist eine Polizeikontrolle. Befolgen Sie bitte genau unsere Anweisungen.“ Sie ließ erst gar keinen Zweifel aufkommen, wer hier die Chefin war.

„Kontrolle? Ach so, ich habe nichts getrunken, null Problemo.“ Der Mann kniff im grellen Schein die Augen zu und blinzelte zu den Uniformierten herüber. „Lauert ihr jetzt mitten in der Nacht Radfahrern auf Feld-, Wald- und Wiesenwegen auf?“

„Jetzt langsam, ganz langsam näher kommen“, kommandierte die Streifenführerin. Wenig später hatten sie die Personalien aufgenommen. Es handelte sich um Kevin Schwalenstöcker, wohnhaft in Willingen, nach eigenen Angaben Kellner auf der Upländer Alm auf dem Heimweg.

„Stimmt, ich habe Sie dort ein paar Mal gesehen“, fiel Schluckebier wieder ein. „Wo ist Ihr Chef?“

„Keine Ahnung, er muss noch oben sein. Komisch, der wollte eigentlich längst Schluss machen. Mit seinem Geländewagen hätte er mich inzwischen längst überholen müssen. Wo er nur bleibt?“

„Ihr Chef ist also nicht an Ihnen vorbeigefahren?“

„Nein.“

„Sicher?“

„Hören Sie, das hätte ich wohl mitkriegen müssen.“

Schluckebier überlegte. „Ist er vielleicht ins Westfälische abgebogen?“

„Quatsch, was soll er denn da? Was ist überhaupt los?“

„Dürfen wir in Ihre Satteltaschen schauen?“

„Wie? Braucht man da nicht einen Durchsuchungsbeschluss oder so?“

„Ich sehe, Ihnen macht man nichts vor! Im Prinzip ja.“

„Sie meinen, ‚Gefahr im Verzug‘ oder so? Zumindest heißt es so immer im Fernsehen.“

„Unsinn, wir sind hier nicht beim Tatort. Sie können das verweigern, doch die Durchsuchung vereinfacht die Sache ungemein, so mitten in der Nacht! Umso schneller können wir alle in unser Bett.“

„Von mir aus, aber was ist denn jetzt eigentlich los?“

Schluckebier ignorierte die Fragen. Routiniert durchwühlte sie die beiden Taschen links und rechts vom Gepäckträger: nur die übliche Kellnerkleidung mit kitschigen Hirschhornknöpfen aus Kunststoff, eine Luftpumpe, ein Ersatzschlauch. „Sonst noch wer oben?“

„Nein, ich, also natürlich Herr Höhle war der Letzte. Die anderen sind mit der letzten Seilbahn runter. Aber jetzt will ich endlich wissen, was los ist!“

„Herr Schwalenstöcker, alles okay. Fahren Sie nach Hause.“

„Ja klar, aber was ist denn nun los?“

„Herr Schwalenstöcker, es ist mitten in der Nacht, und ich mache jetzt die tausendste Überstunde. Fahren Sie einfach heim und legen sich auf’s Ohr.“

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JO NIGGE konnte es nicht fassen: Da hatte er endlich einen waschechten Einsatz und musste mit dem berüchtigten Museumsstück der Wache zum Tatort fahren - wenn ihn jemand damit sah? Fünf Minuten keuchte der Anlasser, ehe der Wagen hustend und spuckend ansprang - aber erst, nachdem er ein Stoßgebet nach dem anderen in den Himmel schickte. Sogar die Hilfe des heiligen Christophorus bemühte er. Jetzt hoffte er nur, dass er den Wagen nicht abstellen musste. Am besten, er parkte immer an einem Abhang, dann könnte er ihn wenigstens anrollen lassen. Das sollte im Land der tausend, genauer der 2.711 Berge möglich sein. Er stellte das Funkgerät an. Routiniert schaltete der Beamte auf den allgemeinen Einsatzkanal.

„Karl-Heinz? Hier Jo Nigge, bitte kommen!“

Knistern, pfeifen, knacken. Das fing ja göttlich an! In Köln rüstete man die Einsatzkräfte ein klein wenig moderner aus. Vermutlich noch Vorkriegsware, dachte der Polizist resigniert, also vor dem Ersten Weltkrieg. „Wiegelmann, hier Nigge, bitte kommen!“

Ab und an einige Wortfetzen, aber keine Antwort - zumindest keine, die Sinn machte. Also musste er erst mal aus dem tiefen Medebachtal raus.

Die altersschwachen Scheinwerfer mühten sich nach Kräften mit der Dunkelheit ab. Mehrmals leuchteten neugierige Augenpaare am Wegesrand: Rehe, oder ein Fuchs vielleicht. Als er Höhe gewann, ließ er auch die Nebelschwaden zurück, die über den Wiesen dampften und manchmal auf die Straße waberten.

Dann versuchte er es nochmal mit dem Funk.

„Hier Kalle Wiegelmann“, kam es schließlich einigermaßen klar auf einer Anhöhe aus dem Lautsprecher. „Wann kommt denn endlich die Ablösung?“

„Ablösung?“ Jo verdrehte die Augen. In Köln hätte er den Streifenbullen erstmal ins Achtung gestellt, aber mit Sahne! Doch sie lebten im Hochsauerland. Da galt so etwas weniger adäquat. Oh Mann! „Zuerst möchte ich einen anständigen Lagebericht. Also?“

„Wir hatten einen Notruf, 03:32 Uhr. Von Helmuth Höhle, du weißt schon, den singenden Wirt von der Upländer Alm in Willingen. Überfall oder so auf die Tageseinnahmen. Genaues ist nicht bekannt, die Verbindung brach schnell ab. Ich bin gleich hin, von Hoperinghausen aus über den Sternrodtlift zum Langenberg. Zum Glück kenne ich die Strecke von den Wanderungen mit meinem Sauerländer Gebirgsverein, sonst hätte ich mich glatt verirrt. Aber im Dunkeln sieht das natürlich alles anders aus. Ehrlich gesagt, wenn du es im Verein niemandem weitersagst, habe ich mich tatsächlich sogar einmal verfahren. Aber dann war ich auf dem richtigen Weg, und da stand ein Wagen, amtliches Kennzeichen WA-HH 66666. Ein Mordsbenz, sage ich dir, ein richtiger Geländewagen mit allem Komfort und zurück, nicht so ein alberner Großstadt-SUV kann ich dir flüstern, woll? 444 PS, …“

Jo unterbrach ihn, bevor Kalle Wiegelmann die allerneuesten Testergebnisse diverser Autosportmagazine vorbetete. „Kalle! Bitte zurück zum Thema!“

„Der schöne Wagen“, jammerte Wiegelmann ungerührt weiter. „Eine dicke Buche ist mitten drauf, der Hobel ist völlig zerschlagen.“

„Was kannst du über den Baum vermelden? Von Sturm oder so ist mir nichts bekannt?“

„Ne, das war auch kein Sturm. Der Baum ist fachmännisch abgesägt. Die Motorsäge liegt noch daneben, genau wie weiteres Werkzeug und ein größerer Akkuscheinwerfer.“

„Mord?“

„Genau!“

„Obskur! Was ist mit der Leiche?“

„Tja, eine männliche Person, wahrscheinlich eben Höhle wie’s aussieht, zusammengesunken hinter dem Lenkrad. Alles ist voller Blut. Soll ich den Tatort absperren?“

„Herr Wiegelmann, du stehst mitten im finsteren Wald und die Sonne ist ebenfalls noch flüchtig. Nein, du rennst höchstens vor einen Baum.“

„Ich meine ja nur.“

„Okay. Du sprachst von den Tageseinnahmen?“

„Korrekt. Sollten in einem Metallaktenkoffer stecken. Der Koffer ist auch da, liegt aufgebrochen neben dem Wagen. Daneben eine dazu passende, kleine akkubetriebene Flex für das Schloss. Kriegst du in jedem gut sortierten Baumarkt. Ich fahre da immer nach Olsberg zu …“

Kalle!“

„Schon gut. Vom Geld fehlt jede Spur.“

„Gut! Was von den Waldecker Kollegen gehört?“

„Nee, hier hat sich keiner blicken lassen. Und keine Ahnung, auf welcher Funkfrequenz die senden.“

„Gibt es da nichts in der Kontaktliste?“

„Ach, ja, hier, jetzt habe ich es gefunden. Apropos Waldeck: Müssten die nicht zuständig sein?“

„Mhm, oberflächlich betrachtet. Aber der Notruf ging nun mal bei uns ein, und so sind wir zuständig - zumindest vorläufig.“

„Muss das sein?“

„Was heißt das denn?“

„Na, dann müssten sich die Hessen hier rumplagen, und ich könnte pünktlich die Schicht beenden.“

„Nicht heiß auf die Lösung?“

„Du meinst heiß auf unzählige Überstunden? Ach weisse, wie viele ich mein Eigen nennen darf?“

Jo seufzte. In Köln verhielt sich eben alles anders. „Schon gut, schon gut. Ich bin hoffentlich gleich da.“

Der Asphalt endete irgendwann hinter dem Skilift. Bei jedem Schlagloch rappelte die alte Kiste bedenklich. Ein platter Reifen wäre noch die Krönung des Abends! Obwohl der Wagen so alt war, dass er noch ein richtiges Ersatzrad im Kofferraum hatte – und hoffentlich aufgepumpt war.

Da! Hatte er dieses komische Klappern schon immer gehört? Hoffentlich hielt der Motor durch. Er brauchte dringend eine Ablenkung gegen die aufkeimende Besorgnis: Der Radioempfang zeigte sich wie immer in diesen Höhenlagen äußerst bescheiden: Nur Klassik, Volksmusik oder Talkshows über den Krümmungsgrad von Gurken aus dem südlichen Münsterland kamen klar rein. Jos USB-Stick mit anständiger Musik nutzlos: Die Karre war noch mit einem Kassettenrekorder ausgestattet. Mit der Rechten fummelte er das Handschuhfach auf. Tatsächlich: Da fand sich noch eine alte Kassette! Mal sehen - mit einem Schulterzucken stopfte Jo das unbeschriftete Band in das Abspielgerät: Nerviges Knistern. Wahrscheinlich noch vom Volksempfänger per Mikro aufgenommen. Dann die ersten Takte; Jo haute es fast um: „Sauerland – mein Herz schlägt für das Sauerland. Begrabt mich mal am Lennestrand. Wo die Misthaufen qualmen, da gibt’s keine Palmen2“, tönte es blechern aus den billigen Lautsprechern. Erinnerungen an seine Jugendliebe platzten ungefragt in seine Erinnerung. Verdrossen schaltete er ab. Da hatte ihm jemand einen Willkommensstreich gespielt. Das gab im wahrsten Sinne des Wortes Zoff, sobald er den Scherzkeks ausfindig gemacht hatte. Bestimmt sein Kollege Paul Beule, der hatte an seinem ersten Tag in Brilon glatt ein „Mein Freund ist Sauerländer“-Shirt getragen! Na warte, das zahl ich dir heim!

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WILKE WAGNER konnte sein Glück kaum fassen. Endlich versetzt. Fort aus dem völlig überdrehten Frankfurt, dem überteuerten Moloch am Main voller Menschen, der Stadt, die niemals ganz zur Ruhe kam. Nie wieder Höhenangst im Wolkenkratzer, keine endlosen Treppenstufen, wenn der Aufzug defekt war, nie wieder Apfelwein und schon gar nicht mit Cola. Nein, hier trank man frisch gezapftes Waldecker Pils vom Fass. Die Einheimischen bereiteten die Grüne Soße zwar etwas anders zu - sei es drum.

Der Bereitschaftsdienst zur Pfingstnacht nahm Wagner als geringes Übel. Im Landkreis blieb es traditionell ruhig - bis auf Willingen. Aber dort lärmten eher Betrunkene, die über die Stränge schlugen. Nichts, was einen gestandenen Streifenbullen in Schweiß brachte. Kaum „richtige“ Gewaltverbrechen, die seiner Aufmerksamkeit bedurften. Er dankte Gott, oder wer auch immer ihm gerade zuhörte, dass er ihn erhörte. Außerdem konnte man sich hier eine Wohnung leisten, kannte Staus nur aus dem Radio, fand überall einen Parkplatz, meist sogar kostenlos, und sein Dienstherr besoldete ihn hier genauso hoch wie in Frankfurt - das Paradies auf Erden!

Er hatte immer fortgewollt aus seiner Geburtsstadt Offenbach, wo er aufgewachsen war, aber in der er sich nie heimisch fühlte. Bei der Polizei war man mit der Erfüllung von derlei Wünschen eher sparsam umgegangen. Es hatte nur bis ins benachbarte Frankfurt gereicht. Jahr um Jahr hatte er brav seinen Dienst versehen, Versetzungsantrag auf Versetzungsantrag geschrieben und auf Godot gewartet. Bis, … ja bis was? Er schob die Gedanken an den misslichen Vorfall bei dem Einsatz im Frankfurter Ostend entschieden beiseite. Der Polizeipsychiater hatte zunächst hartnäckig nach der Ursache gebohrt, aber irgendwann innerlich aufgegeben, vermutete Wagner. Beide machten auftragsgemäß ihre Sitzungen, aber es kam nichts, aber auch gar nichts dabei rum. Schließlich hatte der Nervendoktor selbige verloren und die Empfehlung auf die Versetzung ausgesprochen - dann entwickelte sich alles überraschend schnell.

Hier in Waldeck war Wagner der Chef. Klar, das Tuscheln der Kollegen konnte er kaum unterbinden. Zumindest wagte niemand, offen zu fragen. Fast trotzig wälzte er sich auf die andere Seite. Warum konnte er nicht schlafen, wie alle anderen auch? Sein Blick mied den Wecker auf dem Nachttisch. Er schloss die Augen. Aufkommende Bilder vom Ostend schob er entschieden beiseite. Das brachte nichts. Hätte er etwas besser machen können? Hätte? Fräulein Hätte spielt im Orchester Klarinette!

Erschrocken zuckte Wagner zusammen. Wo? Was? Er war eingeschlafen, endlich! Und dann das: Fast rutschte er aus dem Bett – nochmal Glück gehabt. Nach einer Weile drang ein Klingeln in sein Bewusstsein: das Telefon.

Er fingerte umständlich nach dem Hörer. Verschlafen versuchte der Polizist, dabei nicht rauszufallen. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte immer noch tiefe Dunkelheit. „Hier Wagner.“

„Hier Emde, Einsatzzentrale Korbach. Die Kollegen aus dem Sauerland haben uns gerade einen Überfall im Grenzgebiet mitgeteilt.“

„Schön für Sie. Aber was hat das mit mir zu tun.“

Kurze Pause, dann: „Es gab einen Toten, übrigens mutmaßlich der singende Wirt von der Upländer Alm in Willingen, falls das von Belang sein sollte.“

„Sie meinen von der Touristenfalle und Gelddruckmaschine im Schatten des Langenbergs?“

„Genau selbige!“

„Und der ist tot? Wo ist das denn passiert, dass sich die Westfalen hinbemühen?“

„Soweit bekannt, kam der Notruf von irgendwo im Wald an der Landesgrenze. Keine Ahnung, der Notruf ging eben drüben ein. Die Kollegen konnten keine genaueren Ortsangaben machen. Sie wissen doch: Das Navi versagt im dichten Fichtenwald. Wir haben eine Streife hochgeschickt und den einen Zufahrtsweg nach Willingen zurück blockiert. An dem anderen stehen die Westfalen. Die haben auch den Toten entdeckt: in seinem Auto unter einem gefällten Baum.“

„So? Gruselig, aber die Kollegen kümmern sich drum. Damit ist alles in bester Ordnung.“

„Äh, Sie wollen nichts weiter veranlassen?“

„Nein, zumindest nicht heute Nacht.“

„Was schreibe ich ins Schichtprotokoll?“

„Na was schon, dass ich kein Bock darauf habe, im stockfinsteren Wald herum zu stolpern und deswegen alles den sturen Strebern aus der Nachbarklasse überlasse.“

Nach einer Weile: „Schreibt man Streber mit e oder ä?“

Oh nein! Wagner verdrehte die Augen. Dieser Emde dachte glatt, dass Ironie englisch für Eisen sei. „Kollege, das schreiben Sie natürlich nicht. Lassen Sie sich was einfallen, irgendwas, damit ich nicht raus muss, ich beschäftige mich später damit, in Ordnung?“

„Okay, warum sagen Sie das nicht gleich?“, kam es beleidigt zurück.

Na prima. Wagner wickelte sich verärgert wieder in die Decke. Nur einmal schlafen, schon funkte ihn die Zentrale an! Menschenskinder, wie ungerecht! Jetzt hatte Adrenalin die Adern geflutet und jegliche Müdigkeit vertrieben. Wagner versuchte vergeblich, die Augen zu schließen. Szenen von seinem letzten Einsatz im Ostend schoben sich erneut ungefragt in den Vordergrund der Gedanken! Benommen schüttelte er den Kopf. Energisch verscheuchte er sie. Vielleicht sollte er aufstehen? Schlafen konnte er jetzt sicher nicht mehr. Die Uhr verriet zu allem Überfluss, dass der Sonnenaufgang nach wie vor weit entfernt lag. Na prima! Er vermisste seine Frau und die Kinder, die nicht mit nach Hessisch Sibirien umziehen wollten und weiterhin in Frankfurt lebten! ‚Vorerst, bis die Kinder aus dem Gröbsten raus sind‘, wie seine Frau betont hatte. Wann waren Kinder aus dem Gröbsten raus? Das Gedankenkarussell nahm wieder Fahrt auf. Ob er ein paar Maschen stricken sollte? Das einzig Vernünftige, was ihm der Psycho vom Dienst beigebracht hatte: zwischen der Konzentration auf zwei rechts, zwei links fanden düstere Gedanken einfach keinen Platz. Nein, das rote Garn war alle. Frustriert drehte er sich auf die andere Seite.

1http://www.taz.de/Flugzeugkollision-im-Sauerland/!5039300/ vom 24.06.2014

2Zoff: „Sauerland“, Jupiter Records/Eroc