Tana French

Der dunkle Garten

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

FISCHER E-Books

Über Tana French

»Pflichtlektüre für alle, die unnachgiebige Intelligenz und raffinierte Plots zu schätzen wissen«, sagt die New York Times über Tana French. Die irische Autorin wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet; ihre Romane und ihre Kriminalliteratur stehen weltweit auf den Bestsellerlisten. Tana French wuchs in Irland, Italien und Malawi auf. Sie absolvierte eine Schauspielausbildung am Trinity College und arbeitete für Theater, Film und Fernsehen. Mit ihrer eindrücklichen Sprache zeichnet sie markante Porträts der irischen Gesellschaft und schaut tief in die Seelen von Tätern, Opfern, Ermittlern. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im nördlichen Teil von Dublin.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Der große Roman von der Platz-1-Autorin der Literatur-SPIEGEL-Bestsellerliste

 

»Psychologisch meisterhaft spielt Tana French in ›Der dunkle Garten‹ mit unserem Verstand – und dem der Hauptfigur. Eine absolut fesselnde Geschichte über Identität, Erinnerung und Familie.« Vogue

 

Toby Hennessy, 28, führt ein unbeschwertes Leben in Dublin. Bis er eines Nachts in seiner Wohnung brutal zusammengeschlagen wird. Toby überlebt nur knapp, kann sich nicht mehr auf seine Erinnerungen verlassen. Er flüchtet sich in das »Efeuhaus« – das alte Anwesen der Familie, wo er sich um seinen sterbenden Onkel Hugo kümmern soll. Doch der dunkle Garten des Hauses birgt ein schreckliches Geheimnis.

 

»Tana French gehört zu den großen irischen Autoren aller Zeiten.« The Herald

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Witch Elm« im Verlag Viking Press, New York

© Tana French 2018

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück, Hannover

Covergestaltung: bürosüd, München

Coverabbbildung: Joana Kruse/Arcangel Images

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490614-0

 

William Shakespeare, Hamlet

(Akt IV, Szene 5)

EIGENTLICH HABE ICH mich immer für ein Glückskind gehalten. Ich meine nicht, dass ich jemand wäre, der mal eben die Zigmillionen-Euro-Lottozahlen richtig tippt oder der knapp das Flugzeug verpasst, dessen Absturz dann keiner überlebt. Ich meine bloß, dass ich ohne die üblichen Widrigkeiten durchs Leben gekommen bin, von denen man so hört. Ich wurde nicht als Kind missbraucht, in der Schule nicht schikaniert. Meine Eltern sind nicht früh gestorben, sie hatten keine Suchtprobleme, haben sich nicht getrennt, und wenn sie mal Streit hatten, dann nur wegen irgendwelcher Lappalien. Keine meiner Freundinnen hat mich je betrogen, zumindest nicht, dass ich wüsste, oder irgendwie dramatisch verletzend mit mir Schluss gemacht. Ich wurde nie von einem Auto angefahren, meine schlimmste Erkrankung waren die Windpocken, und sogar das Tragen einer Zahnspange blieb mir erspart. Nicht dass ich mir viele Gedanken darüber gemacht hätte, aber als es mir irgendwann bewusst wurde, hatte ich das beruhigende Gefühl, dass alles genauso lief, wie es laufen sollte.

Und außerdem gab es da natürlich das Ivy House. Ich glaube, selbst heute könnte mir niemand einreden, das Ivy House wäre kein Glücksfall für mich gewesen. Ich weiß, so einfach war das nicht, ich kenne alle Argumente bis ins letzte, gestochen scharfe Detail. Ich kann sie schön ordentlich aufreihen, nüchtern und runenartig wie schwarze Zweige auf Schnee, kann sie anstarren, bis ich es mir fast selbst eingeredet habe; aber dann genügt schon der Hauch des richtigen Dufts – Jasmin, Lapsang Souchong, eine spezielle altmodische Seife, die ich nie identifizieren konnte – oder

Unlängst habe ich sogar meine Cousine und meinen Cousin deswegen angerufen. Es war kurz vor Weihnachten, ich hatte nach einer schrecklichen Firmenparty zu viel Glühwein intus, sonst hätte ich sie niemals nach ihrer Meinung gefragt – oder ihrem Rat oder was auch immer ich in dem Moment von ihnen hören wollte. Susanna fand die Frage offensichtlich albern. »Na ja, klar hatten wir Glück. Das Haus war toll.« Und in mein Schweigen hinein: »Falls du über das ganze andere Zeug nachgrübelst« – langer glatter Schnitt von Schere durch Papier, weihnachtliche Chormusik im Hintergrund, sie war dabei, Geschenke einzupacken –, »lass es bleiben. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, aber, Toby, jetzt mal im Ernst, was bringt es, nach so vielen Jahren noch darauf rumzureiten? Aber du kannst es nicht lassen, oder?« Leon, der anfangs ehrlich erfreut geklungen hatte, von mir zu hören, machte prompt dicht: »Woher soll ich das wissen? Ach, übrigens, wo ich dich gerade an der Strippe habe, ich wollte dir schon mailen, dass ich Ostern wahrscheinlich nach Hause komme, bist du dann –« Ich reagierte leicht aggressiv, verlangte eine Antwort von ihm, obwohl ich genau weiß, dass das schon immer die falsche Art war, mit Leon umzugehen, und er tat so, als hätte er keinen Empfang mehr, und legte auf.

Und dennoch, und dennoch – es ist wichtig. Es ist, soweit ich das beurteilen kann – auch wenn das mittlerweile keinen mehr interessiert –, wichtiger als alles andere. Ich habe ohnehin erst so spät verstanden, was Glück sein kann, wie herrlich griffig und trügerisch, wie unnachgiebig verdreht und verknotet in seinen ganz eigenen Verstecken – und wie tödlich.

 

Jene Nacht. Ich weiß, es gibt unendlich viele Punkte, an denen Geschichten anfangen können, und mir ist durchaus klar, dass jeder, der in dieser Geschichte eine Rolle spielt, Einwände gegen

Es fing eigentlich mit einem schönen Abend an, einem tollen Abend sogar. Es war ein Freitag im April, der erste Tag, der sich wirklich frühlingshaft angefühlt hatte, und ich war mit meinen besten Freunden, die ich schon aus der Schule kannte, was trinken. Das Hogan’s war gerammelt voll, die Frauen hatten von der Wärme des Tages weich fließendes Haar, die Männer hatten die Ärmel hochgekrempelt, eine Melange aus Gesprächen und Gelächter verdichtete die Luft, bis die Musik bloß noch ein unterschwelliges fröhliches Reggae-Wumm-Wumm-Wumm war, das vom Boden nach oben in unsere Füße drang. Ich war total aufgekratzt – nicht von Koks oder so. Anfang der Woche hatte es ziemlich Ärger im Job gegeben, aber an dem Tag hatte sich das alles geregelt, und von dem Triumph war ich ein bisschen überdreht. Dauernd ertappte ich mich dabei, dass ich zu schnell redete oder mein Bier zu schwungvoll in mich reinkippte. Eine megaattraktive Brünette am Nebentisch versuchte, mich anzumachen, lächelte mich immer eine Sekunde zu lange an, wenn ich zufällig zu ihr rübersah. Ich würde nicht darauf eingehen – meine Freundin war eine tolle Frau, und ich hatte keineswegs die Absicht, sie zu betrügen –, aber es war trotzdem ein schönes Gefühl, dass ich noch immer gut ankam.

»Die steht auf dich«, sagte Declan und deutete mit dem Kinn

»Eine Frau mit Geschmack.«

»Wie geht’s Melissa?«, fragte Sean überflüssigerweise. Selbst wenn Melissa nicht gewesen wäre – die Brünette war nicht mein Typ. Sie hatte spektakuläre Kurven, die fast aus ihrem engen roten Vintagekleid platzten, und sie sah aus, als hätte sie lieber in einem Gauloises-verqualmten Bistro gesessen und dabei zugesehen, wie sich mehrere Männer ihretwegen eine Messerstecherei lieferten.

»Super«, sagte ich, was auch stimmte. »Wie immer.« Melissa war das Kontrastprogramm zu der Brünetten: klein, hübsch, mit zerzaustem blondem Haar und ein paar Sommersprossen, von Natur aus zu allem hingezogen, was sie und ihre Mitmenschen glücklich machte – buntgeblümte weiche Baumwollkleider, selbstgebackenes Brot, zu irgendwelchen Songs im Radio tanzen, Picknicks mit Stoffservietten und ausgefallenen Käsesorten. Ich hatte sie seit Tagen nicht gesehen, und bei dem Gedanken an sie sehnte ich mich nach allem, was ich mit ihr verband, ihr Lachen, ihre Nase an meinem Hals, den Honigduft ihrer Haare.

»Sie ist eine tolle Frau«, sagte Sean ein bisschen allzu bedeutungsschwanger.

»Stimmt, ja. Brauchst du mir nicht zu sagen. Schließlich bin ich mit ihr zusammen. Ich weiß, dass sie toll ist. Sie ist toll.«

»Bist du auf Speed?«, wollte Dec wissen.

»Nee, deine Gesellschaft macht mich einfach high. Du, mein Freund, bist das menschliche Äquivalent des reinsten, weißesten kolumbianischen –«

»Du bist auf Speed. Her damit. Du Geizhals.«

»Ich bin so clean wie nur was. Du alter Schnorrer.«

»Und wieso schielst du dann dauernd zu der Frau rüber?«

»Sie ist schön. Ein Mann kann sich an Schönheit erfreuen, ohne –«

»Für dich tu ich alles«, sagte ich und leerte den Rest auf ex. »Ahhh.«

»Die ist ein echtes Sahnestück«, sagte Dec und beäugte die Brünette sehnsüchtig. »Was für eine Verschwendung.«

»Mach dich an sie ran«, sagte ich. Er würde es nicht tun, wie immer.

»Jaja, klar.«

»Na los. Wenn sie gerade rüberguckt.«

»Die guckt nicht mich an. Die guckt dich an. Wie üblich.« Dec war untersetzt und ein bisschen verklemmt, hatte eine Brille und widerspenstiges rotes Haar. Eigentlich sah er ganz okay aus, aber irgendwann mal hatte er sich eingeredet, dass dem nicht so wäre.

»Hey«, sagte Sean gespielt gekränkt. »Mich gucken Frauen an.«

»Ja, hast recht. Weil sie sich fragen, ob du blind bist oder ob dein Hemd so ’ne Art Mutprobe ist.«

»Neid«, sagte Sean traurig und schüttelte den Kopf. Er war ein großer Kerl, eins siebenundachtzig, mit einem breiten, offenen Gesicht und Rugby-Muskeln, die gerade erst anfingen, schlaffer zu werden. Er bekam tatsächlich ganz schön viel weibliche Aufmerksamkeit, die allerdings auch verschwendet war, weil er schon seit der Schule glücklich mit derselben zusammen war. »Neid ist so eine hässliche Sache.«

»Keine Sorge«, beruhigte ich Dec. »Für dich wird sich ja jetzt alles ändern. Mit den …« Ich deutete unauffällig mit dem Kinn auf seinen Kopf.

»Den was?«

»Du weißt schon. Denen da.« Ich zeigte kurz auf seinen Haaransatz.

»Wovon redest du?«

Diskret über den Tisch vorgebeugt, betont leise: »Die eingepflanzten Haare. Alle Achtung, Mann.«

»Dafür musst du dich nicht schämen. Heutzutage lassen alle großen Stars das machen. Robbie Williams. Bono.«

Was Declan natürlich nur noch mehr empörte. »Mein Haar ist völlig in Ordnung!«

 

»Fällt auch nicht auf«, versicherte Sean ihm.

»Es fällt nicht auf, weil ich nichts hab machen lassen. Ich hab keine –«

»Komm schon«, sagte ich. »Ich seh’s doch. Hier und –«

»Finger weg!«

»Verstehe. Fragen wir doch deine Angebetete, was sie meint.« Ich fing an, der Brünetten zu winken.

»Nein. Nein, nein, nein. Toby. Im Ernst, ich bring dich um.« Dec versuchte, meine winkende Hand zu packen. Ich wich aus.

»Das ist der perfekte Gesprächsauftakt«, stellte Sean fest. »Du wusstest nicht, wie du sie ansprechen sollst, hab ich recht? Tja, jetzt hast du deine Chance.«

»Ihr Arschlöcher«, sagte Dec und stand auf. »Ihr seid echte Vollidioten, wisst ihr das?«

»Och, Dec«, sagte ich. »Verlass uns nicht.«

»Ich geh zum Klo. Die nächste Runde geht auf dich, Witzbold«, sagte er zu Sean.

»Er geht nachsehen, ob noch alles richtig liegt«, raunte Sean mir zu. »Du hast sie zerzaust. Die eine Strähne da, siehst du, die ist jetzt ganz –« Dec zeigte uns beiden den Mittelfinger und drängte sich dann durch die Menge Richtung Klo, wobei er sich zwischen Hintern und erhobenen Biergläsern hindurchschob und sowohl unser Gelächter als auch die Brünette angestrengt ignorierte.

»Er ist tatsächlich kurz drauf reingefallen«, sagte Sean. »Der alte Trottel. Noch mal dasselbe?«

Während er zur Bar ging und ich einen Moment allein war, schickte ich Melissa eine Nachricht: Bin was mit den Jungs trinken. Sie schrieb postwendend zurück: Hab den irren Steampunk-Sessel verkauft!!!, und zig Feuerwerk-Emojis. Die Designerin hat vor Freude am Telefon geheult, und ich hätte fast mitgeheult, weil ich mich für sie so gefreut hab :-). Grüß die Jungs von mir. Liebe dich auch xxx. Melissa hatte einen kleinen Laden in Temple Bar, wo sie skurriles, in Irland designtes Zeug verkaufte, ulkige kleine Sets von miteinander verbundenen Porzellanvasen, Kaschmirdecken in knalligen Farben, handgeschnitzte Schubladengriffe in Form von schlafenden Eichhörnchen oder verästelten Bäumen. Sie hatte seit Jahren versucht, den Sessel zu verkaufen. Ich textete zurück: Glückwunsch! Du bist ein Verkaufsgenie.

Sean kam mit vollen Gläsern, und Dec kam vom Klo. Er sah jetzt wesentlich gelassener aus, blickte aber betont nicht in Richtung der Brünetten. »Wir haben deinen Schwarm gefragt, was sie meint«, erklärte Sean. »Sie sagt, die neuen Haare sind eine Pracht.«

»Sie sagt, sie bewundert sie schon den ganzen Abend«, schob ich nach.

»Sie fragt, ob sie sie mal anfassen darf.«

»Sie fragt, ob sie mal dran lecken darf.«

»Ihr könnt mich mal, alle beide. Ich verrat dir trotzdem, warum sie dich die ganze Zeit anglotzt, du Arschgesicht«, sagte Dec zu mir und zog seinen Stuhl näher. »Nicht weil sie auf dich steht. Sondern weil sie deine schmierige Visage in der Zeitung gesehen hat, und jetzt weiß sie nicht mehr, ob’s darum ging, dass du eine Oma um ihre ganzen Ersparnisse betrogen oder eine Fünfzehnjährige gevögelt hast.«

»Was sie überhaupt nicht interessieren würde, wenn sie nicht auf mich stände.«

»Träum weiter. Der Ruhm ist dir zu Kopf gestiegen.«

Ein paar Wochen zuvor war ein Foto von mir in der Zeitung gewesen – im Gesellschaftsteil, mit der Folge, dass ich furchtbar verarscht wurde –, weil ich beruflich auf einer Ausstellungseröffnung gewesen war und zufällig mit einer altgedienten

Inzwischen waren fünf Jahre vergangen, und ich hatte begonnen, schon mal meine Fühler auszustrecken, mit durchaus

Das alles hätte sich in der letzten Woche beinahe in Rauch aufgelöst, aber mein Glück hatte gehalten. Meine Gedanken sprangen hin und her wie ein Border Collie, und das war ansteckend, Sean und Dec konnten sich vor Lachen kaum halten – wir planten für den Sommer einen Urlaub, nur wir drei, konnten uns aber nicht entscheiden, wo. Thailand? Moment, in welcher Jahreszeit ist da noch mal Monsun?, Handys gezückt, in welcher Jahreszeit wird da geputscht? – Dec bestand aus irgendwelchen Gründen auf Fidschi, was anderes als Fidschi kommt nicht in Frage, so eine Chance kriegen wir nie wieder, nicht nachdem – und ein vermeintlich subtiles Nicken in Seans Richtung. Sean würde Weihnachten heiraten, und obwohl das nach zwölf Jahren keine große Überraschung war, fanden wir es doch irgendwie erschreckend und unnötig, und immer, wenn das Thema zur Sprache kam, wurde er unweigerlich und gnadenlos auf den Arm genommen: Sobald du ja gesagt hast, sind deine Tage gezählt, Mann, eh du dich’s versiehst, wirst du Vater, und dann bist du geliefert … Trinken wir auf Seans letzten Urlaub! Trinken wir auf Seans letzten Abend in Freiheit! Trinken wir auf Seans letzten Blowjob! Dec und ich mochten Audrey eigentlich sehr, und das ironische Grinsen in Seans Gesicht – gespielt genervt, insgeheim rundum glücklich mit sich und der Welt – ließ mich an Melissa denken, wir waren jetzt seit drei Jahren zusammen, und vielleicht sollte ich ihr doch bald mal einen

Danach wird meine Erinnerung an den Abend für eine Weile lückenhaft. Natürlich habe ich im Nachhinein zigtausend Mal darüber nachgedacht, bin wie besessen jedem Faden gefolgt, um den Knoten zu finden, der das Muster unwiederbringlich zerstörte, habe gehofft, dass es da dieses eine Detail gab, dessen Bedeutung mir entgangen war, den kleinen entscheidenden Eckstein, um den herum sich alles wie von selbst ordnen würde, und auf einmal würden Jackpot-Ringe aus bunten Lämpchen aufleuchten und ich würde hochspringen und Heureka! schreien. Die fehlenden Teile waren da keine Hilfe (sehr verbreitet, beruhigten mich die Ärzte, völlig normal, ja, wirklich ganz normal): Vieles kam im Laufe der Zeit wieder, und ich schöpfte Seans und Decs Erinnerungen ab, soweit es ging, setzte den Abend mühsam zusammen wie ein altes Fresko aus erhaltenen Bruchstücken und schlauen Schlussfolgerungen, doch wie hätte ich mir sicher sein können, was sich in den Leerstellen verbarg? Hab ich jemanden an der Theke angerempelt? Hab ich im Höhenflug meiner Euphorie zu laut geredet oder bei einer ausladenden Geste jemandem das Bier aus der Hand geschlagen? Kochte der muskelprotzende Ex der Brünetten irgendwo in einer Ecke vor sich hin? Ich hatte mich nie als jemanden gesehen, der es drauf anlegt, sich Ärger einzuhandeln, aber nichts schien ausgeschlossen, nicht mehr.

Lange buttrige Streifen Licht auf dunklem Holz. Eine junge Frau mit Schlapphut aus rotem Samt, die an der Theke lehnte und mit dem Barkeeper über irgendeinen Gig redete, als ich die

Ich weiß noch, dass mein Handy summte, mitten in einer urkomischen Diskussion darüber, ob der nächste Star-Wars-Film unweigerlich schlechter sein würde als der letzte, wie Dec aufgrund eines von ihm erfundenen komplizierten Algorithmus behauptete. Ich hechtete förmlich danach – ich dachte, es könnte irgendwie um die Situation in der Galerie gehen, dass Richard ein Update von mir haben wollte oder dass Tiernan mich vielleicht endlich zurückrief –, aber es war bloß eine Facebook-Einladung zu irgendeiner Geburtstagsparty. »Was war?«, wollte Sean wissen und blickte mit hochgezogenen Augenbrauen auf mein Handy, und mir wurde klar, dass ich ein bisschen zu hektisch danach gegriffen hatte.

»Nix«, sagte ich und steckte das Handy weg. »Aber sagt mal, was ist denn mit der Serie Taken, erst war die Tochter das Opfer, und dann wird sie auf einmal zur Komplizin –«, und schon waren wir wieder bei unserer Film-Diskussion, die längst so weitschweifig geworden war, dass keiner von uns noch wusste, welche Position er anfangs vertreten hatte. Das hatte ich an dem Abend gebraucht, genau das – ich zog mein Handy noch mal aus der Tasche und stellte es auf stumm.

Der Ärger in der Galerie ging nicht auf meine Kappe, oder wenn, dann nur indirekt. Verantwortlich dafür war Tiernan, der die Ausstellungen organisierte, ein schmächtiger Hipster mit langem Kinn, altmodischer Hornbrille und praktisch nur zwei Gesprächsthemen: obskure kanadische Indie-Folkbands und wie ungerecht es doch wäre, dass seine Kunst (akribische Ölporträts von Ravern mit stumpfsinnig glotzenden Taubenköpfen, solche Sachen, erschaffen in seinem von den Eltern finanzierten Atelier)

Das Ganze lief wie am Schnürchen. Tiernan machte sich in den miesesten Schulen und sozialen Brennpunkten auf die Suche (einmal hämmerte eine Bande Achtjähriger sein Fixie Bike mit einem Fäustel zu etwas, das von Dalí hätte stammen können, während er dabeistand) und fand etliche hinreichend verwahrloste Jugendliche mit halbwegs überschaubarem Vorstrafenregister und hingeschluderten Zeichnungen, in denen Spritzen vorkamen und schäbige Plattenbauten und hin und wieder ein Pferd. Fairerweise muss man sagen, dass nicht alles so klischeehaft war: Ein Mädchen war dabei, das aus Materialien, die es auf Industriebrachen zusammengesucht hatte, kleine, triste Modelle ihrer verschiedenen Pflegefamilien machte – ein Teerpappenmännchen lümmelte sich auf einer aus einem Betonstück gehauenen Couch, den Arm um ein kleines Teerpappenmädchen gelegt, auf eine Weise, die ich ziemlich verstörend fand; ein anderer Jugendlicher machte Pompeji-artige Gipsformen von Gegenständen, die er im Treppenhaus seines Sozialbaus gefunden hatte, ein zertretenes Feuerzeug, eine Kinderbrille mit verbogenem Bügel, eine kompliziert verknotete Plastiktüte. Ich war davon ausgegangen, dass diese

Auf eine Entdeckung war Tiernan besonders stolz: ein Achtzehnjähriger, der sich Gouger nannte. Gouger bestand darauf, ausschließlich mit Tiernan zu reden, er weigerte sich, uns seinen richtigen Namen zu nennen oder irgendwelche Interviews zu geben. Er war im Laufe seines Lebens immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten, hatte sich mit etlichen feindlichen Cliquen angelegt und fürchtete, die würden ihm nachstellen, wenn er jetzt reich und berühmt wurde – aber er war gut. Er verwendete Sprühfarbe, Fotos, Filzstift und Tinte mit einem ungestümen, hingerotzten Können. Sein Paradestück – ein gewaltiger Wirbel aus mit Kohle gezeichneten brüllenden Teenagern um ein Sprühfarbenlagerfeuer, Köpfe nach hinten geworfen, Bier, das in Neonbögen aus wild geschwenkten Dosen spritzt – trug den Titel BoHeroin Rhapsody, und es hatten schon einige Sammler Interesse daran angemeldet, seit ich es auf unsere Facebookseite gestellt hatte.

Die Kulturstiftung und die Stadt Dublin warfen uns das Geld praktisch hinterher. Die Medien berichteten ausführlicher, als ich erwartet hatte. Mehrere renommierte Gäste antworteten auf unsere Einladungen und beteuerten, sie würden sich freuen, zur Vernissage zu kommen. Richard lief lächelnd in der Galerie herum, summte Operettenmelodien und manchmal auch seltsames Zeug, das er irgendwo aufgeschnappt hatte (Kraftwerk??). Dann spazierte ich eines Nachmittags, ohne anzuklopfen, in Tiernans Büro und überraschte ihn dabei, wie er auf dem Boden kniend ein Detail in Gougers neustem Meisterwerk nacharbeitete.

Nach der ersten verblüfften Sekunde fing ich an zu lachen. Zum Teil wegen Tiernans Gesichtsausdruck, eine Mischung aus hochrotem schlechten Gewissen und aufgeblasenem Trotz, während er nach einer plausiblen Ausrede suchte; zum Teil über mich selbst, weil ich völlig ahnungslos und naiv bei der ganzen Chose

»Pssst«, zischte Tiernan, riss die Hände hoch und blickte hektisch zur Tür.

»Der gute alte Gouger. Wie er leibt und lebt.«

»Menschenskind, halt die Klappe, bitte, Richard ist gleich –«

»Du siehst besser aus, als ich dachte.«

»Toby. Hör mal. Nein, nein, hör mir zu.« Er hielt die halbgespreizten Arme über das Bild, so dass es lächerlicherweise aussah, als versuche er, es zu verstecken. Gemälde? Welches Gemälde denn? »Wenn das rauskommt, bin ich erledigt, dann krieg ich doch nie wieder –«

»Tiernan, hey«, sagte ich. »Jetzt beruhig dich mal.«

»Die Bilder sind gut, Toby. Sie sind gut. Aber das ist meine einzige Chance. Keiner guckt sie sich auch nur an, wenn sie von mir kommen. Ich war auf der Kunstakademie –«

»Geht’s bloß um die Gouger-Sachen? Oder auch noch um andere?«

»Bloß Gouger. Ehrenwort.«

»Mhm«, sagte ich mit einem Blick über seine Schulter. Das Bild war typisch Gouger, eine dicke Schicht schwarze Farbe, in die zwei erbittert kämpfende junge Männer hineingekratzt waren, und in sie wiederum eine Wand aus akribisch gezeichneten Balkonen, mit winzigen, anschaulichen Szenen, die sich auf jedem einzelnen von ihnen abspielten. Er musste ewig daran gearbeitet haben. »Seit wann hast du das geplant?«

»Schon länger, ich weiß nicht.« Tiernan blinzelte mich an. Er war sehr aufgewühlt. »Was hast du jetzt vor? Gehst du zu …?«

Wahrscheinlich hätte ich schnurstracks zu Richard marschieren und ihm die ganze Geschichte erzählen sollen. Zumindest hätte ich mir einen Vorwand ausdenken sollen, um Gougers Arbeiten

»Entspann dich«, sagte ich – in dem Zustand, in dem Tiernan war, wäre es grausam gewesen, ihn länger zappeln zu lassen. »Ich werde gar nichts machen.«

»Ehrlich nicht?«

»Indianerehrenwort.«

Tiernan atmete tief und zittrig aus. »Okay. Okay. Wow. Hatte gerade echt Panik.«

»Weißt du, was?«, sagte ich. »Du solltest noch mehr Lagerfeuerbilder machen. Eine ganze Serie.«

Tiernans Augen leuchteten auf. »Findest du?«, sagte er. »Gar keine schlechte Idee, vom Bau des Lagerfeuers, bis es zu Asche zerfällt, Dämmerung …« Er drehte sich zu seinem Schreibtisch um, griff nach Papier und Stift, die ganze Episode schon fast vergessen. Ich ließ ihn allein.

Nach diesem kleinen Wackler liefen die Vorbereitungen für

Ich schätze, ich hätte mir Sorgen machen sollen, dass irgendwas schiefgehen könnte, aber ich hatte keine Bedenken. Sich wegen irgendwas Sorgen zu machen war mir immer wie eine unnütze Verschwendung von Zeit und Energie erschienen; es war so viel einfacher, fröhlich sein Ding zu machen, und sich mit dem Problem zu befassen, wenn es auftauchte, falls es auftauchte, was es meistens nicht tat. Deshalb war ich völlig unvorbereitet, als Richard von der Sache erfuhr, nur einen Monat vor der geplanten Ausstellungseröffnung und nur vier Tage vor jenem Abend.

Mir ist bis heute nicht ganz klar, wie eigentlich. Irgendein Telefonanruf, nach dem wenigen, was ich mitbekam (gegen meine

Ein Blick auf ihn genügte – das Gesicht kalkweiß, Kragen verrutscht, Kiefer angespannt wie eine geballte Faust –, und ich wusste, dass ich besser den Mund hielt, selbst wenn ich die Chance gehabt hätte, mir irgendwas Sinnvolles einfallen zu lassen, bevor die Tür mit solcher Wucht hinter ihm zuknallte, dass Papiere von meinem Schreibtisch gefegt wurden. Ich packte meine Sachen und ging, mied die runden, sensationsgierigen Augen unserer Buchhalterin Aileen, die durch einen Türspalt lugte, bemühte mich auf der Treppe nach unten um möglichst lässige und schwungvolle Schritte.

Die folgenden drei Tage verbrachte ich größtenteils gelangweilt. Es wäre idiotisch gewesen, irgendwem zu erzählen, was passiert war, solange noch die Möglichkeit bestand, dass sich das Ganze in Wohlgefallen auflöste. Die schiere Intensität von Richards Zorn hatte mich erschreckt – aber ich war zuversichtlich, dass er bloß einen schlechten Tag gehabt hatte und sich schon wieder beruhigt haben würde, wenn ich zurück ins Büro kam. Also hockte ich den ganzen Tag zu Hause, damit mich keiner draußen herumspazieren sah, wo ich doch hätte arbeiten müssen. Ich konnte nicht mal irgendwen anrufen. Ich konnte auch nicht bei Melissa übernachten oder sie bei mir, weil wir manchmal morgens zusammen zur Arbeit gingen – ihr Laden lag nur fünf Minuten von der Galerie entfernt, deshalb liefen wir nach einer gemeinsamen Nacht meistens zu Fuß, plauderten dabei und hielten Händchen wie zwei

Zum Glück wohnte ich nicht in einer Gegend, wo sich die Nachbarn jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit fröhlich zuwinkten und jemand gleich besorgt mit Keksen bei mir auftauchte, wenn ich mich mal einen Tag nicht blicken ließ. Meine Wohnung lag im Erdgeschoss eines klobigen Backsteinbaus aus den 1970er Jahren, ein optischer Schandfleck, der zwischen herrliche viktorianische Villen in einem ausnehmend schönen Teil Dublins gequetscht worden war. Die Straße war breit und luftig, von riesigen alten Bäumen gesäumt, deren Wurzeln die Straßendecke an vielen Stellen angehoben hatten, und der Architekt war immerhin so feinfühlig gewesen, das mit zu berücksichtigen. Mein Wohnzimmer hatte große deckenhohe Fenster und Glastüren auf beiden Seiten, so dass der ganze Raum im Sommer ein herrliches Vexierspiel aus Sonnenschein und Laubschatten war. Aber abgesehen von diesem einen Geniestreich hatte er das Haus ziemlich vermurkst: Die Fassade war bedrückend zweckmäßig, und die Flure hatten das halluzinatorische, grenzwertige Ambiente eines Flughafenhotels, langer, schnurgerader brauner Teppichboden, der sich in der Ferne verlor, lange, schnurgerade Wände mit beiger Strukturtapete und billigen Holztüren auf beiden Seiten, dreckige Wandleuchten aus Kristallglas, die käsig gelbes Licht abgaben. Die Nachbarn bekam ich absolut nie zu Gesicht. Hin und wieder hörte ich einen dumpfen Knall, wenn jemand eine Etage über mir was fallen ließ, und einmal hielt ich die Tür für einen Buchhaltertyp mit Akne und etlichen Einkaufstüten von Marks & Spencer auf, doch ansonsten hätte ich auch genauso gut der einzige Bewohner sein können. Es würde also niemandem

Dann und wann geriet ich doch ein wenig in Panik. Tiernan ging nicht ans Handy, selbst wenn ich von meinem rufnummerunterdrückten Festnetztelefon aus anrief, also hatte ich keine Ahnung, wie umfassend er mich in die Pfanne gehauen hatte, obwohl seine ausbleibende Kontaktaufnahme mich nicht gerade zuversichtlich stimmte. Ich redete mir ein, wenn Richard mich hätte feuern wollen, hätte er das auf der Stelle getan, so wie er das mit Tiernan gemacht hatte. Die meiste Zeit erschien mir das auch vollkommen und beruhigend logisch, aber immer mal wieder gab es Momente (meistens mitten in der Nacht, wenn ich die Augen jäh aufgerissen hatte, weil ein blasser Lichtstrahl bedrohlich über meine Schlafzimmerdecke glitt, während draußen kaum hörbar ein Auto vorbeifuhr), in denen mir das volle Ausmaß der ganzen Sache schlagartig und erschreckend klarwurde. Falls ich meinen Job verlor, wie sollte ich das vor anderen geheim halten – vor meinen Freunden, meinen Eltern, o Gott, vor Melissa –, bis ich einen neuen gefunden hatte? Überhaupt, was, wenn ich keinen neuen fand? Die ganzen großen Firmen, zu denen ich behutsam Kontakt aufgenommen hatte, würden meinen plötzlichen Abgang in der Galerie mitbekommen, und das wär’s dann: Falls ich je wieder Arbeit finden wollte, würde ich das Land verlassen müssen, und selbst das würde mir vielleicht nicht viel nützen. Und apropos das Land verlassen: Könnten sie Tiernan und mich wegen Betrügerei drankriegen? Wir hatten keines von Gougers Gemälden verkauft, Gott sei Dank, und wir hatten ja schließlich nicht behauptet, sie wären von Picasso, aber wir hatten unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Fördermittel angenommen, das war doch bestimmt irgendwie strafbar …

Wie gesagt, ich war es nicht gewohnt, mir wegen irgendwas

Am Freitagmorgen war ich ein bisschen nervös, immerhin so nervös, dass ich etliche Anläufe brauchte, um mich für ein Outfit zu entscheiden, von dem ich glaubte, dass es die richtige Botschaft vermittelte (seriös, zerknirscht, bereit, wieder an die Arbeit zu gehen) – letzten Endes entschied ich mich für meinen dunkelgrauen Tweedanzug mit einem schlichten weißen Hemd ohne Krawatte. Trotzdem war ich relativ zuversichtlich, als ich an Richards Tür klopfte. Selbst sein knappes »Herein« brachte mich nicht aus der Ruhe.

»Ich bin’s«, sagte ich und schielte zaghaft um die Tür.

»Ich weiß. Setz dich.«

Richards Büro war ein wildes Nest aus geschnitzten Antilopen, Sanddollars, Matisse-Drucken, Sachen, die er von Reisen mitgebracht hatte, allesamt wackelig auf Regalbrettern und Bücherstapeln und übereinander arrangiert. Er blätterte ziellos in einem dicken Packen Papiere. Ich zog einen Stuhl vor seinen Schreibtisch, leicht schräg, als wollten wir uns gemeinsam Druckproben von Werbebroschüren ansehen.

Er wartete, bis ich mich gesetzt hatte, und sagte dann: »Du weißt, worum es geht.«

Den Arglosen zu spielen wäre ein großer Fehler gewesen. »Gouger«, sagte ich.

»Wann bist du dahintergekommen?« Ich betete innerlich, dass Tiernan die Klappe gehalten hatte.

»Vor ein paar Wochen. Zwei. Vielleicht drei.« Es war sehr viel länger her. Dann sah Richard mich an. »Und du hast mich nicht informiert.«

Kalter Unterton in seiner Stimme. Er war noch immer wütend, richtig wütend. Ich drehte die Intensität ein bisschen höher. »Hätte ich fast. Aber zu dem Zeitpunkt, zu dem Zeitpunkt, als ich es herausgefunden hab, war die Sache schon zu weit gegangen, fand ich. Gougers Zeug war auf unserer Website, auf der Einladung – ich weiß ganz genau, dass die Sunday Times und der Botschafter nur wegen ihm zugesagt hatten –« Ich redete zu schnell, quasselte, und das klang, als wäre ich schuldig. Ich zwang mich, langsamer zu werden. »Ich hab nur gedacht, wie suspekt das aussehen würde, wenn er so kurz vor der Vernissage verschwinden würde. Das hätte alles in ein schlechtes Licht rücken können. Die ganze Galerie.« Richards Augen schlossen sich einen Moment betroffen. »Und ich wollte dir nicht die Verantwortung aufhalsen. Also hab ich einfach –«

»Die hab ich jetzt aber. Und du hast recht, es wird tatsächlich extrem suspekt aussehen.«

»Wir können das hinkriegen. Ehrlich. Ich hab mir in den letzten drei Tagen eine Lösung überlegt. Bis heute Abend können wir alles regeln.« Wir, wir: Wir sind noch immer ein Team. »Ich setze mich mit den geladenen Gästen und Kritikern in Verbindung, erkläre ihnen, dass sich eine kleine Veränderung bei den Teilnehmern ergeben hat und dass wir dachten, das würde sie interessieren. Ich werde sagen, dass Gouger kalte Füße gekriegt hat – er denkt, seine Feinde sind ihm auf der Spur, er muss eine Zeitlang untertauchen. Ich werde sagen, wir sind ausgesprochen

»Du bist sehr gut in so was«, sagte Richard matt. Er nahm seine Brille ab und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken.

»Das muss ich auch sein. Ich hab bei dir was gutzumachen.« Er reagierte nicht. »Wir werden ein paar Kritiker verlieren, und vielleicht auch ein paar Gäste, aber nicht so viele, dass es ins Gewicht fällt. Ich glaube, wir haben gerade noch Zeit, das Programm zu ändern, bevor es in Druck geht. Wir können das Cover überarbeiten, Chantelles Sofa-Assemblage draufsetzen –«

»Und das alles wäre vor drei Wochen sehr viel leichter zu machen gewesen.«

»Ich weiß. Ich weiß. Aber es ist nicht zu spät. Ich rede mit den Medien, sorge dafür, dass sie die Sache nicht hochspielen, damit wir ihn nicht ein für alle Mal verscheuchen –«

»Oder«, sagte Richard und setzte seine Brille wieder auf, »wir könnten eine Pressemitteilung herausgeben und bekannt machen, dass wir Gouger als Betrüger entlarvt haben.«

Er sah zu mir hoch, sanfte blaue Augen, vergrößert und forschend.

»Nun ja«, sagte ich vorsichtig. Das »wir« hatte mir Mut gemacht, aber seine Idee war grottenschlecht, und das musste ich ihm begreiflich machen. »Könnten wir. Aber das würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Absage der gesamten Ausstellung bedeuten. Ich meine, ich könnte mir überlegen, wie

»Schon gut«, sagte Richard, wandte das Gesicht ab und hob eine Hand, um mich zu bremsen. »Das weiß ich alles. Wir werden’s nicht machen. Ich würde gerne, weiß Gott, aber wir lassen es bleiben. Los, mach das andere, alles, was du vorgeschlagen hast. Und zwar schnell.«

»Richard«, sagte ich aus tiefstem Herzen. Als ich ihn ansah, diese ungewohnte Erschöpfung sah, die an ihm zu zehren schien, fühlte ich mich furchtbar. Richard hatte mich immer fair behandelt; wenn ich auch nur geahnt hätte, dass ihn die Sache so mitnehmen würde, hätte ich es nicht so weit kommen lassen, niemals – »Es tut mir echt leid.«

»Tatsächlich?«

»Gott, ja, ich schwöre. Ich hab mich grundfalsch verhalten. Aber … die Bilder sind doch so gut. Ich wollte, dass die Leute sie sehen. Ich wollte, dass wir sie ausstellen. Ich hab mich da mitreißen lassen. So einen Fehler mache ich nie wieder.«

»Also gut. Schön.« Er sah mich noch immer nicht an. »Geh und häng dich ans Telefon.«

»Ich bring das in Ordnung. Versprochen.«

»Ganz bestimmt«, sagte Richard ausdruckslos, »jetzt geh«, und er fing wieder an, seine Papiere zu sortieren.

Ich nahm die Treppe nach unten zu meinem Büro im Laufschritt, total erleichtert, plante schon den Sturm aus Spekulationen und düsteren Prophezeiungen von Gougers Twitter-Followern. Richard war offensichtlich noch sauer auf mich, aber das würde sich schon legen, wenn er sah, dass alles geregelt und wieder auf Kurs war, oder spätestens dann, wenn die Ausstellungseröffnung ein Erfolg wurde. Es war schade um Tiernans Bilder – nach dieser Geschichte waren sie wohl dazu verdammt, in seinem

Ich brauchte ein Bier, genauer gesagt, ich brauchte etliche Biere, genauer gesagt, ich brauchte einen richtig guten Abend in der Kneipe. Ich sehnte mich nach Melissa – normalerweise verbrachten wir mindesten drei Nächte die Woche zusammen –, aber was ich jetzt brauchte, waren meine Kumpel, das gegenseitige Gefrotzel und die leidenschaftlichen absurden Debatten und eine von diesen in letzter Zeit so selten gewordenen endlosen Sauftouren, nach denen alle so gegen Morgen bei irgendwem den Kühlschrank leerfuttern und auf dem Sofa einpennen. Ich hatte richtig gutes Haschisch zu Hause – in der Woche war ich mehrmals versucht gewesen, es rauszuholen, aber eigentlich trank oder kiffte ich nicht gern, wenn es gerade nicht gut lief, weil ich immer befürchtete, mich dann noch schlechter zu fühlen; deshalb hatte ich meinen Vorrat aufbewahrt, um zu beweisen, dass ich an ein Happy End mit Feier glaubte, und ich hatte recht behalten.

Also: das Hogan’s, auf dem Handy Strände auf den Fidschis angucken, dann und wann die Hand ausstrecken, um an Decs Haarsträhnen zu zupfen (»Lass den Scheiß!«). Ich hatte nicht vorgehabt, die Ereignisse der Woche zu erwähnen, aber ich war betrunken und sprudelte über vor Erleichterung, und etwa bei der fünften Runde erzählte ich ihnen die ganze Geschichte, ließ nur die nächtlichen Panikattacken weg – die mir im Rückblick noch alberner vorkamen – und streute hier und da zur Belustigung noch ein paar zusätzliche Pointen ein.

»Du Schwachkopf«, sagte Sean am Ende, aber er schüttelte den Kopf und lächelte etwas gequält. Ich war ein wenig erleichtert. Seans Meinung war mir schon immer wichtig, und Richards Reaktion hatte einen unangenehmen Nachgeschmack bei mir hinterlassen.

»Du bist echt ein Schwachkopf«, sagte Dec mit noch mehr

»Es ist mir um die Ohren geflogen.«

»Nein. Ich meine so richtig. Ich meine, du hättest deinen Job verlieren, vielleicht sogar verhaftet werden können.«

»Tja, ist aber nicht passiert«, sagte ich gereizt – das war nun wirklich das Letzte, woran ich in diesem Moment denken wollte, und das hätte Dec klar sein müssen. »In welcher Welt lebst du eigentlich, dass du denkst, die Bullen würden sich dafür interessieren, ob ein Bild von irgendeinem Nobody im Trainingsanzug stammt oder von irgendeinem Nobody mit Seidenschal?«

»Die Ausstellung hätte abgesagt werden können. Dein Boss hätte die Notbremse ziehen können.«

»Hat er aber nicht. Und selbst wenn, wäre das ja wohl kein Weltuntergang gewesen.«