Petra Wild, geboren 1963 in Aarbergen/Hessen, studierte arabische Sprache und Islamwissenschaften in Jerusalem, Leipzig, Damaskus und Berlin. Sie arbeitet als freiberufliche Publizistin vor allem zur Palästina-Frage und zur Arabischen Revolution. Im Promedia Verlag sind von ihr bislang erschienen: »Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina« (5. Auflage 2018) sowie »Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung« (2. Auflage 2018).
»Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Dies ist die Zeit der Monster.«
(Antonio Gramsci)
Für eine Islamwissenschaftlerin, die in arabischen Ländern gelebt und mit den unterschiedlichsten Menschen aus der muslimischen Welt zu tun hatte, ist es nicht leicht, ein Buch über antimuslimischen Rassismus zu schreiben. So grotesk ist das, was hierzulande von links bis rechts unter dem Etikett »der Islam« gehandelt wird, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen, wie man es anpacken soll. Denn an dem vorherrschenden, zum Mainstream gewordenen negativen Islambild ist alles falsch. Es ist das zur Monsterfratze verzerrte Bild einer Weltreligion, das da aufgerichtet wird, um bestimmte politische und gesellschaftliche Zwecke zu erreichen.
Der Islam ist eine Religion, die vielfältiger nicht sein könnte. Diese Religion ist mit etwa zwei Milliarden AnhängerInnen die zweitgrößte der Welt. Sie existiert auf allen Kontinenten und da sie sich stets mit den vorgefundenen lokalen Kulturen verbunden hat, nimmt sie die unterschiedlichsten Ausprägungen an. Zum Islam bekennen sich sowohl patriarchale wie auch matriarchale Gesellschaften. Zu ihm gehören die Mystik mit ihrer berückend schönen Poesie ebenso wie die fünf Rechtsschulen mit ihren unterschiedlichen Islaminterpretationen.
Der Islam hat eine lange, reiche und wechselvolle Geschichte von nunmehr über 1300 Jahren, in denen er, ebenso wie die Gesellschaften, in denen er heimisch ist, viele Veränderungen durchlaufen hat. Da es im Islam keine zentrale hierarchische Instanz wie den Vatikan für den Katholizismus gibt, die verbindlich festlegt, was der Islam sei, wird das unter den Gläubigen selbst stets neu verhandelt. Diese Diskussion dauert an.
Muslimische Gesellschaften können ebenso wenig auf den Islam reduziert werden wie christliche Gesellschaften auf das Christentum. Es hat in der muslimischen Welt starke antikoloniale Befreiungsbewegungen und progressive politische Strömungen gegeben. Der algerische Befreiungskampf 1954–1962 inspirierte nicht nur die drei Kontinente, sondern stieß auch in der westlichen Welt auf Solidarität. Die säkular-nationalistische palästinensische Revolution wurde besonders in ihrer ersten Phase zu Beginn der 1970er-Jahre zum Magnet für progressive Kräfte weltweit. Nicht nur aus der arabischen Welt kamen Hunderte von jungen Menschen, um sich ihr anzuschließen, sondern auch aus Lateinamerika und Asien. Dass der Glanz ihrer Anfänge auch Progressive in der westlichen Welt anzog, lässt sich in Jean Genets Ein verliebter Gefangener nachlesen. Vor dem von den USA unterstützten Militärputsch vom September 1965 gab es im muslimischen Indonesien die stärkste kommunistische Partei außerhalb des realsozialistischen Lagers, der mit 20 Millionen IndonesierInnen ein Viertel der Bevölkerung angehörte.
All das wird weggewischt, indem muslimische Länder, Gesellschaften und Menschen rein auf »den Islam« reduziert werden, der wiederum auf ein geschichtsloses, unveränderliches Abstraktum mit einer Handvoll negativer Eigenschaften verkürzt wird. Die Islamhasser konstruieren sich »den Islam« so, wie sie ihn brauchen, damit er als Feindbild taugt. Sie benutzen ihn als Sündenbock, auf den sie nach Herzenslust einschlagen können. So wurden im sächsischen Sebnitz syrische Kinder im Alter von fünf, acht und elf Jahren in aller Öffentlichkeit von deutschen Jugendlichen rassistisch beleidigt, geschlagen und mit dem Messer bedroht.1 Muslimischen Frauen wird auf offener Straße das Kopftuch heruntergerissen, Schweinsköpfe auf die Gelände von Moscheen geworfen. Beinahe jeden Tag werden Flüchtlingsheime angegriffen, regelmäßig muslimische Frauen und Männer ermordet. Antimuslimische Gewalt gehört längst zum bundesdeutschen Alltag. Und sie nimmt Jahr für Jahr zu. 2017 gab es 908 Angriffe auf deutsche MuslimInnen, 1906 Angriffe auf Flüchtlinge, die größtenteils ebenfalls Muslime sind, 286 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, 132 Angriffe auf Flüchtlingshelfer und rund 100 Angriffe auf Moscheen.2
Die Zeiten, in denen soziale Ächtung dafür sorgte, dass rassistisches Gedankengut nicht offen geäußert wurde, sind lange vorbei. Aber auch als Rassismus in der Öffentlichkeit noch tabuisiert war, existierte er. Bereits 2011 zeigte eine Studie des Bielefelder Konfliktforschers Andreas Zick, dass Rassismus, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit in allen Schichten und Altersklassen in Europa weit verbreitet sind. Damals gaben rund 80% der befragten Deutschen an, der Islam passe nicht in die hiesige Kultur. Ein Drittel der Befragten war der Meinung, es gebe eine natürliche Hierarchie zwischen »hellen« und »dunklen Rassen« und jeder dritte Deutsche wünschte sich einen »starken Mann« an der Spitze des Staates.3
Heute sind alle Dämme gebrochen. Der gegen Muslime gerichtete Rassismus ist in den westlichen Ländern mittlerweile so stark geworden, dass es gerechtfertigt ist, von der größten rassistischen Mobilisierung seit dem Faschismus zu sprechen.
Nach wie vor wird auf den Meinungsseiten von Tageszeitungen, in Talk-Show-Runden und in sozialen Medien darüber spekuliert, ob der Islam mit der Demokratie vereinbar sei, warum er so gewalttätig sei und ob er überhaupt nach Deutschland gehöre. Meist sind diese Debatten von keinerlei Fachkenntnis getrübt. Aber wozu auch? Dass der Islam frauenfeindlich sei und Muslime zu Gewalt und Fanatismus neigen, weiß schließlich jeder.
Der Durchschnittsbürger verfügt über kein wirkliches Wissen über die zweitgrößte Weltreligion, hat aber dafür eine umso dezidiertere Meinung dazu. Diese Meinung ist ein Amalgam aus Voreingenommenheiten und Vorurteilen, kleinbürgerlichen Ressentiments, Eurozentrismus, kolonialem Blick und antimuslimisch gewendetem Antisemitismus. Antimuslimische Stereotype fallen als solche kaum auf, weil sie so weit verbreitet, gleichsam Allgemeingut der öffentlichen Meinung sind. Keine Spielart des Rassismus wird so verharmlost und heruntergespielt wie der antimuslimische Rassismus, keine ist so gewalttätig und salonfähig zugleich.
Der Sprachlos-Blog hat sich einmal die Mühe gemacht, in der antimuslimischen Stellungnahme einer antideutschen Gruppe, die mit »Let‘s talk about Islam« beginnt, das Wort »Islam« gegen das Wort »Judentum« auszutauschen. Der dadurch eintretende Verfremdungseffekt ist durchaus erhellend: »Doch anders als vom Plenum suggeriert, war das Problem (…) keine beliebige migrantische Männergruppe und nur bedingt das Patriarchat, sondern vor allem das Judentum. So ist es ein offenes Geheimnis, dass diejenigen, die das Conne Island [linkes Zentrum in Leipzig, d.A.] zeitweise in einen Ausnahmezustand versetzten, gerade nicht aus Kumasi oder Nowosibirsk kamen, sondern aus jüdisch geprägten Ländern, in denen das Judentum selbst einige derer entscheidend prägt, die sich nicht direkt zur Religion bekennen. Auch das gilt selbstverständlich nicht für alle, aber dass das Judentum viel tiefgreifender in die Sozialisation, Erziehung und Alltagskultur seiner Angehörigen eingreift als viele andere Vereine, dürfte unbestritten sein.«4
Dass ein solches Statement antisemitisch ist, würden die meisten Menschen erkennen. Doch wenn in derselben Weise über den Islam gesprochen wird, wird der darin enthaltene Rassismus nicht wahrgenommen. Prominente Politiker schüren in der Öffentlichkeit antimuslimische Ressentiments und geben rassistische Stellungnahmen ab. Würde ein Politiker in ähnlicher Weise über Juden und das Judentum sprechen wie über den Islam und Muslime, so müsste er zurücktreten und für lange Jahre von der politischen Bildfläche verschwinden. Aber in Bezug auf Musliminnen und Muslime ist alles erlaubt. Gewalt im Zusammenhang mit Muslimen wird nur thematisiert, wenn sie von diesen ausgeht, kaum je, wenn sie ihr Opfer werden. Politiker, Journalisten und staatstragende Wissenschaftler stricken unablässig an einem Islambild, das den Rassismus fördert.
Der antimuslimische Rassismus wurde aus innenpolitischen und außenpolitischen Gründen systematisch aufgebaut. Meist wird er als Islamophobie oder Islamfeindlichkeit bezeichnet, aber dieser Begriff trifft die Sache nur ungenügend. Der Begriff Islamophobie rückt das Phänomen auf die Ebene der subjektiven und pathologischen Meinungen und verharmlost es dadurch. Richtiger ist es von Rassismus zu sprechen, da dieser Begriff die Machtverhältnisse und die herrschaftsstabilisierende Funktion dieses Phänomens beinhaltet und zudem einen geschichtlichen Zusammenhang herstellt.
Der antimuslimische Rassismus hat eine lange Geschichte in Europa. Der Islam ist neben dem Judentum das älteste Feindbild. Seitdem Europa im Mittelalter begann, eine eigene Identität auszubilden, hieß Europäer sein in erster Linie, kein Muslim zu sein. Europa und der Orient haben eine lange gemeinsame und wechselvolle Geschichte. Die muslimische Welt war für Europa immer eine Herausforderung. Gewaltsame Auseinandersetzungen, kulturelle Bereicherung und Orte der religiösen und ethnischen Koexistenz existierten gleichzeitig. Die Begegnung mit der arabischen Welt und dessen dominierender Religion – dem Islam – hat Europa nachhaltig geprägt. Bis heute arbeitet es sich daran ab. Besonders in Zeiten der Krise wird gerne auf das Feindbild Islam zurückgegriffen. Auch heute heißt Europäer sein wieder vor allem kein Muslim zu sein.
Die Welt ist aus den Fugen. Spätestens die Finanzkrise von 2008, die seither weiter schwelt, hat deutlich gemacht, dass das kapitalistische System an seine Grenzen gestoßen ist. Dem Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein zufolge befinden wir uns bereits in einer Übergangsphase. Der Kapitalismus sei so erfolgreich gewesen, dass er sich totgesiegt habe. Überleben kann er nur noch durch die staatliche Abfederung seiner Überproduktions- und Überakkumulationskrisen und durch das Erzeugen stets neuer Finanzblasen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 wurde »gelöst« durch die Erzeugung einer neuen, noch größeren Finanzblase, deren Platzen umso heftigere Folgen haben wird. Die Verwüstungen, die der neoliberale Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten auf den drei Kontinenten hinterlassen hat, haben zu Hunger, Kriegen und anderen Katastrophen geführt, mit der Folge, dass heute mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht sind – eine in dieser Höhe historisch beispiellose Zahl. Die Krisenhaftigkeit des Systems und die Erschütterungen, die es erzeugt, haben vielerorts zu Instabilität und Chaos geführt. Das wiederum ist Wallerstein zufolge Ausdruck der Umbruchsphase.
Der Kapitalismus könne, so Wallerstein, nicht so weiter wie bisher, und derzeit kristallisiere sich eine neue Ordnung heraus. »Damit wären wir wieder bei der Übergangsphase, der Periode der ›Hölle auf Erden‹. Wir werden keine einfache, entspannte politische Debatte erleben, keine freundliche Diskussion unter Chorknaben. Es wird einen Kampf auf Leben und Tod geben. Denn es geht darum, die Grundlagen für das historische System der nächsten 500 Jahre zu legen. Und zur Diskussion steht, ob wir einfach ein neuerliches historisches System haben wollen, in dem Privilegien dominieren und Demokratie und Gleichheit auf minimaler Ebene existieren, oder ob wir uns in die entgegengesetzte Richtung bewegen wollen – zum ersten Mal in der bekannten Menschheitsgeschichte.«5
Wohin die Entwicklung gehen wird, ist noch offen. Entweder wird es einen autoritären Umbau des Systems geben oder aber progressive Kräfte weltweit vermögen, die Entwicklung in eine Richtung zu schieben, in der die Menschheit mündig werden und ihren »ältesten Traum« (Ernst Bloch) von Freiheit endlich erfüllen kann.
Kein Buch wird allein von der Autorin geschrieben. In jedes Buch fließen Debatten mit und Anregungen von anderen ein. Deswegen möchte ich an dieser Stelle meinem langjährigen Weggefährten Jürgen Schneider ganz herzlich danken, ohne den dieses Buch niemals entstanden wäre.
Petra Wild
Berlin, im August 2018
1 Die Welt, Jugendliche schlagen und bedrohen Flüchtlingskinder, 7.10.2016
2 Younes, Anna-Esther, Islamophobia in Germany. National Report 2017 in, Bayrakali, Enes; Hafez, Farid (Hg.), European Islamophobia Report, 2017, SETA, Ankara, 2018, S. 270f.
3 Schmidt, Daniela, »Soziale Probleme werden ethnifiziert«, Mephisto 97.6, 15.3.2011
4 Sprachlos-Blog, No Ears for Krauts, 16.2.2017, unter: www.sprachlos-blog.de
5 Wallerstein, Immanuel, Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts, Wien 2008 (2.Auflage), S. 95
»Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.« (Bertolt Brecht)6
»Vorurteil und Parteilichkeit verdunkeln die kritische Fähigkeit und schließen eine kritische Untersuchung aus.« (Ibn Khaldoun, The Muqaddimah, 1377)7
Die Feindseligkeit gegenüber Muslimen wird hierzulande oft als Islamophobie bezeichnet, auch wenn sich der Begriff des antimuslimischen Rassismus langsam durchsetzt. Dieser Begriff wurde in den 1990er-Jahren vom antirassistischen britischen Thinktank Runnymede-Trust eingeführt, um die vor allem seit dem US-NATO-Krieg gegen den Irak 1991 immer stärker werdende Feindseligkeit gegen Musliminnen und Muslimen zu bezeichnen. Islamophobie wurde definiert als »unbegründete Feindlichkeit gegenüber Muslimen und deswegen Furcht vor oder Abneigung gegen alle oder die meisten Muslime.«
Islamophobie drückt sich dem Runnymede-Trust zufolge in folgenden Glaubenssätzen aus:
Es hat viel Kritik am Begriff der Islamophobie gegeben, da er das Phänomen zu sehr auf der mentalen und psychologischen Ebene behandelt, ohne politische und gesellschaftliche Machtverhältnisse zu beachten. Der alternativ dazu gebrauchte Begriff Islamfeindlichkeit ist noch vager und unbestimmter.
Bei einem Teil der RassismusforscherInnen und in einem Teil der Linken hat sich der Begriff des antimuslimischen Rassismus mittlerweile durchgesetzt. Das irritiert viele Menschen, da es ihnen unangebracht erscheint, im Zusammenhang mit einer Religion von Rassismus zu sprechen.
Es ist wahr, dass der Begriff des Rassismus auf die Rasse-Konstruktionen des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Damals wurde die Menschheit in verschiedene Rassen aufgeteilt, denen jeweils ein unterschiedlicher Wert zugeschrieben wurde. Der Rassismus war der Wegbegleiter des europäischen Kolonialismus, der die Ausplünderung, Versklavung und Ausrottung unzähliger Menschen und ganzer Bevölkerungen und die Zerstörung ihrer Zivilisationen und Kulturen legitimieren sollte.
Obwohl von Rassismus im strengen Sinne erst gesprochen wird, seitdem die behauptete Minderwertigkeit von Menschengruppen biologisch-naturwissenschaftlich begründet wurde, gingen ihm proto-rassistische Strömungen in Europa voraus, die sich im Wesentlichen auf die Religion stützten.9 Obwohl der Rassismus vor allem nicht-weiße, nicht-europäische Menschen betraf, zeigt doch das Beispiel Irlands, das im 16. Jahrhundert von Großbritannien siedlerkolonialisiert wurde, dass eine rassistische Hierarchisierung auch für Weiße konstruiert werden kann, wenn sie kolonisiert werden. Die Kolonisierung der irischen Bevölkerung wurde zunächst mit deren kultureller Minderwertigkeit und später mit einer religiös-rassistischen Rhetorik gerechtfertigt. Das zeigt, dass das Wichtigste am Rassismus seine politische Funktion ist und dass bei Bedarf jedwede Art von Unterschied zwischen einer Bevölkerung(sgruppe) und einer anderen zur Dämonisierung genutzt werden kann.
Nach dem Holocaust war der Rassebegriff so diskreditiert, dass die rassistische Klassifizierung von Menschen geächtet wurde. Die UNESCO legte eine Studie vor, die die wissenschaftliche Unhaltbarkeit und die politische und moralische Verwerflichkeit des Rassismus aufzeigte. Vordergründig wurden die Ächtung des Rassismus und der Antirassismus – Rassismus primär verstanden als Antisemitismus – zum gesellschaftlichen Konsens im Westeuropa der Nachkriegszeit.10
Doch die dem Rassismus zugrunde liegende Struktur ist damit nicht verschwunden.
Es gibt nach wie vor die Einteilung von Menschen in verschiedene Gruppen, denen wesenhafte Eigenschaften und ein ungleicher Wert zugeschrieben werden. An die Stelle der Kategorie der Rasse ist heute die Kategorie der Kultur getreten. All das, was früher Rassen zugeschrieben wurden, wird heute auf Kulturen projiziert. Die Verlagerung von Rasse auf Kultur war deswegen so einfach, weil der biologische Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts niemals nur ein rein biologischer war, sondern zugleich kulturelle Elemente enthielt. Die postulierte Minderwertigkeit einer Kultur wurde auf die Rasse zurückgeführt. Heute wird die Minderwertigkeit einer Kultur aus dieser selber erklärt. »Tatsächlich stützt sich die rassistische Anklage bald auf einen biologischen und bald auf einen kulturellen Unterschied«, erklärt der Rassismusforscher Albert Memmi. »Einmal geht sie von der Biologie, dann wieder von der Kultur aus, um daran anschließend allgemeine Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Persönlichkeit, des Lebens und der Gruppe der Beschuldigten zu ziehen. Manchmal ist das biologische Merkmal nur undeutlich ausgeprägt oder es fehlt ganz. Kurz, wir stehen einem Mechanismus gegenüber, der unendlich mannigfaltiger, komplexer und unglücklicherweise auch wesentlich stärker verbreitet ist, als der Begriff Rassismus im engen Wortsinn vermuten ließe.«11
Die politische Rechte benutzte den Begriff »Kultur« schon frühzeitig zur Ersetzung des Rassebegriffs. Bereits in den 1950er-Jahren untersuchte Theodor W. Adorno im Rahmen einer Studie im Auftrag des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt anhand der Aussagen von Versuchsteilnehmern die »Überbleibsel der Rassentheorie« und gelangte zu der Erkenntnis: »Anstelle der Arier und der Herrenrasse geht es hier nun um die weiße Rasse, welche die abendländische Kultur verteidigen soll. (…) Nicht selten verwandelt sich der faschistische Nationalismus in einen gesamteuropäischen Chauvinismus, so wie etwa der Titel der Zeitschrift von Hans Grimm – Nation Europa – verrät. Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.«12
In den 1980er-Jahren entwickelten Rechtsradikale, für die die Einteilung von Menschen in ungleichartige und ungleichwertige Gruppen ein unverzichtbares Element ihrer Ideologie ist, das Konzept des »Ethnopluralismus«, der ein »differenzialistischer Rassismus« ist. Dieser besagt im Kern, dass Kulturen sich wesenhaft voneinander unterschieden, nichts gemeinsam hätten, nicht zusammenleben könnten und auch nicht gleichwertig seien.
Die neuere Rassismusforschung, die in den 1980er-Jahren vor allem von den französischen Theoretikern Pierre-André Taguieff und Étienne Balibar sowie einer Gruppe von Neomarxisten im Vereinigten Königreich (UK) um Stuart Hall entwickelt wurde, versuchte diese Veränderungen theoretisch zu erfassen, indem sie von einem »neuen kulturellen Rassismus« sprach, der an die Stelle des alten biologischen Rassismus getreten ist. Die Funktion des Rassismus als Herrschaftsideologie ist sich dabei gleichgeblieben. Manchmal wird dieser Kulturrassismus auch als »Rassismus ohne Rassen« bezeichnet.13
Die Erziehungswissenschaftlerin Annita Kapalka betrachtete den Begriff Kultur in Anlehnung an Balibar als »Platzhalter für ›Rasse‹«: »Der Begriff Kultur ersetzt (…) den Begriff ›Rasse‹. Die ›anderen‹ werden entlang dem Kriterium ›kulturelle Identität‹ erkennbar, ebenso an Haar- und Hautfarbe wie an Sprache, Kleidung und Auftreten in verschiedene Kategorien unterteilt, denen eine scheinbar neutral bestimmbare Differenz zur ›deutschen Kultur‹ zugeschrieben wird. Gemessen an dieser ›kulturellen Differenz‹ werden die ›Angehörigen fremder Kulturen‹ bis heute als integrationsfähige Belastung klassifiziert, die den inneren Frieden des Gemeinwesens gefährden. Zu schützen gilt nicht mehr die ›rassische Reinheit‹. Sondern eine authentische ›kulturelle Identität‹.«14
Ebenso wie die Gesellschaften, denen er entspringt, verändert sich auch der Rassismus. »Es hängt von den historischen Bedingungen ab, wie sich Rassismus artikuliert«, erklärt der Rassismusforscher Robert Miles. »(So) ist die dominante Form des Rassismus im späten 20. Jahrhundert diejenige, die sich auf angeblich naturgegebene kulturelle Unterschiede bezieht. Letztlich aber zielt jede rassistische Ideologie auf die Hierarchisierung von Menschen ab, indem ihnen mehr oder weniger Fähigkeiten zugeschrieben werden, bestimmte kulturelle, politische oder soziale Standards zu erreichen.«15
Kultur kann zu einem Homolog für Rasse werden, weil die Bedeutungskonstruktion und Verwendung des Begriffs derselben inneren Logik folgt. Kultur wird dabei enthistorisiert, essenzialisiert und verdinglicht.
»Kultur wird nicht mehr als Produkt menschlicher Beziehungen angesehen, das sich fortwährend verändert, sondern als starre und statische Struktur, durch die alle Menschen, die ihr angehören, unveränderbar und wesenhaft geprägt werden. Indem Menschen als Einzelne und als ganze Gesellschaften durch ihre Kultur erklärt und auf sie festgelegt werden, wird Kultur zu einem unentrinnbaren Schicksal. Nicht mehr die Menschen machen in einem dialektischen Prozess die Kultur, sondern die Kultur macht die Menschen. Die kulturelle Differenz wird zum Hauptunterschied zwischen Menschengruppen konstruiert und diese kulturelle Differenz wird als unüberwindbar vorgestellt. Wie im biologischen Rassismus wird dadurch das, was Menschen voneinander unterscheidet, größer als das, was sie miteinander verbindet. Früher wurden biologische Merkmale herangezogen, um soziale Praktiken einer Gruppe zu erklären, heute dienen kulturalistische Zuschreibungen ›als zentrale Bezugspunkte für die Deutung sozialer Praktiken‹, es wird daraus eine ›unabänderliche Natur‹ konstruiert, die in ihrer statischen Abgeschlossenheit und Determiniertheit wie das Konzept der ›Rasse‹ (funktioniert). Ein ›essentialistisch gedachtes Kulturkonzept‹ avanciert hier zu einem ›funktionalen Äquivalent des biologistischen Rassebegriffs‹.«16 Was Menschen tun und wie sie sich verhalten, wird auf ihre Kultur zurückgeführt; jeder, der einer bestimmten Kultur angehört, wird tendenziell nicht mehr als Individuum, sondern als bloßes Exemplar dieser Kultur angesehen.
Es gibt unterschiedliche Rassismustheorien, aber weitgehend einig sind sich die Forscher darin, dass es im Wesentlichen vier Kriterien für Rassismus gibt:
Das Entscheidende am Rassismus ist, dass er bestehende Herrschaftsverhältnisse legitimieren soll.
»Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden des Opfers, mit der dessen Privilegien oder Aggressionen gerechtfertigt werden sollen«, erklärt der Rassismus-Forscher Albert Memmi. 17
»Rasse ist keine anthropologische oder biologische, sondern eine soziale Kategorie«, erklärt Karin Priester, Autorin des Buches Rassismus. Eine Sozialgeschichte. Sie fährt fort: »Diese Erkenntnis ist so alt wie der Rassismus selbst. Schon im 17. Jahrhundert urteilte der französische Schriftsteller (und Verfasser der berühmten Fabeln) Jean de la Fontaine: Je nachdem, ob du mächtig oder elend bist, werden die Urteile des Hofes dich weiß oder schwarz machen.«18
Birgit Rommelspacher ist eine der Forscherinnen, die sich mit der Frage beschäftigte, inwieweit der Islam als Basis einer Rasse-Konstruktion herhalten kann. Sie erklärt: »Beim Antiislamismus steht vor allem die Frage zur Debatte, ob religiöse und kulturelle Unterschiede als Basis von ›Rasse‹-Konstruktionen dienen können. Das Beispiel der Entwicklung des Antisemitismus aus dem Antijudaismus macht m.E. deutlich, dass dies durchaus der Fall sein kann. Allerdings gibt es hier fließende Übergänge. Das heißt, der Antiislamismus kann umso mehr als ein Rassismus bezeichnet werden, je mehr er ›den‹ Islam zu einem Differenzierungsmerkmal macht, das das ›Wesen‹ aller Moslems zu durchdringen scheint und sich wie eine biologische Eigenschaft von einer Generation auf die andere weiter vererbt. Zur Differenzierung gegenüber dem kolonialen Rassismus wird er in der Literatur auch häufig als ›Kulturrassismus‹ oder als ›Neorassismus‹ bezeichnet. Die Bezeichnung Rassismus ist vor allem auch dann angemessen, wenn die entsprechenden Konstruktionen der Legitimation gesellschaftlicher Hierarchien und Herrschaftsverhältnissen dienen.«19
Da »der« Islam, heute als Religion oder/und Kultur verstanden, die Hauptrolle bei der »Rasse«-Konstruktion spielt, müssen Rassismus-Definitionen dahingehend aktualisiert werden.
Der Runnymede-Trust wies darauf hin, dass auch die physische Erscheinung, der Phänotyp, im antimuslimischen Rassismus eine Rolle spielt: »Der entscheidende Punkt, der zu betonen ist, ist dass über die Jahrhunderte alle Rassismen zwei separate aber miteinander verflochtene Stränge hatten – und weiterhin haben. Einer benutzt physisch oder biologisch abgeleitete Zeichen als ein Mittel, um Differenz zu erkennen – Hautfarbe, Haar, Körpertyp und so weiter. Der andere benutzt kulturelle Merkmale wie Lebensweisen, Bräuche, Sprache, Religion und Kleidung. (…) Die meisten Muslime werden an physischen Merkmalen ebenso wie an ihrer Kultur und Religion erkannt; und die biologischen und kulturellen Stränge im antimuslimischen Rassismus sind oft unmöglich zu entflechten.«20
Auch eine Forschungsgruppe um Margarete und Siegfried Jäger vom Duisburger Institut für Sozialforschung bezog in ihre Definition des »Antiislamismus« als einer Form des Rassismus sowohl die Zuschreibung kultureller als auch körperlicher Eigenschaften ein wie »etwa fanatisch, fundamentalistisch, hysterisch, atavistisch, heuchlerisch, kindlich, militant, gewalttätig, schmutzig, dunkel, schwarzhaarig, vermummt, unheimlich.«21
Rassismus sagt nichts über die als dessen Objekte konstruierten Menschengruppen aus. Wie der französische Philosoph Jean-Paul Sarte einmal über den Antisemitismus sagte: »Würde der Jude nicht existieren, der Antisemit hätte ihn erfunden«. Dies lässt sich auch auf den antimuslimischen Rassismus übertragen: Antimuslimischer Rassismus ist das Gerücht über die Muslime. »Es geht bei ihm nicht um den realen Islam oder reale Muslime, sondern um ein imaginiertes Bild davon. Dies knüpft natürlich an die Realität an, aber – wieder mit Sartre gesprochen – das Vorurteil verfälscht die Erfahrung. Der Islam, über den Islamfeinde sprechen, hat jedenfalls wenig mit dem realen Islam zu tun. (…) Die Islamophoben also nehmen irgendein Problem wahr und islamisieren es. Sie sehen irgendwelche Menschen, für deren Identität der Islam häufig gar nicht so wichtig ist, und definieren sie als Muslime. Man könnte zugespitzt sagen: Nach dem 11. September sind Massen von Muslimen neu erschaffen worden – seitdem werden Türken, Araber, viele Migranten in Deutschland zuallererst als Muslime gesehen.«22
Die Art wie eine Bevölkerungsgruppe mittels rassistischer Stereotype dämonisiert wird, sagt mehr über die Bedürfnisse der dämonisierenden Gruppe als über die Dämonisierten aus.
In der neueren Rassismusforschung wird der Prozess der rassistischen Konstruktion einer Gruppe als »Othering« – Andersmachung – oder als »Rassifizierung« bezeichnet. Dieser Otheringprozess besteht Iman Attia zufolge darin, »Menschen entlang von Merkmalen zu Gruppen zusammen(zufügen) und von anderen Gruppen (zu) unterscheiden.« Kategorien wie »Religion, Kultur und Ethnie werden amalgamiert, zu einer übermächtigen Bezugsgröße und zu einem zentralen Unterscheidungsmerkmal konstruiert. Ethnie, Kultur und Religion bzw. das, was aufgrund der äußeren Erscheinung und der sozialen Praxis dafür gehalten wird, ersetzen das Soziale, Gesellschaftliche und Politische.«23
Sozialwissenschaftliche Studien und die fortlaufende Zunahme von Gewalt gegen Musliminnen und Muslime oder solche Menschen, die dafür gehalten werden, belegen, dass in den letzten 20 Jahren der antimuslimische Rassismus kontinuierlich zunimmt.
Rassismus ist nicht harmlos. Für die als »Fremde« oder »Feinde« konstruierte Bevölkerungsgruppe hat der Rassismus gravierende Folgen. Es beginnt mit feindseligen oder abfälligen Bemerkungen und Blicken, reicht über die Diskriminierung beim Zugang zu Arbeitsplätzen, Wohnungen und Ressourcen, Schikanen von Seiten der Polizei (zum Beispiel »racial profiling«) und Behörden bis hin zu tätlichen Angriffen. Rassismus ist gleichbedeutend mit Gewalt. Nicht nur maßt sich die privilegierte Mehrheit an, die Identität der rassistisch konstruierten Minderheit festzulegen, sie auszugrenzen und in ihren Lebensmöglichkeiten einzuschränken, sondern letztendlich wird sie zu einer Gefahr für deren körperliche Unversehrtheit und Leben. Der Rassismusforscher Albert Memmi hat das Wesen des Rassismus auf den Punkt gebracht, als er erklärte, dass der Rassismus in letzter Konsequenz auf dem Friedhof endet.
Es gibt von verschiedenen Seiten immer wieder Versuche, zwischen dem Islam und den Muslimen zu unterscheiden, etwa wenn gesagt wird, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, aber die hier lebenden Muslime schon. Hin und wieder versucht auch der eine oder die andere seine antimuslimischen Voreingenommenheiten zu retten, ohne sich des Verdachts des Rassismus auszusetzen, indem er darauf besteht, dass man ja gegen die Religion sein könne, ohne gleichzeitig gegen deren Anhänger zu sein. Auch im antirassistischen Lager besteht Uneinigkeit darüber, ob es antimuslimischer oder antiislamischer Rassismus heißen muss. Aber eine Religion lässt sich nicht von ihren Gläubigen trennen und der Rassismus trifft die Menschen, die diese verkörpern und nicht ein abstraktes Gebilde. In der Praxis zeigt sich, dass die Vorurteile und Aggressionen, die sich gegen die Religion richten, sich in Wirklichkeit gegen die Menschen richten, die sich zu ihr bekennen.24
6 Brecht, Bertolt, Flüchtlingsgespräche, Leipzig 1973, S. 87
7 Zitiert nach Childers, Erskine B, Amnesia and Antagonism in: Noor, Farish A., Terrorising the Truth. The Shaping of Contemporary Images of Islam and Muslims in Media, Politics and Culture, Penang 1997, S. 125
8 University of California, Berkeley, Center for Race and Gender, Islamophobia Research and Documentation Project, Defining Islamophobia, unter: www.crg.berkeley.edu/research-project/islamophobia-research-documentation-project/
9 Geiss, Immanuel, Geschichte des Rassimus, Frankfurt/Main 1989 (2. Auflage)
10 Malik, Kenan, The Meaning of Race, Basingstoke/London 1996, S. 14ff.
11 Memmi, Albert, Rassismus, Frankfurt/Main 1992, S. 165f.
12 Adorno zitiert nach; Takeda, Arata, Wir sind wie Baumstämme im Schnee. Plädoyer für transkulturelle Erziehung, Münster/New York/München/Berlin 2012, S. 33
13 Taguieff, Pierre-André, Die Metamorphose des Rassismus und die Krise des Antirassismus,in: Bielefeld, Uli (Hg.), Das Eigene und das Fremde: Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg, 1992; Balibar, Étienne, Is there a Neo-Racism? In: Balibar, Étienne; Wallerstein, Immanuel, Race, Nation, Class, London/New York, 1992; Miles, Robert, Rassismus. Einführung in die Theorie und Geschichte eines Begriffs, Berlin/Hamburg 1992
14 Zitiert nach Takeda, Arata, Wir sind wie Baumstämme im Schnee. Ein Plädoyer für transkulturelle Erziehung, Münster/New York/München/Berlin 2012, S. 32f.
15 Miles, Robert, Die Geschichte des Rassismus, in: Burgmer, Christoph (Hg.), Rassismus in der Diskussion, Berlin 1999, S. 10f.
16 Kalicha, Sebastian, Antimuslimischer Rassismus, Graswurzelrevolution 399, Mai 2015
17 Memmi, Albert, Rassismus, Frankfurt/Main, 1992, S. 164
18 Priester, Karin, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003
19 Rommelspacher, Birgit, Was ist eigentlich Rassismus? In: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA) (Hg.), »Rassismus – eine Jugendsünde?«, 25,./26. November 2005, CJD Bonn, S.15
20 Richardson, John E., (Mis)Representing Islam. The Racism and Rhetoric of British Broadsheet Newspapers, Amsterdam/Philadelphia 2004, S. 3
21 Jäger, Siegfried; Jäger, Margarete, Medienbild Israel, Münster 2003, S. 21
22 Bundeszentrale für Politische Bildung, Wo endet Islamkritik und beginnt Islamfeindlichkeit? Interview mit Farid Hafez, 17.3.2014
23 Kalicha, Sebastian, Antimuslimischer Rassismus, Graswurzelrevolution 399, Mai 2015
24 Vgl. Richardson, John, (Mis)Representing Islam, Amsterdam/Philadelphia 2004, S. 21ff.