Ralph Roger Glöckler
CORVO
Eine Azoren-Utopie
Mit einem Nachwort von José Nobre da Silveira
Elfenbein
»Corvo. Eine Azoren-Utopie«
erschien erstmals 2001 unter dem Titel
»Corvo. Uma viagem açoriana«
in einer portugiesischen Übersetzung
bei Hugin Editores, Lissabon.
»Corvo« bildet zusammen mit den Erzählungen
»Vulkanische Reise« und »Madre«
Glöcklers Azoren-Trilogie.
Vom selben Autor erschienen zudem:
»Das Gesicht ablegen« (2001)
»Mr. Ives und die Vettern vierten Grades« (2012)
»Tamar« (2014)
© 2005 Elfenbein Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-941184-73-2 (E-Book)
ISBN 978-3-932245-77-0 (Druckausgabe)
Nelken für den Padre
Winde reißen Löcher in die Wolkendecke über dem Atlantik. Strahlen der Nachmittagssonne formen Krater aus Licht. Blick frei in silbrig flimmernde Abgründe. Die Launen des Wetters zaubern verwirrende Erscheinungen in die Luft, Fata Morganen der Sehnsucht, flüchtige Wiedergänger der Vulkane, aus denen der Archipel der Azoren entstanden ist.
Der Padre und ich blicken dem Kommandanten der kleinen Militärmaschine über die Schulter. Wir sehen uns an, verstehen die Gesten nicht, rasche Fingerandeutungen, mit denen er seinem Kopiloten etwas mitteilen will. Er zuckt die Schultern, schüttelt den Kopf. Wir fragen uns, ob dies ein Kommentar zu dem Maschinenschaden ist, der den Abflug von der Insel Terceira um einen Tag verzögert hat? Wobei wir von Glück sagen können, dass es nur ein Tag war, sonst hätten wir vielleicht eine Woche warten müssen, um nach Corvo, der kleinsten Insel des Archipels, zu gelangen. Wenn es kein technisches Problem ist, das den Abflug verzögert, dann sind es die widrigen, stürmischen Winde, die eine Landung in Corvo verhindern, oder das schwierige Verhältnis des Bürgermeisters zur portugiesischen Luftwaffe. Gründe gibt es immer, um nicht nach Corvo zu gelangen.
Seine erste Mission, sagt der Padre, seine erste Gemeinde. Wir haben Mühe, uns zu unterhalten, weil die Propellermotoren viel Lärm machen. Ich nicke ihm zu.
Der Blick, mit dem er mich ansieht, verrät nicht nur tapfere Zuversicht, sondern auch die Angst, seiner Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Der Padre ist noch jung, vierundzwanzig Jahre. Was für eine Herausforderung! Sein Blick spiegelt auch die Angst vor der Einsamkeit, der Isolation, auf einer siebzehn Quadratkilometer großen Insel, auf der es nur ein Dorf gibt, Vila Nova do Corvo, mit einhundertachtzig Familien oder etwa dreihundertsiebzig Menschen.
Ich erinnere mich an die Tagebuchaufzeichnungen des portugiesischen Schriftstellers Raul Brandão, der 1924 einige Tage auf Corvo verbrachte, und daran, was mich veranlasst hat, die Insel zu besuchen. Corvo, sagt er, sei eine christliche Bauern-Demokratie. Ein schöner Gedanke, lasse mich von der Idee faszinieren, einer Lebensform zu begegnen, die in unserer von Konsum- und Karrierewerten verdorbenen Welt vorbildlich sein könnte. Raul Brandão zeichnet ein romantisch verklärtes Bild. Ich kann ihn verstehen, will aber versuchen, nicht in idealisierende Träumereien zu geraten, sondern will herausfinden, was an dieser Legende wahr ist.
Das Flugzeug wird von Turbulenzen geschüttelt. Ich ziehe es vor, mich hinzusetzen und anzuschnallen. Die ältere Senhora, gegenüber, küsst den Rosenkranz, der unablässig durch ihre Hände gleitet, spricht ein Ave Maria mit beschwörender Stimme, wobei sie den Blick panikerfüllt auf mich richtet, als würde ihr so Halt in den Eruptionen des Windes werden.
Das Gesicht des Ehemanns ist von der Feldarbeit verwittert. Er ist klein, hager, sieht älter aus, als er ist. Die tadellose Zahnprothese, die Brille und die amerikanische Schirmmütze lassen auf Jahre der Emigration schließen oder auf Familienangehörige in den Vereinigten Staaten. Er beachtet seine Frau nicht – sie hat eben Angst, soll sie nur beten, das ist wohl das Beste –, unterhält sich lieber mit dem älteren, ihm gegenübersitzenden Mann. Ja, die Kälber. Auch er habe seine Last damit. Aber das neue Medikament …
Pedro, der Agronom, sitzt schweigsam neben mir, verbirgt das Gesicht in den Händen. Er hat keine Angst vor den Winden, ist schlimmere Flüge gewöhnt, denkt über seine Zukunft auf Corvo nach.
Der siebenundzwanzigjährige Ingenieur hat im Auftrag der Câmara Municipal, des Bürgermeisteramtes, zwei Jahre auf Corvo verbracht, um das Projekt einer Käsefabrik auszuarbeiten. Sie würde der nur formell existierenden Kooperative milchverarbeitender Produkte zu neuem Leben verhelfen, würde Arbeitsplätze schaffen und das Bruttosozialprodukt der Insel erhöhen. Die Schweine, hat Pedro gesagt, würden mit überschüssiger Milch gefüttert. So eine Verschwendung! Die Leute auf dem Kontinent, hat er erzählt, tränken schlechtere Milch als die Schweine auf Corvo.
Ein schönes Projekt, eine brillante Idee, wäre da nicht das gespannte Verhältnis zwischen dem parteilosen, aber von den Sozialisten geförderten Bürgermeister und dem zur sozialdemokratischen Regierungspartei gehörenden Staatssekretär.
Man müsse die Wahlen abwarten, hat Pedro gesagt, das könne zu personalen Verschiebungen, zu einer Verbesserung des Klimas zwischen der Câmara und der Regionalregierung führen. Fürs erste, jedenfalls, sei das Projekt gestorben. Die dächten nur an die Partei und nicht an die Interessen der Corvinos.
Und außerdem, hat er gesagt, gäbe es noch ein anderes Problem, sei es doch schwierig, die Leute vom Kooperativismus zu überzeugen. Ich habe nichts darauf geantwortet, sondern mich nur gefragt, ob dies ein erster Hinweis auf die »christliche Bauern-Demokratie« gewesen ist.
Und was wird aus Perdo werden? Biologieunterricht in einer der Schulen des Archipels erteilen? Vielleicht, vielleicht auch nicht, wer weiß, aber Pedro gerät über diesen Gedanken nicht in Turbulenzen.
Wir nähern uns der unteren Wolkenschicht. Das Licht changiert in der durchscheinenden Scheibe des rotierenden Propellers. Der Schatten des Flugzeugs fliegt sekundenschnell hinter uns her, gleitet über die weißschaumige, zwischen Himmel und Erde schwebende Ebene, bevor er über dem Meer verschwindet. Wir fliegen in eine Kurve, verlieren immer mehr an Höhe. Die ältere Senhora küsst den Rosenkranz, presst ihn ans Herz, ruft die Heilige Jungfrau an, als das Flugzeug bockig über die Wolken hopst, bevor es darin eintaucht. Wir sollen uns anschnallen.
Der Padre redet auf die Piloten ein, scheint seine Mission ernst zu nehmen, denkt nicht daran, sich hinzusetzen. Wer mit Gott fliegt, wird er denken, fliegt gut, und gegen Prellungen, nehme ich an, ist er gefeit. Ob er ein Gelübde abgelegt hat? Vielleicht will er den wenigen an Bord vorausfliegen …
Vítor, der die letzten fünfzehn Minuten auf den im hinteren Teil der Kabine festgezurrten Kisten, Koffern, Eimern, Farbtöpfen, Bananenschachteln gelegen hat, setzt sich auf, blickt aus dem Fenster.
Corvo, ruft der Achtzehnjährige und nimmt den Hörer des Walkmans vom Kopf. Ein glückliches Lächeln in seinem Gesicht. Vítor ist ganz begeistert, trommelt den Rhythmus des Songs auf seinen Knien, der knisternd und zischend aus dem Kopfhörer dringt. Es dauert nicht mehr lange, und er wird den anderen von seiner Reise durch die Vereinigten Staaten erzählen können, die er vor zwei Monaten mit Pedro und dem Rancho folclórico, der Volkstanzgruppe von Corvo, angetreten hat. Der Rancho war nach Fall Rivers zu den Espirito-Santo-Festen eingeladen worden, die jedes Jahr von den azoreanischen Emigranten veranstaltet werden. Pedro und er haben die Gelegenheit genutzt und sich nach dem offiziellen Programm auf den Weg durch die Staaten gemacht.
Leben möchte er dort nicht, hat Vítor bei unserem Gespräch im Militärflughafen auf Terceira gesagt, während wir auf den Abflug warteten, vor allem nicht wie die Emigranten. Und auf Corvo, das wisse er genau, würde er auch nicht bleiben wollen. Die Reise habe ihn verdorben, aber der Ausdruck seines Gesichtes verrät, dass er selig ist, erst einmal nach Hause zurückzukehren.
Die Insel ist ein großer, schweigender Vulkan, ein an den Flanken begrünter Kegel, dessen Krater in den Wolken verschwindet, die der Wind über den Atlantik schiebt. Der Kopilot drosselt die Motoren. Das Geräusch ist anders, erdnäher, meernäher. Wir fliegen auf Corvo zu, vorbei an der Insel Flores, deren Umrisse aus den niederen Wolken auftauchen. Die beiden, bereits auf der amerikanischen Lithosphärenplatte gelegenen Eilande bilden die westliche Gruppe des Archipels, sind die atlantische Pforte Europas. Fünfzehn Seemeilen breit, ein stürmischer, wütender Kanal, und manchmal, vor allem im Winter, die Pforte des Infernos.
Wir fliegen niedrig gegen den Wind an, der zwischen den Inseln hindurchfegt, die Wogen in weißschuppigen Reihen von Nordwesten nach Südosten peitscht. Mähnen zersprühen auf ihren geschundenen Buckeln.
Die Spitzen der vom Meer zerdroschenen Lavazungen sind plötzlich ganz nah: da ist die schwarze Piste des Flugplatzes, die sich quer über den flachen südlichen Bereich der Insel zieht, ihre überdimensionalen weißen Markierungen. Jetzt blicke ich durch das gegenüberliegende Fenster auf die kauernden Häuser am Abhang des Vulkans, ein atlantisches Bergdorf, hinaufgestaffelt um eine kleine Bucht, an deren Hafenmole sich die Wogen brechen, darüber hinwegschäumen.
Der Pilot beschleunigt plötzlich die Maschine, die Motoren dröhnen auf vollen Touren, zieht sie in einer Linkskurve wieder hinauf. Was ist los? Der Friedhof am Fuß der Piste gleitet unter uns weg, das in Bau befindliche Gebäude des Aérogare. Arbeiter stehen auf dem Dach, blicken zu uns herauf. Die dort unten wartenden Menschen verfolgen unser Manöver. Ist etwas nicht in Ordnung? Müssen wir umkehren?
Die Senhora schließt die Augen, küsst schicksalergeben ihren Rosenkranz. Ich beneide sie um ihren Glauben, blicke selbst mit gerunzelter Stirn zum Cockpit hinüber. Dort steht der unverdrossene Padre, hält sich im Durchgang fest. Hat er dem Windross die Sporen gegeben? Ich beneide auch ihn, weil er den besseren Ausblick hat.
Die machen das immer, sagt Pedro müde lächelnd. Das sei ganz normal. Militärisches Ritual. Die Piloten müssen sich davon überzeugen, dass die Piste frei ist, bevor sie landen.
Wie beruhigend! Wir fliegen aufs Meer hinaus, folgen der schwarzen Lavaklöppelei, die die Küste ins Meer hinauslegt. Die südliche Spitze der Insel: Nur hier können Menschen leben, bescheiden und klein am Fuß des Vulkans, der sein Haupt in eine Wolke hüllt. Er will wohl nicht, dass jemand in seinen Gedanken liest. Das macht ihn so faszinierend.
Wir landen in entgegengesetzter Richtung. Kleine, von Mauern geschützte Felder gleiten an uns vorbei, wenige weiße Gebäude. Der neuere Teil des Dorfes breitet sich auf der Plattform aus. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die Socalcos, auch Combros, terrassenförmig angelegte, ummauerte Felder oberhalb des Dorfes, schmale Streifen der Fruchtbarkeit, die der Flanke des Vulkans abgerungen worden sind.
Die Motoren brummen in meinen Ohren. Das Fahrwerk setzt krachend auf. Endlich angekommen.
Die Heckklappe des Flugzeugs öffnet sich. Wir sollen sitzen bleiben, bis die Fracht entladen ist. Der Kopilot löst die Gurte, mit denen sie festgezurrt ist. Ein Sonnenstrahl fällt auf den kleinen Löschzug der Freiwilligen Feuerwehr von Corvo, mit dem die Câmara gewisse Sicherheitsvorschriften des Flughafens erfüllt. Er glänzt rot, ein portugiesisches Modell. Zwei Feuerwehrmänner befördern die Fracht auf die Ladefläche eines Lieferwagens, auf dessen Türen das Emblem der Câmara Municipal do Corvo prangt.