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Samuel Wallander

Der Mann, der einen Wald niederbrannte

Kurzgeschichten

Samuel Wallander

Der Mann, der einen Wald niederbrannte

Kurzgeschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
3. Auflage, ISBN 978-3-962815-35-6

null-papier.de/633

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Grabräu­ber

Das Ge­spräch

Eure Ma­je­stät

Mis­si­on zum Ro­ten Pla­ne­ten

Ein 50 Jah­re al­tes Ver­bre­chen

Pac­ta sunt ser­van­da

Sams­tag

Os­wald

Der Mann, der einen Wald nie­der­brann­te

Die Ren­te

Flit­ter­wo­chen mit Zom­bies

Wahr­heit und Traum

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie die­ses E-Book aus mei­nem Ver­lag er­wor­ben ha­ben.

Soll­ten Sie Feh­ler fin­den oder An­re­gun­gen ha­ben, so mel­den Sie sich bit­te bei mir.

Ihr
Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger, js@­null-pa­pier.de

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Ein Dank des Autors

Als mein Ver­le­ger Jür­gen Schul­ze mich auf die Idee brach­te, mei­ne Kurz­ge­schich­ten von ei­ni­gen Test­le­sern be­ur­tei­len, ja gleich­sam kor­ri­gie­ren zu las­sen, war ich skep­tisch. Aber Herr Schul­ze be­ru­hig­te mich mit dem Ver­spre­chen, dass alle Kor­rek­tur­vor­schlä­ge eben zu­al­ler­erst ei­nes wä­ren: Vor­schlä­ge, und dass ich kei­ne von ih­nen an­neh­men müs­se.

In mei­nem Grö­ßen­wahn set­ze ich vor­aus, dass „schon nicht so­viel zu kor­ri­gie­ren sei“ – konn­te man noch falscher lie­gen? Kein Satz (mit Aus­nah­me der Ti­tel) blieb von mei­nen em­si­gen Hel­fern un­an­ge­tas­tet. Nicht sel­ten ent­wi­ckel­te sich über meh­re­re li­te­ra­ri­sche Ball­wech­sel hin­weg ein sym­pa­thi­sches Ne­cken zwi­schen Au­tor und Le­ser: Soll­te man nicht bes­ser ein an­de­res Wort wäh­len? Wür­de ein Be­trof­fe­ner in die­sem Mo­ment wirk­lich schwei­gen? Wa­rum soll­te ein Ver­bre­cher aus­ge­rech­net die­ses oder je­nes tun? Und (schon pro­fa­ner, aber nicht we­ni­ger wich­tig) wenn die Haupt­per­son zwei Stun­den war­tet, wie­so ist es auf ein­mal sie­ben Uhr und nicht schon acht? Und wie­so rückt eine Per­son der an­de­ren wie­der zu nahe, wenn sie sich zu­vor doch noch gar nicht be­wegt hat­te?

Ich bin Anet­te Kar­le und Ge­org Kreysch wirk­lich sehr, sehr dank­bar für ihre Ge­duld, ih­ren Fleiß, ihre Ide­en und ihre Be­reit­schaft, ei­nem li­te­ra­ri­schen No­bo­dy ihre Zeit zu op­fern. Ich hof­fe, ich kann mich ir­gend­wann ir­gend­wie re­van­chie­ren.

Noch­mals: dan­ke, Leu­te!

S. W. 9/18 ir­gend­wo im Mit­tel­meer

Grabräuber

Rick be­sah sich den al­ten Mann, der in sei­nem Di­ner nun schon seit ei­ner Stun­de an ei­ner Tas­se Kaf­fee schlürf­te und mit gleich­gül­ti­gem Blick mal die Gäs­te, mal Rick, meis­tens aber das kar­ge Ge­sche­hen drau­ßen auf der Stra­ße mus­ter­te.

Der Mann roch nach Knast.

Nicht dass Rick in sei­nem Le­ben schon vie­len Knas­tin­sas­sen be­geg­net wäre, aber die­ser war ein­deu­tig ei­ner. Er war so sehr ei­ner, als wäre er ei­nem Dreh­buch für eine TV-Se­rie ent­schlüpft. Was tat der Mann hier? War er nur ein Kun­de un­ter vie­len oder kund­schaf­te­te er den La­den aus?

Rick über­schlug im Kopf die Ein­nah­men des heu­ti­gen Ta­ges. Die Kas­se wür­de nicht sehr voll sein. Aber was scher­te das einen Be­rufs­ver­bre­cher schon? Auch die an­we­sen­den Gäs­te ver­spra­chen be­stimmt kei­nen er­gie­bi­gen Fisch­zug.

Rick ging hin­ter den Tre­sen und stell­te die lee­re Kan­ne ab, um neu­en Kaf­fee auf­zu­set­zen. Er über­leg­te, ob es wirk­lich sinn­voll war, dem Frem­den den Rücken zu­zu­dre­hen, aber in­ner­lich schmun­zel­te er über sei­ne über­trie­be­ne Vor­sicht. Die­ser alte Mann wür­de Ricks tris­ten All­tag nicht durch­ein­an­der­brin­gen, nicht zum Gu­ten und nicht zum Schlech­ten. Die­ser alte Ex-Sträf­ling – was ja noch zu be­wei­sen wäre – wür­de nur da­sit­zen, sei­ne Tas­se lee­ren und ir­gend­wann ver­schwun­den sein. Er wür­de ver­schwun­den sein wie ein Geist, wie alle Gäs­te, die es kein wei­te­res Mal hier­her ver­schlug. Er wür­de nichts hin­ter­las­sen au­ßer ei­nem Dol­lar Trink­geld, ei­nem Ge­säß­ab­druck auf den al­ten Kunst­le­der­pols­tern und viel­leicht noch ei­ner Note sei­nes muf­fi­gen Ex-Knacki-Ge­ruchs.

Rick be­trach­te­te die ka­put­te Es­pres­so-Ma­schi­ne, von der er noch im­mer nicht wuss­te, wie sie rich­tig zu be­die­nen war; sei­ne letz­te In­ves­ti­ti­on in die­sen ver­damm­ten La­den, der ihn mit sei­nen arm­se­li­gen Ein­nah­men so ge­ra­de eben über­le­ben ließ. Die Rech­nun­gen müs­sen be­zahlt wer­den, hat­te sein Va­ter im­mer ge­sagt, und dann guckst du, was am Ende des Mo­nats für dich üb­rig bleibt. – Nicht viel, so­viel war mal klar.

Als Rick den al­ten Mann mög­lichst un­auf­fäl­lig un­ter die Lupe nahm, ver­stand er zum ers­ten Mal in sei­nem le­ben, was »asch­grau« be­deu­te­te. Denn ge­nau so sah das Ge­sicht des Man­nes aus: Es hat­te die Far­be von kal­ter La­ger­feu­er­a­sche. Wenn es eine Ge­sichts­far­be gab, die dem jah­re­lan­gen Auf­ent­halt hin­ter Git­tern ge­schul­det war, dann war es die­ser Farb­ton, die­se Mi­schung aus Spucke­weiß und Herbst­grau. Er hat­te kur­ze, eben­falls grau­wei­ße Bart­stop­peln, die so aus­sa­hen, als wür­de man mit ih­nen Holz schlei­fen kön­nen. Sei­ne Kopf­haa­re wa­ren dünn und braun, aber im Ge­gen­satz zum Bart nur von we­ni­gen wei­ßen Fä­den durch­zo­gen, da­für wa­ren sie fet­tig und sa­hen aus wie selbst ge­schnit­ten. Der Mann hat­te di­cke Trä­nen­sä­cke un­ter den Au­gen. Im­mer wenn er die Tas­se mit bei­den Hän­den zum Mund hob, um einen Schluck zu trin­ken, sah man sei­ne schmut­zi­gen Fin­ger­nä­gel. Sei­ne Fin­ger wie­sen ver­schie­de­ne, grob ge­sto­che­ne Tat­toos auf. So wie bei Schul­kin­dern, die sich wäh­rend des Un­ter­richts aus Lan­ge­wei­le die Hän­de mit ob­szö­nen Kra­ke­lei­en be­mal­ten. Eine be­mit­lei­dens­wer­te Fi­gur, vor der man aber den­noch in­stink­tiv auf der Hut war. Nicht so sehr wie vor ei­nem bru­ta­len Schlä­ger, son­dern mehr wie vor ei­nem hus­ten­den und schnie­fen­den Fahr­gast in ei­nem vol­len Rei­se­bus.

Auch wenn der Mann nicht ge­walt­tä­tig wer­den wür­de, fan­ta­sier­te Rick, konn­te er einen be­stimmt al­lein durch eine List oder einen plum­pen Zu­fall sei­nes Gel­des be­rau­ben. Der Mann roch nach Pro­ble­men. Wie­der dach­te Rick an die paar Schei­ne in der Kas­se. Nein, lie­ber Ga­no­ve, raub uns nicht aus. Am Ende läuft noch was schief, und dann geht ei­ner drauf für eine Sum­me, die nicht ein­mal reicht, um eine Nut­te zu be­zah­len, die noch alle Zäh­ne im Mund hat, eine, die ihre ei­ge­ne Web­si­te be­treibt und of­fi­zi­ell als Es­kort­da­me fun­giert.

Au­ßer dem Ex-Knacki wa­ren nur noch Hut­trä­ger Mike und Fet­tarsch Mur­phy an­we­send, die je­den Diens­tag zu­sam­men zum Hack­bra­ten vor­bei­ka­men. Rick wuss­te nicht, ob sie Mike und Mur­phy hie­ßen, aber sie sa­hen halt so aus wie Mike und Mur­phy. Und die­se Na­men wa­ren wohl so gut wie jede an­de­ren. Mike trug im­mer einen Hut – so einen alt­mo­di­schen, wie Bo­gart ihn ge­tra­gen hat­te und der we­der zur heu­ti­gen Zeit noch zu sei­nem sons­ti­gen Er­schei­nungs­bild pass­te, denn ab­ge­se­hen von sei­nem Hut trug er im­mer die­sel­be spe­cki­ge Le­der­ja­cke und die­sel­ben Bund­fal­ten­ho­sen. Mur­phy hin­ge­gen war so un­glaub­lich fett, dass sei­ne en­gen Jeans nur schwer das an der Tail­le über­quel­len­de Fett bän­di­gen konn­ten. Und je­des Mal, wenn er sich auf die an der Wand fest­ge­schraub­te Sitz­flä­che quetsch­te, ver­krampf­te sich Rick, wenn er an die Kos­ten ei­ner Neu­an­schaf­fung dach­te. Mike und Mur­phy sa­ßen im­mer am sel­ben Tisch, vor­aus­ge­setzt dass er frei war, was meist der Fall war, und kau­ten sto­isch ih­ren Hack­bra­ten; Mike im­mer mit ei­nem Glas Gra­tis­was­ser und Mur­phy mit al­ko­hol­frei­em Bier.

Rick über­leg­te, was wohl pas­sie­ren wür­de, wenn er den Mitt­woch zum Hack­bra­ten­tag mach­te. Wür­den Mike und Mur­phy dann ein­fach den Tag wech­seln oder nur das Ge­richt? Oder wür­den sie gar nicht mehr kom­men, weil sie das Hüh­ner­fri­kas­see ei­nes an­de­ren Di­ners am Mitt­woch mehr moch­ten als sei­nen Hack­bra­ten? Rick war aber zu trä­ge und auch ein we­nig zu mut­los, um die Menü­kar­te, an der er seit Jah­ren nur die Prei­se an­pass­te, zu über­ar­bei­ten.

So­eben ka­men Mike und Mur­phy vor­bei­ge­schlurft, sie hat­ten ihr Mahl be­en­det. Hut­trä­ger Mike nick­te zum Ab­schied kurz in Rich­tung ei­ner Stel­le, die ir­gend­wo knapp hin­ter Ricks lin­ker Schul­ter lag. Mur­phy tat und sag­te über­haupt nichts.

Dann wa­ren sie ver­schwun­den und Rick war mit dem Ex-Knacki al­lein. Ricks Er­fah­rung nach wür­de es jetzt bis in den frü­hen Nach­mit­tag kei­ne Kund­schaft mehr ge­ben, bis die ers­ten Schü­ler ir­gend­wann auf einen bil­li­gen Bur­ger mit Cola ein­tru­del­ten. Die­se Leer­zeit nutz­te er meist, um die Ti­sche zu säu­bern, die Grill­plat­te ab­zu­krat­zen und sich auf dem Klo einen run­ter­zu­ho­len.

Aber sein letz­ter Gast schi­en mit sei­nem Kaf­fee so zu­frie­den zu sein, dass Rick wohl sei­ne Verab­re­dung mit Miss Juli auf den Abend ver­schie­ben muss­te. Rick po­lier­te ei­ni­ge der Glä­ser, die griff­be­reit auf ei­nem sau­be­ren Tuch war­te­ten. Dann seufz­te er kurz und nahm ein we­nig Tem­po aus der Ar­beit raus, um nicht zu früh fer­tig zu sein, denn es wür­de sonst schnell nichts mehr für ihn zu tun ge­ben.

Jetzt schau­te sich der Ex-Knacki um und er­blick­te Rick. Sei­ne Au­gen ruh­ten da­bei den Bruch­teil ei­ner Se­kun­de län­ger als not­wen­dig auf ihm. Es war Zeit, Kaf­fee nach­zu­schen­ken.

Rick griff die Kan­ne, die jetzt wie­der rand­voll war, und schlen­der­te zu sei­nem Gast hin­über. Wort­los goss er nach und hat­te sich schon halb wie­der ab­ge­wen­det, als er eine Stim­me ver­nahm.

»Ei­nen Au­gen­blick, Jün­gel­chen!«

Hat­te die­ser Halb­mensch, die­ser Mann ohne Zu­kunft, die­ser alte Voll­zeit­ga­no­ve ihn wirk­lich ge­ra­de Jün­gel­chen ge­nannt? Er muss­te es ge­tan ha­ben, nie­mand an­de­res war an­we­send, und die Stim­me war aus sei­ner Rich­tung ge­kom­men. Den­noch hat­te Rick das kur­ze Ge­fühl, sich ver­hört zu ha­ben, und dass sein Gast nur et­was Harm­lo­ses, zur Si­tua­ti­on Pas­sen­des ge­sagt ha­ben muss­te, wie: »Was ist das Ta­ges­ge­richt?«, oder noch bes­ser: »Ich möch­te zah­len.«

Er blick­te den Mann an, schau­te auf sein grau­es Ge­sicht, roch sei­ne muf­fi­ge Klei­dung und war­te­te. Soll­te er wü­tend sein, soll­te er gleich­gül­tig sein? Ja, gleich­gül­tig wäre bes­ser. Bloß nicht be­ach­ten – so einen Spin­ner. Bloß zu­se­hen, dass er ver­schwand, und gut!

»Is’ ja schon gut, Jün­gel­chen, nun guck nicht so … sei froh, dass dich noch ei­ner Jün­gel­chen nennt.« Er blick­te Rick di­rekt an, so teil­nahms­los, wie er zu­vor die Menü­kar­te ge­mus­tert hat­te. Rick hielt dem Blick nicht stand, son­dern räus­per­te sich kurz und tat, als gäbe es auf sei­nem Hand­ge­lenk ir­gen­det­was Span­nen­des zu se­hen.

»Ja?«, sag­te Rick schließ­lich und ver­such­te da­mit vor­zutäu­schen, dass es ihm voll­kom­men scheißegal war, ob man ihn Jün­gel­chen, Kell­ner oder Ar­sch­loch nann­te.

»Ihr habt doch si­cher­lich Bur­ger. Hmm, oder? So ein rich­tig le­cke­rer Bur­ger, biss­chen blu­tig, mit fri­schen Ge­mü­se­zwie­beln, aber ohne Senf, denn Senf, weißt du, Jün­gel­chen, hab’ ich noch nie ge­mocht.«

Rick wuss­te es, sol­che Ge­stal­ten mach­ten im­mer mehr Ar­beit, als sie er­wirt­schaf­te­ten. Er be­vor­zug­te die Gäs­te, die still da­sa­ßen, nicht die Sit­ze über Ge­bühr voll­furz­ten und – den letz­ten Bis­sen noch im Mund – still ihre Rech­nung be­zahl­ten. Aber der Kna­be hier, die­ser Ex-Knacki, war ei­ner, der eine Sitze­cke mit vier Plät­zen drei Stun­den für eine Tas­se Kaf­fee be­setzt hielt und im­mer wie­der an­deu­te­te, dass er ja noch auf je­man­den war­ten wür­de, wor­auf dann schon die große Be­stel­lung käme, nur um dann un­ter Zu­rück­las­sen des ge­ra­de mal pas­sen­den Rech­nungs­be­tra­ges heim­lich zu ver­schwin­den. Ja, er be­vor­zug­te Ty­pen wie Mike und Mur­phy, Ty­pen, die so re­gel­mä­ßig ka­men wie die staat­li­che Ren­ten­zah­lung, und die im­mer das­sel­be be­stell­ten und ihre Por­tio­nen zü­gig aufa­ßen.

»Also, machst Du mir einen Bur­ger oder nicht, Jün­gel­chen?«

Der Ex-Knacki wur­de un­ge­dul­dig, wäh­rend Rick ab­wäg­te, was mehr Stress ver­sprach: Wenn er den Al­ten ohne großes Ge­tue ein­fach raus­warf und das »Ge­schlos­sen-Schild« vor die Tür häng­te, oder wenn er die Ofen­plat­te wie­der an­heiz­te, um einen Bur­ger zu bra­ten? Er schiel­te zur Uhr über der Ein­gangs­tür. Sei­ne Pau­se war schon ge­lau­fen, und in ei­ner hal­b­en Stun­de wür­den die Schü­ler kom­men.

Rick seufz­te deut­lich. »Ei­nen Bur­ger. Gur­ken drauf?«

»Aber si­cher doch. Wer isst denn schon sei­nen Bur­ger ohne Gur­ken?« frag­te der Alte ent­rüs­tet.

Un­ge­fähr die Hälf­te mei­ner Gäs­te, du Idi­ot, dach­te Rick, dann dreh­te er sich um und ging wie­der zu­rück hin­ter den Tre­sen. Dort band er sich er­neut die Schür­ze um, dreh­te die Plat­te auf die zweit­höchs­te Stu­fe und bück­te sich hin­ab zum Kühl­schrank, um die fer­tig ge­schnit­te­nen Zwie­bel­rin­ge vom Vor­tag und das Fleisch her­vor­zu­ho­len. Als er sich mit ei­nem Zwi­cken im Kreuz wie­der auf­rich­te­te, er­schrak er: Der Ex-Knacki hat­te sich in der Zwi­schen­zeit von sei­nem Platz er­ho­ben und sich laut­los an den Tre­sen ge­setzt, di­rekt vor sei­ne Brat­sta­ti­on.

»Ich mag den Ge­ruch beim Bra­ten so gern«, sag­te er mit ei­nem über­trie­ben ge­nie­ße­ri­schen Aus­druck in den Au­gen. Dann hielt er Rick sei­ne lee­re Tas­se hin. »Kann ich noch einen ha­ben, Jün­gel­chen?«

Das wird böse en­den, dach­te Rick, das kann nur böse en­den. Er warf ein Stück Brat­fett auf die lang­sam warm wer­den­de Plat­te, griff sich die noch fast vol­le Kan­ne Kaf­fee und füll­te nach.

Die­sem Ty­pen wür­de er heu­te nicht mehr ent­kom­men. Wa­rum hat­te er nicht einen Knopf zu ei­ner Fall­tür, in der man sol­che Ar­sch­loch-Gäs­te ein­fach – wie in ei­nem Bugs-Bun­ny-Car­toon – ver­schwin­den las­sen konn­te? Oder einen Raum­schiff-En­ter­pri­se-La­ser, der sie ein­fach ver­dampf­te? Hun­dert Gäs­te las­sen dich ein­fach in Ruhe, da sie selbst in Ruhe ge­las­sen wer­den wol­len. Und der eine, ja, der eine, macht dir einen kur­z­en Ab­schnitt dei­nes Le­bens un­nö­tig zur Qual – wie eine ent­täusch­te Ehe­frau.

»Oh, Mann, ich sag dir …«

Rick wuss­te nicht, wann er und sein Gast sich auf die ver­trau­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­ne ge­ei­nigt hat­ten. Aber schließ­lich durf­te man je­den Skla­ven in der Ga­stro­no­mie wie einen gu­ten Be­kann­ten be­han­deln, ge­nau wie einen Fri­seur oder Tank­wart.

»… zig Jah­re habe ich kei­ne Bur­ger ge­habt, zig Jah­re. Und jetzt, weißt Du, esse ich sie nur noch.«

Rick nahm nicht an, dass der Ex-Knacki le­dig­lich zig Jah­re mit ei­ner mi­li­tan­ten Ve­ge­ta­ri­e­rin ver­hei­ra­tet ge­we­sen war.

»Ach, was soll’s! Dir kann ich’s ja sa­gen, Jün­gel­chen, was?« Und bei die­sen Wor­ten schau­te er sich ver­schwö­re­risch im Di­ner um und grins­te Rick an. »Ich mei­ne, wir sind ja hier un­ter uns, oder?« Er lach­te.

»Ich bin Tre­vor, Tre­vor Mi­chaels, ich bin 52 Jah­re alt. Und von den 52 Jah­ren habe ich die letz­ten 30 Jah­re im Bau ver­bracht.«

Ach was, dach­te Rick, nein, das hät­te ich jetzt gar nicht ge­dacht! Er leg­te das Fleisch auf die Plat­te. Erst jetzt konn­te er das künst­li­che Ge­biss sei­nes Gas­tes be­wun­dern. Es sah aus wie der Mund­schutz ei­nes Bo­xers, zwei blen­dend-wei­ße Leis­ten mit ex­akt spie­gel­bild­lich ver­leim­ten, naht­lo­sen Zahn­rei­hen. Rick ver­mu­te­te, dass die­ses Mo­dell von den meis­ten Knackis in die­sem Staat ge­tra­gen wer­den muss­te. Hat­te er nicht mal ge­le­sen, dass Ge­fäng­nis­zahn­ärz­te den län­ger ein­sit­zen­den so­fort alle Zäh­ne zo­gen und durch ein Ge­biss er­setz­ten, weil das dem Staat lang­fris­tig bil­li­ger kam? Oder bil­de­te er sich die­se Schlag­zei­le nur ein, weil sie jetzt so na­he­lie­gend schi­en?

»Aha«, sag­te Rick, denn all­zu un­höf­lich woll­te er nicht sein. Am Ende nahm es ei­nem der Ex-Knacki Tre­vor noch krumm, wenn man sei­ner Le­bens­ge­schich­te nicht mit dem ge­büh­ren­den Re­spekt und ei­ner gu­ten Por­ti­on Neu­gier be­geg­ne­te. Rick sprach sich selbst wie in ei­nem Man­tra im­mer wie­der die drei Zif­fern der Not­ruf­num­mer vor, um sie im Fall der Fäl­le auch si­cher pa­rat zu ha­ben: Bloß nicht ver­ges­sen, bloß nicht ver­ges­sen, bloß nicht ver­ges­sen. Und: Das Te­le­fon hängt an der Wand ne­ben dem Fla­schen­re­gal, an der Wand ne­ben dem Fla­schen­re­gal, ne­ben dem Fla­schen­re­gal.

»Ja, hät­t’s du nie ge­dacht, was?« Ex-Knacki Tre­vor beug­te sich zur Sei­te, um Be­steck aus dem Korb am Tre­sen zu fi­schen. Rick leg­te noch wort­los ei­ni­ge Ser­vi­et­ten dazu. Ser­vi­et­ten soll­te er ha­ben, so vie­le er woll­te. An Ser­vi­et­ten soll­te es heu­te nicht man­geln.

»Dan­ke«, sag­te Tre­vor. »Komm, ich er­zähl dir was. Ich er­zähl dir, warum ich ein­ge­ses­sen hab. Willst es wis­sen? Klar willst du, je­der will es wis­sen.«

Rick er­wi­der­te nichts. Soll­te der Ex-Knacki die Er­zäh­lung nur schnell hin­ter sich brin­gen. Wo­für saß man so lan­ge ein? Mord? Raub­über­fall? Min­des­tens. Wie lan­ge moch­te die Er­zäh­lung schon dau­ern? Das Fleisch brauch­te noch sechs Mi­nu­ten. Dann wür­de Tre­vor hof­fent­lich Ruhe ge­ben, wenn er sei­nen heiß ge­lieb­ten Bur­ger nicht kalt es­sen woll­te.

»Ei­gent­lich hat ja al­les ganz harm­los an­ge­fan­gen …«

Oh Gott, dach­te Rick, es wird die lan­ge Va­ri­an­te.

»Klar, si­cher, ich war nie so ein an­ge­neh­mer Bur­sche. Hab im­mer schon Är­ger ge­habt, im­mer schon. Aber es hät­te auch klap­pen kön­nen: Schu­le, Job, Fa­mi­lie und so. Du weißt schon, was ich mei­ne, Jün­gel­chen?« Da­bei mach­te er eine gön­ner­haf­te Hand­be­we­gung durch den hal­b­en Di­ner, so als wäre es der Traum ei­nes je­den, ein­mal eine ab­ge­wrack­te Im­biss­stu­be zu be­trei­ben.

»Ich wet­te, du bist so ei­ner. Im­mer flei­ßig in der Schu­le. Hast Mama die Ein­käu­fe ge­tra­gen. Und be­stimmt hast du dei­ne ers­te Schul­freun­din gleich ge­hei­ra­tet, was?«

Wie­der lach­te er. Rick nahm nicht an, dass sein Ge­gen­über eine ech­te Un­ter­hal­tung woll­te, da­her schwieg er wei­ter­hin, zuck­te nur kurz mit ei­ner Au­gen­braue und schnitt stumm ein Bröt­chen auf. Dann warf er die bei­den Hälf­ten mit der Schnitt­flä­che nach un­ten ne­ben das Fleisch auf die Plat­te.

»Ver­dammt! Ne, du, lass das mal!« Er­schro­cken zeig­te er auf die Plat­te. »Ich mag es nicht, wenn das Brot so hart ge­ba­cken wird, mag es lie­ber schön weich, weißt Du?«

Rick nahm die Hälf­ten von der Plat­te und woll­te sie ge­ra­de in den Müll wer­fen.

»Ne, du, weg­wer­fen brauchst du die auch nicht. Ist schon okay. So lang war’s ja nicht.«

Rick stopp­te sei­ne Weg­werf­be­we­gung ge­ra­de noch recht­zei­tig und leg­te die Hälf­ten auf einen Tel­ler.

»Mit Käse?«, frag­te er, be­reit sich wie­der hin­ab zum Kühl­schrank zu bücken.

»Hab ich einen Chee­se­bur­ger be­stellt, oder was?« Tre­vor starr­te ihn mit erns­ten, schon an der Gren­ze zur klei­nen Wut ent­langspa­zie­ren­den Au­gen an, nur um dann so­fort wie­der in ein kur­z­es, ke­ckern­des La­chen aus­zu­bre­chen.

»Nur Spaß, nur Spaß, Jün­gel­chen! Ne, kei­nen Käse, da­von be­kom­me ich im­mer …« Und um es zu ver­deut­li­chen leg­te er sei­ne fla­che Hand auf den Ma­gen.

Sieh an, dach­te Rick, so­gar Knackis bil­de­ten sich ein, an Lak­to­se zu kre­pie­ren. Of­fen­sicht­lich mach­ten Mo­de­krank­hei­ten nicht ein­mal vor schwe­di­schen Gar­di­nen halt.

»Ach, was …« Tre­vor streck­te sich, so­dass sei­ne Kno­chen hör­bar knack­ten. »Ich sag es dir, al­les hat mit der Tank­stel­le an­ge­fan­gen. Aber nein, wenn ich so rich­tig drü­ber nach­den­ke, dann war es doch schon die Schu­le. Weißt du, ich war kein gu­ter Schü­ler. Aber wahr­schein­lich hät­te ich den Ab­schluss trotz­dem noch ge­schafft. Doch … si­cher … ir­gend­wie. Un­se­re Schu­le woll­te je­den durch­brin­gen. Nur, lei­der bin ich ei­nes nachts be­trun­ken dort ein­ge­bro­chen, zu­sam­men mit Ste­ve Wa­gner. Weiß auch nicht, was wir da woll­ten. Am Ende ha­ben wir nur einen Pa­pier­korb an­ge­zün­det. Und dann ging die Sprink­ler­an­la­ge an und …« Tre­vor mach­te eine Be­we­gung mit den Hän­den, die eine wahr­haf­ti­ge Spring­flut vom Him­mel an­deu­ten soll­te. »Ich sag dir, da war wirk­lich Land un­ter, wie in der Bi­bel. Was wir aber nicht wuss­ten, war, dass uns der Nacht­wäch­ter er­kannt hat­te. Der war näm­lich ein ehe­ma­li­ger Schü­ler ge­we­sen, den hat­te ich mal ver­prü­gelt. Ha, der hat sich mein Ge­sicht ge­merkt, Jün­gel­chen. Und da war’s na­tür­lich aus mit der Schu­le. Am nächs­ten Tag schon tauch­ten die Bul­len – zum ers­ten Mal in mei­nem Le­ben üb­ri­gens – bei mei­nen El­tern auf. Mein Al­ter war meist be­sof­fen und ar­beits­los, mei­ne Mut­ter meist trau­rig und ar­beits­los. Ich schät­ze, da­mit kommt man nicht weit im Le­ben, was?«

Tre­vor mach­te ganz kurz ein be­trüb­tes Ge­sicht. Aber Rick be­zwei­fel­te, dass sein Ge­gen­über wirk­lich we­gen sei­ner schlech­ten Start­chan­cen ins Le­ben so be­trübt war. Viel­mehr wirk­te er, als wäre er stolz dar­auf, einen Le­bens­lauf der we­ni­ger schmei­chel­haf­ten Art prä­sen­tie­ren zu kön­nen.

»Ja, Jün­gel­chen, da bin ich dann in ein Er­zie­hungs­la­ger ge­kom­men. So eine Art Som­mer­camp mit Sta­chel­draht. Die woll­ten uns alle im Schnell­durch­gang wie­der auf die rich­ti­ge Spur brin­gen.« Tre­vor mach­te eine Lenk­be­we­gung, die einen Sch­lin­ger­kurs dar­stel­len soll­te.

»Aber weißt du was«, fuhr er fort, »dort ha­ben wir erst recht ge­lernt, wor­auf es an­kommt im Le­ben: Näm­lich kei­nen zu ver­pfei­fen. Wir ha­ben zu al­lem Ja und Amen ge­brüllt. Dort habe ich Hock­ney ge­trof­fen. Sei­nen rich­ti­gen Na­men habe ich erst spä­ter vor Ge­richt er­fah­ren. Der hat mir er­zählt, wie ein­fach es wäre, Tank­stel­len zu über­fal­len. Dass die im­mer was in der Kas­se hät­ten, vor al­lem nachts und am Wo­che­n­en­de. Und dass die Kas­sie­rer da be­stimmt kei­ne Hel­den sei­en. Weißt du, da­mals gab es auch noch nicht über­all Ka­me­ras. Da konn­te man so­gar in al­ler Ruhe mit sei­nem ei­ge­nen Auto vor­fah­ren und Ben­zin klau­en.« Wie­der lach­te er.

»Wir hat­ten nur eine Ka­no­ne, einen al­ten Po­li­zei­re­vol­ver. Weiß nicht mal, ob der funk­tio­nier­te. Ach, ich weiß nicht mal, ob der ge­la­den war. Hock­ney hat­te den die gan­ze Zeit. Ich soll­te nur mit ei­nem Ba­se­ball­schlä­ger an der Tür ste­hen und die Kun­den ver­scheu­chen. Und ich guck noch so zu Hock­ney rü­ber, ich war so auf­ge­regt, ver­dammt! Ich schau, was er macht. Er brüllt, kei­ne Ah­nung mehr, was. Ir­gend­was von we­gen ›Geld her!‹ und so. Weißt schon, was man so brüllt, wenn man eine Tan­ke über­fällt. So, wie man es halt im Fern­se­hen sieht. Der Typ am Tre­sen war echt die Ruhe selbst. Der rühr­te sich gar nicht. Dem war das völ­lig egal. Und Hock­ney brüllt und brüllt. Aber nichts, der Typ, völ­lig kalt. So als wür­de er nur ein al­tes Müt­ter­chen be­die­nen. Und Hock­ney im­mer noch am Brül­len und mit der Ka­no­ne am Fuch­teln. Und da bückt sich der Typ hin­ter den Tre­sen. Ich denk noch, Schei­ße, der will in De­ckung ge­hen. Da kommt er wie­der hoch mit ei­ner rie­si­gen – ich sag dir – scheiß rie­si­gen Schrot­flin­te im An­schlag. Die ist so groß, dass er einen Schritt zu­rück­macht, weil der Lauf so lang ist. Ehr­lich! Und dann … Bumm! … kippt Hock­ney um, ohne Kopf, oder bes­ser: nur noch mit hal­b­em Kopf. Der Typ hat­te ihm ein­fach so in den Kopf ge­bal­lert. Ein Schuss war ge­nug. Ich bin nur noch raus, bin ge­rannt wie ein Ir­rer, wie nie wie­der in mei­nem Le­ben. Bin so ge­rannt, bis ich um­ge­fal­len bin. Ir­gend­wo­hin, nur weit weg von der Tank­stel­le und von Hock­ney-ohne-Kopf. Und als ich wie­der so ein biss­chen Luft hat­te, da stand da ein Bul­le vor mir. Auch mit ge­zück­ter Ka­no­ne, ein ganz jun­ger, nicht viel äl­ter als ich. Tja, und der hat mich dann ver­haf­tet. Ich weiß noch, dass ich völ­lig im Arsch war. Ich hat­te mir in die Ho­sen ge­pisst und al­les. Und als mir der Bul­le mit zitt­ri­gen Hän­den die Hand­schel­len an­leg­te, habe ich mir auch noch selbst auf die Füße ge­kotzt. Toll was!«

Rick wen­de­te das Fleisch und stell­te Ketch­up und Senf auf den Tre­sen. Dann nahm er nach ei­nem vor­wurfs­vol­len Blick Tre­vors den Senf wie­der weg, was die­ser mit ei­nem wohl­wol­len­den Lä­cheln quit­tier­te. Rick muss­te schon zu­ge­ben, dass das die bes­te Ge­schich­te war, die ein Gast bis­her von sich ge­ge­ben hat­te. Zu­min­dest die bes­te Ge­schich­te, in der tat­säch­lich auch ein Körn­chen Wahr­heit lie­gen konn­te.

»Da­für gab es zehn Jah­re, Jün­gel­chen. Und ich hat­te ge­ra­de mal mei­nen Füh­rer­schein ge­macht. Zehn Jah­re ver­schärf­ten Knast. Es wä­ren noch mehr ge­wor­den, hät­te ich auch eine Ka­no­ne ge­habt. Zehn Jah­re mit den übels­ten Bur­schen, die du dir vor­stel­len kannst. Da musst du mit­ma­chen und selbst so ein Schwei­ne­hund wer­den, sonst gehst du drauf. Die rie­chen, wenn du kei­ne Eier in der Hose hast. Und dann bist du nur das Püpp­chen für die, dann bist du am Arsch. Ich hab mir im­mer wie­der ge­sagt, ne, Tre­vor, du wirst nie­man­des Püpp­chen, ganz si­cher nicht. Selbst wenn ich da­für noch län­ger ein­sit­zen muss. Also habe ich di­rekt dem Ers­ten, der mir dumm kam, mit ei­ner spitz zu­ge­feil­ten Zahn­bürs­te in den Hals ge­sto­chen. Der Typ hat’s noch bis in die Kran­ken­sta­ti­on ge­schafft, da ha­ben sie ihn wie­der zu­sam­men­ge­flickt.« Tre­vor zuck­te mit den Schul­tern, und Rick fühl­te sich zum ers­ten Mal nicht nur un­be­hag­lich, son­dern auch ängst­lich.

»Aber hey, die an­de­ren ha­ben alle dicht ge­hal­ten. Kei­ner hat ge­re­det, nicht mal der Typ selbst. Von da an hat­te ich mei­ne Ruhe. Kei­ner nahm mir was weg, kei­ner woll­te mir an den Arsch. Ver­dammt, ich hät­te was än­dern kön­nen in mei­nem Le­ben. War doch noch kei­ne zwan­zig. Aber da war es schon zu spät. Ne, du, ehr­lich. Ei­nen fau­len Ap­fel be­kommst du nicht mehr glatt po­liert. – Warst du schon mal im Knast?« Tre­vor ant­wor­te­te selbst, be­vor Rick zu Ende ge­grü­belt hat­te, ob die Fra­ge ernst ge­meint war. »Nein, na­tür­lich nicht. Im­mer brav ge­we­sen im Le­ben. Hab ich recht? Ist auch bes­ser so. Wirk­lich, ist auch bes­ser so.«

Tre­vor hol­te kurz Luft und starr­te an die De­cke. Er über­leg­te, ob er wei­ter­er­zäh­len soll­te. Aber na­tür­lich, was blieb ihm denn jetzt noch an­de­res üb­rig? Es fehl­ten ja noch zwan­zig Jah­re. Eine gute Ge­schich­te muss im­mer zu Ende er­zählt wer­den. Kein Mensch braucht eine nur halb zu Ende er­zähl­te Ge­schich­te.

»Dort ging es erst rich­tig los, da war der Ju­gend­bau wie ein Lu­xus­ho­tel. Nur Ab­schaum, wo­hin du auch ge­schaut hast. Alle lie­fen wie Raub­tie­re in ih­ren Kä­fi­gen, im­mer auf und ab. Du durf­test nie je­man­dem in die Au­gen schau­en, sonst war gleich der Teu­fel los. Jede Ge­le­gen­heit war gut ge­nug, um Dampf ab­zu­las­sen. Du guckst zu lan­ge? – Bamm, hast gleich eine auf Mauls be­kom­men!« Und da­bei schlug er sich mit der Faust klat­schend in die Hand­flä­che.

»Aber Ro­nal­do, der war okay. Zu­min­dest dach­te ich das da­mals noch. Der war mein Zell­kum­pan. Biss­chen äl­ter, auch be­waff­ne­ter Raub­über­fall. Er hat­te schon ein paar Jah­re run­ter, als ich da­zu­kam. Er hat­te schon mit­be­kom­men, wie ich den an­de­ren platt­ge­macht hat­te. Da wa­ren die Fron­ten klar, du fickst mich nicht und ich fick dich nicht.« – Rick wuss­te jetzt gar nicht, ob das mit dem »fi­cken« buch­stäb­lich ge­meint war oder nur sinn­bild­lich … gut mög­lich, dass es bei­des war.

»Weißt du, Jün­gel­chen, was wirk­lich das Schlimms­te ist?«

Tre­vor war­te­te die Ant­wort nicht ab.

»Wirk­lich schlimm ist, dass du im Scheiß­haus ei­nes an­de­ren lebst. Ehr­lich.«

Rick mach­te ein fra­gen­des Ge­sicht.

»Klar, hast ja kei­ne Ah­nung, was ich mei­ne! Das Scheiß­haus ist in der Zel­le, nur hin­ter ei­nem Vor­hang. Jetzt ka­piert? Der an­de­re geht ka­cken, wäh­rend du ge­ra­de eine Zeit­schrift liest. Ich sag dir, das ist wirk­lich das Schlim­me am Knast. Nicht die Mau­ern oder der Zoff mit den an­de­ren oder die Lan­ge­wei­le, ne, die Tage be­kommt man schon rum. Nein, schlimm ist, dass du nach ei­nem Tag weißt, wie die Schei­ße von dei­nem Zell­kum­pan riecht. Toll was?« Tre­vor ver­zog an­ge­ekelt das Ge­sicht.

»Ro­nal­do, ich sag dir, das war ein ko­mi­scher Vo­gel. Der kämm­te sich je­den Tag stun­den­lang die Haa­re vor dem Spie­gel, rich­tig ei­tel der Bur­sche. Da­bei sah er ei­gent­lich ganz nor­mal aus. Nicht schwul oder so, nur to­tal ei­tel. Stun­den­lang fum­mel­te er überm Wasch­be­cken an sei­nen Haa­ren her­um. Mal den Schei­tel nach links, mal nach rechts. Dann hielt er sich einen Hand­spie­gel in den Na­cken, um sich von hin­ten noch bes­ser ab­zuch­e­cken. Und da­bei summ­te er im­mer – kei­ne Ah­nung – was. Es war kein Lied, das ich kann­te, nur so eine öde Me­lo­die. Wer weiß, viel­leicht hör ich die ei­nes Ta­ges im Ra­dio, Jün­gel­chen, dann geb ich dir be­scheid.« Und er lach­te wie­der.

Rick nahm das Fleisch von der Grill­plat­te und leg­te es auf eine Bröt­chen­hälf­te. Dann leg­te er noch Gur­ken oben­auf.

»Zwie­beln?«, frag­te Rick. Tre­vor nick­te, also pack­te Rick noch ei­ni­ge Zwie­bel­rin­ge dazu und stell­te den Tel­ler mit ei­ner knap­pen Be­we­gung auf den Tre­sen.

Tre­vor tipp­­­­­­­­­­­­­