Samuel Wallander
Der Mann, der einen Wald niederbrannte
Kurzgeschichten
Samuel Wallander
Der Mann, der einen Wald niederbrannte
Kurzgeschichten
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
3. Auflage, ISBN 978-3-962815-35-6
null-papier.de/633
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Grabräuber
Das Gespräch
Eure Majestät
Mission zum Roten Planeten
Ein 50 Jahre altes Verbrechen
Pacta sunt servanda
Samstag
Oswald
Der Mann, der einen Wald niederbrannte
Die Rente
Flitterwochen mit Zombies
Wahrheit und Traum
Danke, dass Sie dieses E-Book aus meinem Verlag erworben haben.
Sollten Sie Fehler finden oder Anregungen haben, so melden Sie sich bitte bei mir.
Ihr
Jürgen Schulze, Verleger, js@null-papier.de
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Als mein Verleger Jürgen Schulze mich auf die Idee brachte, meine Kurzgeschichten von einigen Testlesern beurteilen, ja gleichsam korrigieren zu lassen, war ich skeptisch. Aber Herr Schulze beruhigte mich mit dem Versprechen, dass alle Korrekturvorschläge eben zuallererst eines wären: Vorschläge, und dass ich keine von ihnen annehmen müsse.
In meinem Größenwahn setze ich voraus, dass „schon nicht soviel zu korrigieren sei“ – konnte man noch falscher liegen? Kein Satz (mit Ausnahme der Titel) blieb von meinen emsigen Helfern unangetastet. Nicht selten entwickelte sich über mehrere literarische Ballwechsel hinweg ein sympathisches Necken zwischen Autor und Leser: Sollte man nicht besser ein anderes Wort wählen? Würde ein Betroffener in diesem Moment wirklich schweigen? Warum sollte ein Verbrecher ausgerechnet dieses oder jenes tun? Und (schon profaner, aber nicht weniger wichtig) wenn die Hauptperson zwei Stunden wartet, wieso ist es auf einmal sieben Uhr und nicht schon acht? Und wieso rückt eine Person der anderen wieder zu nahe, wenn sie sich zuvor doch noch gar nicht bewegt hatte?
Ich bin Anette Karle und Georg Kreysch wirklich sehr, sehr dankbar für ihre Geduld, ihren Fleiß, ihre Ideen und ihre Bereitschaft, einem literarischen Nobody ihre Zeit zu opfern. Ich hoffe, ich kann mich irgendwann irgendwie revanchieren.
Nochmals: danke, Leute!
S. W. 9/18 irgendwo im Mittelmeer
Rick besah sich den alten Mann, der in seinem Diner nun schon seit einer Stunde an einer Tasse Kaffee schlürfte und mit gleichgültigem Blick mal die Gäste, mal Rick, meistens aber das karge Geschehen draußen auf der Straße musterte.
Der Mann roch nach Knast.
Nicht dass Rick in seinem Leben schon vielen Knastinsassen begegnet wäre, aber dieser war eindeutig einer. Er war so sehr einer, als wäre er einem Drehbuch für eine TV-Serie entschlüpft. Was tat der Mann hier? War er nur ein Kunde unter vielen oder kundschaftete er den Laden aus?
Rick überschlug im Kopf die Einnahmen des heutigen Tages. Die Kasse würde nicht sehr voll sein. Aber was scherte das einen Berufsverbrecher schon? Auch die anwesenden Gäste versprachen bestimmt keinen ergiebigen Fischzug.
Rick ging hinter den Tresen und stellte die leere Kanne ab, um neuen Kaffee aufzusetzen. Er überlegte, ob es wirklich sinnvoll war, dem Fremden den Rücken zuzudrehen, aber innerlich schmunzelte er über seine übertriebene Vorsicht. Dieser alte Mann würde Ricks tristen Alltag nicht durcheinanderbringen, nicht zum Guten und nicht zum Schlechten. Dieser alte Ex-Sträfling – was ja noch zu beweisen wäre – würde nur dasitzen, seine Tasse leeren und irgendwann verschwunden sein. Er würde verschwunden sein wie ein Geist, wie alle Gäste, die es kein weiteres Mal hierher verschlug. Er würde nichts hinterlassen außer einem Dollar Trinkgeld, einem Gesäßabdruck auf den alten Kunstlederpolstern und vielleicht noch einer Note seines muffigen Ex-Knacki-Geruchs.
Rick betrachtete die kaputte Espresso-Maschine, von der er noch immer nicht wusste, wie sie richtig zu bedienen war; seine letzte Investition in diesen verdammten Laden, der ihn mit seinen armseligen Einnahmen so gerade eben überleben ließ. Die Rechnungen müssen bezahlt werden, hatte sein Vater immer gesagt, und dann guckst du, was am Ende des Monats für dich übrig bleibt. – Nicht viel, soviel war mal klar.
Als Rick den alten Mann möglichst unauffällig unter die Lupe nahm, verstand er zum ersten Mal in seinem leben, was »aschgrau« bedeutete. Denn genau so sah das Gesicht des Mannes aus: Es hatte die Farbe von kalter Lagerfeuerasche. Wenn es eine Gesichtsfarbe gab, die dem jahrelangen Aufenthalt hinter Gittern geschuldet war, dann war es dieser Farbton, diese Mischung aus Spuckeweiß und Herbstgrau. Er hatte kurze, ebenfalls grauweiße Bartstoppeln, die so aussahen, als würde man mit ihnen Holz schleifen können. Seine Kopfhaare waren dünn und braun, aber im Gegensatz zum Bart nur von wenigen weißen Fäden durchzogen, dafür waren sie fettig und sahen aus wie selbst geschnitten. Der Mann hatte dicke Tränensäcke unter den Augen. Immer wenn er die Tasse mit beiden Händen zum Mund hob, um einen Schluck zu trinken, sah man seine schmutzigen Fingernägel. Seine Finger wiesen verschiedene, grob gestochene Tattoos auf. So wie bei Schulkindern, die sich während des Unterrichts aus Langeweile die Hände mit obszönen Krakeleien bemalten. Eine bemitleidenswerte Figur, vor der man aber dennoch instinktiv auf der Hut war. Nicht so sehr wie vor einem brutalen Schläger, sondern mehr wie vor einem hustenden und schniefenden Fahrgast in einem vollen Reisebus.
Auch wenn der Mann nicht gewalttätig werden würde, fantasierte Rick, konnte er einen bestimmt allein durch eine List oder einen plumpen Zufall seines Geldes berauben. Der Mann roch nach Problemen. Wieder dachte Rick an die paar Scheine in der Kasse. Nein, lieber Ganove, raub uns nicht aus. Am Ende läuft noch was schief, und dann geht einer drauf für eine Summe, die nicht einmal reicht, um eine Nutte zu bezahlen, die noch alle Zähne im Mund hat, eine, die ihre eigene Website betreibt und offiziell als Eskortdame fungiert.
Außer dem Ex-Knacki waren nur noch Hutträger Mike und Fettarsch Murphy anwesend, die jeden Dienstag zusammen zum Hackbraten vorbeikamen. Rick wusste nicht, ob sie Mike und Murphy hießen, aber sie sahen halt so aus wie Mike und Murphy. Und diese Namen waren wohl so gut wie jede anderen. Mike trug immer einen Hut – so einen altmodischen, wie Bogart ihn getragen hatte und der weder zur heutigen Zeit noch zu seinem sonstigen Erscheinungsbild passte, denn abgesehen von seinem Hut trug er immer dieselbe speckige Lederjacke und dieselben Bundfaltenhosen. Murphy hingegen war so unglaublich fett, dass seine engen Jeans nur schwer das an der Taille überquellende Fett bändigen konnten. Und jedes Mal, wenn er sich auf die an der Wand festgeschraubte Sitzfläche quetschte, verkrampfte sich Rick, wenn er an die Kosten einer Neuanschaffung dachte. Mike und Murphy saßen immer am selben Tisch, vorausgesetzt dass er frei war, was meist der Fall war, und kauten stoisch ihren Hackbraten; Mike immer mit einem Glas Gratiswasser und Murphy mit alkoholfreiem Bier.
Rick überlegte, was wohl passieren würde, wenn er den Mittwoch zum Hackbratentag machte. Würden Mike und Murphy dann einfach den Tag wechseln oder nur das Gericht? Oder würden sie gar nicht mehr kommen, weil sie das Hühnerfrikassee eines anderen Diners am Mittwoch mehr mochten als seinen Hackbraten? Rick war aber zu träge und auch ein wenig zu mutlos, um die Menükarte, an der er seit Jahren nur die Preise anpasste, zu überarbeiten.
Soeben kamen Mike und Murphy vorbeigeschlurft, sie hatten ihr Mahl beendet. Hutträger Mike nickte zum Abschied kurz in Richtung einer Stelle, die irgendwo knapp hinter Ricks linker Schulter lag. Murphy tat und sagte überhaupt nichts.
Dann waren sie verschwunden und Rick war mit dem Ex-Knacki allein. Ricks Erfahrung nach würde es jetzt bis in den frühen Nachmittag keine Kundschaft mehr geben, bis die ersten Schüler irgendwann auf einen billigen Burger mit Cola eintrudelten. Diese Leerzeit nutzte er meist, um die Tische zu säubern, die Grillplatte abzukratzen und sich auf dem Klo einen runterzuholen.
Aber sein letzter Gast schien mit seinem Kaffee so zufrieden zu sein, dass Rick wohl seine Verabredung mit Miss Juli auf den Abend verschieben musste. Rick polierte einige der Gläser, die griffbereit auf einem sauberen Tuch warteten. Dann seufzte er kurz und nahm ein wenig Tempo aus der Arbeit raus, um nicht zu früh fertig zu sein, denn es würde sonst schnell nichts mehr für ihn zu tun geben.
Jetzt schaute sich der Ex-Knacki um und erblickte Rick. Seine Augen ruhten dabei den Bruchteil einer Sekunde länger als notwendig auf ihm. Es war Zeit, Kaffee nachzuschenken.
Rick griff die Kanne, die jetzt wieder randvoll war, und schlenderte zu seinem Gast hinüber. Wortlos goss er nach und hatte sich schon halb wieder abgewendet, als er eine Stimme vernahm.
»Einen Augenblick, Jüngelchen!«
Hatte dieser Halbmensch, dieser Mann ohne Zukunft, dieser alte Vollzeitganove ihn wirklich gerade Jüngelchen genannt? Er musste es getan haben, niemand anderes war anwesend, und die Stimme war aus seiner Richtung gekommen. Dennoch hatte Rick das kurze Gefühl, sich verhört zu haben, und dass sein Gast nur etwas Harmloses, zur Situation Passendes gesagt haben musste, wie: »Was ist das Tagesgericht?«, oder noch besser: »Ich möchte zahlen.«
Er blickte den Mann an, schaute auf sein graues Gesicht, roch seine muffige Kleidung und wartete. Sollte er wütend sein, sollte er gleichgültig sein? Ja, gleichgültig wäre besser. Bloß nicht beachten – so einen Spinner. Bloß zusehen, dass er verschwand, und gut!
»Is’ ja schon gut, Jüngelchen, nun guck nicht so … sei froh, dass dich noch einer Jüngelchen nennt.« Er blickte Rick direkt an, so teilnahmslos, wie er zuvor die Menükarte gemustert hatte. Rick hielt dem Blick nicht stand, sondern räusperte sich kurz und tat, als gäbe es auf seinem Handgelenk irgendetwas Spannendes zu sehen.
»Ja?«, sagte Rick schließlich und versuchte damit vorzutäuschen, dass es ihm vollkommen scheißegal war, ob man ihn Jüngelchen, Kellner oder Arschloch nannte.
»Ihr habt doch sicherlich Burger. Hmm, oder? So ein richtig leckerer Burger, bisschen blutig, mit frischen Gemüsezwiebeln, aber ohne Senf, denn Senf, weißt du, Jüngelchen, hab’ ich noch nie gemocht.«
Rick wusste es, solche Gestalten machten immer mehr Arbeit, als sie erwirtschafteten. Er bevorzugte die Gäste, die still dasaßen, nicht die Sitze über Gebühr vollfurzten und – den letzten Bissen noch im Mund – still ihre Rechnung bezahlten. Aber der Knabe hier, dieser Ex-Knacki, war einer, der eine Sitzecke mit vier Plätzen drei Stunden für eine Tasse Kaffee besetzt hielt und immer wieder andeutete, dass er ja noch auf jemanden warten würde, worauf dann schon die große Bestellung käme, nur um dann unter Zurücklassen des gerade mal passenden Rechnungsbetrages heimlich zu verschwinden. Ja, er bevorzugte Typen wie Mike und Murphy, Typen, die so regelmäßig kamen wie die staatliche Rentenzahlung, und die immer dasselbe bestellten und ihre Portionen zügig aufaßen.
»Also, machst Du mir einen Burger oder nicht, Jüngelchen?«
Der Ex-Knacki wurde ungeduldig, während Rick abwägte, was mehr Stress versprach: Wenn er den Alten ohne großes Getue einfach rauswarf und das »Geschlossen-Schild« vor die Tür hängte, oder wenn er die Ofenplatte wieder anheizte, um einen Burger zu braten? Er schielte zur Uhr über der Eingangstür. Seine Pause war schon gelaufen, und in einer halben Stunde würden die Schüler kommen.
Rick seufzte deutlich. »Einen Burger. Gurken drauf?«
»Aber sicher doch. Wer isst denn schon seinen Burger ohne Gurken?« fragte der Alte entrüstet.
Ungefähr die Hälfte meiner Gäste, du Idiot, dachte Rick, dann drehte er sich um und ging wieder zurück hinter den Tresen. Dort band er sich erneut die Schürze um, drehte die Platte auf die zweithöchste Stufe und bückte sich hinab zum Kühlschrank, um die fertig geschnittenen Zwiebelringe vom Vortag und das Fleisch hervorzuholen. Als er sich mit einem Zwicken im Kreuz wieder aufrichtete, erschrak er: Der Ex-Knacki hatte sich in der Zwischenzeit von seinem Platz erhoben und sich lautlos an den Tresen gesetzt, direkt vor seine Bratstation.
»Ich mag den Geruch beim Braten so gern«, sagte er mit einem übertrieben genießerischen Ausdruck in den Augen. Dann hielt er Rick seine leere Tasse hin. »Kann ich noch einen haben, Jüngelchen?«
Das wird böse enden, dachte Rick, das kann nur böse enden. Er warf ein Stück Bratfett auf die langsam warm werdende Platte, griff sich die noch fast volle Kanne Kaffee und füllte nach.
Diesem Typen würde er heute nicht mehr entkommen. Warum hatte er nicht einen Knopf zu einer Falltür, in der man solche Arschloch-Gäste einfach – wie in einem Bugs-Bunny-Cartoon – verschwinden lassen konnte? Oder einen Raumschiff-Enterprise-Laser, der sie einfach verdampfte? Hundert Gäste lassen dich einfach in Ruhe, da sie selbst in Ruhe gelassen werden wollen. Und der eine, ja, der eine, macht dir einen kurzen Abschnitt deines Lebens unnötig zur Qual – wie eine enttäuschte Ehefrau.
»Oh, Mann, ich sag dir …«
Rick wusste nicht, wann er und sein Gast sich auf die vertraute Kommunikationsebene geeinigt hatten. Aber schließlich durfte man jeden Sklaven in der Gastronomie wie einen guten Bekannten behandeln, genau wie einen Friseur oder Tankwart.
»… zig Jahre habe ich keine Burger gehabt, zig Jahre. Und jetzt, weißt Du, esse ich sie nur noch.«
Rick nahm nicht an, dass der Ex-Knacki lediglich zig Jahre mit einer militanten Vegetarierin verheiratet gewesen war.
»Ach, was soll’s! Dir kann ich’s ja sagen, Jüngelchen, was?« Und bei diesen Worten schaute er sich verschwörerisch im Diner um und grinste Rick an. »Ich meine, wir sind ja hier unter uns, oder?« Er lachte.
»Ich bin Trevor, Trevor Michaels, ich bin 52 Jahre alt. Und von den 52 Jahren habe ich die letzten 30 Jahre im Bau verbracht.«
Ach was, dachte Rick, nein, das hätte ich jetzt gar nicht gedacht! Er legte das Fleisch auf die Platte. Erst jetzt konnte er das künstliche Gebiss seines Gastes bewundern. Es sah aus wie der Mundschutz eines Boxers, zwei blendend-weiße Leisten mit exakt spiegelbildlich verleimten, nahtlosen Zahnreihen. Rick vermutete, dass dieses Modell von den meisten Knackis in diesem Staat getragen werden musste. Hatte er nicht mal gelesen, dass Gefängniszahnärzte den länger einsitzenden sofort alle Zähne zogen und durch ein Gebiss ersetzten, weil das dem Staat langfristig billiger kam? Oder bildete er sich diese Schlagzeile nur ein, weil sie jetzt so naheliegend schien?
»Aha«, sagte Rick, denn allzu unhöflich wollte er nicht sein. Am Ende nahm es einem der Ex-Knacki Trevor noch krumm, wenn man seiner Lebensgeschichte nicht mit dem gebührenden Respekt und einer guten Portion Neugier begegnete. Rick sprach sich selbst wie in einem Mantra immer wieder die drei Ziffern der Notrufnummer vor, um sie im Fall der Fälle auch sicher parat zu haben: Bloß nicht vergessen, bloß nicht vergessen, bloß nicht vergessen. Und: Das Telefon hängt an der Wand neben dem Flaschenregal, an der Wand neben dem Flaschenregal, neben dem Flaschenregal.
»Ja, hätt’s du nie gedacht, was?« Ex-Knacki Trevor beugte sich zur Seite, um Besteck aus dem Korb am Tresen zu fischen. Rick legte noch wortlos einige Servietten dazu. Servietten sollte er haben, so viele er wollte. An Servietten sollte es heute nicht mangeln.
»Danke«, sagte Trevor. »Komm, ich erzähl dir was. Ich erzähl dir, warum ich eingesessen hab. Willst es wissen? Klar willst du, jeder will es wissen.«
Rick erwiderte nichts. Sollte der Ex-Knacki die Erzählung nur schnell hinter sich bringen. Wofür saß man so lange ein? Mord? Raubüberfall? Mindestens. Wie lange mochte die Erzählung schon dauern? Das Fleisch brauchte noch sechs Minuten. Dann würde Trevor hoffentlich Ruhe geben, wenn er seinen heiß geliebten Burger nicht kalt essen wollte.
»Eigentlich hat ja alles ganz harmlos angefangen …«
Oh Gott, dachte Rick, es wird die lange Variante.
»Klar, sicher, ich war nie so ein angenehmer Bursche. Hab immer schon Ärger gehabt, immer schon. Aber es hätte auch klappen können: Schule, Job, Familie und so. Du weißt schon, was ich meine, Jüngelchen?« Dabei machte er eine gönnerhafte Handbewegung durch den halben Diner, so als wäre es der Traum eines jeden, einmal eine abgewrackte Imbissstube zu betreiben.
»Ich wette, du bist so einer. Immer fleißig in der Schule. Hast Mama die Einkäufe getragen. Und bestimmt hast du deine erste Schulfreundin gleich geheiratet, was?«
Wieder lachte er. Rick nahm nicht an, dass sein Gegenüber eine echte Unterhaltung wollte, daher schwieg er weiterhin, zuckte nur kurz mit einer Augenbraue und schnitt stumm ein Brötchen auf. Dann warf er die beiden Hälften mit der Schnittfläche nach unten neben das Fleisch auf die Platte.
»Verdammt! Ne, du, lass das mal!« Erschrocken zeigte er auf die Platte. »Ich mag es nicht, wenn das Brot so hart gebacken wird, mag es lieber schön weich, weißt Du?«
Rick nahm die Hälften von der Platte und wollte sie gerade in den Müll werfen.
»Ne, du, wegwerfen brauchst du die auch nicht. Ist schon okay. So lang war’s ja nicht.«
Rick stoppte seine Wegwerfbewegung gerade noch rechtzeitig und legte die Hälften auf einen Teller.
»Mit Käse?«, fragte er, bereit sich wieder hinab zum Kühlschrank zu bücken.
»Hab ich einen Cheeseburger bestellt, oder was?« Trevor starrte ihn mit ernsten, schon an der Grenze zur kleinen Wut entlangspazierenden Augen an, nur um dann sofort wieder in ein kurzes, keckerndes Lachen auszubrechen.
»Nur Spaß, nur Spaß, Jüngelchen! Ne, keinen Käse, davon bekomme ich immer …« Und um es zu verdeutlichen legte er seine flache Hand auf den Magen.
Sieh an, dachte Rick, sogar Knackis bildeten sich ein, an Laktose zu krepieren. Offensichtlich machten Modekrankheiten nicht einmal vor schwedischen Gardinen halt.
»Ach, was …« Trevor streckte sich, sodass seine Knochen hörbar knackten. »Ich sag es dir, alles hat mit der Tankstelle angefangen. Aber nein, wenn ich so richtig drüber nachdenke, dann war es doch schon die Schule. Weißt du, ich war kein guter Schüler. Aber wahrscheinlich hätte ich den Abschluss trotzdem noch geschafft. Doch … sicher … irgendwie. Unsere Schule wollte jeden durchbringen. Nur, leider bin ich eines nachts betrunken dort eingebrochen, zusammen mit Steve Wagner. Weiß auch nicht, was wir da wollten. Am Ende haben wir nur einen Papierkorb angezündet. Und dann ging die Sprinkleranlage an und …« Trevor machte eine Bewegung mit den Händen, die eine wahrhaftige Springflut vom Himmel andeuten sollte. »Ich sag dir, da war wirklich Land unter, wie in der Bibel. Was wir aber nicht wussten, war, dass uns der Nachtwächter erkannt hatte. Der war nämlich ein ehemaliger Schüler gewesen, den hatte ich mal verprügelt. Ha, der hat sich mein Gesicht gemerkt, Jüngelchen. Und da war’s natürlich aus mit der Schule. Am nächsten Tag schon tauchten die Bullen – zum ersten Mal in meinem Leben übrigens – bei meinen Eltern auf. Mein Alter war meist besoffen und arbeitslos, meine Mutter meist traurig und arbeitslos. Ich schätze, damit kommt man nicht weit im Leben, was?«
Trevor machte ganz kurz ein betrübtes Gesicht. Aber Rick bezweifelte, dass sein Gegenüber wirklich wegen seiner schlechten Startchancen ins Leben so betrübt war. Vielmehr wirkte er, als wäre er stolz darauf, einen Lebenslauf der weniger schmeichelhaften Art präsentieren zu können.
»Ja, Jüngelchen, da bin ich dann in ein Erziehungslager gekommen. So eine Art Sommercamp mit Stacheldraht. Die wollten uns alle im Schnelldurchgang wieder auf die richtige Spur bringen.« Trevor machte eine Lenkbewegung, die einen Schlingerkurs darstellen sollte.
»Aber weißt du was«, fuhr er fort, »dort haben wir erst recht gelernt, worauf es ankommt im Leben: Nämlich keinen zu verpfeifen. Wir haben zu allem Ja und Amen gebrüllt. Dort habe ich Hockney getroffen. Seinen richtigen Namen habe ich erst später vor Gericht erfahren. Der hat mir erzählt, wie einfach es wäre, Tankstellen zu überfallen. Dass die immer was in der Kasse hätten, vor allem nachts und am Wochenende. Und dass die Kassierer da bestimmt keine Helden seien. Weißt du, damals gab es auch noch nicht überall Kameras. Da konnte man sogar in aller Ruhe mit seinem eigenen Auto vorfahren und Benzin klauen.« Wieder lachte er.
»Wir hatten nur eine Kanone, einen alten Polizeirevolver. Weiß nicht mal, ob der funktionierte. Ach, ich weiß nicht mal, ob der geladen war. Hockney hatte den die ganze Zeit. Ich sollte nur mit einem Baseballschläger an der Tür stehen und die Kunden verscheuchen. Und ich guck noch so zu Hockney rüber, ich war so aufgeregt, verdammt! Ich schau, was er macht. Er brüllt, keine Ahnung mehr, was. Irgendwas von wegen ›Geld her!‹ und so. Weißt schon, was man so brüllt, wenn man eine Tanke überfällt. So, wie man es halt im Fernsehen sieht. Der Typ am Tresen war echt die Ruhe selbst. Der rührte sich gar nicht. Dem war das völlig egal. Und Hockney brüllt und brüllt. Aber nichts, der Typ, völlig kalt. So als würde er nur ein altes Mütterchen bedienen. Und Hockney immer noch am Brüllen und mit der Kanone am Fuchteln. Und da bückt sich der Typ hinter den Tresen. Ich denk noch, Scheiße, der will in Deckung gehen. Da kommt er wieder hoch mit einer riesigen – ich sag dir – scheiß riesigen Schrotflinte im Anschlag. Die ist so groß, dass er einen Schritt zurückmacht, weil der Lauf so lang ist. Ehrlich! Und dann … Bumm! … kippt Hockney um, ohne Kopf, oder besser: nur noch mit halbem Kopf. Der Typ hatte ihm einfach so in den Kopf geballert. Ein Schuss war genug. Ich bin nur noch raus, bin gerannt wie ein Irrer, wie nie wieder in meinem Leben. Bin so gerannt, bis ich umgefallen bin. Irgendwohin, nur weit weg von der Tankstelle und von Hockney-ohne-Kopf. Und als ich wieder so ein bisschen Luft hatte, da stand da ein Bulle vor mir. Auch mit gezückter Kanone, ein ganz junger, nicht viel älter als ich. Tja, und der hat mich dann verhaftet. Ich weiß noch, dass ich völlig im Arsch war. Ich hatte mir in die Hosen gepisst und alles. Und als mir der Bulle mit zittrigen Händen die Handschellen anlegte, habe ich mir auch noch selbst auf die Füße gekotzt. Toll was!«
Rick wendete das Fleisch und stellte Ketchup und Senf auf den Tresen. Dann nahm er nach einem vorwurfsvollen Blick Trevors den Senf wieder weg, was dieser mit einem wohlwollenden Lächeln quittierte. Rick musste schon zugeben, dass das die beste Geschichte war, die ein Gast bisher von sich gegeben hatte. Zumindest die beste Geschichte, in der tatsächlich auch ein Körnchen Wahrheit liegen konnte.
»Dafür gab es zehn Jahre, Jüngelchen. Und ich hatte gerade mal meinen Führerschein gemacht. Zehn Jahre verschärften Knast. Es wären noch mehr geworden, hätte ich auch eine Kanone gehabt. Zehn Jahre mit den übelsten Burschen, die du dir vorstellen kannst. Da musst du mitmachen und selbst so ein Schweinehund werden, sonst gehst du drauf. Die riechen, wenn du keine Eier in der Hose hast. Und dann bist du nur das Püppchen für die, dann bist du am Arsch. Ich hab mir immer wieder gesagt, ne, Trevor, du wirst niemandes Püppchen, ganz sicher nicht. Selbst wenn ich dafür noch länger einsitzen muss. Also habe ich direkt dem Ersten, der mir dumm kam, mit einer spitz zugefeilten Zahnbürste in den Hals gestochen. Der Typ hat’s noch bis in die Krankenstation geschafft, da haben sie ihn wieder zusammengeflickt.« Trevor zuckte mit den Schultern, und Rick fühlte sich zum ersten Mal nicht nur unbehaglich, sondern auch ängstlich.
»Aber hey, die anderen haben alle dicht gehalten. Keiner hat geredet, nicht mal der Typ selbst. Von da an hatte ich meine Ruhe. Keiner nahm mir was weg, keiner wollte mir an den Arsch. Verdammt, ich hätte was ändern können in meinem Leben. War doch noch keine zwanzig. Aber da war es schon zu spät. Ne, du, ehrlich. Einen faulen Apfel bekommst du nicht mehr glatt poliert. – Warst du schon mal im Knast?« Trevor antwortete selbst, bevor Rick zu Ende gegrübelt hatte, ob die Frage ernst gemeint war. »Nein, natürlich nicht. Immer brav gewesen im Leben. Hab ich recht? Ist auch besser so. Wirklich, ist auch besser so.«
Trevor holte kurz Luft und starrte an die Decke. Er überlegte, ob er weitererzählen sollte. Aber natürlich, was blieb ihm denn jetzt noch anderes übrig? Es fehlten ja noch zwanzig Jahre. Eine gute Geschichte muss immer zu Ende erzählt werden. Kein Mensch braucht eine nur halb zu Ende erzählte Geschichte.
»Dort ging es erst richtig los, da war der Jugendbau wie ein Luxushotel. Nur Abschaum, wohin du auch geschaut hast. Alle liefen wie Raubtiere in ihren Käfigen, immer auf und ab. Du durftest nie jemandem in die Augen schauen, sonst war gleich der Teufel los. Jede Gelegenheit war gut genug, um Dampf abzulassen. Du guckst zu lange? – Bamm, hast gleich eine auf Mauls bekommen!« Und dabei schlug er sich mit der Faust klatschend in die Handfläche.
»Aber Ronaldo, der war okay. Zumindest dachte ich das damals noch. Der war mein Zellkumpan. Bisschen älter, auch bewaffneter Raubüberfall. Er hatte schon ein paar Jahre runter, als ich dazukam. Er hatte schon mitbekommen, wie ich den anderen plattgemacht hatte. Da waren die Fronten klar, du fickst mich nicht und ich fick dich nicht.« – Rick wusste jetzt gar nicht, ob das mit dem »ficken« buchstäblich gemeint war oder nur sinnbildlich … gut möglich, dass es beides war.
»Weißt du, Jüngelchen, was wirklich das Schlimmste ist?«
Trevor wartete die Antwort nicht ab.
»Wirklich schlimm ist, dass du im Scheißhaus eines anderen lebst. Ehrlich.«
Rick machte ein fragendes Gesicht.
»Klar, hast ja keine Ahnung, was ich meine! Das Scheißhaus ist in der Zelle, nur hinter einem Vorhang. Jetzt kapiert? Der andere geht kacken, während du gerade eine Zeitschrift liest. Ich sag dir, das ist wirklich das Schlimme am Knast. Nicht die Mauern oder der Zoff mit den anderen oder die Langeweile, ne, die Tage bekommt man schon rum. Nein, schlimm ist, dass du nach einem Tag weißt, wie die Scheiße von deinem Zellkumpan riecht. Toll was?« Trevor verzog angeekelt das Gesicht.
»Ronaldo, ich sag dir, das war ein komischer Vogel. Der kämmte sich jeden Tag stundenlang die Haare vor dem Spiegel, richtig eitel der Bursche. Dabei sah er eigentlich ganz normal aus. Nicht schwul oder so, nur total eitel. Stundenlang fummelte er überm Waschbecken an seinen Haaren herum. Mal den Scheitel nach links, mal nach rechts. Dann hielt er sich einen Handspiegel in den Nacken, um sich von hinten noch besser abzuchecken. Und dabei summte er immer – keine Ahnung – was. Es war kein Lied, das ich kannte, nur so eine öde Melodie. Wer weiß, vielleicht hör ich die eines Tages im Radio, Jüngelchen, dann geb ich dir bescheid.« Und er lachte wieder.
Rick nahm das Fleisch von der Grillplatte und legte es auf eine Brötchenhälfte. Dann legte er noch Gurken obenauf.
»Zwiebeln?«, fragte Rick. Trevor nickte, also packte Rick noch einige Zwiebelringe dazu und stellte den Teller mit einer knappen Bewegung auf den Tresen.
Trevor tipp