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Rolf Steininger

Der Vietnamkrieg

Rolf Steininger

Der Vietnamkrieg

Ein furchtbarer Irrtum

StudienVerlag

Innsbruck
Wien
Bozen

Inhalt

GRUNDRISS

1.   Vorbemerkung

2.   Frankreichs Kolonie

3.   Frankreichs Krieg

4.   Eisenhower, Kennedy und Diem

5.   Johnsons Krieg

6.   Nixons Krieg

7.   Das Ende

8.   Fazit

VERTIEFUNGEN

1.   Ho Chi Minh

2.   Dien Bien Phu

3.   Die Genfer Indochinakonferenz

4.   Laos 1961–1963

5.   Diems Sturz und Ermordung

6.   Die Tonking-Resolution

7.   Bonn und der Krieg

8.   London und der Krieg

9.   Die Tet-Offensive

10. Hanoi und der Krieg

11. Drogen

12. Die Antikriegsbewegung

13. Der Krieg im Film

ANHANG

1.   Zeittafel

2.   Glossar

3.   Literatur/Internet/Hörfunk/Fernsehen

4.   Personenregister

GRUNDRISS

1. Vorbemerkung

Der 2. September 1945 ist ein denkwürdiges Datum in der Geschichte der USA, Japans, Vietnams und Frankreichs. An diesem Tag, einem Sonntag, unterschrieben die Japaner auf dem amerikanischen Schlachtschiff „Missouri“ in der Bucht von Tokio ihre bedingungslose Kapitulation. Am selben Tag, fast zur gleichen Stunde, proklamierte der vietnamesische Nationalist und Kommunist Ho Chi Minh auf dem Ba Dinh-Platz in Hanoi die Unabhängigkeit seines Landes von Frankreich. Amerikanische Offiziere hatten sich auf der Ehrentribüne versammelt. Das von Ho entworfene Dokument entsprach in Stil und Wortwahl der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Wie 1776 Thomas Jefferson dem englischen König George III. zahlreiche Vergehen vorgeworfen hatte, so wurden jetzt die Vergehen der Franzosen aufgelistet: inhumane Gesetze, ungerechte Steuern, Ausbeutung der vietnamesischen Arbeiter, Verletzung der Ideale von Humanität und Gerechtigkeit. Die Unabhängigkeitserklärung schloss mit der Erwartung, dass die siegreichen Nationen jene Prinzipien, auf die sie sich bei der Gründung der Vereinten Nationen geeinigt hatten, anwenden und folglich die Unabhängigkeit Vietnams anerkennen würden.31

Gut anderthalb Jahre zuvor, im Januar 1944, hatte US-Präsident Franklin D. Roosevelt an seinen Außenminister Cordell Hull über Indochina folgendes geschrieben:

„Frankreich hat dieses Land – 30 Millionen Menschen – fast hundert Jahre in seinem Besitz gehabt, und dem Volk geht es schlechter als zu Beginn. Frankreich hat es hundert Jahre gemolken. Das Volk Indochinas verdient etwas Besseres als das.“31

Das Ergebnis ist bekannt. Im ersten Indochinakrieg 1946 bis 1954 starben auf französischer Seite 74.000 Soldaten, bei den Vietnamesen 250.000. Dann kamen die Amerikaner: Der Vietnamkrieg wurde „Amerikas längster Krieg“11 und der erste, der verloren ging. Die USA gerieten immer tiefer in jenen Sumpf („quagmire“) in Südostasien, mit katastrophalen Folgen für alle Beteiligten: 58.269 amerikanische Soldaten starben, 304.704 wurden verletzt, davon erlitten 6.665 Amputationen, mehr als 33.000 blieben gelähmt. 500–800.000 Veteranen litten und leiden unter der Erinnerung an den Krieg, dem so genannten post-traumatischen Stresssyndrom. Angeblich sollen mehr Veteranen Selbstmord begangen haben als Soldaten in Vietnam gefallen sind; im Unterbewusstsein wirkte und wirkt dieser Krieg fort und bestimmte über Jahrzehnte die amerikanische Außenpolitik – von den Kosten, ca. zwei Billionen Dollar, ganz zu schweigen.20, 33 „Dieser Krieg wird uns wohl immer verfolgen“, wie ein Veteran einmal meinte. Der Vietnamkrieg als ultimativer Albtraum der Amerikaner, der die Nation so spaltete wie nichts mehr seit dem Bürgerkrieg hundert Jahre zuvor.

Im Präsidentschaftswahlkampf 2004 spielte er wieder eine Rolle: Hier der Herausforderer der Demokraten, John F. Kerry, der seine „tour of duty“ in Vietnam heldenhaft absolvierte, um dann zum vehementesten Kriegsgegner zu werden, dort Präsident George W. Bush, der seinen Dienst mehr schlecht als recht an der „Heimatfront“ in der Nationalgarde leistete.

Was vor 50 Jahren Da Nang, Khe Sanh und Saigon in den abendlichen Nachrichten waren, waren seit 2003 Bagdad, Basra und Falludja. Parallelen drängten sich auf: in Vietnam ein nicht stattgefundener Tonking-Zwischenfall, im Irak nicht vorhandene Massenvernichtungswaffen als Kriegsgrund, eine steigende Zahl getöteter Soldaten und Zivilisten. John F. Kennedys Bruder, Senator Edward Kennedy, sprach es im April 2004 öffentlich aus: Er nannte den Irakkrieg George W. Bushs Vietnam. Da war es wieder, das Vietnam-Trauma. Dennoch war vieles anders: Der Irakkrieg (und der Krieg in Afghanistan) konnte – und kann – mit dem Elend Vietnams nicht verglichen werden. US-Präsident Barack Obama beendete zunächst beide Kriege durch den Abzug der US-Truppen. Mit eher mäßigem Erfolg.

Der Krieg in Südostasien war nicht nur eine Katastrophe für die Amerikaner: Eine Million südvietnamesische Soldaten starben im Vietnamkrieg, etwa zwei Millionen tote Zivilisten waren zu beklagen; zwei Millionen Menschen wurden verstümmelt. Genaue Zahlen über Nordvietnam gibt es nach wie vor nicht. Es ist aber anzunehmen, dass dort mindestens genauso viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Die USA warfen viermal so viel Bomben ab wie während des gesamten Zweiten Weltkrieges – mit einer Zerstörungskraft von etwa 600 Hiroshima-Atombomben und 20 Millionen Bombenkratern. 50 Millionen Liter des hochgiftigen Agent Orange wurden versprüht. Das Land sollte entlaubt werden, um den Feind besser bekämpfen zu können; die Folgen sind heute noch zu sehen: Krebs und Missgeburten und eine zerstörte Landschaft.33

Wie sehr das Thema die Amerikaner nach wie vor bewegt, zeigt das Interesse, das die Filmemacher Ken Burns und Lynn Novick mit ihrer Dokumentation über den Vietnamkrieg im Jahr 2017 hervorriefen: insgesamt 35 Millionen verfolgten ihre 18-stündige Dokumentation. Es war die erfolgreichste Sendung auf PBS (die auch auf BBC und verkürzt auf ARTE gezeigt wurde).179 Dass die USA auch jene vietnamesisch-amerikanische Kommission finanzieren, die seit Jahren nach MIAs-Soldaten suchen, sei hier ebenfalls erwähnt.

Robert McNamara, US-Verteidigungsminister von 1961–1968, bezeichnete diesen Krieg, für den er maßgeblich mitverantwortlich war, 1995 in seinen Erinnerungen als einen „furchtbaren Irrtum“. Wie dieser Irrtum zur Katastrophe wurde, wird in diesem Buch aufgezeigt.

Die Originalausgabe ist 2004 im Fischer Taschenbuch Verlag in der Reihe Fischer Kompakt erschienen und erlebte mehrere Neuauflagen. Nachdem diese Reihe eingestellt wurde, erscheint die aktualisierte und um vier Kapitel erweiterte Neuauflage jetzt im Studienverlag.

2. Frankreichs Kolonie

Alles begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts – eher als Anekdote. 1845 landete das amerikanische Kriegsschiff „Constitution“ in Da Nang. Einige US-Marines stießen auf Hue vor, um einen französischen Bischof zu retten, der von den Vietnamesen gefangen genommen worden war.

Nach dessen Befreiung töteten die Vietnamesen etliche französische Missionare; daraufhin engagierten sich die Franzosen und eroberten am 17. Februar 1859 Saigon. Drei Jahre später hatten sie auch die umliegenden Provinzen in ihrer Gewalt. 1883 genehmigte das französische Parlament fünf Millionen Francs für eine „Expedition“, um ein französisches Protektorat in ganz Vietnam zu errichten. Im August 1883 stieß die französische Flotte auf den Parfum-River in der Nähe von Hue vor und stellte den Vietnamesen mit den Worten: „Stellt euch das Schlimmste vor – und die Wirklichkeit wird immer noch schlimmer. Der Name Vietnam wird aus der Geschichte getilgt“ ein auf 48 Stunden befristetes Ultimatum. Und dann eröffneten sie das Feuer. Im Laufe des weiteren Jahres wurde auch Hanoi erobert; damals befanden sich 20.000 französische Soldaten in Tonking, der nördlichen Provinz. Der französische Ministerpräsident Jules Ferry beantragte weitere 200 Millionen Francs zur Weiterführung der Aktion. „Ferry, der Tonkinese“, hieß es.13

Damals hatte auch China Ambitionen auf Vietnam. Als Franzosen in Formosa landeten, gab das kaiserliche China seinen Widerstand auf und erkannte 1885 im Vertrag von Tientsin die französische Oberhoheit über Indochina an. Im selben Jahr führte Frankreich eine Strafexpedition gegen die so genannte „Rebellion der Gebildeten“ – vietnamesische Nationalisten – durch: der Sommerpalast in Hue wurde gestürmt. 1887 gab es dann die „Union Indochine“ mit den Provinzen Cochinchina im Süden, Annam in Mittelvietnam und Tonking im Norden. Kambodscha kam im selben Jahr hinzu; 1893 dann noch Laos.

Die so genannte „Pazifizierung“ des gesamten Raumes wurde auf französischer Seite mit unglaublicher Brutalität durchgeführt. Anders als etwa die Briten in Indien bestand Paris auf einer direkten französischen Herrschaft. An der Spitze Indochinas stand ein Generalgouverneur, von 1891 bis 1930 waren dies gleich 23. Während 1925 5.000 Briten 500 Millionen Inder regierten, benötigten die Franzosen genauso viel für 50 Millionen Bewohner Indochinas. 50 Prozent des Budgets wurde für Bürokratie ausgegeben; Frankreich führte seinen Rechtscode und auch das französische Schulsystem ein. Die chinesischen Schriftzeichen wurden durch westliche ersetzt. Das war insofern einfach, als schon Mitte des 17. Jahrhunderts der französische Jesuit und Missionar Alexandre de Rhodes das „Dictionarium annamiticum“ geschaffen hatte, die erste systematische Transkription der vietnamesischen Sprache in das lateinische Alphabet; daraus war eine romanisierte vietnamesische Schrift entstanden.13

Der für Frankreich wichtigste der 23 Generalgouverneure war Paul Doumer, der Indochina zur profitabelsten französischen Kolonie überhaupt machte. Der ehemalige französische Finanzminister baute dort seit 1897 eine zentrale Verwaltung auf – und gleichzeitig die erste Opiumfabrik in Saigon, aus der ein Viertel aller Einnahmen stammte. Unter Doumer wurde der Reisanbau massiv vorangetrieben, so dass Indochina 1939 der drittgrößte Reisexporteur der Welt – nach Burma und Thailand – war. Es gab besitzlose Landarbeiter, für Doumer nur billige Arbeitskräfte, die in Bergwerken und Gummiplantagen oder im Straßen- und Eisenbahnbau schufteten. Gummi wurde zum zweitwichtigsten Exportgut (nach Reis). Auf den Plantagen herrschten schlimme Zustände. So starben auf der Michelin-Plantage zwischen 1917 und 1944 von 45.000 Arbeitern 12.000. Doumer baute Opern, Straßen und Eisenbahnen; jahrzehntelang trug die berühmte Eisenbahnbrücke über den Roten Fluss in Hanoi seinen Namen. In Hanoi und Saigon veränderte er das Stadtbild nach französischen Vorbildern. Zurück in Frankreich wurde er Präsident und 1932 im Amt ermordet.

Frankreich entwickelte eine neue Sozialstruktur in Vietnam; zum einen gab es in den Städten eine westlich orientierte Schicht, zum anderen eine bäuerliche Landbevölkerung. Insgesamt wurde das Land künstlich auf dem Niveau eines Agrarlandes gehalten. Die wichtigsten Verwaltungsämter waren mit Franzosen besetzt; die Diskriminierung der Bevölkerung und die fehlende industrielle Entwicklung erschwerten das Entstehen eines einheimischen Bürgertums, was später für die Kommunisten zum Vorteil wurde, da ihnen keine starke bürgerliche Kraft gegenüberstand.74

Im Ersten Weltkrieg waren etwa 100.000 Vietnamesen in der französischen Armee. Sie kamen zum ersten Mal mit sozialen und politischen Ideen in Berührung, die im Widerspruch zur kolonialen Wirklichkeit zuhause standen. Hier tauchte zum ersten Mal ein Mann auf, der die Geschicke Vietnams nachhaltig beeinflussen sollte: Ho Chi Minh. Er hatte nur ein Ziel: die Unabhängigkeit Vietnams. Er gründete 1930 die Kommunistische Partei; 1941 dann die „Front für den Kampf um die Unabhängigkeit Vietnams“, der kommunistische und andere Kräfte angehörten; auf Vietnamesisch hieß diese Organisation „Viet-Nam Doc-Lap-Dong-Minh-Hoi“; daraus entstand als Abkürzung „Vietminh“. Sie wurde angeführt von der zweiten, alles überragenden Gestalt Nordvietnams, General Vo Nguyen Giap, Jahrgang 1912. Giap hatte Jura studiert und dann Geschichte unterrichtet, als die französische Kolonialmacht seine Familie ermordete: Seine Frau und ein Kleinkind starben im Gefängnis, Vater, Schwester, Schwager und Schwägerin unter der Guillotine. Giap: „Das hat mein Leben zerstört.“ Am 22. Dezember 1944 stellte Giap eine Art bewaffneter Propagandabrigade zusammen, bestehend aus 31 Männern und drei Frauen. Diese „Armee für Propaganda und Befreiung“ gilt seither als Ursprung der Armee Nordvietnams. Die Japaner, die seit 1941 das Land besetzt hielten, übernahmen am 9. März 1945 sämtliche französische Garnisonen und auch die Verwaltung, die sie bis dahin den Franzosen überlassen hatten. Damit schien der französische Kolonialismus endgültig am Ende, gleichzeitig aber auch der japanische Imperialismus.

Die Frage stellte sich, wer das durch die Niederlage Japans entstandene Vakuum füllen würde. In den letzten Kriegsmonaten gab es eine Art Bündnis zwischen den Vietminh und den USA. Der amerikanische Geheimdienst, das Office of Strategic Services (OSS), Vorläufer der 1947 gegründeten CIA (Central Intelligence Agency), brauchte die Vietminh, um mit deren Kenntnissen u. a. amerikanische Piloten zu retten und Informationen im Kampf gegen die Japaner zu sammeln. Ein OSS-Team (Operation „Deer Mission“) stieß im Juli 1945 auf Ho Chi Minh und Giap. Das OSS-Team war beeindruckt von den Guerillas, übergab ihnen Waffen, Granatwerfer und Granaten und bildete sie aus, damit sie ihrerseits andere Vietminh ausbilden konnten. Ho und Giap versicherten den USA ihre Freundschaft und Bereitschaft, mit ihnen gegen Japan zu kämpfen. Gleichzeitig machten sie aus ihrem Hass auf Frankreich kein Hehl und bekundeten ihre Entschlossenheit, für die Unabhängigkeit des Landes bis in den Tod zu kämpfen.18, 24

Zu diesem Zeitpunkt wurde die Situation im Norden katastrophal. Es herrschte Hungersnot. Die Japaner hatten keine Rohstoffe mehr und die Bauern gezwungen, Erdnüsse, Jute etc. statt Reis anzupflanzen. Der noch vorhandene Reis wurde beschlagnahmt. Es hatte im Jahr zuvor eine schlechte Ernte gegeben, im Sommer kam jetzt eine Flutkatastrophe hinzu: Die Deiche des Roten Flusses brachen. Von zehn Millionen Nordvietnamesen verhungerten damals zwei Millionen (von insgesamt 24 Millionen). Man hatte nicht genug Holz für die Särge, die Toten wurden in Bambusmatten beerdigt.

Am 15. August 1945 kam die Nachricht durch, dass Japan kapituliert hatte und auf der Konferenz von Potsdam beschlossen worden war, dass der Erzfeind Vietnams, China, nördlich des 16. Breitengrades und britische Truppen südlich davon die Kapitulation und die Entwaffnung der Japaner überwachen sollten. Einen Tag später reagierte Ho Chi Minh und bildete mit 60 Genossen das so genannte „Nationale Befreiungskomitee“ mit ihm als Präsident. Dieses Komitee war gleichbedeutend mit einer provisorischen Regierung. Es folgte die so genannte „August-revolution“: Am 19. August übernahmen die Vietminh die Macht in Hanoi, fünf Tage später in Saigon. Am 27. August fand die erste Kabinettsitzung statt, auf der beschlossen wurde, am 2. September die Unabhängigkeit Vietnams auszurufen – an dem Tag, an dem Japan die Kapitulation unterschreiben würde. Kaiser Bao Dai trat am 30. August ab und übergab das kaiserliche Siegel und das Schwert, Symbol der Souveränität Vietnams, den Vertretern der Vietminh und ging nach Hanoi. Ho ernannte ihn zum „obersten Berater“. Drei Tage später rief Ho Chi Minh in Hanoi die Demokratische Republik Vietnam aus: „Vietnam hat das Recht, ein freies und unabhängiges Land zu sein – was es in der Tat auch bereits ist.“ Am selben Tag begann die „Stimme Vietnams“ mit Rundfunksendungen aus Hanoi. General Giap sprach von der Wiedergeburt Vietnams und richtete eine Warnung an den französischen Staatschef Charles de Gaulle: „Falls Frankreich das Land wieder in Besitz nehmen will, dann wird jedes Dorf zum Widerstandsnest, das Land wird nicht gehorchen.“18 Und Ho ließ den Chef der OSS-„Deer Mission“ wissen, er werde eine Million US-Soldaten willkommen heißen, aber keine Franzosen.13

3. Frankreichs Krieg

In amerikanischen Propagandabroschüren, die während des Zweiten Weltkrieges die vietnamesische Bevölkerung zum Widerstand gegen die Japaner aufgefordert hatten, wurde den Vietnamesen Unabhängigkeit und Selbstbestimmung in Aussicht gestellt. Nach dem Tod von Präsident Roosevelt und dem Sieg der USA über Japan und dem Beginn des Kalten Krieges war davon keine Rede mehr, zumal auch der französische Regierungschef Charles de Gaulle entschlossen war, Indochina für Frankreich zurückzuerobern. Schon Anfang 1945 waren französische Agenten und Waffen mit Fallschirmen in Vietnam abgesprungen, um die Japaner anzugreifen, wenn die Amerikaner landen würden. De Gaulle befürchtete damals, dass die USA gemeinsame Sache mit den Vietminh machen würden.

Diese Gefahr bestand schon bald nicht mehr, zumal auch der für die Entwaffnung der Japaner im Süden Vietnams zuständige britische General Douglas Gracey davon überzeugt war, dass die zivile und militärische Machtübernahme Frankreichs nur eine Frage von Wochen sei. Am 21. September 1945 rief er in Saigon das Kriegsrecht aus. Am nächsten Tag griffen französische Fallschirmjäger und von den Japanern zuvor internierte Fremdenlegionäre das Rathaus in Saigon an, vertrieben das Provisorische Exekutivkomitee der Vietminh, besetzten die Polizeistation und andere öffentliche Gebäude und hissten die Tricolore. Daraufhin riefen die Vietminh am 24. September 1945 den Generalstreik aus. Es folgte ein Angriff auf den Flughafen und die Stadthalle, wobei 150 Franzosen massakriert und weitere 100 verstümmelt wurden. Dies war im Grunde der Beginn des ersten Indochinakrieges. Der Chef einer OSS-Einheit, Peter Dewey, berichtete nach Washington: „Cochinchina brennt, Franzosen und Briten sind hier erledigt, und wir sollten aus Südostasien verschwinden.“13 General Gracey befahl ihm daraufhin, das Land zu verlassen. Auf dem Weg zum Flughafen wurde Dewey am 26. September von Vietminh erschossen; er war der erste jener fast 60.000 Amerikaner, die in Vietnam sterben sollten. Ho Chi Minh schickte ein Kondolenzschreiben an das State Department. Währenddessen dauerte der Generalstreik in Saigon an. Die Franzosen flüchteten in das Continental Palace Hotel und verbarrikadierten sich dort. Die Vietminh steckten den zentralen Markt in Saigon in Brand und stürmten die Gefängnisse. Im Foreign Office in London hieß es:

„Es geht darum, französische Truppen so schnell wie möglich nach Südvietnam zu bringen und ihnen die Sache zu übergeben und anschließend unsere Truppen so schnell wie möglich abzuziehen.“13, 18, 35

Genau das geschah – französische Truppen wurden auf britischen Schiffen nach Vietnam transportiert, während in Washington der amtierende US-Außenminister Dean Acheson notierte: „Die USA denken nicht daran, die Wiederherstellung der französischen Macht in Indochina zu verhindern.“ Unter diesen Umständen wird verständlich, dass mehrere Schreiben Ho Chi Minhs – insgesamt acht – an Präsident Truman mit der Bitte, die Unabhängigkeit Vietnams zu unterstützen, nicht beantwortet wurden.

Inzwischen hatte de Gaulle Admiral George Thierry d’Argenlieu zum Hochkommissar in Vietnam ernannt, mit der Aufgabe, Frankreichs Souveränität in Indochina wiederherzustellen. Thierry war eine eher mittelalterliche Gestalt, der nach dem Ersten Weltkrieg Karmelitermönch geworden war, sich dann aber bei Beginn des Zweiten Weltkrieges in London auf die Seite de Gaulles geschlagen hatte. Er war arrogant, unflexibel und glaubte an die Grandeur Frankreichs. Der militärische Oberbefehl wurde General Jacques-Philipp Leclerc übertragen, dessen Panzer bei der Befreiung von Paris dabei gewesen waren. Leclerc durchbrach die Blockade der Vietminh um Saigon und verzeichnete damit einen ersten militärischen Erfolg. Die Frage war, ob Südvietnam auf Dauer zu halten war.

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Karte Indochina 1885–1954.

Inzwischen war in Nordvietnam die Hungersnot beseitigt worden – aber es herrschte weiter Chaos, wofür diesmal die Chinesen Tschiang Kai-Scheks verantwortlich waren. Etwa 200.000 von ihnen waren wie ein Schwarm hungriger Heuschrecken über das Land hereingefallen. Im Februar 1946 einigten sich de Gaulle und Tschiang Kai-Schek: Rückzug der Chinesen aus Indochina gegen Aufhebung französischer Konzessionen in Shanghai und anderen chinesischen Häfen. Die französischen Truppen würden am 8. März 1946 in Haiphong landen. In dieser Situation schrieb Ho Chi Minh am 16. Februar 1946 in einem weiteren Brief an Truman, die Vietminh und nicht die Franzosen hätten gegen Japan gekämpft; er erhielt wieder keine Antwort. Da hatte es auch nicht geholfen, dass er im November 1945 die Kommunistische Partei aus nationalem Interesse aufgelöst hatte und am 6. Januar 1946 Wahlen in Nordvietnam stattgefunden hatten, wobei einige meinten, es seien die letzten freien Wahlen gewesen.

Am 6. März 1946, als die französische Flotte bereits auf dem Weg nach Haiphong war, kam es daher zwischen Ho und Frankreich, vertreten durch Jean Sainteny, einem Bankier aus Saigon und Schwiegersohn eines ehemaligen Gouverneurs, zu einer Vereinbarung. Demnach erkannte Frankreich Vietnam als „freien Staat“ innerhalb der Französischen Union, mit eigener Regierung und Armee, Parlament und Finanzen an. Nach fünf Jahren sollte ein Referendum über das Schicksal Cochinchinas im Fall einer möglichen Wiedervereinigung stattfinden. Fünf Jahre lang sollten dafür 15.000 und 10.000 vietnamesische Soldaten unter französischem Kommando stationiert sein; allerdings sollten jedes Jahr 3.000 französische Soldaten abgezogen werden.18

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1946: Ho Chi Minh zu Verhandlungen in Paris, links der Polizeipräfekt von Paris, Admiral Charles Luizet, rechts Kolonialminister Marius Moutet. Im März hat Frankreich Vietnam als „freien Staat“ innerhalb der Französischen Union anerkannt. Jetzt geht es um Einzelheiten dieser Vereinbarung. Im September reist Ho Chi Minh enttäuscht aus Frankreich ab.

In Paris dachte niemand ernsthaft daran, diese Vereinbarung – unterzeichnet von Sainteny, General Raoul Salan und General Giap – einzuhalten. Das musste Ho schmerzhaft erfahren, als er in Frankreich wochenlang hingehalten wurde. Erst im September kam es in Fontainebleau zu einer Vereinbarung. In der Zwischenzeit waren in Indochina Fakten geschaffen worden. Hochkommissar Georges Thierry d’Argenlieu hatte am 2. Juni 1946 die Republik Cochinchina ausgerufen. Das war ein offener Bruch des Abkommens. Aber es ging noch weiter. Die Franzosen unter dem neuen Oberbefehlshaber General Jean Valluy wollten den Krieg im Norden und warteten nur auf einen Anlass. Dieser Anlass wurde im November 1946 geliefert. In der Vereinbarung mit Ho in Fontainebleau war unklar geblieben, wer das Recht auf Zolleinnahmen hatte. Als am 20. November ein französisches Patrouillenboot chinesische Schmuggler anhielt, intervenierte die vietnamesische Miliz und verhaftete drei Franzosen. D’Argenlieu fragte in Paris bei Ministerpräsident Georges Bidault an: „Können wir Artillerie einsetzen?“ Bidaults Antwort: „Genau das!“ Am 23. November 1946 beschoss der Kreuzer „Suffren“ Haiphong; es gab mindestens 6.000 Tote und 25.000 Verwundete.35, 38, 39

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Drei Fremdenlegionäre auf der Wacht in Vietnam 1951.

Ho blieb trotzdem kompromissbereit: „Weder Frankreich noch Vietnam können sich den Luxus eines blutigen Krieges leisten.“ Er hoffte immer noch auf die Hilfe der Amerikaner, denen er die Marinebasis Cam Ranh Bay anbot (ironischerweise wurde das später die größte amerikanische Basis in Vietnam). Gleichzeitig hoffte er auf die neue französische Regierung unter dem Sozialisten Léon Blum. Das entsprechende Telegramm wurde allerdings in Saigon verzögert, während Valluy klarmachte: „Wenn die Affen (gooks) Krieg haben wollen, können sie ihn haben.“ Am 17. Dezember begingen französische Truppen – mehrheitlich Fremdenlegionäre – ein Massaker an Zivilisten in Hanoi, am 18. Dezember besetzten sie Finanz- und Verkehrsministerium, am 19. Dezember verlangte der kommandierende französische General die Entwaffnung der vietnamesischen Miliz. Am selben Tag begann der Krieg im Norden. Das ZK der Kommunistischen Partei Indochinas entschloss sich zum Kampf. Am Abend gab General Giap über den Rundfunk die Kriegserklärung bekannt und verlas den Befehl zum nationalen Widerstand:

„Das Vaterland ist in Gefahr! Die Stunde des Kampfes ist gekommen! […] Ich befehle allen Soldaten und Milizen zusammenzustehen, in den Krieg zu ziehen, die Invasoren zu zerstören und die Nation zu retten. Opfert den letzen Blutstropfen im Kampf für Unabhängigkeit und Einheit des Vaterlandes. […] Der Widerstand wird lange und mühsam, aber unsere Sache ist gerecht, und wir werden am Ende siegen.“

Zunächst sah es nicht danach aus: Die Republik Vietnam verfügte über keinen militärischen Nachschub, keine militärische Macht, hatte keine internationalen Verbündeten. Die Offensive gegen die Franzosen schlug denn auch am 19. Dezember fehl, während in Paris der Befehl zur Härte ausgegeben wurde. Selbst der französische Kommunistenführer Maurice Thorez, seit Anfang 1947 stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung Ramadier, war für den Kampf. General Giap sagte damals etwas, was als Antwort auf die Frage gelten kann, warum Frankreich letztlich diesen Kampf verlor – und auch die USA in Vietnam ihre erste Niederlage erlitten, nämlich:

„Die große historische Wahrheit ist: Wenn ein kolonialisiertes und schwaches Volk sich erhebt und im Kampf vereint und entschlossen ist, für seine Unabhängigkeit, seine Freiheit und den Frieden zu kämpfen, dann hat es alle Kraft, die starke Armee eines imperialistischen Landes zu schlagen.“13, 18, 33

Wer wollte damals für Bao Dai, den Mann Frankreichs, sterben? Wer für die Großgrundbesitzer und Provinzgouverneure? Was für eine zweifelhafte Ehre war es, in Bao Dais Armee zu kämpfen, die von Franzosen ausgebildet und von Amerikanern beraten wurde? Die Vietminh zogen sich in den folgenden Jahren aus den Städten zurück und beschränkten sich auf Guerillaoperationen – während die Franzosen scheinbar eine politische Lösung anstrebten. Sie reaktivierten Kaiser Bao Dai, der in Hongkong im Exil lebte. Am 8. März 1949 unterschrieben er und der französische Ministerpräsident Vincent Auriol in Paris das so genannte Elysée-Abkommen. Frankreich bestätigte darin Vietnams Unabhängigkeit im Rahmen der Französischen Union, behielt aber die Kontrolle über Finanzen, Militär und die Außenpolitik. Bao Dai wurde wieder als Kaiser eingesetzt. Im Juni 1949 zog er in Saigon ein, nachdem die französische Nationalversammlung der Vereinigung von Cochinchina und Vietnam zugestimmt hatte. Ende September 1949 appellierte Ho ein letztes Mal an die französische Regierung, den Krieg zu beenden. Er werde Vietnams Neutralität garantieren. Das war schon Makulatur, als er es gesagt hatte. Die Dinge änderten sich dramatisch mit der absehbaren Niederlage der Chinesen unter Tschiang Kai-Schek gegen Mao Tse Tung und der sowjetischen Atombombe.

Jetzt wurden erstmals die USA aktiv. Für den politischen Planungsstab des State Department war klar:

„Der Sieg der Kommunisten in China ist eine schwere politische Niederlage für uns. Falls auch Südostasien vom Kommunismus überrollt wird, dann wird das für uns ein größeres politisches Desaster sein mit Auswirkungen in der ganzen Welt.“ (Daraus wurde dann NSC 68, das berühmte Memorandum Nr. 68 des Nationalen Sicherheitsrates (NSC), das US-Präsident Truman im März 1950 unterschrieb.)

Als am 18. Januar 1950 Rotchina und am 31. Januar 1950 die Sowjetunion die Demokratische Republik Vietnam anerkannten, stellte US-Außenminister Dean Acheson klar: „Dies beseitigt jede Illusion mit Blick auf Hos Nationalismus und zeigt Hos wahres Gesicht als tödlichen Feind jeglicher Unabhängigkeit für Indochina.“18

Am 7. Februar erkannten die USA und Großbritannien die Pseudo-Republik Bao Dais an. Am 9. März 1950 empfahl Acheson Truman, Frankreich 15 Millionen Dollar für dessen Kampf in Indochina zur Verfügung zu stellen. Der Beginn des Koreakrieges im Juni 1950 bestätigte alle Befürchtungen auf US-Seite. Indochina sollte jetzt um jeden Preis verteidigt werden, und entsprechend verstärkte die Truman-Administration ihre Unterstützung für Frankreich. Aus dem „schmutzigen Krieg“ der Franzosen („la sale guerre“) wurde jetzt ein „Kreuzzug gegen den Kommunismus“, als Bestandteil der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Das Pentagon stellte klar, dass die Sicherheit Japans, Indiens und Australiens „davon abhängt, Südostasien den Kommunisten nicht zu überlassen“. Demnach waren auch US-Interessen direkt betroffen. Sollte Südostasien fallen, dann, so hieß es, werden die USA ihren Einfluss in Ostasien und dem westlichen Pazifik verlieren.99