Titelbild

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de/literatur

Übersetzung aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

© Arne Dahl 2018

Published by agreement with Salomonsson Agency

Titel der schwedischen Originalausgabe : »Mittvatten« bei Albert Bonniers, Stockholm 2017

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: zero-media.net, München nach einem Entwurf von mono studio

Covermotiv: Bild unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

I

Teil I - 1. Kapitel - Montag, 30. November, 8:10

Teil I - 2. Kapitel - Montag, 30. November, 9:03

Teil I - 3. Kapitel - Dienstag, 1. Dezember, 10:21

Teil I - 4. Kapitel - Dienstag, 1. Dezember, 13:44

Teil I - 5. Kapitel - Dienstag, 1. Dezember, 23:54

Teil I - 6. Kapitel - Mittwoch, 2. Dezember, 11:24

Teil I - 7. Kapitel - Mittwoch, 2. Dezember, 11:46

Teil I - 8. Kapitel - Mittwoch, 2. Dezember, 12:11

Teil I - 9. Kapitel - Mittwoch, 2. Dezember, 16:25

Teil I - 10. Kapitel - Mittwoch, 2. Dezember, 16:31

Teil I - 11. Kapitel

Teil I - 12. Kapitel - Mittwoch, 2. Dezember, 16:49

Teil I - 13. Kapitel - Mittwoch, 2. Dezember, 17:16

II

Teil II - 14. Kapitel - Donnerstag, 3. Dezember, 11:49

Teil II - 15. Kapitel

Teil II - 16. Kapitel - Donnerstag, 3. Dezember, 12:31

Teil II - 17. Kapitel - Donnerstag, 3. Dezember, 23:03

Teil II - 18. Kapitel - Freitag, 4. Dezember, 9:13

Teil II - 19. Kapitel - Freitag, 4. Dezember, 14:31

Teil II - 20. Kapitel - Freitag, 4. Dezember, 15:28

Teil II - 21. Kapitel - Freitag, 4. Dezember, 21:12

Teil II - 22. Kapitel - Freitag, 4. Dezember, 22:23

Teil II - 23. Kapitel

Teil II - 24. Kapitel - Samstag, 5. Dezember, 7:07

Teil II - 25. Kapitel - Samstag, 5. Dezember, 13:56

III

Teil III - 26. Kapitel - Samstag, 5. Dezember, 19:22

Teil III - 27. Kapitel - Sonntag, 6. Dezember, 7:49

Teil III - 28. Kapitel - Sonntag, 6. Dezember, 8:22

Teil III - 29. Kapitel - Sonntag, 6. Dezember, 10:00

Teil III - 30. Kapitel - Sonntag, 6. Dezember, 13:18

Teil III - 31. Kapitel - Sonntag, 6. Dezember, 15:12

Teil III - 32. Kapitel - Sonntag, 6. Dezember, 17:02

Teil III - 33. Kapitel - Sonntag, 6. Dezember, 17:57

Teil III - 34. Kapitel

Teil III - 35. Kapitel - Montag, 7. Dezember, 4:44

Teil III - 36. Kapitel - Montag, 7. Dezember, 9:26

Teil III - 37. Kapitel - Montag, 7. Dezember, 13:18

Teil III - 38. Kapitel - Montag, 7. Dezember, 14:49

Teil III - 39. Kapitel - Dienstag, 8. Dezember, 12:30

IV

Teil IV - 40. Kapitel - Dienstag, 8. Dezember, 18:32

Teil IV - 41. Kapitel - Dienstag, 8. Dezember, 19:09

Teil IV - 42. Kapitel - Mittwoch, 9. Dezember, 12:59

Teil IV - 43. Kapitel - Donnerstag, 10. Dezember, 7:21

Teil IV - 44. Kapitel - Donnerstag, 10. Dezember, 16:18

Teil IV - 45. Kapitel - Sonntag, 13. Dezember, 10:14

I

1

Montag, 30. November, 8:10

Der Hausflur lag im Dunkeln. Trotzdem konnte Berger ein geflügeltes Insekt ausmachen, das langsam an der Decke entlangkrabbelte. Er folgte ihm eine Weile mit dem Blick. Erst als er nicht mehr hinsah, wurde ihm bewusst, dass es eine Biene gewesen war.

Obwohl das einzige Licht in dem Flur kaum als Beleuchtung bezeichnet werden konnte, war das Tier ganz deutlich durch den Türspion zu erkennen. Er stand mit dem anderen Mann neben der verschlossenen Tür, sie drückten sich rechts und links davon an die kühle Betonwand. Beide mit erhobenen Schusswaffen. In dem schalen Licht fixierte der ältere Mann Berger, dann nickte er energisch. Ohne die Waffe zu senken, zog Berger einen Gegenstand aus der Tasche, der wie eine Lupe aussah. Er hob ihn an den Spion und spähte hinein.

Die Perspektive war verzerrt, dennoch zeichnete sich das Innere der Wohnung klar ab. Ein Flur öffnete sich zu den Umrissen eines Wohnzimmers. Im ersten Morgengrauen schienen riesige Adler auf die großen Fenster zuzusegeln. Wie in Zeitlupe näherten sie sich, schwarze Silhouetten, die für einen Moment im Aufwind direkt vor den Fenstern zu schweben schienen. Dann nahmen die Adler menschliche Konturen an und standen reglos da, fest mit den Füßen am Boden. Einer von ihnen hob die Hände und zeigte zehn Finger, dann neun, dann acht. Berger steckte das Gerät, das wie eine Lupe aussah, in die Tasche zurück und holte den Dietrich hervor. So leise wie möglich schob er ihn ins Schloss. Trotzdem klirrte das Werkzeug beunruhigend, als er damit nach unsichtbaren Zacken und Haken tastete. Sechs, fünf, vier. Er traf nicht auf Widerstand, zum ersten Mal seit Jahren bekam der Dietrich nichts zu fassen. Drei, zwei. Jetzt hatte Berger Erfolg, er hörte das Klicken, als der Dietrich einrastete. Mit erhobener Waffe stieß Berger die Wohnungstür auf. Genau im selben Moment traten die zwei Schwarzgekleideten die Balkontür auf, ihre kleinen MPs im Anschlag. Lautlos verschwanden sie nach links. Berger schlich sich nach rechts.

Nun sah er das gesamte Wohnzimmer: ein Kachelofen mit offenem Kamin, ein Sofa, ein Lesesessel, ein Servierwagen. Auf dem Tischchen neben dem Sessel ein dickes Buch. Berger ging darauf zu, ohne die Pistole zu senken. Eine Brille lag auf dem Buch, eine Brille mit absurd dicken Gläsern. Außerdem erkannte Berger, dass es sich um eine Originalausgabe von Shakespeares Gesammelten Werken handelte.

Er fasste nichts an, hob stattdessen den Blick. An den Wänden hing nur ein einziges Bild, eine Landschaftsfotografie. Der magische Schein des Sonnenuntergangs verzauberte einen Hügel mit Pinien und Zypressen, einige weiße Häuser, ein paar Esel mit gesenkten Köpfen, eine Reihe von Bienenstöcken, die auf Terrassen den Hang hinauf standen, und ein Feld mit buttergelben Blumen, das bis zum funkelnden Meer hinunterreichte. In der Ferne erhob sich ein großer Felsen aus dem Wasser. Gibraltar, dachte Berger.

Er wandte sich wieder dem Buch zu, ging in die Hocke, musterte eingehend die Brille, sah ein Lesezeichen zwischen den dünnen Seiten hervorragen, rührte jedoch weiterhin nichts an.

»Hier«, rief eine gedämpfte Stimme.

Berger richtete sich auf und drehte sich um. Der ältere Mann stand draußen im Wohnungsflur und beobachtete ihn. Sein kurz geschorenes Haar erinnerte an Eisenspäne auf einem Magneten. Sein Name war August Steen, und er war der Chef der Abteilung für Nachrichtendienste bei der Säpo.

Berger und Steen folgten der Stimme und durchquerten dabei eine Küche. Aus dem hintersten Raum drangen Gesprächsfetzen. Berger ging hinein.

Die Schwarzgekleideten hatten sich die MPs über die Schultern gehängt. Mit einer gewissen Skepsis musterte Berger die beiden externen Ressourcen von August Steen.

»Wohnung gesichert«, erklärte Roy Grahn.

»Aber hier hat sie gesessen«, ergänzte Kent Döös und deutete auf die offensichtlich schallisolierten Wände des fensterlosen Zimmers.

Berger sah sich um. Ein vollkommen anonymer Raum und das genaue Gegenteil des gemütlichen Wohnzimmers. Dass keinerlei Spuren von Ketten, Lederbändern oder Infusionsständern zu sehen waren, hieß nicht, dass es sie nicht gegeben hatte, und auch nicht, dass kein Betäubungsmittel zum Einsatz gekommen waren. Doch im Moment klaffte hier nur eine schweigende Leere.

Dafür verriet das Schlafzimmer umso mehr.

Berger sank neben den zerwühlten Bettlaken auf die Knie. Er legte den Kopf schief, betrachtete das Kissen und konnte in der zunehmenden Morgendämmerung mindestens drei lange schwarze Haare entdecken.

»Unser Freund ist nicht gerade darum bemüht, seine Spuren zu verwischen«, sagte er.

»Warum sollte er auch?«, erwiderte August Steen. »Das Einzige, was er geheim halten muss, ist der Ort, an den er sie gebracht hat.«

Plötzlich hörte Berger ein leises Summen. Er blickte zur Decke. Eine Biene flog quer durch das Schlafzimmer. Dieselbe Biene? Berger folgte ihr durch die Küche ins Wohnzimmer. Vor dem Sessel blieb er stehen und streifte die Handschuhe über. Er schob die dicke Brille zur Seite, schlug die Seiten des Buches dort auf, wo das Lesezeichen steckte, und las.

Hamlet. Dritter Akt. Das Lesezeichen zeigte auf eines der bekanntesten Zitate der Weltliteratur.

To be, or not to be …

Berger ging zu dem Foto an der Wand und betrachtete es noch eingehender. Sah das Meer, den Felsen, die Blumen. Sah die Bienenstöcke, die sich den Hang hinaufzogen.

Sah die Bienenstöcke.

Die Biene summte erneut. Aber sie war lauter geworden. Berger blickte zur Zimmerdecke, jetzt saßen zwei oben in der Ecke.

Lebten Bienen Ende November noch? In Schweden?

To bee, or not to bee …

»Er züchtet Bienen«, sagte Berger laut.

Kent und Roy beäugten ihn skeptisch, Steen sah ihn lediglich neutral an.

»Was?«, fragte Roy schließlich. »Hier drinnen?«

»Wohl kaum«, antwortete Berger.

»Ist das nicht ein Trend?«, fragte Kent. »Bienenstöcke auf Hausdächern?«

»Was für ein Quatsch«, schnaubte Roy.

Steen runzelte die Stirn. »Es gibt drei Wege hinauf aufs Dach. Das Treppenhaus, eine Feuertreppe und die Balkone. Grahn, können Sie noch zwei Stockwerke weiter hinaufklettern?«

Roy warf einen Blick zum Balkon, auf den zwei Seile herabhingen. Er nickte.

Steen fuhr fort: »Döös die Feuertreppe. Berger das Treppenhaus. Ich suche eine Überblicksposition. Vorherige Abstimmung. Teilt euer Eintreffen mit. Wartet meine Anweisungen ab. Und: Beeilt euch.«

Roy lief auf den Balkon, Berger und Kent stürzten durch die Wohnungstür hinaus. Berger schaltete das Licht an und ging den Flur entlang. Als er das Treppenhaus betrat, sah er eine Biene an der Wand entlangkrabbeln.

Es gab zwei Alternativen. Entweder waren die Bienen Ausreißer, oder sie waren eine Geschmacksprobe, ein Hinweis. Wenn sie Ausreißer waren, konnte der Täter ganz ahnungslos mit seinem Entführungsopfer dort oben sitzen. Wahrscheinlicher war allerdings, dass er die Polizisten aus einem bestimmten Grund aufs Dach hinauflocken wollte.

Dennoch mussten sie dort hoch, es führte kein Weg daran vorbei. Und es gab auch keine andere Spezialtruppe, die man hätte hinzuziehen können, in diesem Fall herrschte absolute Geheimhaltung. Berger wusste nicht einmal, inwieweit Kent und Roy eigentlich eingeweiht waren. Er beobachtete einen Moment lang, wie die Bienen scheinbar ziellos über die Wand wanderten. Dann begab er sich nach oben.

Das schmuddelige, von Neonröhren erleuchtete Treppenhaus führte zu einer robusten Stahltür mit einem Knauf. Berger nahm sein Walkie-Talkie zur Hand und meldete seine Ankunft. Es knisterte, und Roys Stimme erklang.

»Auf Position.«

Neuerliches Knistern, dann meldete sich August Steen.

»Überblick von der benachbarten Immobilie. Es gibt tatsächlich ein kleines, niedriges Häuschen auf dem Dach, nordöstliche Ecke. Grahn, du bist vielleicht fünf Meter entfernt. Die Tür liegt aber in Ihrer Richtung, Berger, von Ihnen aus sind es zwanzig Meter. Döös befindet sich zehn Meter entfernt auf der Feuertreppe auf der gegenüberliegenden Seite.«

»Verstanden«, sagte Roy. »Kent?«

»Zugestellte Feuertreppe«, keuchte Kent. »Brauche noch ein paar Minuten. Melde mich.«

Stille breitete sich aus.

Die Neonröhren im Treppenhaus erloschen, und die Dunkelheit umfing Berger. In der Stille ertönte ein Summen, in der Dunkelheit leuchtete ein roter Lichtschalter. Berger streckte sich danach. Das Licht ging blinkend wieder an. Die Biene summte weiter, blieb jedoch unsichtbar.

Jetzt hieß es warten.

Unerträgliches Warten.

Aus Bergers Erinnerung trat ein dunkles Motelzimmer hervor, in das lediglich die Lichter der dröhnenden Autobahn hereinsickerten. Berger schlüpfte mit seiner traurigen Plastiktüte in der Hand hinein, gefüllt mit Tankstellensandwiches und Trinkjoghurts, und wollte sich gerade in dem Sessel niederlassen, als er bemerkte, dass dort schon jemand saß. Sein Herz schlug bis zum Hals, und August Steen sagte: »Das nennen Sie untertauchen?«

Die Sekunden verstrichen. Berger fuhr mit der Hand über seine Brust: Die Konturen der schusssicheren Weste waren ihm so vertraut wie die seiner eigenen Rippen.

Erneut drängte sich das Motelzimmer vor seinem inneren Auge auf. Mittlerweile saß Berger auf dem Bett und atmete schwer, sein Blick fixierte Steen in dem Sessel.

»Wir glauben, dass wir den Ort lokalisiert haben, wo sich Carsten mit Aisha befindet«, sagte Steen. »Halten Sie sich morgen früh bereit.«

Berger schüttelte langsam den Kopf und sah sich in dem deprimierenden Motelzimmer um.

»Was um Himmels willen mache ich hier?«, fragte er.

»Sie sind Schwedens meistgesuchter Mann«, antwortete Steen. »Aber Sie halten sich versteckt.«

»Und Sie sind einer der hochrangigsten Säpo-Chefs«, sagte Berger. »Ich bin nicht bei der Säpo, das war ich auch nie. Warum sollten Sie mir helfen?«

»Wir helfen uns gegenseitig«, entgegnete Steen.

Die Biene summte weiter durch das Treppenhaus, konnte die nächtliche Szene jedoch nicht vertreiben.

Berger starrte weiter in die Dunkelheit und auf August Steen, der sich am Ende genötigt sah fortzufahren: »Sie gehören jetzt zu meinem Team, Sam. Sobald wir mehr darüber wissen, was hier gerade vor sich geht, werde ich Sie dringend brauchen. Bis dahin muss ich Sie um Geduld bitten. Ein Safehouse wird für Sie vorbereitet, aber morgen müssen Sie unbedingt auf der Matte stehen.«

»Was zum Teufel passiert hier gerade? Irgendein Terroranschlag?«

»Der schlimmste Terroranschlag aller Zeiten …«

»Schon klar«, fiel Berger ihm ins Wort. »Der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte Schwedens. Aber ich weiß verdammt noch mal nichts darüber. Und ich kann diese dämliche Geheimniskrämerei der Säpo nicht ertragen.«

Steen seufzte laut und lehnte sich in dem mottenzerfressenen Sessel zurück.

»Carsten war mehrere Jahre mein engster Vertrauter, eine der wichtigsten Stützen der Säpo. Dann wurde er als Spitzel enttarnt, als jener Landesverräter in der Organisation, nach dem ich schon eine Weile gesucht hatte. Er hat Aisha Pachachi aus demselben Grund entführt, aus dem er auch Ihre Kollegin und Freundin Katharina Andersson, also Cutter, ermordet hat. Um aus ihnen herauszupressen, wo sich mein wichtigstes Ass – nämlich Aishas Vater, Ali Pachachi, der Mann mit dem Netzwerk – aufhält. Kurz gesagt: Er hat Aisha entführt, um Ali mundtot zu machen.«

Als Berger dort in dem tristen Motelzimmer auf dem Bett saß, spürte er widerwillig, wie sein Polizisteninstinkt erneut zum Leben erweckt wurde.

»Weil Ali gerade herausfindet, wann und wie der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte Schwedens stattfinden soll?«, fragte er.

»Ja.« Steen nickte. »Meiner Einschätzung nach will eine internationale Terrororganisation Ali zum Schweigen bringen und hat deshalb Carsten gekauft. Vermutlich handelt es sich dabei um den IS, den sogenannten Islamischen Staat, aber das ist noch nicht sicher.«

Berger sah sich noch einmal in dem deprimierenden Motelzimmer um, aber es gab nichts, worauf er seinen Blick heften konnte. Nichts als den ausweichend antwortenden Chef der Abteilung für Nachrichtendienste bei der Säpo.

»Also hat mir Carsten diesen ganzen Mist eingebrockt?«, fragte Berger. »Er hat mich zum meistgesuchten Mann gemacht? ›Fahndung nach Ex-Polizist wegen Mordes an Tatverdächtiger‹. Der mit meiner alten Dienstwaffe eine Mörderin erschossen hat. Warum zur Hölle?«

Steen schüttelte den Kopf.

»Das ist noch nicht geklärt«, sagte er. »Aber er hat irgendeine emotionale Bindung zu Molly Blom entwickelt. Wie Sie sich sicher erinnern, hat er dort oben im Inland observiert. Seine Berichte hatten einen komischen Unterton, das ist mir erst im Nachhinein bewusst geworden, als ich sie am Stück las. Er nannte Sie ›den Mann und die Frau‹, wenn auch mit Symbolen.«

»Symbolen?«

»Solchen hier«, antwortete August Steen, zog einen Stift hervor und malte zwei Zeichen auf die Rückseite einer Tageszeitung.

Berger sah zwei Symbole – und  – und zog die Augenbrauen hoch. Steen fuhr fort und zeigte mit dem Finger auf die Bilder.

» waren Sie, und war Molly.«

»Molly, die im Koma liegt und mein Kind in sich trägt«, erwiderte Berger finster und schüttelte den Kopf.

Steen stemmte sich aus dem schäbigen Sessel hoch und legte die Hand auf Bergers Knie. Das kam ein wenig unerwartet.

»Wir haben einen großen Vorteil gegenüber Carsten«, sagte er mit einer Stimme, wie sie Berger noch nie bei ihm gehört hatte. »Er ist zweifellos ein sehr gefährlicher Mensch – wir dürfen ihn wohl als einen erfahrenen Berufskiller bezeichnen –, aber er ist kurz davor zu erblinden. Er ist an der unheilbaren Augenkrankheit RP erkrankt, Retinitis pigmentosa. Morgen früh haben wir die beste Chance, ihn zu erwischen. Und dabei brauche ich Sie, Sam.«

Dabei brauche ich Sie, Sam, hallte es in Bergers Kopf nach, in diesem nichtssagenden Hochhaustreppenhaus, vor dieser nichtssagenden Tür, während das Warten ihm immer unendlicher vorkam. Gewaltsam kehrte er in die Gegenwart zurück und betrachtete seine entsicherte Waffe. Sie zitterte in einem merkwürdigen, regelmäßigen Takt, der vermutlich dem seines Herzschlags entsprach.

Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass Carsten allmählich erblindete.

Das Summen einer unsichtbaren Biene war weiterhin das einzige Geräusch, das Berger hörte. Lang und monoton.

Plötzlich knisterte das Walkie-Talkie.

»Auf Position«, sagte Kents Stimme.

»Na dann«, entgegnete Steen. »Drei. Zwei. Eins.«

Berger schob die Tür auf und blickte hinaus. Die erste Morgendämmerung verbreitete ihren vagen Schein über das Hausdach. Zwanzig Meter weiter rechts lag das kleine Haus wie ein Betonklumpen. Schräg vor sich sah Berger Kent die Feuertreppe emporklimmen und auf das Haus zustürzen. Im selben Moment zog sich Roy an einem der Seile hoch und rollte über die kleine Mauer am Rand des Dachs.

Jetzt rannte Berger los. Dabei fühlte er sich eigentümlich abwesend, er betrachtete alles aus der Distanz, verzerrt, und wartete nur auf die Schüsse.

Roy kam als Erster an, Kent kurz darauf. Dann spurtete auch Berger auf die Hütte zu und sah aus der Entfernung, wie Roy den Fuß hob, die Tür eintrat und verschwand. Auch Kent war da, er zögerte kurz, ehe er ebenfalls in das Häuschen abtauchte.

Berger hatte es fast erreicht, da verspürte er einen starken Schmerz am Hals, als hätte jemand eine lautlose Waffe auf ihn abgefeuert. Reflexartig fasste er sich an den Nacken, und nun schmerzte auch seine Hand. In dem Moment stolperte Kent seltsam gebeugt aus dem Häuschen. Er schlug um sich, wobei die Dienstwaffe wie in Zeitlupe in hohem Bogen davonflog. Kent sackte auf die Knie, warf sich zu Boden und wälzte sich herum. Das Summen wurde immer lauter. Berger quälte nun ein stechender Schmerz, der sich in seinem Körper ausbreitete und bis in die Glieder brannte.

Eine weitere Gestalt kam aus dem Haus. Sie sah aus wie ein Bär, ein Bär im aufrechten Gang. Die Gestalt hob ihre Arme wie zum Gebet, doch da waren keine Hände, da waren Pfoten, Tatzen, die mit dickem, flauschigem Fell überzogen waren. Der restliche Körper wirkte ebenfalls bullig, geradezu wollig, doch aus der bärengleichen Gestalt ragte ein kreidebleiches Gesicht hervor, ein Schädel mit starrem Blick und einem weit geöffneten, aber stummen Mund. Und das Summen wurde immer lauter. Da verstand Berger endlich, was er sah.

Dies war Roys Gesicht. Nur war sein ganzer Körper von Bienen bedeckt. Roy taumelte mit eigentümlichen, schweren Schritten wie bei einer Mondlandung an der Befestigung des Seils vorbei zur Dachkante. Dort kletterte er auf die kleine Mauer, hinter der sich der Abgrund auftat.

Berger hörte sich selbst rufen, doch es war die Stimme eines anderen: »Bleib stehen, bleib stehen, verdammt!«

Stattdessen wankte Roy einfach weiter und stieg auf die Mauer, als würde er von einer fremden Kraft angetrieben. Dann tat er den fatalen Schritt in den Abgrund.

Es sah so aus, als würde er kurz in der Luft stehen. In einem Brummen, das immer mehr einer Kakofonie glich, schien Roys Körper für einen Moment in der Unendlichkeit zu schweben, als wäre die Schwerkraft aufgehoben, als gäbe es kein Oben und Unten mehr. Dann ließen die Bienen wie auf Befehl von ihm ab und flogen von seinem Körper auf wie ein kleiner Tornado.

In diesem Moment blickte Berger Roy in die Augen. Und was er sah, war der Tod. Er schaute dem Tod direkt ins Gesicht. Bis Roy fiel.

Berger hörte sich selbst brüllen. Er stolperte vorwärts, und der Schmerz, der für einige Sekunden wie weggeblasen gewesen war, kehrte mit voller Kraft zurück. Unterdessen rappelte Kent sich auf und bürstete mit der Hand wie wild seinen Körper ab. Zusammen mit Berger wankte er zum Rand des Dachs. Wo Roy in die Tiefe gestürzt war.

Genau in dem Moment, als sie dort ankamen, wandte Berger sich um und sah einen enormen Bienenschwarm aus der weit geöffneten Tür des Häuschens schwirren. Er bildete eine schwarze Wolke über der ohnehin noch dunklen Stadt.

Berger und Kent wechselten einen Blick. Kent zupfte eine Biene von seiner bleichen Wange und nickte. Dann sahen sie über die Kante.

Roys Körper war in zwei Stücke gerissen und lag dreißig Meter unter ihnen auf dem Parkplatz.

Die eine Hälfte auf einem Auto.

Kent entfuhr ein Laut, der nicht mehr menschlich klang.

»Berger!«, bellte das Walkie-Talkie. »Rettungswagen unterwegs. Sichert das Haus.«

Langsam erhob sich Berger neben dem zusammengesunkenen Kent, der vor Trauer und Schmerz schrie. Er sammelte die Bienen von allen frei liegenden Hautoberflächen seines Körpers und spürte, wie sich ein seltsamer Rausch in ihm ausbreitete. Schwankend bewegte er sich auf das kleine Haus zu. Dort presste er sich an die Betonwand und warf einen hastigen Blick hinein, ehe er schnell den Kopf zurückzog. Drinnen war kein Mensch, und es gab auch keine verborgenen Räume. Dafür mindestens sechs geöffnete Bienenstöcke. Es waren nur noch einzelne Bienen zu sehen, von denen ein zähes Summen ausging. Es sollte also möglich sein, das Häuschen zu betreten. Berger griff seine Waffe fester und betrat die Hütte.

Wild fuchtelnd versuchte er, die letzten Bienen hinauszuscheuchen. Dann sah er sich um. Außer den Bienenstöcken gab es einen Tisch und einen Stuhl, sonst nichts.

Hier hatte Carsten Aisha wohl kaum gefangen gehalten. Sein Ziel war es gewesen, auch die Polizisten hier heraufzulocken. Um ihnen zu schaden, um sie zu töten? Wohl kaum, Carsten war kein Sadist. Wahnsinnig, das schon. Ein Landesverräter. Skrupellos. Aber rational. Er hatte einen anderen Grund gehabt, sie herzuführen.

Boden, Decke, Wände – nichts. Ein vollkommen neutraler Raum. Demnach musste in den Bienenstöcken oder auf dem Tisch irgendetwas zu finden sein. Den Bienenstöcken wollte Berger sich nicht weiter nähern, er hatte schon genug Körperkontakt mit ihren Bewohnern gehabt.

Erst jetzt sah er, dass einige der Insekten auf dem kleinen Tisch ausharrten. Sie waren ruhiger als ihre Verwandten und krabbelten in einer festen Formation umher, einem Rechteck, etwa einen Dezimeter breit. Berger nahm seine frisch ausgehändigte Säpo-Pistole und wischte die Bienen damit von der Tischplatte. Unter ihnen lag ein Stück Papier. Er wagte es nicht, das Blatt anzufassen, stellte jedoch fest, dass es mit etwas Süßem, Klebrigem bestrichen war. Einer Substanz, die Bienen vermutlich mochten.

Das Papier sah aus wie ein kleiner Umschlag von der Sorte, die normalerweise Glückwunschkarten enthielten.

Berger reinigte ihn ganz von den Bienen, ließ ihn jedoch liegen. Gegen alle Instinkte wollte er auf die Kriminaltechniker von der Säpo warten. Da entdeckte er unter der Tischplatte eine Schublade. Er ging in die Knie und zog sie vorsichtig heraus.

Der Knall war überirdisch, und die Kraft, die Berger zurückwarf, gigantisch. Ein alles umfassender Schock, ein verwirrender Schmerz. Berger wurde schwarz vor Augen.

Es existierte nur noch ein einziger, einfacher Gedanke, der im unendlichen Nichts kreiste.

Dies ist eine beschissene Art zu sterben.

Dann umfasste ihn die Dunkelheit.

Als Berger seine Augen wieder aufschlug, war er sich nicht sicher, ob er noch lebte. Doch er sah in einen eisgrauen Blick, darüber ein metallgrauer Bürstenschnitt.

»Tatsächlich ist der perfekte Spion ein kastrierter Spion«, sagte August Steen, »aber ganz so drastisch hätte es auch nicht sein müssen.«

»Wie bitte?«, keuchte Berger.

»Hätten Sie sich nicht hingekniet, wäre Ihnen der Schwanz weggeschossen worden.«

Berger blickte an seiner schusssicheren Weste hinab. Es war deutlich sichtbar, wo die Kugel ihn getroffen hatte. Mitten ins Herz.

»Verdammte Axt«, sagte er.

Steen streckte ihm die Hand entgegen. Berger ergriff sie, kam, begleitet von einer Kaskade von Schmerzstrahlen, wieder auf die Beine und stand vor der offenen Schublade. Hinter der weggeschossenen Front war eine Pistole eingeklemmt, deren Abzug mit einem Stahldraht verbunden war. Berger erkannte die Waffe sofort wieder. Es war eine Sig Sauer P226. Höchstwahrscheinlich Bergers eigene ehemalige Dienstwaffe. Am Lauf klebte ein kleiner handgeschriebener Zettel.

Darauf stand, kurz und knapp: »Boom!«

»Carsten hat es auf Sie abgesehen, Sam«, sagte Steen. »Jetzt müssen wir Sie aber definitiv unsichtbar machen.«

Berger warf einen letzten Blick auf den kleinen Umschlag, seufzte schwer und stolperte zur Tür. Steen holte ihn ein und stützte ihn.

Am blassgrauen Novemberhimmel näherte sich langsam, beinahe unwirklich, ein Rettungshubschrauber.

2

Montag, 30. November, 9:03

Seine Sinne spielten verrückt. Die ganze Welt schaukelte. Der herannahende Helikopter klang immer mehr wie das Summen einer gewaltigen Biene.

Berger saß auf dem Dach, durchlief alle möglichen Stadien des Schmerzes und war nicht mehr imstande, zwischen Körper und Seele zu unterscheiden.

Emotionslos beobachtete er, wie August Steen eine Rolle mit Gazebinde aus einer Tasche nahm und damit näher kam.

»Sie müssen mit dem Helikopter mitfliegen«, sagte Steen und fing an, Bergers Kopf mit der Binde zu umwickeln. »Und Sie sind immer noch Schwedens meistgesuchter Mann. Sie dürfen auf keinen Fall erkannt werden.«

Der Windzug des landenden Helikopters erfasste sie. Berger sah, dass Steen die Gazebinde aus der Hand gerissen wurde, der Wind sie sofort weiter aufrollte und wie einen riesigen Wimpel in der Luft flattern ließ, ehe sie über die Hochhausdächer von Tensta davonschwebte. Steen holte eine neue Rolle, und es gelang ihm, Bergers Kopf zu verbinden.

»Bleiben Sie cool. Ich hole Sie im Söder-Krankenhaus ab.«

Dann saß Berger da, unbeachtet, in einer Ecke des Helikopters zusammengekauert, reisekrank, mit Schussschmerzen in der Brust und einem diffus verteilten Bienenstichbrennen. Trotzdem ging es ihm eindeutig besser als den anderen Patienten in dem kleinen, krängenden Innenraum.

Die beiden Hälften von Roy Grahns zerschmettertem Körper lagen unter einer blutdurchtränkten Decke. Kent Döös war wach genug, um zu wimmern, und das Wimmern schwoll hin und wieder zu Schmerzens- und Trauergebrüll an, doch er wehrte jeden Versuch ab, wenigstens seine äußerlichen Qualen zu lindern. Der Rettungssanitäter malte mit seiner Morphiumspritze vergeblich ganze Bilder in die Luft.

Berger meinte sich zu erinnern, dass er ähnliche Szenen aus Kriegsfilmen kannte. Eine starke Übelkeit stieg in ihm auf, und er war kurz davor, sich schwallweise in seinen blickdichten Kopfverband zu übergeben, als er ein Fenster entdeckte.

Der Anblick von Wasser hatte seine Eingeweide schon immer beruhigt. Er sah die Oberfläche dort unten, aber es dauerte einen Moment, ehe er den Ulvsundasjön, die Tranebergsbron und Lilla Essingen wiedererkannte. Dann Reimersholme, die Liljeholmsbron und Årstaviken. Der Helikopter folgte dem Wasser bis zu einem Dach mit einem Kreis, einem Pluszeichen und einem großen H in der Mitte. Dort landete er auf dem Buchstaben, offenbar ohne dabei seine Geschwindigkeit zu drosseln.

Dann ging alles ganz schnell.

Die Türen wurden geöffnet, Roys Bahre hinausgerollt, und weg war sie. Kent, dessen großer Körper endlich auf die Morphiumspritze reagiert hatte, wurde auf die Helikopterplattform des Söder-Krankenhauses getragen.

Berger blieb zurück.

Während der Pilot hinaussprang, die Rotorblätter nun langsamer kreisten und schließlich sanft zum Stehen kamen, hockte Berger in seiner Ecke, den ganzen Kopf bandagiert. Nach einer Weile schaute ein weiß gekleideter Mann herein und winkte ihn zu sich. Berger nahm seine Tasche und kletterte hinaus. Gemeinsam betraten sie das große Krankenhaus. Der Sanitäter blickte nicht einmal in ihre Richtung.

Ganz im Einklang mit dem übrigen Empfang ließ man Berger auf der Akutstation in einer Ecke hinter vorgezogenen Vorhängen sitzen, über einen Zeitraum, den er irgendwann nicht mehr einschätzen konnte. Es verging viel Zeit. Unfassbar viel Zeit. Eine Stunde folgte auf die nächste.

Berger konzentrierte sich auf seinen Körper. Am meisten schmerzte die Stelle, an der die Kevlar-Weste die Kugel der Sig Sauer P226 abgehalten hatte, doch er bezweifelte, dass seine Rippen verletzt waren. Das Gift der Bienenstiche war schwieriger einzuschätzen, würde für eine Einweisung jedoch auch nicht ausreichen. Also hatte August Steen ihn aus anderen Gründen hierherbringen lassen. Weil es der sicherste Ort war, an dem er sich aufhalten konnte? Während ein Safehouse für ihn vorbereitet wurde? Während seine Sachen dort hingebracht wurden? Von zu Hause? Ob sie in seiner Wohnung gewesen waren? Durchwühlte die Säpo gerade seine Zimmer, während er hier saß wie ein Schluck Wasser in der Kurve?

Er selbst war schon sehr lange nicht mehr bei sich zu Hause gewesen. Wobei es sich wohl vor allem lange anfühlte. Dabei war kaum mehr als ein Monat verstrichen, wahrscheinlich sogar weniger.

Die Stunden rannen noch immer zwischen seinen Fingern hindurch. Er versuchte nachzudenken, der freie Flug der stillen Gedanken.

Wenn Carsten dieses ganze Bienenhaus einzig und allein präpariert hatte, um niemand anderen als Sam Berger umzunieten, war er dann hier wirklich sicher? Ins Söder-Krankenhaus einzudringen und hinter schützenden Gardinen einige schallgedämpfte Kugeln in einen gewöhnlichen Patienten zu feuern dürfte nicht gerade schwer sein. Vermutlich würde es lange dauern, bis es überhaupt jemand bemerkte.

Im nächsten Moment wurden die Vorhänge tatsächlich beiseitegezogen.

Berger sah Carsten, der blinzelnde, nicht zu deutende Blick hinter den dicken Brillengläsern, er sah, wie die Pistole erhoben wurde, und registrierte das kleine, beinahe unmerkliche Lächeln, welches das allerletzte Bild sein würde, das Sam Berger mit sich ins Totenreich nähme.

Doch es war nicht Carsten, der da hereinkam, auch kein Arzt, es war ein Mann, dessen Bürstenschnitt an Eisenspäne auf einem Magneten erinnerte.

»Gehen wir«, sagte August Steen knapp.

Sie gingen. Berger schwieg, Steen ebenfalls.

In einer versteckten Ecke des Krankenhausparkplatzes stiegen sie in ein Auto, und Steen fuhr nach Süden, aus der Stadt hinaus. Erst als die Dämmerung hereinbrach, wurde Berger klar, wie lange er im Krankenhaus gesessen und auf einen Arzt gewartet hatte, der nie kam. Der auch nie die Absicht gehabt hatte zu kommen.

Als sie auf der Höhe von Haninge waren, brach Steen das Schweigen.

»Das Arschloch hat Roy umgebracht.«

Berger starrte vor sich hin. Vor seinem inneren Auge sah er den übernatürlich schwebenden Körper, in Bienen gehüllt. Dann den halbierten Körper unten auf dem Parkplatz.

Mit Carsten war nicht zu spaßen.

Und er hatte es definitiv auf Sam Berger abgesehen.

Steen war anscheinend zum Reden aufgelegt. »Verzeihen Sie die Verzögerung«, sagte er.

Berger lachte nicht gerade überschwänglich.

»Ich musste den Vorgang sogar noch beschleunigen. Schneller ging es meinerseits nicht«, fuhr Steen fort.

»Wohin fahren wir?«, fragte Berger.

»Sie werden leider ein Boot nehmen müssen«, antwortete Steen. Berger starrte ihn an.

»Ich weiß, dass Sie das können«, fuhr Steen fort. »Ich weiß, dass Sie Wasser mögen. Ich weiß, dass Sie als Kind einen Großteil Ihrer Sommer in den Stockholmer Schären verbracht haben.«

»Da wissen Sie mehr als ich«, brummte Berger.

»Der Anblick von Wasser beruhigt Sie.«

Berger schüttelte den Kopf. Doch Steen ließ nicht locker.

»Keine Sorge, es ist ganz einfach, die moderne Navigationsausrüstung übernimmt fast die ganze Arbeit.«

»Und dann soll ich also einfach in einem Safehouse herumhocken?«

»Der Auftrag, den ich für Sie habe, hat enorme Bedeutung.«

»Aber Sie wollen mir nicht mehr darüber verraten als diese lahme Formulierung ›der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte Schwedens‹?«

»Zu diesem Zeitpunkt kann ich es nicht«, erklärte August Steen. »Aber vorerst müssen Sie um jeden Preis untertauchen. Und zwar vollständig. Das bedeutet auch, dass Sie das Boot nur ein einziges Mal benutzen dürfen, danach nie wieder, nur im äußersten Notfall. Die Navigationsausrüstung wird Sie zu einem Bootshaus führen, dort parken Sie das Boot und lassen es stehen.«

»Ein Bootshaus?«

»Ein richtiges Bootshaus«, sagte Steen mit versteinerter Miene. »Wo man ein Boot hineinfährt. Sie fahren es dort hinein und vertäuen es, und dann lassen Sie es stehen. In dem Safehouse gibt es jede Menge gutes Essen, eine sichere Internetverbindung und einen Haufen Bücher. Betrachten Sie die Zeit als bezahlten Urlaub. Haben Sie ein Hobby?«

Berger starrte ihn ungläubig an.

»Uhren«, antwortete er schließlich. »Uhrwerke.«

August Steen brach in Gelächter aus.

Die restliche Fahrt über schwiegen sie. Sie fuhren nach Nynäshamn hinein, durch Nynäshamn hindurch, aus Nynäshamn hinaus. Es erschien Berger wie das Ende der Welt.

Der Gasthafen war ungastlich. Vermutlich waren es die freundlich blinkenden Lichter der nahe gelegenen Inseln, die das Meer so schwarz wirken ließen. So unbarmherzig.

Vielleicht erschien die Welt ringsherum auch nur deshalb so verlassen, weil Berger und Steen weit und breit die Einzigen waren. Sie wanderten die Anlegebrücke entlang, an deren Rändern die Boote schaukelten, als würden sie von der Dunkelheit selbst hin- und hergewiegt.

Kein Niederschlag, zum Glück, und besonders windig war es auch nicht. Das einzig Beängstigende war die Schwärze. Und die glasklare Einsicht, dass Sam Berger schon ungeheuer lange kein Boot mehr gesteuert hatte. Vor allem nicht in der Winterfinsternis.

Sie blieben stehen. Berger stellte seine Tasche ab, Steen reichte ihm ein iPad. Berger nahm es entgegen und blickte auf den schwarzen Bildschirm. Steen strich darüber, und eine Kartenansicht erschien.

»Einwandfreie GPS-Navigation«, erklärte Steen. »Die Streckenführung umgeht alle Untiefen, das schwöre ich.«

»Heißt das, Sie haben es selbst getestet?«

»Ein Helikopter wird Ihnen ein paar Sachen von zu Hause liefern. In Kürze werden vier große Umzugskartons vor der Hütte stehen.«

»Und was werden Sie so lange tun? Was wird die Säpo tun? Carsten finden, bevor er mich findet?«

»Bilden Sie sich bloß nicht zu viel ein«, entgegnete Steen. »So wichtig sind Sie auch wieder nicht. Aber natürlich werden wir ihn kriegen, die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Doch wir werden ihn in erster Linie einkassieren, um Aisha Pachachi zu befreien und damit auch Ali Pachachi zum Reden zu bringen. Solange Aisha gefangen gehalten wird, spricht er nicht. Und ich bin der Einzige auf der ganzen Welt, der weiß, wo sich Ali aufhält. Bisher hat unser Spitzel noch darauf gewartet, dass Ali Kontakt mit ihm aufnimmt und ihm anbietet, seine Tochter als Geisel abzulösen. Aber jetzt scheint Carsten vorzuhaben, Ali Pachachi von sich aus aufzusuchen. Die Fährte, die uns in Tensta in die Falle locken sollte, war gelegt. Carsten wollte uns dort vorführen.«

»Ihr fangt Carsten, bekommt Informationen von Pachachi, und dann soll ich auf der Grundlage dieser Informationen in Aktion treten? Ist das der Plan? Womit wir wieder bei der Frage wären: Warum ausgerechnet ich?«

»Möchten Sie diese Diskussion wirklich jetzt führen?«, fragte Steen. »Dazu hätten Sie eine ganze Autofahrt lang Zeit gehabt.«

»Ich will es wissen, ja. Ansonsten steige ich nicht in dieses Boot, verdammt noch mal.«

»Und was wollen Sie stattdessen tun? Sich in einem anderen Bootshaus verstecken? Außer Landes flüchten?«

»Warum? Ausgerechnet? Ich?«

August Steen seufzte und führte Berger zu einem stabilen, aber kompakten Boot mit einem veritablen Außenbordmotor.

»Sie verfügen über eine Spezialkompetenz, die von äußerster Wichtigkeit für uns sein wird, wenn der Zeitpunkt gekommen ist«, sagte Steen schließlich.

»Eine Spezialkompetenz? Ich?«

»Außerdem haben Sie auch meine Frage noch nicht beantwortet«, fuhr Steen fort und reichte Berger seine Säpo-Pistole mit der entsprechenden Munition. »Aber sie war ernst gemeint.«

»Welche Frage?« Berger nahm die Pistole.

»Haben Sie ein Hobby?«

3

Dienstag, 1. Dezember, 10:21

Er durchbrach die Oberfläche genau in dem Moment, als sich die Eisschicht auf dem Wasser bildete. Während er durch die Luft geflogen war, hatte er gesehen, wie einige Segmente der glatten Oberfläche einen anderen Schimmer annahmen. Er hatte das Gefühl, für eine Millisekunde erkennen zu können, wie sich die einzelnen Flüssigkeitsatome den fremden Sauerstoffatomen entgegenstreckten und eine äußerst zerbrechliche Membran bildeten.

Die er im nächsten Moment durchbrach.

Der Kälteschock traf ihn wie erwartet, aber Theorie ist nicht gleich Praxis. Er wurde überwältigt. Die eisige Kälte drang durch den engen Neoprenanzug bis auf seine schockierte Haut. Das Wasser des Schärengartens umfing ihn, als wollte es ihn einfrieren und für die Nachwelt bewahren, die dann das Urzeitwesen im Eisblock schockiert bestaunen würde. Forscher würden ihn unter kontrollierten Bedingungen auftauen, und er würde, ohne seinen staunenden Gesichtsausdruck zu verlieren, in die schwerelose Atmosphäre des künstlichen Planeten schweben, der die zerstörte Erde bis dahin längst ersetzt hätte.

Das eigenartige Bild hatte eine beruhigende Wirkung. Außerdem erinnerten ihn seine ersten Schwimmzüge tatsächlich an eine Weltraumwanderung. Gierig sog er die abgestandene Luft aus der Gasflasche ein, spürte den Schmerz im Brustkorb, dort, wo er vor nicht allzu langer Zeit eine Kugel abgefangen hatte, und meinte sich zu erinnern, warum er mit diesem verwegenen Hobby aufgehört hatte.

Eine Hand, die einen riesigen, blau-gelb gestreiften Fisch mit Kussmund gestreichelt hatte, hatte ihn zu dieser Leidenschaft, dem Tauchen, gebracht. Diese vergoldete Erinnerung übersprang jene fünfzehn Jahre, die vergangen waren, seit Sam Berger zuletzt ein Mundstück mit Gummigeschmack zwischen den Zähnen gehabt hatte. Sie radierte auch den Kälteschock aus – und vermutlich eine ganze Reihe anderer Faktoren, die ihn dazu veranlasst hatten, seine Taucherausrüstung nach einem magischen Tauchurlaub vor Lombok in Indonesien für immer in den Schrank zu räumen.

Damals war der Bartwuchs hinter dem gehärteten Glas seiner Tauchermaske bedeutend spärlicher und wohl kaum so irritierend gewesen wie heute. Das braun-graue Gestrüpp, der Schnurrbartteil seines Vollbarts, der jetzt sein halbes Gesichtsfeld bedeckte, kratzte unter der Maske.

Als es ihm schließlich gelang, die Gedanken von seiner Körperbehaarung wegzulenken, offenbarte sich ihm eine ganz eigene Welt.

Von dort oben hatte die Oberfläche so dunkel ausgesehen, als hätte er in einen Eimer Teer springen müssen. Noch dazu war es ein bewölkter, schmutziggrauer Vormittag, ziemlich typisch für den ersten Dezembertag, und Berger hatte nicht erwartet, unten in der sauerstoffarmen Ostsee sonderlich viel zu sehen. Doch das Licht, das trotzdem durchsickerte, enthüllte eine graugrüne Welt mit Klippenformationen und diffus wogenden Tangbüscheln, die ihn tatsächlich berührte. Ein kleiner, farbloser Fischschwarm flitzte vorüber, und Berger beschleunigte seine Schwimmzüge in dem kaum mehr als fünf Grad warmen Wasser. Jetzt erinnerte er sich wieder an seine Faszination, diese verborgenen Teile der Erde zu besuchen, die größten und heimlichsten. Er spürte, wie sein Wesen zu neuem Leben erwachte, während der Meeresboden seinen Charakter änderte und flacher und karger wurde. Und abfiel. Zweifellos schwamm er tieferen Gewässern entgegen.

Er achtete darauf, nicht in Hektik zu geraten, sondern in die Ferne zu sehen und auf das Ende seines Blickfelds zu achten, wie ein Fahranfänger. Es waren kaum mehr als fünf, sechs Meter bis dorthin, doch plötzlich konnte Berger den Boden vor sich nicht mehr erkennen. Er verschwand einfach. Berger hielt inne, ließ sich treiben und beobachtete das Szenario. Dann schwamm er einige Züge heran. Tatsächlich schien es, als würde der Boden des Binnenmeers abbrechen und einer plötzlichen Tiefe Platz machen.

Jetzt stand er am Rand des Abgrunds. Es war ein merkwürdiges Gefühl, vor ihm lag eine Schlucht, in die man nicht fallen konnte.

Dies war Schweden, der Stockholmer Schärengarten, sicher und vertraut – und hier tat sich dieser plötzliche Abgrund auf, hinab in vollkommen unbekanntes Terrain. Berger war klar, dass er sich fernhalten sollte.

Doch wie es so oft der Fall ist, wenn man weiß, dass man sich fernhalten soll, näherte er sich stattdessen.

Er glitt über die Kante, blickte nach oben, blickte nach unten und sah nichts. Er wartete ab. Ahnte eine leichte Strömung am rechten Oberschenkel, aber mehr nicht. Dann unternahm er einen vorsichtigen Schwimmzug in die Tiefe.

Im ersten Moment verstand er nicht, was da vor sich ging, abgesehen davon, dass sich sein Gesicht kälter anfühlte. Dann begriff er, dass es nicht nur kalt war, sondern auch nass. Sein Schnurrbart unter der Tauchermaske wogte leicht hin und her, wie die Tangbüschel auf dem Meeresboden.

Die Maske war undicht.

Als ihn diese Erkenntnis traf, hatte sie handfeste Folgen. Sein Körper geriet ins Taumeln, die Panik schoss direkt in seine Seele, und er zappelte in der Leere des Nichts.

In der rohen Kälte.

Auf unbekannten Pfaden kehrte die Vernunft dennoch zurück. Berger bremste sein Taumeln. Er beschränkte die Panik. Die Maske musste entleert werden, das gehört zu den ersten Handgriffen, die man als Tauchschüler lernt. Er versuchte, sich an die Prozedur zu erinnern. Dann zog er die Maske nach unten, während er nach oben blickte und Luft durch die Nase ausstieß. Das wiederholte er mehrmals, bis die Maske so gut wie leer war. Er musste sich zusammenreißen, um nicht vor Erleichterung zu seufzen.

Anschließend sah er sich nach allen Seiten um. Das Problem war nur, dass er kein Oben und Unten mehr ausmachen konnte, kein Hier und kein Da. Es gab keinerlei Richtung mehr. Und da begriff Berger, in was er geraten war.

Er war im Tiefenrausch.

Es gab keine Schwerkraft, keine Strömung. Keinerlei Auftrieb. Keine Anhaltspunkte. Der nächste Schwimmzug konnte ihn direkt in den Abgrund führen oder hinauf zur Oberfläche oder aufs Meer hinaus.

Sam Berger ließ sich im großen Nichts treiben, denn jeder Schwimmzug konnte ihn dem Tod näher bringen. Er war vollkommen orientierungslos.

Als würde er in der Mitte der Weltmeere schweben. Als wäre er endgültig in diesem leeren, verlassenen, unendlichen Weltall verloren.

Immerhin hatte er seine Maske entleert. Erst vor wenigen Sekunden hatte er sich zusammengerissen und auf seine Erfahrungen berufen.

Die Bläschen, die er ausgeatmet hatte, schwirrten um ihn herum. Eine Weile kreiselte er noch im großen Nichts, dann schoss ihm etwas in den Kopf.

Er konnte freier atmen und richtete sich in diesem Nichts ein. Für eine Weile hielt er den Atem an, bis alle Bläschen um ihn herum verschwunden waren. Dann atmete er kräftig aus.

Plötzlich hatte der Strom der Luftblasen eine klare Richtung. Berger drehte sich um und beobachtete, wie die Blasen nach unten strömten.

In die Richtung, die er für unten gehalten hatte.

Die eigentlich oben war.

Noch einmal atmete er kräftig aus und schwamm dann hastig den Bläschen hinterher.

Nach oben.

Er tauchte aus dem Abgrund, konnte wieder den Meeresboden erkennen und begriff, dass er nun auf dem Heimweg war. Als seine Füße wieder den kargen Felsgrund erreichten, entleerte er seine Maske noch einmal.

Der Tiefenrausch.

Ihn hatte er ganz vergessen, jenen Zustand, bei dem die Naturgesetze vollkommen aufgehoben waren. Dabei war er schon einmal dort gewesen, kurz nach seiner Begegnung mit dem großen, blau-gelb gestreiften Fisch. Aber die gute Erinnerung hatte die böse überlagert.

Im Hafen von Lombok hatte er sich geschworen, nie wieder zu tauchen. Nur war er einfach nicht gut darin, aus seinen Fehlern zu lernen.

Als er auf die Hütte auf der kleinen Insel vor Landsort zuschwamm, schwor er sich erneut, nie wieder zu tauchen.