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Ralph Roger Glöckler


Vulkanische Reise


Eine Azoren-Saga



Elfenbein

Ralph Roger Glöcklers Azorentrilogie besteht aus:

»Corvo. Eine Azoren-Utopie«

»Vulkanische Reise. Eine Azoren-Saga«

»Madre. Erzählung«



© 2008 Elfenbein Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-941184-74-9 (E-Book)

ISBN 978-3-932245-92-3 (Druckausgabe)

Götter


Das Licht des Morgens blendet. Ich blinzele benommen auf den Kanal hinaus, während ich in meinem Kaffee herumrühre und der Finsternis nachsinne, die mich das Fürch­ten lehrte. Das Wasser glimmt. Ich schließe die Au­gen, aber die Helligkeit hält an, sirrt in meinen Ohren. Nein, es war keine Furcht, vergangene Nacht. Es war etwas viel Exis­ten­ziel­leres.

Angst.

Böen heulen den Hang hinunter, jaulen, wahre Höl­len­hun­de, zwischen den Häusern hindurch. Hagel knallt ge­gen die geschlossenen Fensterläden. Ein erboster ­Himmel. Ich kauere in einer Kapsel, fühle mich durch stür­mische Galaxien geschleudert, ohne zu wissen wohin.

Die Azoren liegen zwischen dem fünfunddreißigsten und vierzigsten Grad nördlicher Breite. Die Westwinde sorgen in dieser planetary frontal zone für den Austausch von tropischen und polaren Luftmassen. Fließen die Westwinde im zonal flow gleichmäßig von Westen nach Osten, werden sich kalte und warme Strömungen, die zwischen südlichen Hochs und nördlichen Tiefs einherfließen, nur wenig vermengen. Schwingen sie aber im meridional flow, also in nord­südlichen Kurven aus, wird ein stürmischer Austausch der Luftmassen zwischen Tropo- und Stratosphäre erfolgen. Es bilden sich dabei regionale Hochs und Tiefs. Dann stürzen Winde einher, fluten turbulent über die Inseln. Das weiß ich. Aber Wissen nützt mir nichts. Ich fühle mich ausgesetzt, verlassen in den Konvulsionen der Atmosphäre, verringert auf ein Sandkorn.

Ich schalte die Nachttischlampe ein. Wird das Fenster halten? Die Wände? Der Hagel wird weniger. Einzelne Körner kratzen noch über die Läden. Schwere Tropfen fallen auf die Fensterbank. Dann Stille. Sie ist atemlos, betäubend. Wie sagt man? Die Stille vor dem Sturm? Ich hielt es immer für eine Redensart. Plötzlich macht sie mir Angst. Die Lampe flackert. Erlischt. Künstliches Licht hatte einen Raum erschaffen, in dem ich mich orientieren konnte. Er umgab mich mit vertrauten Dingen, mit einem Gefühl der Sicherheit. Aber die Technik versagt gegenüber der Natur. Ich ergebe mich. Was könnte ich auch tun?

Plötzlich klappern Läden und Fensterflügel. Was für ein merk­würdiges, regelmäßiges Geräusch. Hat der Wind sei­ne Richtung geändert? Wie und woher muss er wehen, um ­dieses Rappeln zu erzeugen? Der Wind verrät sich an den ­Ecken, Kanten, Fenstern. Aber ich höre nichts. Es ist windstill. Stock­­­finster. Kein Geräusch. Nur dieses Rattern. Morsezeichen. Eine befremdliche Botschaft. Ich kann sie nicht entschlüsseln. Warum bloß bin ich im Februar auf die Insel Faial geflogen? Dem winterlichsten Monat des Atlantiks? Die freche Herausforderung der Orkane.

Plötzlich Stille. Fensterflügel und Läden schweigen. Totale Stille. Atme ich noch? Das Gefühl zu schweben. Nein, ich schwebe wirklich. Mein Bett hebt sich, und immer noch kein Laut. Es bockt, schaukelt, bewegt sich fort. Es schüttelt mich. Ich habe über Erdbeben gelesen, aber noch nie eines erlebt. Ich glaubte noch an einen unruhigen Traum. Vielleicht lag das Epizentrum in mir selbst. Angstherde, deren Energien mich wachschüttelten. Nein, kein Traum. Das Bett schwankt, bockt, schlittert in der Finsternis. Etwas kippt, stürzt krachend herunter. Die Bücher rutschen vom Nachttisch, fallen, blättern sich auf. Ich taste nach der Lampe. Sie ist nicht da. Ich bin blind. Nur noch das schwankende Lager. In Panik versuche ich festen Grund zu erreichen. Ich springe aus dem Bett. Die Dielen stehen schräg, geben nach. Der Boden wird mir unter den Füßen entzogen. Ich stürze durch das Universum.

Und plötzlich Ruhe. Die Füße stehen fest. Ich bekomme wieder ein Gefühl für den Raum, spüre die vertrauten Gegenstände – Tisch, Stuhl, Bett.

Licht.

Das durchwühlte Bett. Die blaue, verschobene, halb auf den Boden gestoßene Wolldecke. Ich betrachte eine verworfene Landschaft, während ich wieder zu atmen beginne. Wol­lene Decken bauen sich auf, stoßen an weiße verzerrte Tücher, wölben sich. Textile Krustentektonik. Das Signal einer Alarm­anlage schrillt hinter den Häusern. Die Menschheit meldet sich zurück. Moby Dick und die Briefe von Plinius dem jüngeren liegen aufgeblättert zu meinen Füßen. Crise sísmica, denke ich mit zynischer Genugtuung, jetzt, da alles vorbei ist. Die Erdbebenkrise, die im vergangenen Jahr begann, war der Grund, weshalb ich Lissabon verlassen und die Reise nach Faial unter­nommen habe. Erdbeben. Ich woll­te wissen, wie es ist.

Der Kaffee belebt mich. Wolken gleiten heran, dämpfen das Licht. Es ist acht Uhr dreißig. Ich bin der einzige Gast im Speisesaal. Die Kellnerin blickt melancholisch vor sich hin. Deprimierend, in einem fast gästelosen Hotel zu arbeiten.

Ich entdecke den Hund auf dem Dach des Hauses, das ich von meinem Tisch aus sehen kann. Ein kleines, neu eingedecktes Haus. Die Tonpfannen heben sich rotbraun gegen das bleifarbene Wasser ab. Das Tier blickt gespannt über den Kanal zur Insel Pico hinüber. Was sieht es? Pico liegt nur wenige Meilen oder dreißig manchmal stürmische Minuten Fahrt mit dem Cruzeiro do Canal von Faial entfernt. Der Vulkan, ein atlantischer Fujiyama, beherrscht mit über zwei­tausenddreihundert Metern Höhe die mittleren Inseln des Archipels. Es ist der höchste Berg Portugals, der, von Faial aus gesehen, einen sich unendlich wandelnden Anblick bietet. Und es ist ein gefährlicher Berg. Magmakammern befinden sich unter Pico und Faial. Der Hund wendet den Kopf, blickt nach unten, als könnte er bis in den Keller des Hauses sehen. Der hinkende Teufel bei Lesage konnte das auch. Er sah den Bürgern unters Dach. Hier, in Faial, können das alle. Sogar die Hunde. Meine Freunde können ein Lied davon singen.

Der Wind treibt die Wolken über den Kanal. Sie plustern sich zwischen den Inseln. Sonnenlicht fällt von Südosten auf den Abhang des Pico, lässt die dunstigen Weiden in morgendlichem Grüngold erglühen. Die kleinen Nebenkegel, die ihm wie Warzen aufsitzen, treten plas­tisch hervor. Das sieht man selten und nur bei dieser Beleuchtung. Strahlen, die zwischen den Wolken hindurchfallen, legen flirrende Strei­­fen auf dem Wasser aus.

Wolken faszinieren mich. Wie sie sich verformen und im­mer neu gegeneinander fügen. Über den Kanal getuschte Erinnerungen an den nächtlichen Sturm und Vorboten aller zukünftigen Stürme. Ihre Ränder erglühen. Der Vul­kan leuch­tet wie ein gigantisches Dreieck hinter ihnen auf. Dunst zeichnet seine Konturen weich, gibt ihm eine sakrale Aura. Das Symbol der Dreifaltigkeit! Ich glaube nicht an Söhne und vergebende Väter, weil ich nicht an Schuld und stellvertretendes Sterben glaube. Bin kein Christ, habe keine Dogmen. Das Symbol ist eine menschliche Erfindung. Aber das überraschende Bild ergreift mich nach dieser Nacht. Die Schöpfung leuchtet, behauptet sich majestätisch gegen die Finsternis, gerade hier, über den Azoren, wo sich neue Erde bildet. Dann verschieben sich die Wolken. Der Gipfel taucht auf. Schnee liegt auf der Asche. Goldenes Flackern.

Dann schwere Wolken, die den Berg verhüllen. Für mich gibt es nur das Strömen des Seins. Ich kenne seine Richtung nicht. Bin dem Willen unterworfen, der sich darin offenbart. Er hat viele Gesichter, die aufleuchten und wieder vergehen. Das macht ihn erahnbar. Mehr nicht. Ich suche nach den Urkräften! Da bildet sich eine verzerrte Maske. Das Maul klafft, gebündelte Strahlen schießen heraus. Das rechte Auge glüht auf, glotzt auf die Inseln. Ein anderer Gott, der mich betrachtet. Er ist nicht geometrisch, ist wechselhaft, bedrohlich. Niemand vermag ihm feste Form zu geben. Vulcanus, der die Gluten der Tiefe schürt. Die Maske hat den Glanz erkalteter Schlacken. Das Maul fletscht Zähne aus Feuer und Licht.

Eine Korvette der portugiesischen Marine fährt von Osten her in den Kanal ein. Die António Enes. Sie gleitet ­langsam an den Ilhéus von Madalena vorbei. Der weiße Cruzeiro das Ilhas legt von der Mole ab. Er wird am späten Nachmittag im Hafen von Angra do Heroismo auf der Insel Terceira einlaufen. Möwen fliegen auf, segeln über den Kran hinweg, dessen Schatten auf einen havarierten ­Fischkutter fällt. Die Möwen schwingen sich zu den im Wind auseinandertreibenden Wolken hinauf. Vulcanus ist ­dahin …

Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich sah, was ich vor einigen Sekunden gesehen habe. Meine Sinne sind überreizt – die Reise, die letzte Nacht. Die Wolken sehen wie immer aus. Als ob nichts gewesen wäre. Sie ziehen nach Nordwes­ten, verhängen den Archipel. Plötzlich bricht ein Strahl her­vor, nur einer, gleißt über das Wasser. Er blendet mich, versengt mich, zersprengt meine Gedanken. Ich verberge das Gesicht in den Händen.