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www.berlinverlag.de
ISBN 978-3-8270-7974-9
Deutschsprachige Ausgabe:
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München; Abt Muho
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust GmbH, Aalen
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Inhalt
Liebe braucht Gelassenheit
Allein auf weiter Flur
Liebe, die einem in den Schoß fällt
Auf der Suche nach der verlorenen Hälfte
Die Zeit mit Thuya
Teamgeist im Kloster
So wie der Weg eines Vogels am Himmel
Der Buddhismus, die Liebe und der Alltag
Durch den Schnee und durch die Jahre:
Mein Leben als verheirateter Abt
Die Zeit wartet auf niemanden
Liebe braucht Gelassenheit
Wohl ist ein See in mir,
ein einsiedlerischer,
selbstgenügsamer;
aber mein Strom der Liebe reißt ihn mit sich
hinab – zum Meere!
Ich habe zwei Namen. In meiner Geburtsurkunde steht der Name Jens Olaf Christian Nölke. Auf ihn wurde ich getauft. Noch heute steht er in meinem Pass. Ausgesucht habe ich ihn mir nicht. Anders verhält es sich mit meinem Mönchsnamen. Mein Meister erlaubte mir, den Namen frei zu wählen, als ich in Japan zum Zenmönch ordinierte. Fünfundzwanzig Jahre ist das nun her. Die zwei Schriftzeichen, mit denen man den Namen schreibt, bedeuten »keine Richtung« – was nicht Ziellosigkeit heißen soll, sondern ein Offensein für die Welt. Ich wollte mich nicht von vorgefassten Meinungen leiten lassen und keinen Einbahnstraßen folgen. Ich wollte meinen Weg ohne Scheuklappen gehen.
Die zwei Namen verraten es schon – mein Leben spielt sich in zwei Welten ab. Ich wurde 1968 in Berlin geboren und bin bis zu meinem sechsten Lebensjahr in einem Pfarrhaus in Braunschweig aufgewachsen. Mit vierzehn wurde ich in Tübingen konfirmiert und kehrte mit sechzehn wieder nach Braunschweig zurück, um ein christlich geführtes Internat zu besuchen. Ausgerechnet dort kam ich zum ersten Mal mit Zazen in Berührung, der »Meditation im Stil des Zen-Buddhismus«, wie man damals sagte. Dieser Moment sollte mein Leben verändern. Nicht nur las ich fortan alles, was ich zum Thema Buddhismus in die Finger bekam; nach einiger Zeit beschloss ich auch, nach dem Abitur Japanologie und Philosophie zu studieren. Ich wollte mich so auf einen längeren Aufenthalt in einem Zenkloster vorbereiten. Dass ich als Fünfzigjähriger einmal Abt eines japanischen Klosters sein würde, hätte ich mir gleichwohl nicht träumen lassen. Das lag schlicht jenseits meiner Vorstellungskraft.
Inzwischen lebe ich seit mehr als zwei Jahrzehnten in Antaiji, einem tief in den japanischen Bergen gelegenen Kloster. Sowohl in Deutschland als auch in Japan werde ich gerne vorgestellt als der deutsche Zenmeister, der mehr als die Hälfte seines Lebens in Japan verbracht hat; der christlich erzogen wurde, aber zum Buddhismus konvertiert ist; der fließend Japanisch spricht, dessen deutschen Akzent aber jeder bemerkt.
Trotzdem kommt es so gut wie nie vor, dass man mich wie Goethes Faust seufzen hört über die zwei Seelen in meiner Brust. Es gibt schließlich trotz allem nur einen Muho: nämlich den mit deutscher Staatsbürgerschaft und christlichen Wurzeln, der als Abt einem japanischen Zenkloster vorsteht. Das bin ich. Und gerade weil mir beide Welten und beide Religionen vertraut sind, vermag ich vielleicht das Christentum wie den Buddhismus etwas anders wahrzunehmen und auch darzustellen als jemand, der nur eine Seite kennengelernt hat. Wenn daher in diesem Buch nicht nur aus buddhistischen Schriften, sondern auch aus der Bibel zitiert wird, verweist das auf meinen ganz persönlichen Lebensweg – zu dem im Übrigen auch die Beschäftigung mit Philosophen wie Friedrich Nietzsche oder Sören Kierkegaard gehört. Auch auf ihre Schriften werde ich das eine oder andere Mal zurückkommen.
In Japan bittet man mich häufig, den Buddhismus, den ich mir als meine eigene Religion gewählt habe, mit dem Christentum, das mir in die Wiege gelegt wurde, zu vergleichen. Beispielsweise werde ich gefragt, was der Buddhismus vom Christentum lernen könne. Dann antworte ich: Gelebte Liebe!
Buddhistische Mönche sind Weltmeister, wenn es darum geht, Gleichmut zu bewahren. In diesem Punkt macht ihnen so schnell keiner etwas vor. Wann hat zuletzt den Buddha etwas auf die Palme gebracht? Niemand kann sich daran erinnern. Und doch stünde ein bisschen mehr Engagement vielen Buddhisten ganz gut zu Gesicht. Gleichmut muss lebendig sein. Wird er zur Gleichgültigkeit, verliert er alles, was ihn ausmacht. Buddhisten sollte es immer darum gehen, die Welt und jedes einzelne Wesen in ihr wertzuschätzen. Die Welt loszulassen und sie gleichzeitig so anzunehmen, wie sie ist, das gehört zusammen. Daher darf ein Buddhist der Welt nicht den Rücken zukehren und gleichgültig werden. Vielmehr muss er sich öffnen und da sein für die Welt, als Liebender. Gelassenheit ohne gelebte Liebe läuft Gefahr, Lethargie zu werden.
Gibt es umgekehrt etwas, das das Christentum vom Buddhismus lernen kann? Meine Antwort lautet: Gelassenheit. Das Christentum ist die Religion der Liebe. Oder zumindest, so sollte man vielleicht besser sagen, eine Religion, in der viel von Liebe die Rede ist. Von der Liebe zu Gott, von der Liebe zum Nächsten. Doch wenn man über eine Sache zu viele Worte verlieren muss, bedeutet das meist, dass man mitunter ein gar nicht so kleines Problem mit ihr hat. So ist es auch mit der Liebe. Über die Liebe zu reden und tatsächlich zu lieben sind zwei verschiedene Dinge. Die Geschichte hat es gezeigt, und in der Gegenwart verhält es sich nicht anders: Christlicher Liebe fehlt es häufig an Gelassenheit. Dann ist sie eine Liebe, die bekehren und herrschen will; die aufdringlich wirkt, selbstgerecht und intolerant.
Es ist nicht einfach, Japanern den Ausschließlichkeitsanspruch des Monotheismus verständlich zu machen. Juden, Christen und Muslime berufen sich auf denselben Gott. Auf Gott, den Vater, der seine Schöpfung liebt und dem Menschen den Auftrag gegeben hat, an seiner statt Liebe walten zu lassen. Wie kommt es aber dann, werde ich gefragt, dass der Krieg zwischen den Gläubigen dieses Gottes kein Ende nimmt? Meistens behelfe ich mich in solchen Situationen mit einem Vergleich und sage, dass dieser Krieg dem Streit zwischen kleinen Kindern ähnele. Mit den Geschwistern ringen sie, wen die Eltern am liebsten haben, und mit den Nachbarskindern debattieren sie darüber, wessen Eltern die größten, klügsten, gerechtesten sind. »Ja, okay«, sagen die Japaner dann, »das ging uns als Kindern nicht anders. Aber wir reden doch jetzt von erwachsenen Menschen!«
Jeder versteht es, kaum einer vermag es zu beherzigen: Liebe ist für den anderen da. Sie darf nicht, wie es leider allzu oft im Alltag der Fall ist, vergiftet sein von Eifersucht und Obsession. Liebe braucht Gelassenheit. Um gelassen zu sein, muss ich mich selbst wie auch den anderen annehmen können, ihn sein lassen. Nur wer sich und den anderen in seinem Sein annehmen kann, erfährt Gelassenheit. So einfach ist es – und so schwer. Wie können wir alle lernen, einen Weg zu finden, der Liebe mit Gelassenheit vereint? Nicht zuletzt um diese Frage soll es in diesem Buch gehen.
Für eine mögliche Antwort werde ich auch ausführlich auf einen Text des japanischen Zenmeisters Dōgen eingehen, in dem sich ganz handfeste Hinweise zur Praxis der Liebe finden lassen. Dōgen lebte im zwölften Jahrhundert und begründete die Soto-Schule, in der ich zum Mönch ordiniert wurde. Daher fühle ich mich seinem Werk in besonderem Maße verbunden. Der Text behandelt vier Arten praktizierter Liebe: das Geben; die Worte der Liebe; die selbstlose Hilfe und die Harmonie. Indem ich ihn anhand vieler Beispiele aus dem Alltag auslege, möchte ich versuchen, seine Aktualität deutlich zu machen und seine Relevanz auch für westliche Leser aufzuzeigen. Wir müssen versuchen, das Wunder, auf dieser Welt zu sein, mit anderen zu teilen. Denn zu lieben bedeutet, für andere da zu sein.
Wie wohl jeder kann auch ich mich noch sehr gut an den ersten Kuss erinnern. Die Welt war dieselbe wie zuvor und doch völlig verwandelt: bunter, strahlender, freundlicher. Das Leben zwinkerte mir zu, und alle Zweifel und Bedenken schienen auf einmal weit weg. Alles hatte sich verändert, denn ich war glücklich verliebt. Dieses kostbare Gefühl hütete ich wie ein Geheimnis. Unmöglich, jemandem davon zu erzählen. Ein anderer hätte die so fundamentale Veränderung, die alles erfasst hatte, ohnehin nicht verstanden.
Handelte es sich bei dieser Verliebtheit bereits um Liebe? Damals wäre ich mir absolut sicher gewesen: Ja, natürlich war das Liebe, große, unbedingte, rosarote Liebe. Heute allerdings sehe ich das anders. Ob man liebt, weiß nur die andere, die geliebte Person. Denn Liebe beschränkt sich nicht auf das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch. Liebe will nicht nur gefühlt, sondern auch gelebt werden. Ihren wahren Ausdruck findet sie im Alltag. Sie zeigt sich in Blicken, in Worten, in kleinen oder großen Geschenken. Vor allem aber weiß wahre Liebe, wann sie sich zurückhalten muss. Sie entspringt einer Gewissheit, die der verliebte Teenager noch nicht haben kann, die aber auch uns sogenannten Erwachsenen oft fehlt: der Gewissheit, in der Welt zu Hause zu sein.
Immer wieder werde ich in diesem Buch auf den Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe zurückkommen. Es ist der Unterschied zwischen einem wunderbaren Gefühl und einer lebenslangen Praxis, die man wahrscheinlich nie ganz meistern wird. Ohne gefühlte Liebe fehlt einem die Kraft, Liebe zu leben. Umgekehrt wird selbst die größte Liebe verebben, wenn sie nur im Herzen gefühlt und nicht im Alltag gelebt wird.
Wer hat es verdient, ein Liebender genannt zu werden? Nur der, der von sich aus einen anderen liebt? Oder nicht doch auch der, der auf die Liebe eines anderen hofft? Der eine will lieben, der andere geliebt werden. Beide sind sie aufeinander angewiesen – der aktiv Liebende auf den Empfänger seiner Liebe genauso wie der Geliebte auf jemanden, dem er alles bedeutet. Einen Unterschied gibt es jedoch: Wer lieben will, muss die Liebe erst einmal selbst erfahren haben. Wer nie geliebt wurde, kann auch nicht lieben.
Dieses Buch soll nicht nur graue Theorie enthalten. Ich will auch von meinen eigenen, manchmal bitteren Erfahrungen mit der Liebe erzählen. Ein Kapitel wird deshalb von meiner Kindheit, die von Einsamkeit geprägt war, und von meinen Erinnerungen an die erste große (und bisweilen auch gar nicht so große) Liebe handeln. In jenen Jahren waren es oft Songtexte, in denen ich mich wiederfand, weil sie genau das auf den Punkt brachten, was ich fühlte und wofür ich selbst noch keine Worte hatte. Sie waren meine Bibel und meine Wissenschaft, und ich hätte sie jederzeit den Sätzen weiser Religionsstifter und Philosophen vorgezogen. Wenn ich sie jetzt noch einmal zitiere, geschieht das nicht aus Nostalgie; meine Hoffnung ist vielmehr, dass sich auch für Leser, die nicht wie ich während der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts aufgewachsen sind, etwas von ihrer Kraft und lakonischen Klugheit mitteilt.
Im letzten Kapitel schließlich werde ich auf mein Leben als verheirateter Abt in einem japanischen Zenkloster zu sprechen kommen. Sowohl in der Ehe als auch in der Beziehung zwischen Meister und Schüler geht es dabei nur selten so harmonisch zu, wie es das Lehrbuch der Liebe erwarten lässt. Immer wieder kommt es zu Zerreißproben. Möglicherweise werde ich, indem ich davon erzähle, die Erwartung so manchen Lesers enttäuschen. Ich kenne schließlich die Klischees: Ein Zenmeister ist einer, dem Liebe und Güte aus allen Poren dringen. Leider kann die Wirklichkeit nicht ganz mit dem Idealbild mithalten, zumindest nicht in meinem Fall. Aber vielleicht ist das ja auch ganz gut so. Als jemand zu gelten, der sich keine Gedanken mehr darüber zu machen braucht, wie die Liebe in seinem eigenen Leben und in dem seiner Nächsten wachsen kann, ist keine besonders verlockende Vorstellung.
Allein auf weiter Flur
Sometimes I feel like a motherless child
Long way from my home
Was ist Ihnen wichtig im Leben? Streben Sie nach Erfolg und Anerkennung im Beruf, oder ist Ihnen Zeit für sich selbst und Ihre Angehörigen wichtiger? Möchten Sie am liebsten jeden Tag eine neue Herausforderung meistern, oder sehnen Sie sich nach Ruhe? Geht es Ihnen um Freiheit und Ungebundenheit, oder legen Sie Wert auf Harmonie und Gemeinschaft? Bedeuten Ihnen Gesundheit und Zufriedenheit mehr als Geld und Karriere? Oder warten Sie nur darauf, das in Ihnen schlummernde Potenzial endlich zu entdecken und seiner Bestimmung zuzuführen?
Laut einer Umfrage, über die die Japan Times im Dezember 2017 berichtete, wünschen sich sechzig Prozent der ungebundenen japanischen Männer eine Freundin. Doch nur jeder Fünfte von ihnen möchte heiraten und eine Familie gründen. Bei den Frauen zeigte sich ein anderes Bild. Hier bekundeten fast zwei Drittel ihr Desinteresse an einer romantischen Beziehung. »Warum soll ich meine Zeit mit dem Besuch einer Single-Börse verschwenden, wenn ich doch Boys × Girls Next Door auf »Cool TV« schauen kann?«, gab eine der Befragten zu Protokoll. Nicht die Einzige, die Liebeleien eher in einem Reality-Format als in der Realität erleben wollte. Überraschenderweise aber war der Hochzeitswunsch in der Damenwelt umso ausgeprägter. Vier von fünf Frauen bekräftigten den Wunsch, in naher oder zumindest näherer Zukunft heiraten und eine Familie haben zu wollen.
Ein interessanter Widerspruch. Für die japanischen Frauen scheinen die Männer nicht mehr als ein Mittel zum Zweck der Familiengründung zu sein, während es den Männern offenbar bloß um das immer neue Erleben unverbindlicher Romantik geht. Zumindest Letzteren kann geholfen werden. Für umgerechnet fünfzig Euro pro Stunde kann ein sich nach Zweisamkeit verzehrender Romantiker bei einem Service namens »Rent-a-Girlfriend« eine Herzensdame auf Zeit bestellen – auf rein platonischer Basis wohlgemerkt. Das kurze Beziehungsglück erstreckt sich allein auf gemeinsame Besuche im Kino oder im Restaurant. Ausflüge an den Strand oder ins örtliche Schwimmbad sind dagegen strikt untersagt, weil sie mit dem Zeigen von zu viel nackter Haut verbunden wären.
Wie sieht es in Deutschland aus? Nach einer Allensbach-Umfrage steht für die meisten Deutschen in ihrem Leben die Liebe an erster Stelle, und zwar die Liebe innerhalb der Familie. Das mag überraschen, schließlich galt bis vor Kurzem die Familie als eine Art schwarzes Loch, in dem alle Energie, alles Geld und alle Freiheit auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Familie, das war für viele nur eine Handvoll Menschen auf engstem Raum, die außer Zufall und Gene nicht viel verband. Noch niedrigere Werte auf der Beliebtheitsskala erzielte nur noch die Kombination von Familie und Arbeit. Sie erschien als Todfeind jeder Selbstverwirklichung.
Daher liegt es nahe, den Zuspruch, den Liebe und Familie gegenwärtig erfahren, weniger als Ausdruck einer realen Entwicklung, sondern eher als Abbild einer Sehnsucht zu interpretieren. Denn tatsächlich nimmt die Zahl der Familien in Deutschland eher ab statt zu – was nur bedeuten kann, dass immer weniger Menschen, obwohl sie es sich anders wünschen, in ihrem Leben die Liebe fühlen, die für sie mit dem Wort »Familie« verbunden ist.
Was haben James Bond, Luke Skywalker und Harry Potter gemeinsam? Richtig, es sind moderne Helden, die jeder aus dem Kino oder aus Büchern kennt. Aber noch etwas verbindet sie: Sie haben alle drei früh ihre Eltern verloren. Keine Mutter hat dem Spion im Dienst ihrer Majestät je Plätzchen zu Weihnachten geschickt. Ein ähnliches Schicksal traf Superman, Batman und Spider-Man. Und Hänsel und Gretel schlugen sich alleine durch den dunklen Wald, weil die Eltern sich in ihrer Not nicht anders zu helfen wussten, als ihre Kinder auszusetzen.
Kinder ohne Eltern. Kinder, verlassen und allein auf weiter Flur. Mir scheint, dass selbst Jesus in dieses Schema passt. Man kann davon ausgehen, dass seine Kindheit geprägt war von der Frage: Wer ist mein wirklicher Vater? Sein Verhältnis zur Mutter gibt ebenfalls Rätsel auf. Während der Hochzeit zu Kana, bei der Jesus Wasser in Wein verwandelt, will er von Maria wissen: »Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?« Ich denke, das zeigt Jesus’ Suche nach einem Daseinsgrund. Er stellt die Fragen, die uns allen wohl schon mal den Schlaf geraubt haben: Wer bin ich? Und warum bin ich hier? Die er für seine Eltern hielt, Maria und Josef, vermochten ihm darauf keine Antwort zu geben.
Später ruft Jesus am Kreuz: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Den Theologen haben diese Worte viele Schwierigkeiten bereitet. Warum soll sich Jesus am Kreuz von Gott, seinem Vater, verlassen fühlen? Geschah es nicht aus freien Stücken, dass er das Kreuz auf sich nahm? Hat er sich nicht dem Willen des Vaters vollkommen überlassen? Und überhaupt: War Jesus nicht selbst Gott? Zahlreich und voller hermeneutischer Finesse sind die Antworten, die die Kirche über die Jahrhunderte auf diese Fragen gefunden hat. Unbezweifelbar blieb dabei nur eines: Mit Jesus am Kreuz spricht ein Mensch, der sich von der Welt verlassen fühlt, der ganz allein ist in seinem Leid.
Warum üben gerade die elternlosen oder verlassenen Kinder und jungen Erwachsenen eine so große Faszination auf uns aus, wenn wir ihnen in Filmen oder in der Literatur begegnen? Weil wir uns alle mit ihnen identifizieren können. Auch wenn wir unsere Eltern noch haben, ändert das nichts daran, dass wir uns in so mancher Stunde vom Leben selbst stiefmütterlich behandelt fühlen. Jeder von uns wird allein in diese Welt geboren, und jeder von uns ist allein, wenn er stirbt. Man kann sogar sagen, dass jeder mit seiner eigenen Welt geboren wird, und wenn er stirbt, stirbt diese Welt mit ihm.
Auch während der siebzig, achtzig Jahre, die jemand in seiner Welt lebt, ist er allein. Es gibt nur einen Menschen, durch dessen Augen er die Welt sieht, nur einen, mit dessen Ohren er hört, und auch nur einen, dessen Gedanken und Gefühle er wirklich versteht; das ist er selbst. Zu dem, was Außenwelt heißt und was er mit seinen Mitmenschen teilt, scheint er nur indirekten Zugang zu haben, und die Innenwelt der anderen bleibt ihm sogar oft ganz verschlossen. Oder gilt das etwa nur für mich?
Keiner will sein Leben lang allein sein in der Welt. Wir sehnen uns nach Nähe, Wärme, Zärtlichkeit, Mitgefühl. Wir wünschen uns, andere Menschen verstehen zu können und von ihnen verstanden zu werden. Wir wollen lieben und geliebt werden, nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt. An was für eine Liebe denken wir dabei? An unbedingte, vorbehaltlose Liebe, die uns Teil eines größeren Ganzen werden lässt; an Liebe, die uns so akzeptiert, wie wir sind, und uns gleichzeitig Raum lässt zu wachsen. Liebe, die an unsere Möglichkeiten glaubt und sie fördert.
Was ist das Gegenteil von Liebe? Die Antwort ist so naheliegend, dass sie banal erscheint: der Hass.
Wird Liebe allzu fordernd und berauscht sie sich an ihrer Macht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich in Hass verwandelt, und zwar sowohl bei dem, der liebt, als auch bei dem, der Ziel dieser Liebe ist. Wie groß ist der Abstand zwischen Liebe und Hass? Oft erleben wir es, dass von einem auf den anderen Moment die Gefühle umschlagen können. Es könnte also sein, dass der Hass bloß die Nachtseite der Liebe und deshalb untrennbar mit ihr verbunden ist. Tatsächlich bin ich daher der Überzeugung, dass das eigentliche Gegenteil der Liebe nicht der Hass ist, sondern die Herzenskälte.
Denn der Mensch, den man hasst, ist einem genauso wie der Mensch, den man liebt, nicht gleichgültig. Nie wird man jemanden so leidenschaftlich hassen wie den, den man einst geliebt hat. Was wir lieben, ist uns wichtig. Was wir hassen, ebenfalls – nur mit umgekehrten, mit negativen Vorzeichen. Lieben bedeutet zuallererst Wichtignehmen. Und der Wunsch, geliebt zu werden, bedeutet, dass man wichtig genommen werden will. Ich darf den anderen nicht nur deshalb wertschätzen, weil er mein Leben bereichert, sondern ich muss ihn als das Wesen, das er ist, annehmen und gleichzeitig loslassen. Auch ich will ja nicht nur deshalb wertgeschätzt werden, weil ich für jemanden etwas verkörpere, was ihm wichtig ist. Ich will als das Wesen, das ich bin, wichtig genommen werden – weil ich wie jeder andere zu dieser Welt gehöre.
Nirgendwo fehlt die Liebe so sehr wie bei einem Menschen, dem die Welt gleichgültig ist; der sich verloren fühlt und deshalb mit allem abgeschlossen hat; dem niemand wichtig ist und der glaubt, für niemanden wichtig zu sein. Dagegen wird ein Mensch, der die Welt liebt, jedes einzelne Ding in ihr wichtig nehmen, und zwar genau so, wie es ist. Aber das gelingt ihm nur, wenn er sich selbst, an seinem Ort und als der Mensch, der er ist, wichtig nimmt. Nicht zu wichtig, wohlgemerkt! Liebe, die sich über andere erhebt, ist keine. Wer kein Gewicht im eigenen Leben spürt, das ihn auf die Welt verweist, wird auch andere nicht lieben können. Vergeblich wird er auf die Liebe der anderen warten, nach der er sich sehnt.
Liebe. Wir benennen mit diesem Wort so vieles. Ein Gefühl, das uns die Brust zum Glühen bringt. Eine Verbindung, die man zu seinen Kindern spürt. Die Nähe zum Partner oder zu engen Freunden. Die Verehrung der Natur. Die Hingabe an Ideale, Werte, vielleicht an Gott. Der eine liebt Fast Food, der andere das Vaterland. Liebe kann Seelenverwandtschaft meinen, »Liebe machen« bedeutet Sex. So viele Formen der Liebe. Worin unterscheiden sie sich, und was ist ihnen allen gemein?
Im Folgenden möchte ich die verschiedenen Bedeutungen, die wir der Liebe geben, einander gegenüberstellen und in ihrer jeweiligen Besonderheit würdigen. Orientieren möchte ich mich dabei an den vier Begriffen, mit denen in der griechischen Antike versucht wurde, Ordnung ins Liebesdurcheinander zu bringen: Storge, Eros, Philia und Agape.