IMPRESSUM:
1. Auflage
© Christoph Strasser, christophstrasser.at
Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Rechteinhabers.
ISBN: 978-3-903183-08-7
ISBN E-Book: 978-3-903183-61-2
Redaktionelle Mitarbeit: Sabine Prager, Egon Theiner
Lektorat: Mag. Pamela Obermaier, textsicher.at
Grafische Gestaltung, Layout und Satz: Das Buero ohne Namen, dasbueroohnenamen.com
Infografiken und Statistiken: Michael Fetz, fetzdesign.com · Michael Pletz, vonnebenan.at
Coverbild: Alexander Karelly
Rückseite: Manuel Hausdorfer, lime-art.at
Bilder im Inhalt:
Alexander Karelly: alle Bilder, wenn nicht anders angegeben · Manuel Hausdorfer, lime-art.at: Seite 8, 17, 19, 24-27, 59, 62, 66-67, 108, 115, 122-126, 128, 144, 167-177, 184, 186, 243-244, 247-249, 257-269, 272, 283, 305, 317, 324-326 · Harald Tauderer, haraldtauderer.com: Seite 53, 57, 73-77, 96, 217, 239 · Jürgen Gruber, groox.com: Seite 52, 101 · Lorenz Masser, lorenzmasser.com: Seite 117, 118 · Vic Armijo, RAAM Media: Seiten 152-155, 273 · Marion Luttenberger: Seite 143 · Race Around Austria: Seite 127, 131 · Race Around Slovneia: Seite 46 · privates Fotoarchiv Christoph Strasser: Seite 31-45, 148, 194-207, 224-235, 284, 290
Printed in the EU
Gesamtherstellung:
egoth Verlag GmbH
Untere Weißgerberstr. 63/12
1030 Wien · Österreich
egoth.at
Einleitung
IIch würde eine Legende werden wollen! · RAAM Vorbereitung
IINa ja, stellst dich halt hin · Meine Wege des Durchbruchs
IIIDu wirst einmal das RAAM gewinnen! · Das Race Around Slovenia
IVMeine Visitenkarte, sein Aufkleber · RAAM, Time Station 0–8
VEin Wahnsinn, all diese toten Schafe · Race Across Italy, Race Around Ireland
VIDid Not Finish · Ultra-sportliche Unwägbarkeiten
VIIWann gibt‘s wieder eine Schlafpause? · RAAM, Time Station 8–16
VIIIEinfach nur geil, hier zu gewinnen! · Das Race Around Austria
IXNichts zu gewinnen, alles zu verlieren · RAAM, Time Station 16–20
XWödmasta im Weitradlfoan · 24-Stunden-WM Borrego Springs
XIWeltrekord da, Weltrekord dort · Berlin 2015 und Grenchen 2017
XIIStinkendes, stürmendes, geliebtes Kansas · RAAM, Time Station 20–35
XIIIJetzt ist alles weg! · Kindheit und Jugend
XIVAuf ein faires Rennen! · RAAM, Time Station 35–44
XV…but it‘s more important to be nice · Systemkritiker, Sportfan, Veloblitzer
XVIDem zahl‘ ich kein Bier! · RAAM, Time Station 44–49
XVIIDown Under Seven · Quer durch Australien
XVIIIJetzt ist es nicht mehr weit · RAAM, Time Station 49–55
XIXSag mal, wie machst du das? · Standbein Ultra-Cycling
XXErfolg ist ein schlechter Lehrer · Demut und Respekt
XXIWhy Not Five? · RAAM 2018
Nachwort
Anhang
Bundespräsident
Alexander Van der Bellen
Lieber Christoph Strasser,
Sie hatten als Kind einen Traum.
Sie wollten unbedingt beim Race Across America (RAAM) mitmachen.
Sie haben alles gegeben, um diesen Traum zu verwirklichen:
Herzblut, Leidenschaft,
Zeit, Idealismus, Mut,
Willensstärke und Ausdauer.
Heute sind Sie der beste Extremradfahrer der Welt.
Fünffachsieger des Race Across America.
Großartig!
Lieber Christoph Strasser, ich freue mich über diese Biografie.
Sie gibt einen faszinierenden Einblick in Ihren Sport,
aber auch in Ihre Persönlichkeit,
in Höhen und Tiefen,
Erfolge und Rückschläge,
Stolz und Demut.
Ich bin überzeugt,
das Buch ist eine große Inspiration -
für Ihre Fans, aber auch für viele interessierte,
sportbegeisterte Menschen in aller Welt.
Alles Gute und weiterhin viel Erfolg!
„Jetzt hast du dich wieder erholt, jetzt hast du gut geschlafen. Komm, steig aufs Rad“, sagt mir ein Mann, der mir so vertraut und doch so fremd vorkommt.
Und weil ich nicht weiß, warum ich hier bin – wo ist eigentlich dieses „Hier“?! –, was ich tun soll, stiere ich ihn und die anderen Menschen um mich herum in dieser Nacht inmitten der Appalachen einfach nur todmüde an.
„Wir sind mitten in einem Radrennen, und du liegst in Führung. Wir sind auf Rekordkurs!“, sagt mir ein anderer.
Radrennen? Wollt ihr mich verschaukeln? Ich habe seit fünf, sechs Tagen keinen anderen Radfahrer gesehen. Was für ein scheiß Rennen ist denn das?!
Ganz klar. Irgendetwas stimmt nicht – mit mir, mit den anderen. Wenn ich nur wüsste, was genau von mir verlangt wird. Was ist jetzt richtig oder falsch? Ich erinnere mich vage, wie ich durch die USA, durch die Appalachen, fuhr, immer rauf und runter. Ich weiß, dass es wichtig ist, Druck auf die Pedale zu erzeugen, bergauf und bergab, um schnell voranzukommen. Aber warum? Was ist das Ziel? Es ist, als hätte sich mein Verstand verabschiedet, und mein Erinnerungsvermögen gleich mit ihm. Es ist, als wäre ich in einem bösen Traum gefangen, einem Traum, aus dem man so schnell wie möglich erwachen will.
Die Männer um mich herum sind freundlich, aber bestimmt. Sie schieben das Rad weg von mir, auf die Straße, stützen mich an beiden Seiten, während ich zum Sportgerät wanke. „Wenn du einmal angefangen hast zu treten, dann wird alles wieder leichter“, sagen sie, so, oder so ähnlich. Ich höre die Worte in meinen Ohren, aber ich verstehe den Zusammenhang nicht. Tief in mir drin, im Unterbewusstsein, weiß ich, dass ich mein ganzes Leben an dieser Sache arbeite, doch in diesen Momenten könnte ich nicht erklären, was diese „Sache“ ist. Sie ist mir unheimlich wichtig, ich will nichts kaputt machen, was ich mir über Jahre aufgebaut habe – auch, wenn ich anscheinend durch die Hölle muss. Körperlich bin ich angeschlagen, geistig schon am Ende. Ein Radrennen? Veralbern kann ich mich selbst!
Wie gerne würde ich jetzt einfach nicht auf das Rad steigen, nicht weiterfahren, sondern mich schmollend auf den Boden setzen und wie ein kleines Kind Erklärungen einfordern. Ich tue es nicht, weil mir die Gesichter bekannt vorkommen. Ich glaube zu wissen, nein, ich bin mir sicher, dass wir eine gemeinsame Vergangenheit haben. Und es ist anscheinend immer alles gut gegangen.
Also quäle ich mich auf das Rad und beginne zu treten. „Da vorne ist eine rote Ampel“, höre ich aus dem Lautsprecher des Autos, das hinter mir fährt, „da biegen wir rechts ab“. Die Worte rütteln mich auf, ich habe diese Stimme schon öfter gehört, sie gibt mir Sicherheit und treibt mich an. Ohne die Unterstützung dieser Gruppe wäre ich verloren, und ich erinnere mich vage, dass ich mit ihr durch dick und dünn gegangen bin, dass sie mir zur Seite steht, weil ich nicht aufhöre, für meine, für ihre gemeinsame Sache zu kämpfen. Sie werden schon wissen, worum es gerade geht. Ich vertraue ihnen und würde das auch dann noch tun, wenn mein Leben auf dem Spiel stünde. Sie werden mich nicht hängen lassen.
„Sabi, I love you“ steht auf einem Zettel, den einer der Männer gemalt hat, nachdem ich ihn darum gebeten hatte. Ich halte das Blatt Papier in eine Kamera und bin mir sicher, dass meine Lebenspartnerin Sabine ihn sehen und vor Rührung weinen wird. Niemand wird es mitbekommen, genauso, wie niemand sieht, dass ich auf meinem langen Weg durch Amerika gerade heule.
Ich kämpfe weiter, wofür auch immer. Wir wollen alle das Gleiche, ziehen am gleichen Strang. Ich könnte hinterfragen, welcher Strang das ist – denn ich selbst weiß es in diesen Stunden nicht. Ich mache, was man mir sagt, weil ich weiß, dass es das Richtige ist. Bergab stürze ich mich die Straßen runter, bergauf trete ich mir die Seele aus dem Leib. „Was ist das für ein Mist?“, denke ich immer und immer wieder. Die Müdigkeit legt sich wie ein Schleier vor meine Augen, der Schweiß lässt die nächsten Kurven verschwimmen. Ich weine und leide, aber aus irgendeinem Grund muss es wohl so sein. Es geht weiter, weiter, immer weiter. Aber bald ist es hoffentlich zu Ende. Das habe ich mir, das haben sich meine Wegbegleiter verdient.
Und schließlich lichtet sich auch der Nebel in meinem Kopf wieder und ich sehe es glasklar vor mir. Ich weiß, warum ich mir all das antue und die Schmerzen und das Chaos in meinem Kopf hinnehme: Weil das Radfahren mein Leben ist, und weil diese Momente ein Preis sind, den ich für meinen Traum gerne bezahle.
Dieses Buch handelt von mir, von einem Ultra-Radsportler, der schon einiges erreicht hat in seinem Leben. Und es handelt von all jenen, die mir zur Seite stehen, die meine Erfolge erst möglich gemacht und die schlimmsten Krisen mit mir gemeinsam durchgestanden haben. Freunde spornen an.
Und deshalb, noch vor dem ersten Kapitel: Dank an euch alle, die es euch gibt, und die ihr meine Geschichte mitgeschrieben habt.
Viel Spaß beim Lesen!
Christoph Strasser
Es war einer jener Sonnentage, die ich so liebe. Ich spazierte mit meiner Crew an den Strand von Oceanside, ein Getränk in der Hand, und Gänsehaut lief mir den Rücken hinunter. Es war wieder RAAM-Zeit – Zeit, um umzusetzen, wofür ich monatelange trainiert hatte.
In der Ultra-Radsportszene kennt und erkennt man mich wohl, doch auch in Südkalifornien, dort, wo das Race Across America seinen Anfang nimmt, wissen die wenigsten etwas mit mir anzufangen. Wir gingen in ein Radsportgeschäft. „Keine Ahnung, wer du bist“, sagte mir der Verkäufer, als meine Betreuer gegen meinen Willen andeuteten, dass ein besonderer Radfahrer vor ihm stand. Ich musste grinsen und wurde ein bisschen verlegen. „Ich nehme heuer am RAAM teil, das ist dieses lange Radrennen quer durch die ganzen USA. Eigentlich war ich schon öfters dabei und habe sogar schon Mal gewonnen“, untertrieb ich und hoffte, dass mich niemand in ein typisch amerikanisches „Yeah, good job!“-Gespräch verwickelte. So kurz vor dem Start wollte ich am liebsten meinen Frieden und die knappe Vorbereitungszeit mit meinem Team verbringen.
Nein, ich bin nicht berühmt und ich gehe Situationen außerhalb meines Berufslebens, in denen ich erkannt werden könnte, auch gerne aus dem Weg. Und ja, ich gebe zu, dass ich mich in Oceanside recht wohl fühle. Meine Heimat sind Kraubath und Graz, die Steiermark und Österreich. Doch auch Oceanside, Kalifornien und Annapolis, Maryland klingen vertraut. In meiner Welt bin ich kein Star, ich gehe nur meiner Leidenschaft nach, nämlich so richtig weit und möglichst schnell mit dem Rad zu fahren. Dass ich für viele Menschen zu einem Vorbild und einem „Star“ geworden bin, freut mich, aber meine Einstellung zu mir selbst verändert sich dadurch nicht.
Beim RAAM bin ich einer, der die österreichische Tradition fortsetzt und verstärkt. Franz Spilauer war 1988 der erste Sieger, der nicht aus den USA kam. Er inspirierte Wolfgang Fasching, der 1997, 2000 und 2002 gewann. Fasching war mein erstes großes Vorbild. Später kam auch Jure Robic dazu, der eine neue Ära des Ultra-Radsports einleitete. Seit Robics erstem RAAM-Erfolg 2004 kamen alle weiteren Sieger nur mehr aus Slowenien, der Schweiz, Deutschland oder aus Österreich.
Medial erfährt das Race Across America jene Aufmerksamkeit, die es verdient, wobei die Popularität aufgrund der hiesigen Leistungsträger in Mitteleuropa am höchsten ist. Während in Österreich so gut wie jeder Sportinteressierte dieses Rennen kennt, führt es in Amerika ein mediales Schattendasein. Einmal im Jahr, für zwei, vielleicht drei Wochen, rückt es in jenen Regionen und Ländern, aus denen die Teilnehmer kommen, in das Interesse der Öffentlichkeit. Doch auch das ist peripher – von Hauptsportarten wie Fußball, Tennis oder Formel 1 ist das RAAM Lichtjahre entfernt.
Einher geht somit, dass die Ultra-Radsportler, die am RAAM mit dabei sind, nicht jene Aufmerksamkeit erfahren, die sie verdienen.
Das RAAM ist kein bewegungstherapeutischer US-Urlaub, bei dem man Land und Leute kennenlernt und die schönsten Plätze Amerikas abfährt. Ganz im Gegenteil: Das RAAM erfolgreich zu bestreiten bedeutet, sich das gesamte Jahr damit zu beschäftigen. Ich denke und handle, ich schlafe und träume, ich trainiere und esse für das RAAM. Ich lebe das RAAM.
Dieses Rennen ist so viel mehr, als ein paar Worte aussagen können. Die Fakten sind klar: Das Race Across America ist rund viertausendneunhundert Kilometer lang, in denen bis zu fünfzigtausend Höhenmeter eingebettet sind, und es führt vom kalifornischen Oceanside am Pazifik nach Annapolis, Maryland, an den Atlantik. Es wird als das härteste Radrennen der Welt bezeichnet. Nonstop fahren die Teilnehmer quer durch den Kontinent, machen Schlafpausen oder Powernaps, wann sie es wollen oder wenn sie es müssen, und benötigen weniger als zwei Wochen. Wer nach zwölf Tagen nicht im Ziel ist, wird aus der Wertung genommen. Wer es nicht in weniger als zehn Tagen schafft, hat in der Regel keine Chance auf einen Spitzenplatz. Nur ein einziger schaffte die Strecke unter acht Tagen – das war ich in den Jahren 2013 und 2014. Beim RAAM gibt es kein Preisgeld, und das ist auch gut so, weil dadurch die Möglichkeit gehoben wird, ein faires und dopingfreies Rennen zu erleben. Ich wähle bewusst das Wort „Möglichkeit“, denn ganz sicher kann man sich ja nie sein – außer bei einem selbst.
Der Wettbewerb bringt mich jedes Mal an meine körperlichen und geistigen Grenzen. Ich nehme zwischen zwei und vier Kilogramm ab. Dieser Umstand kann auf eine einfache mathematische Rechnung zurückgeführt werden: Ein Kilogramm Körperfett entspricht rund achttausend Kalorien. Pro Tag ergibt sich bei der Nahrungsaufnahme ein Defizit von viertausend Kalorien. Ich verliere im Idealfall alle 24 Stunden ein halbes Kilogramm Gewicht. Wenn es aber nicht gut läuft, kann man sogar Gewicht durch Wassereinlagerungen zulegen – auch das habe ich schon erleben müssen. Trotz des Kaloriendefizits, das durch die Verbrennung der Fettreserven ausgeglichen wird, erhält mein Körper genügend Nahrung, um zu funktionieren. Die fünfzehntausend Kalorien, die ich täglich benötige, entsprächen dreißig Tellern Spaghetti. Konventionelle Nahrungsaufnahme ist somit ein physiologisches Ding der Unmöglichkeit (und würde zudem auch noch wertvolle Zeit kosten – die Uhr läuft nun mal immer mit). Meine Körperkraft wird deshalb durch Flüssignahrung am Leben erhalten, und während der Sportarzt die Aufzeichnungen führt, was ich wann zu mir genommen habe, darf ich höchstens den Geschmack des dickflüssigen Getränks wählen: Schokolade oder Vanille. Menge und Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme werden mir vorgegeben.
Mental herausfordernd ist das RAAM, weil es eine zermürbend monotone Angelegenheit ist. Es geht um nichts anderes, als die Kurbel des Rades stetig und kraftvoll nach unten zu drücken, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Nach 48 Stunden beginnt der Körper, den Schlafmangel zu spüren. Die Leistungsfähigkeit nimmt ab. Der Geist rebelliert, ich erlebe dann Phasen der Orientierungslosigkeit und Halluzinationen beginnen sich in den Windungen des Gehirns breitzumachen.
Einmal sagte ich in einem Interview, dass der Schlüssel zu einem Erfolg beim Race Across America in rauschfreien Funkgeräten läge, und dass ich höchsten Respekt vor den Siegern in den 1980er- und 1990er-Jahren habe, die diese Hilfsmittel noch nicht hatten.
Das Funkgerät ist meine Verbindung zur Außenwelt. Meine Außenwelt bei einem RAAM ist meine Crew, der ich bedingungslos vertraue und deren Weisungen ich diskussionslos Folge leiste. Von außen gesehen bin ich der Protagonist, um den sich alles dreht. Von innen betrachtet bin ich Teil eines Teams, wie der Rennfahrer in der Formel 1, der seine Mechaniker benötigt, die die Boxenstopps planen und durchführen, die Strategie entwickeln und die gesamte Rennsituation im Auge behalten, um wichtige Entscheidungen für den Fahrer zu treffen.
Das ganze Jahr lang lebe ich das RAAM, ich trainiere hart nach vorgegebenen Plänen und interessiere mich dabei nicht dafür, wer meine härtesten Gegner sein könnten. Ich will in Bestform sein, ich will mit der Gewissheit zum RAAM fahren, das Rennen schnell zu Ende bringen zu können. Was soll daran gut sein, Stunden oder Tage länger als notwendig im Sattel sitzen zu müssen? Was soll es bringen, Zeit an Time Stations zu vergeuden, um Fotos zu schießen und Autogramme zu geben? Ich lebe das RAAM und will dennoch so rasch wie möglich wieder aus dieser Blase raus.
Verschiedene Räder erleichtern mir die Aufgabe: Ich habe ein aerodynamisches Rad für die Passagen in Kansas, wenn es hunderte Kilometer eben dahingeht und mit einem Zeitfahrrad so richtig Tempo gebolzt werden kann. Ich habe die richtige Ausrüstung für die Pässe der Rocky Mountains oder der Berge der Appalachen, nämlich ein wesentlich leichteres Rennrad, auf das ich je nach Streckenabschnitt wechsle. Das Watt ist die Maßeinheit für den Energieumsatz pro Zeitspanne. Beim RAAM erreichte ich auf meiner Rekordfahrt 2014 während 183 Stunden einen Durchschnitt von 164 Watt, was 26,4 Kilometern pro Stunde entspricht.
In meinem Team sind in der Regel zwei Mechaniker mit dabei, ein Sportarzt, ein Physiotherapeut, drei Fahrer für zwei Autos und ein Wohnmobil, ein Fotograf, ein Koch, ein Kameramann und ein Medienbeauftragter. Doch jeder ist wesentlich mehr, als die engste Job-Beschreibung aussagen würde. Wir alle sind „Team Strasser“, haben das gleiche Ziel – nämlich schnellstmöglich von West nach Ost zu fahren –, mit individuellen und übergeordneten Aufgaben. Meine einzige Pflicht ist, in die Pedale zu treten. Um alles andere kümmert sich mein Team. Nicht nur darum, mich zu verpflegen und zu informieren, sondern beispielsweise auch darum, mir in der Nacht die Straße auszuleuchten oder den nächsten Rastplatz zu suchen. Das Team hält mich wach und bei Laune, stellt mir Quizfragen oder gibt mir Rechenaufgaben, brüllt ein „Wach auf!“ durch den Lautsprecher, gefolgt von einer aufheulenden Hupe des Autos, sollte ich kurz davor sein, in den Sekundenschlaf zu verfallen und das Treten einzustellen. Mein Team liest mir E-Mail- oder Facebook-Einträge von Freunden und Fans aus der Heimat vor, es reißt Witze, spielt die Musik, die ich gerade mag, oder fährt voraus, steht am Straßenrand und macht die „Welle“, wenn ich daherkomme.
Ohne meine Leute wäre ich ganz schön aufgeschmissen.
Doch viele von uns kennen die Herausforderung, ein funktionierendes Team zusammenzustellen – sei es in einem Sportverein oder in einem (anderen) beruflichen Umfeld. Der schöne Satz von Antoine de Saint-Exupéry, in dem es um Sehnsüchte und gemeinsame Ziele geht, ist wertvoll, inspiriert und geht dennoch nicht weit genug.
Sehnsucht allein reicht nicht, um schnellstmöglich durch Amerika zu fahren. Es bedarf des Wissens und der Erfahrung, Kommunikation und des Krisenmanagements, damit das gelingen kann. Es bedarf des unbändigen Glaubens und Willens, die gesetzten Ziele zu erreichen – und das erste, vorrangige lautet jedes Jahr, das Rennen in Annapolis unter dem Zielbogen zu beenden. Als ich 2014 gewann, konnte ich auf eine Mannschaft vertrauen, die es mit mir auf insgesamt 42 RAAM-Teilnahmen gebracht hatte – ein unbezahlbares Maß an Erfahrung. Ein Jahr später, mit einer teilweise neuen Crew, spielte uns das Unterbewusstsein einen Streich: Da dachten einige wohl ein wenig überheblich, das „Team Strasser“ müsste nur antreten, um sich den Sieg zu holen. Doch es kam anders: Ich schied aus. Wir alle schieden aus.
„Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Mannschaften werden nicht in den USA zusammengewürfelt, sondern im Laufe der Monate zuvor gefunden und geformt. Es gibt Teamtreffen, bei denen einander alle besser kennenlernen, um später acht, neun Tage unter extremen Bedingungen und auf engstem Raum miteinander auszukommen. Das Rennen ist nicht nur für mich eine Herausforderung, sondern ebenso für jeden der Betreuer: Die Tag-Nacht-Barriere ist aufgehoben, geschlafen wird im Schichtwechsel. Die Nahrungsaufnahme mag vielfältiger als meine sein, aber sicher nicht gesünder. Die Begleitautos müssen jeden Tag grundgesäubert werden, weil sie sich in fahrende Müllhalden verwandeln. Weil all diese Herausforderungen noch nicht reichen, hat natürlich jeder einen eigenen Charakter und seine persönlichen Marotten. Willkommen beim RAAM!
Dass ich keine Frauen im Team habe, hat nichts mit Sexismus zu tun, sondern rein pragmatische Hintergründe. Da geht es um Schlafsituationen und Toilettengänge, da geht es aber auch um Hahnenkämpfe zwischen den Jungs und Flirts der einen mit den anderen. Es gibt auch noch einen anderen Aspekt: Frauen neigen zu mehr Empathie und Mitgefühl, vor allem dann, wenn es jemandem schlecht geht. Doch gerade in diesen Momenten benötige ich nicht Mitgefühl oder Mitleid, sondern Anweisungen und Unterstützung, weil mich alles andere von der eigentlichen Mission ablenkt, nämlich davon, mich schnellstmöglich durch die USA zu lotsen.
Eines Tages im Frühjahr 2014 saß ich mit meinem Team im Gartenhaus meiner Eltern in Kraubath zusammen und wir alle besprachen die kommende Aufgabe – das Race Across America 2014. Unser Teamleader Rainer Hochgatterer, der mich seit 2011 auch trainingstechnisch betreute, befragte mich zu meiner Motivation. Ich übte mich wie so oft in Untertreibung, redete über einen möglichen Sieg, darüber, dass es wichtig wäre, bescheiden zu bleiben und dass ich mein Bestes geben würde. Rainer grinste. Er wusste, dass mich seine Fragen irritierten und provozierten. Und dann unterbrach er mich knallhart: „Wenn ich du wäre, würde ich in meinem Sport eine Legende werden wollen.“
So einfach kann man Dinge auf den Punkt bringen.
Rainer war jene Person, der ich während meiner ultraradsportlichen Laufbahn wohl am meisten zu verdanken habe. Als Sportarzt und Teamleiter vereinte er über Jahre die beiden wichtigsten Funktionen in meiner Crew, was bedeutete, dass mögliche Konflikte nicht auftreten konnten. Es kann sein, dass der Mediziner plädierte, das Rennen aus gesundheitlichen Gründen abzubrechen, doch der Teamleiter war anderer Meinung – wie das tatsächlich bei meiner ersten Teilnahme geschehen war.
Jemanden wie Rainer an meiner Seite zu haben, gab mir Vertrauen und Motivation – und Durchhaltevermögen. Nach meiner Rekordfahrt 2014, die ich in 7 Tagen, 15 Stunden, 53 Minuten beendet hatte, schrieb er mir eine humorige Nachricht: „Ausgemacht waren 7 Tage, 12 Stunden. Ich finde, du solltest dich das nächste Mal ein bisschen mehr bemühen.“ In jedem Witz steckt ein Körnchen Wahrheit, und ich verstand, was er damit sagen wollte: „Ruh dich nicht auf den Lorbeeren aus, du hast noch nicht alles erreicht.“
Beim RAAM 2014 führte er mich und uns alle zum Erfolg, doch ich spürte, dass er mit seinen Gedanken nicht immer zu hundert Prozent auf das Rennen fokussiert war. So überraschte es mich nicht, als er mir kundtat, in Zukunft schweren Herzens nicht mehr zur Verfügung zu stehen.
Sieben RAAM-Fahrten – einmal mit Fasching, zweimal mit Gerhard Gulewicz, viermal mit mir – waren genug für ihn. Er setzte sich neue Ziele im Leben und nahm sich fortan mehr Zeit für seine Familie.
So sehr der Abgang schmerzte, so entscheidend war er dennoch für meine weitere Laufbahn. Rainer Hochgatterer war in meinem Sportlerleben zu einer Art Vaterfigur geworden. Mich von ihm abnabeln zu müssen, war insofern ein wichtiger Schritt in meiner Persönlichkeitsentwicklung.
Wie bedeutend er für mich und für das gesamte Team war, erkannten wir an einer E-Mail, die er uns allen drei Wochen nach dem RAAM 2012 schickte. Wir waren in einem emotional aufgeladenen und frustrierend geendeten Rennen knapp Zweiter hinter dem Schweizer Reto Schoch geworden. Und Rainer stellte die Frage in den Raum, ob auch wir uns unter Wert geschlagen fühlten. Nun ist „unter Wert“ im Sport eine äußerst gewagte Aussage. Die Ergebnisliste ist Fakt. Man kann noch so viele Ausflüchte, Ausreden, Überlegungen anführen – sie ist unveränderbar. Doch er brachte unseren Gefühlsstatus auf den Punkt: „Der Sieg beim RAAM gehört nach Österreich, in die Steiermark. Der Sieg beim RAAM gehört Christoph Strasser“, schrieb Rainer, und im Geiste sah ich all meine Teamkameraden bei diesen Zeilen nicken, wie es auch mir gerade passierte.
Rainer begann drei Wochen nach einem Race Across America, das uns alle an unsere körperlichen, geistigen, emotionalen Grenzen geführt hatte, uns für ein Event zu motivieren, das in rund 340 Tagen stattfinden sollte:
„Im Jahr 2013 sollte er sich den Sieg wieder zurückholen. Und zwar in einer Manier, wie es sie noch nie gegeben hat. So, dass die Gegner nicht mal auf die Idee kommen, ihn anzugreifen. Christoph kann mit unserer Hilfe eine Zeit von deutlich unter acht Tagen beim RAAM fahren.
Und ich meine deutlich unter acht Tagen.
Rechnet man die Etappenbestzeiten 2011 und 2012 zusammen und baut noch die üblichen Schlafpausen ein, könnte er es unter sieben Tagen und zwölf Stunden fahren!
Ich glaube daran, ich bin mir sicher, ich verspreche, dass er das schaffen kann. Mit unserer Hilfe. Ich finde, wir sollten uns unsterblich machen, wir sollten Christoph unsterblich machen.
Also was sagt ihr?“
Es gibt so viele Motivationsreden, die Wirkung erzeugen können oder das erhoffte Resultat dennoch verfehlen. Die Worte von Rainer Hochgatterer gingen direkt in mein Herz. Und ich setzte mich, 340 Tage vor dem nächsten RAAM, für eine Trainingseinheit auf das Rad.
„Was soll es denn bringen, das RAAM zu fahren?“, fragte mich ein Radsportfreund, als ich das erste Mal mit dem Gedanken spielte, dort anzutreten. „Ich weiß nicht“, antwortete ich. „Es wäre doch cool, oder?“
Das war zu einer Zeit, in der ich hin- und hergerissen war zwischen meinem Ansatz, bescheiden zu bleiben und mit dem zufrieden zu sein, was ich hatte und was ich war, und meinem ehrgeizigen Anspruch, ein richtig guter Radsportler zu werden. Als ich 2004 bei einem Weiterbildungsseminar auf Wolfgang Fasching traf, der vom RAAM erzählte und über mentale Stärke referierte, präsentierte ich mich in der Vorstellungsrunde als einer, der „vielleicht irgendwann beim Race Across America auch dabei ist.“ Drei Jahre später saßen wir bei einem Interview für das damalige Top-Times Magazin. Fasching war dabei, seine Karriere zu beenden, ich drauf und dran, in seine Fußstapfen zu treten. Es war das erste Mal, dass wir uns länger unterhalten konnten, und es war der Beginn einer Freundschaft, die bis heute anhält.
Ich werde in der Tat oft gefragt, was es denn bringt, schon wieder am RAAM teilzunehmen, was ich dort noch erreichen will, ob ich denn nur auf Rekorde aus sei. Die Wirklichkeit liegt irgendwo in der Mitte, aber vor allem in einer Tatsache: Ich liebe diesen Sport, das „Weitradlfoan“, wie ich es auf Steirisch nenne. Ich liebe es, Rad zu fahren und Abenteuer zu erleben. Doch die Antwort ist ebenfalls einfach, wenn ich über Siege und Rekorde befragt werde: Es macht sich gut, der erfolgreichste oder beste Sportler einer Disziplin zu sein. Diesen Fakt wird kein Athlet jemals verneinen, auch ich nicht.
„Mir persönlich geht es nicht vorrangig um Rekorde. Sie sind mir ehrlich gesagt nicht wirklich wichtig. Natürlich möchte ich die Rennen gewinnen, aber in der Vorbereitungszeit wäre mir diese Aussicht als Motivation zu wenig. Erfolge sind schlussendlich das Ergebnis, wenn man das tut, was einen tagtäglich erfüllt – denn nur dann sind sie überhaupt möglich.“
Das Race Across America entfacht in mir nach wie vor ein Feuer und den Willen, noch härter an mir zu arbeiten, mich immer weiter zu verbessern und aus meinen Fehlern der vergangenen Jahre zu lernen. Wenn dieser Wille und die harte Arbeit dann mit einem Sieg belohnt werden, ist es natürlich umso schöner. Aber: Die Freude über einen Sieg verfliegt recht schnell, es bleiben vielmehr die Freude, der Feuereifer und die harte Arbeit, die mich bis dorthin führen. Nirgendwo anders als beim RAAM trifft der Satz besser zu, dass der Weg das Ziel sei. Es ist ein verdammt langer Weg, der eigentlich zwölf Monate zuvor, unter dem Zielbogen in Annapolis, immer wieder neu beginnt. Denn eines ist klar: Je härter ich im Vorfeld trainiere und je penibler ich mich vorbereite, umso einfacher wird es für mich später in den USA sein. Bin ich in der Vorbereitungszeit jedoch inkonsequent, kürze Trainings ab und mache es mir angenehmer und leichter, werde ich das im Rennen büßen, denn umso mehr werden mich die Schwierigkeiten des Wettbewerbs, begonnen bei Wind und Wetter oder körperlichen Problemen, dann fordern.
„Du hast es ja leicht als Profi, du kannst den ganzen Tag trainieren und musst nichts arbeiten“, höre ich manchmal von Radsportkollegen, die damit kämpfen, ihren familiären Alltag, den Beruf und das Training unter einen Hut zu bringen. Ich möchte mit ihnen darüber auch nicht diskutieren. Ja, es ist einfacher, sich seinen Tag flexibel rund um das Training einteilen zu können. Doch vielleicht wird verdrängt, dass ich in einer Sportdisziplin unterwegs bin, in der es keine Preisgelder gibt. Sponsoren decken Ausgaben. Ich benötige Vorträge bei Institutionen und Unternehmen, um Umsatz zu generieren, und einen gut laufenden Online-Shop für Radsportler. Das alles bedeutet viel Organisation und Arbeit abseits des Trainings. Die Annahme, dass ich nur am Rad sitze und dafür allein fürstlich entlohnt werde, ist falsch.
Der Radsport ist mein Leben und durch ihn verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Meine Hingabe und mein Feuer für das Race Across America wird durch den Umstand verstärkt, dass es in meiner aktuellen Lebensphase einen Teil meiner Existenzgrundlage darstellt. Wenn mein Lebensunterhalt bzw. mein berufliches Weiterkommen davon abhängt, dann ist aufzugeben einfach undenkbar. Bleibt das Erfolgserlebnis aus, an dem auch das berufliche Dasein hängt, ist das Drama einer Niederlage größer. Wenn es lediglich ein kostspieliges Hobby ist, geht das Leben normal weiter. Wenn es darauf ankommt, wer den Erfolg stärker will, dann wird sich jener durchsetzen, bei dem es um mehr geht. Auch das bin ich.
In Oceanside fragte niemand, was es denn brächte, das Race Across America zu bestreiten. Auch wenn mich nicht alle erkannten, so war ich mir doch ziemlich sicher, dass alle 170.000 Einwohner wussten, was das RAAM ist. Immerhin startet es am 1888 erbauten Oceanside Pier; dieser ist mit 592 Metern der längste, hölzerne Pier an der US-amerikanischen Westküste und somit ein Denkmal für sich.
Beim Race Across America erhält jeder Teilnehmer eine Startnummer, die ihm ein Leben lang bleibt. Es sind die Zahlen einer mehr oder weniger großen Karriere beim RAAM. Franz Spilauer, Österreichs erster Sieger, würde heute wie damals die Nummer 66 tragen. Wolfgang Fasching hatte die Nummer 201 zugeteilt bekommen. Gerhard Gulewicz trägt Zeit seiner Karriere die 316. Ich erhielt die 377, nach mir wurden beispielsweise David Misch die 469, Franz Wintersberger die 471 oder Severin Zotter die 536 zugeteilt. Alexandra Meixner, die erste Österreicherin, die (2017) das RAAM beendete, war mit Nummer 568 im Ziel.
Die Tage vor Rennbeginn sind geprägt von Hektik und Umtriebigkeit. Die Organisatoren finalisieren das Road Book, in dem die knapp 55 Time Stations und der Weg, den die Teilnehmer minutiös zu folgen haben, eingezeichnet sind.
Mein Team organisiert all jene Materialien, die für unseren langen Trip notwendig werden könnten: Kabel, Klebeband, Werkzeug, Wasser, Lebensmittel und so weiter. In unserer Unterkunft wird die notwendige Technik für Funk und Kommunikation in die Mietautos verbaut, es werden Lautsprecher und Zusatzscheinwerfer installiert, Dachträger für die Ersatzfahrräder montiert und das Wohnmobil rennfertig gemacht. Abends sitzen wir beim gemeinsamen Abendessen und besprechen letzte taktische Details. Abendessen gibt es für mich übrigens keines, ich stelle bereits drei Tage vor dem Start meine Ernährung auf Flüssignahrung um, damit sich mein Verdauungstrakt schon an die Rennverpflegung gewöhnt.
Selbstverständlich gehören zur 14-tägigen Akklimatisation auch leichte Trainingsfahrten. Dabei geht es weniger darum, sich den letzten Schliff zu holen – dafür hatte ich ein Jahr lang Zeit, und wenn ich es in dieser Spanne nicht geschafft haben sollte, würden die letzten beiden Wochen auch nichts mehr retten können –, sondern vielmehr darum, erste Teilstücke der Strecke abzufahren und mich mit diesen sowie mit den herrschenden klimatischen Bedingungen vertraut zu machen.
Wie jeder Spitzensportler mache ich auch in meiner Jahresplanung Pause, und zwar im Herbst. Im November geht es mit den ersten Trainingskilometern los, und über den Winter hindurch wird der acht Monate lange Formaufbau richtig hart und intensiv. „Winter“ heißt, dass es stürmt und schneit oder dass es regnet und rutschig ist. Deshalb sitze ich sechs Tage in der Woche und meist deutlich über dreißig Stunden in der Woche am Ergometer.
Da ich mir meinen Trainingsraum so eingerichtet habe, dass ich neben meiner körperlichen Aktivität auch telefonieren und arbeiten kann, finde ich lange Ausdauereinheiten manchmal gar nicht so schlimm. Mit Ski-Rennen, den Tennisspielen im Rahmen der Australian Open und mit Musikvideos vertreibe ich mir die Zeit. Die Trainingspläne beinhalten aber auch viele hochintensive Tempo- oder Kraftintervalle, die mich bis an die Grenzen bringen. Oft bin ich am Abend völlig fertig und zu nicht mehr viel zu gebrauchen. Abzüglich der Rennen bringe ich es pro Jahr auf tausend Stunden am Rad – das ergibt umgerechnet knapp über dreißigtausend Trainingskilometer.
Es mag paradox klingen: Wenn ich die härtesten Momente des RAAM beschreiben müsste, dann sind es diese Wochen im Winter. Draußen schneit es, die Beine tun mir schon am Morgen von den Einheiten der vergangenen Tage weh, ich bin mit mir alleine und weiß, dass heute wieder sieben Stunden auf der Rolle am Plan stehen. Erst wenn es draußen wieder dunkel ist, steige ich vom Rad. Dafür brauche ich meine gesamte Motivation. Manchmal muss ich mit mir selbst kämpfen, um diesen Alltag zu ertragen. Aber ich weiß, dass ich beim RAAM nur dann die beste Leistung bringen werde, wenn ich diese Trainings durchziehe. Im Frühling verlagert sich das Training dann mehr und mehr ins Freie, ich treffe wieder auf meine Trainingskollegen und damit vergrößert sich auch der Spaßfaktor enorm. Die Wochen vergehen dann irrsinnig schnell, der Start rückt immer näher.
Ab dem Moment, in dem ich starte, gibt es endlich keine Fragen mehr, kein Denken, kein Grübeln, kein Entscheiden. In diesem Moment ist alles schon passiert. Ein Jahr voller Sinnfragen, voller Selbstmotivation, voller Aufbäumen und manchmal auch Faulheit, voller schlechtem Gewissen, wenn mal wieder nichts gegangen ist im Training liegt dann bereits hinter mir. Sämtliche Fragen sind dann längst beantwortet: Ist das Team gut genug vorbereitet? Bin ich technisch top organisiert? Ist das Rad in Ordnung? Habe ich alles für die Sponsoren gemacht und für die Medienarbeit in die Wege geleitet? Ist an alles gedacht und sind alle tausend Puzzleteile am richtigen Platz?
Wenn der Startschuss fällt, gibt es nur mehr fahren, treten, kämpfen. Die Sinnfrage ist geklärt, das Team ist da. Es werden Phasen kommen, in denen ich vor Erschöpfung fast vom Rad falle, in denen die Knie stechen, der Hintern wie Feuer brennt, die Zehen einschlafen, die Finger taub werden, die Müdigkeit den Geist vernebelt. Es kann passieren, dass mir der Kopf brummt, die Haut vor lauter Sonne brennt, der Magen rebelliert, der Darm verrückt spielt und ich Durchfall bekomme. Aber es gibt keine Diskussionen mehr – die Aufgabe ist so klar wie sonst nichts im Leben: Egal, was kommt – weiterfahren, und zwar so lange, bis der Zielstrich überquert ist.
Als Belohnung gibt es Phasen, in denen ich intensiv in den Flow komme, in denen Endorphine meinen Körper fluten und ich vor Glück fast weine, in denen das Team mit mir gemeinsam alle Schwierigkeiten überwindet. Vor jedem RAAM weiß ich: Ich werde Sonnenaufgänge wie aus dem Bilderbuch erleben, motivierende Botschaften bekommen, anderen Menschen als Vorbild dienen.
Dieses Rennen ist ein Auf und Ab, doch am Ende überwiegt immer das Positive. Das ist der Reiz an dieser Mischung aus Abenteuer und Wettkampf. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich in Annapolis einfahren, visualisiere die letzten Kilometer und Meter und spüre die Emotion, unter dem Zielbogen des RAAM zu stehen. Ich freue mich darauf. Mein Team ist startklar.
#weitradlfoan #schnöradlfoan #heißradlfoan #raamfever #jawui
Einmal schlafen noch, dann geht es los!
„Wie weit ist er hinter mir?“, fragte ich meine Betreuer.
„Viel zu weit, mach weiter!“
„Aber wir haben doch ausgemacht …“
„Du fährst jetzt!“
„Aber … “
„Fahr weiter! Vollgas!“
Ich bin dann, wie aufgetragen, gefahren. Habe nicht mehr gewartet und die ganze Zeit daran gedacht, dass ich eine Abmachung breche, dass mein Konkurrent und ich uns auf eine gemeinsame Vorgangsweise geeinigt hatten und ich nun nicht mehr dazu stand. Der Glocknerman 2007 wurde zu einer Triumphfahrt für mich, und zu einem Erfolg, den ich so eigentlich nicht wollte.
Hatte ich Angst vor dem Gewinnen? Mag sein.
Jedenfalls hatte ich im Vorfeld der Konkurrenz alles getan, um die Ultra-Radmarathon-Weltmeisterschaft für mich zu entscheiden. In den vorangegangenen Jahren hatte ich mir in der Szene einen Namen gemacht, ich arbeitete nach meinen eigenen Trainingsplänen (auf denen sinngemäß stand: „Hauptsache viele Kilometer“), und ich beschäftigte mich auch zusammen mit Mentaltrainer Thomas Jaklitsch mit wichtigen Fragen meines Tuns, beispielsweise damit, ob ich vom Radsport leben würde wollen oder wie ich mein Leben und meinen Sport positiv gestalten könnte. Ich war bereits für das Race Across America qualifiziert, mir schienen alle Türen offenzustehen.
Doch ich war nicht nur psychisch und physisch sehr gut vorbereitet, sondern präsentierte mich cool, fast schon lässig, an der Startlinie. War ich in den vorangegangenen Jahren eher durch meinen bewusst chaotischen und gespielt unprofessionellen Auftritt aufgefallen, so legte ich nunmehr Wert auf ein stimmiges Gesamtbild. Das Radtrikot hatte ich selbst entworfen, die Logos meiner Sponsoren Wiesbauer, Specialized, Panaceo und der Raiffeisenbank-Filiale aus meiner Heimatgemeinde Kraubath platziert. Meine Motivation erhielt zusätzliche Nahrung durch die Anwesenheit eines Kamerateams von groox, das einen Film über meinen „Glocknerman“ drehen wollte. Wir waren uns zwar nicht sicher, ob eine DVD veröffentlicht werden sollte – wen würde denn diese Geschichte schon interessieren, fragte ich mich in einem Anflug von Skepsis –, „aber lasst uns zuerst einmal daran arbeiten, dann sehen wir weiter“, sagten wir uns.
Der „Glocknerman“ ist ein Radrennen über 1 010 Kilometer und 16 000 Höhenmeter, er führt von Graz nach Winklern, zweimal über den Iselsberg und den Felbertauernpass, zweimal auch über die 2 505 Meter hohe Großglockner Hochalpenstraße und anschließend wieder über die Soboth-Passstraße retour in die steirische Landeshauptstadt. Es ist eine der härtesten Veranstaltungen, die der Extrem-Radsport zu bieten hat. Der Bewerb, der alljährlich Anfang Juni ausgetragen wird und in Europa zu den ältesten Ultra-Events zählt, wird von den Veranstaltern als „Weltmeisterschaft“ bezeichnet, was in der heutigen Zeit aber wohl vorrangig für das Marketing wichtig ist. Meiner Meinung nach gibt es mittlerweile aber eine ganze Reihe anderer Wettbewerbe, die länger, anspruchsvoller, stärker besetzt und prestigereicher sind als „Graz–Glockner–Glockner–Graz“.
Gestartet wurde in Graz um die Mittagszeit – mit dem Slowenen Marko Baloh als erklärtem Favoriten. Ein anderer Slowene, der ein wohl noch größerer Favorit gewesen wäre, war jedoch abwesend: Jure Robic nahm am Race Across America teil (und gewann es in besagtem Jahr zum dritten Mal). Doch es waren weitere prominente Gesichter der Szene dabei, beispielsweise der Schweizer Thomas Ratschob sowie die Brüder Turnowsky und Franz Preihs aus Österreich.
Das Tempo der Konkurrenten war von Anfang an äußerst hoch, sodass in einem Ausscheidungsrennen die Zahl der Fahrer in der Spitzengruppe rasch dahinschmolz. Als es die Glockner Hochalpenstraße zum ersten Mal hinaufging, setzte sich Baloh ab, konnte den Vorsprung auf mich aber nicht verteidigen und ich schloss wieder zu ihm auf. „Marko ist auch nur ein Mensch“, dachte ich mir, als ich ihn kämpfen sah. Trotzdem war er für mich vor dem Start derjenige gewesen, dem ich den Sieg am meisten zugetraut hatte, da der Slowene viel Erfahrung und Weltrekorde über 24 Stunden innehatte und hinter Jure Robic wohl der weltweit Beste war.
„Uns jagen vier Verfolger“, eröffnete mir Baloh, „ich glaube, es wäre besser, wenn wir zusammenarbeiten und gemeinsam weiterfahren.“
Ich war überrascht und auch geehrt. Ein Wahnsinn, dass er mir diese Taktik vorschlug! Gerne sagte ich zu, ich war mir sicher, dass es ein Vorteil für beide von uns sein würde.
Wir passierten den Felbertauern gemeinsam, doch auf der zweiten Glockner-Runde fuhr ich einen Vorsprung von drei Minuten auf Baloh heraus. An unsere Abmachung denkend wartete ich auf ihn – so, wie auch er sein Tempo herausnahm, als ich zweimal wegen Magen-Darm-Problemen kurze Pausen einlegen musste. Obwohl wir nicht durchgängig an unseren Leistungsgrenzen fuhren, konnten wir uns gute Chancen ausrechnen, den Streckenrekord des Schweizers Daniel Wyss zu unterbieten.
Doch wir erreichten das Ziel nicht zu zweit. Auf dem zehn Prozent steilen Anstieg auf die Soboth verließen den Slowenen die Kräfte – und diesmal so richtig. Ich fühlte mich an die Abmachung mit Baloh gebunden, doch gleichzeitig redeten meine Betreuer auf mich ein: „Fahr weiter. Mach schon!“, „Wie weit liegt er zurück?“, „Zu weit, um zu warten. Zieh es durch!“
Als Ultra-Radsportler ist man sich selbst und seinem Team verpflichtet. Ich ließ mich vom Siegeswillen meiner Betreuer anstecken und trat trotz schlechten Gewissens gegenüber Marko immer härter in die Pedale, konnte Müdigkeit und Schmerzen ausblenden, gab noch einmal alles. Ich steigerte mich fast in einen ekstatischen Zustand, der aus einer Kombination von Euphorie ob des nahenden Sieges einerseits und der Flucht vor meinem schlechten Gewissen andererseits bestand. Auf den letzten hundert Kilometern nahm ich Marko Baloh hundert Minuten ab. Die Siegerzeit von 36:19 Stunden bedeutete einen um vier Minuten schnelleren Streckenrekord und kürte mich zum bis dato jüngsten Ultra-Radmarathon-Weltmeister. Windschattenfahren war beim Glocknerman im Gegensatz zu fast allen anderen Langstreckenrennen erlaubt, und weil ich einen Großteil der Strecke mit einem Konkurrenten unterwegs gewesen war, fühlte ich mich auch nach all meinen Anstrengungen während der Fahrt im Ziel – kurz nach Mitternacht des zweiten Tages – noch verhältnismäßig fit.
Bei der Siegerehrung sahen wir uns in die Augen.
„Sorry, Marko“, sagte ich, und meinte es ehrlich.
„Mach dir keinen Kopf, du warst einfach besser“, antwortete er. Baloh war und ist ein großartiger, fairer Sportsmann. Leider hat er es nie geschafft, das Race Across America zu gewinnen, wiewohl er einen Triumph dort verdient gehabt hätte.
Die DVD, von der wir nicht sicher gewesen waren, ob es sie überhaupt geben sollte, verkaufte sich übrigens einige hundert Male und die Firma groox wurde zu einem fixen Bestandteil meiner Crew.
Drei Jahre später stand ich erneut am Start des Glocknerman. Das Race Across America war - hauptsächlich aufgrund ökonomischer Motive – in der damaligen Saison kein Thema, und so hatte ich mich nach anderen Herausforderungen umgesehen gehabt. Die Ultra-WM lieferte im Falle nicht nur einen prestigereichen Titel, sondern fand auch quasi „vor meiner Haustür“ statt. Auch wenn Renndistanz und Höhenmeter die gleichen waren – es ist schwer, das Rennen 2007 mit jenem 2010 zu vergleichen. Von Anfang an hatten wir Teilnehmer mit schlechtem Wetter zu kämpfen – auf der Hochalpenstraße ragten nicht nur links und rechts von uns Schneewände in die Höhe, sondern es fiel zudem Schneeregen.
„Wow, ich kann es kaum fassen. Was sich in den vergangenen Stunden abgespielt hat, war unglaublich. Ich hatte vom Start weg sehr hoch gepokert, bin das Tempo der Spitzengruppe immer mitgegangen, obwohl ich wusste, dass ich mich bei den ersten drei Bergen im dunkelroten Pulsbereich aufhielt. Außerdem wusste ich, dass auch die anderen am Limit gefahren sind und kurz vor einem Einbruch standen. Dass es mir im Finale noch so gut ging, war eine Frage der geistigen Fähigkeiten und des festen Glaubens an den Sieg.“
Meine Taktik war klar: Ich wollte bis zu den wirklich schwierigen Anstiegen keine unnötigen Kräfte verschwenden und dort attackieren. Ich hielt mich also während der Abfahrt vom Felbertauern in der Spitzengruppe auf, doch auf dem ersten Anstieg zum Hochtor, dem höchsten Punkt der Großglockner Hochalpenstraße, gab es für mich kein Halten mehr. Der Blick ging nur mehr nach vorne, was hinter mir geschah war nicht mehr in meinem Fokus, es wurde mir von meinen Betreuern mitgeteilt. Und deren Nachrichten freuten mich: Ich hatte innerhalb kürzester Zeit rund zehn Minuten zwischen mich und meine ersten Verfolger gebracht. Offensichtlich hatten meine Mitstreiter nicht nur mit meinem Tempo, sondern auch mit der Kälte und der Müdigkeit in den Nachtstunden zu kämpfen.
So wichtig es ist, richtige Momente für die eigenen Aktionen zu setzen, so wichtig ist es auch, gedanklich zu antizipieren, was noch alles geschehen kann. Als mein drei Mann starkes Team und ich am Hochtor kurz anhielten, und ich für die Abfahrt eine zusätzliche Thermo-Jacke überzog, diskutierten wir in der gebotenen Schnelligkeit unsere beiden Optionen durch. Ich konnte zuwarten, Kraft sparen und mich von den anderen wieder einholen lassen, um in der zweiten Runde nochmals zu attackieren. Oder ich könnte den Rest des Rennens – die verbleibenden 550 Kilometer – solo bestreiten und dabei das Risiko in Kauf nehmen, meine Kräfte alleine im Wind liegen zu lassen und von einer gut zusammenarbeitenden Verfolgergruppe später gestellt zu werden. Meine Betreuer Christian „Scheb“ Schebath, Jürgen Gruber und Roland Stuhlpfarrer wussten wie ich, was die zweite Variante bedeutete: kurze oder besser gar keine Pausen mehr, und höchste Konzentration für die verbleibenden rund 20 Stunden. Wir waren uns einig, wir wollten es auf diese Art und Weise durchziehen.
Das Trio, mit dem ich den zweiten WM-Titel holen wollte, war eingespielt und ehrgeizig wie ich selbst. Als mir gegen Ende des Rennens aufgefallen war, dass ich die Trinkflasche immer von Jürgen gereicht bekam, wurde mir auch bewusst, dass die drei Kollegen nie einen Fahrerwechsel vollzogen hatten und „Scheb“ die ganze Zeit hinter dem Steuer saß.
„Seid ihr wahnsinnig?!“, fragte ich. Mich störte das Risiko, das das Team auf sich nahm. Sie lachten aus dem Wagen: „Deswegen haben wir dir nichts gesagt, du hättest dich nur aufgeregt.“