Ulli Krause
ICH HAU AB!
Weite Welt statt Eberswalde
Nein, dies ist keine lustig zusammengesponnene Geschichte. So ist es gewesen. Was uns Jahrzehnte danach witzig vorkommt, war damals überhaupt nicht zum Lachen. Kaum aus der Schule, hat sich Ulli Krause die Seefahrt als Lebensperspektive erträumt – er will etwas von der Welt sehen. In der »Ostzone«, die gerade zur »DDR« geworden war, ein ziemlich hoher Anspruch für einen Jungen, der sein karges Taschengeld mit alltäglichen Gelegenheiten verdient.
Ulli merkt bald, dass ein Arbeiter- und Bauernstaat ihn nicht zum Ziel bringt. Er will sein Leben selbst in die Hand nehmen, sich aus der Fremdbestimmung befreien. Kurzum: »Ich hau ab! Raus aus Eberswalde!«
Doch diese Initiative passt einfach nicht zum behördlichen Ordnungssinn. Es scheint, dass das Schicksal ihn eher für die Landwirtschaft als für die Seefahrt vorgesehen hat. Und als er nach langer Odyssee doch dort ankommt, hat das Leben noch manche Prüfung für ihn …
Ist es so: Wer ein Ziel hat und es nicht aufgibt, kommt irgendwann an! Zu einfach – das lässt sich mit etwas Logik leicht widerlegen. Und das widerum mit dieser Geschichte.
Ulli gibt zu: »Manchmal habe ich mich wirklich riskant und unklug verhalten. Aber wer weiß denn, was passiert wäre, wenn ich es nicht getan hätte?«
Ulli Krause
Ich hau ab!
Weite Welt statt Eberswalde
Ulli Krause
Ich hau ab!
Weite Welt statt Eberswalde
© 2018
Kadera-Verlag, Norderstedt
www.kadera-verlag.de · verlag@kadera.de
– für alle weiteren Information zum Buch –
Alle Rechte vorbehalten.
Bilder im Cover: Depositphoto und Privat
Bilder im Innenteil privat Ulrich Krause,
ergänzt durch Fotos aus dem Adobe-Stock.
ISBN 978-3-944459-83-7 (Softcover)
ISBN 978-3-944459-84-4 (E-Book)
Inhalt
Kapitel 1
Kindheit in Eberswalde
Die Russen kommen!
Das ist euer Vater
Kaum Zeit für die Schule
Endlich ein Dach über dem Kopf
Bloß weg, raus aus Eberswalde!
Der Bodensee ist nicht der Ozean
Kurs Nord nach Hamburg
»Willkommen in der Landwirtschaft«
Ein Polizist und meine Tanten
Verdammt! – Zurück in Eberswalde
Das Fernweh war mal wieder stärker
Glück muss man haben
Kapitel 2
Die Seefahrt
Kochjunge auf Kümo »F. Werner«
Nette Mädchen in Stettin
Kleine Hafenrundfahrt in Kiel
Wechselstimmung
Plötzlich ein ganz anderer Mensch
Vor Irland auf Hering
Atschüüß, mein Deern – geh‘ auf Afrika-Tripp
Zurück zu den Fischern
Wenn wir fliegen könnten ...
Aus dem Urwald nach New York ...
... und dann in Afrikas Tropenzone
Keule will Käptn werden – Kumpel-Wechsel
Strafgericht mit Überraschung
Wiedersehen kann wie Abschied sein
Zu Besuch in Eberswalde
Ahoi! Ich bin der Chef in dieser Kombüse
Äquatortaufe durch Neptuns Gnade
Weihnachten auf See im Sturmtief
Ein Bordhund namens Whisky
Ein Gala-Buffet für einflussreiche Gäste
Ein Landgang zum Träumen
Feuer an Bord
Seltsame Angebote
Bockwurst mit Renate
Die »Krugerland« als »Arche Noah«
Post von Renate macht glücklich
Die entscheidende Frage an Renate
Kapitel 3
Meine große Liebe
Hochzeit mit Hindernissen
Flitterwochen mit Seefahrtsbuch
Panik! Mann über Bord?
Weihnachten bei Windstärke sieben
Ein Passagier hat eine Idee
Eine stürmische Rückreise
Vorstellung beim Regatta-Verein
Noch einmal nach Eberswalde
Nachtrag: Ganz kurz, was dann kam
und Freizeit-Kapitän mit Koch-Schürze
Kapitel 1
Kindheit in Eberswalde
»Ulli, Christel, schnell! Klettert da rauf und weint, gleich kommen die Russen!« Mutter hatte uns das aufgeregt zugerufen. Und deshalb standen meine Schwester und ich auf einem Hackklotz und weinten bitterlich. Margarete hatte gehört, dass die Russen kinderfreundlich sind. Vielleicht würde es nicht so schlimm werden. Sie hatte recht.
Der russische Offizier strich Christel tröstend übers Haar und stupste mir einen Finger unter die Nase. Dann zog er mit seinem Gefolge in das Haus und richtete eine Kommandantur ein. Der Offizier übernahm auch das Kommando im Haus und schnauzte seine Leute an, dass sie die Mutter nicht belästigen sollten. Er war ein gebildeter Mann und schützte Mutter Grete, wie sie allgemein genannt wurde, derart vor Übergriffen, dass er bald auch nachts nicht von ihrer Seite wich.
Unser Vater war noch in Gefangenschaft, aber keiner wusste wo. Bevor er in den Krieg ziehen musste, baute er noch einen Luftschutzbunker für unsere Familie – er ahnte wohl, dass der Krieg nicht zu gewinnen war. Und jetzt wusste niemand genau, wann und ob überhaupt er jemals wieder zurückkommen würde. Ich fand es toll, dass Mutter und der Offizier so nett zueinander waren.
»Komm Ulli, kannst mitfahren«, sagte er manchmal. Dann durfte ich die Straße runter und wieder rauf im Geländewagen mitfahren und es gab ein Stückchen Schokolade.
Einmal war Mutter Grete im Garten, um Gemüse zu ernten. Da kam ein Muskote, so hießen die einfachen Soldaten, und wollte ihr das Geerntete wegnehmen. Die Mutter aber hielt fest, was sie für das Mittagessen brauchte, wollte schnell damit ins Haus flüchten. Da hob der Russe sein Gewehr und wollte mit dem Kolben zuschlagen.
Trotz meiner vier Lebensjahre hatte ich sofort erkannt, dass Mutter in Gefahr war. Plötzlich fühlte ich Wut und Mut in mir und klammerte mich mit aller Kraft an ein Bein des Muskoten, um ihn zurückzuhalten.
In diesem Moment gab es einen Knall – und der Russe fiel um wie ein gefällter Baum. Er hatte ein Loch im Kopf. Mutters Beschützer hatte ihn erschossen. Christel, die das auch beobachtet hatte, war ins Haus gerannt und hatte die Hände noch auf die Ohren gepresst, als alles vorbei war und sie ängstlich aus der Tür schaute.
Der Offizier sagte nichts. Er notierte etwas auf einem Zettel, den er einem seiner Soldaten übergab. Der machte sich gerade, legte eine Hand an die Mütze und fuhr dann mit einem Motorrad davon.
Eine Stunde später fuhr ein Lastwagen auf den Hof. Vier Soldaten sprangen heraus, packten die Leiche an Armen und Beinen, warfen sie mit Schwung auf die Pritsche und fuhren wieder davon. Es war, als hätten sie nur aufgeräumt.
Ich hatte Bauchschmerzen.
»Komm rein, mein kleiner Ulli!«, rief Mutter. Aber ich ging zu meinem Freund, wie immer, wenn ich Trost suchte. Mein Freund hieß Rolf, hatte rote Haare, war mittelgroß, hatte vier Beine und ein scharfes Gebiss. Er lebte draußen in einer kleinen Hütte, an einer langen Kette, ein Hund – mein Hund.
Immer wenn Mutter Grete mich trösten wollte, nannte sie mich »mein kleiner Ulli«. Wenn sie aber wütend auf mich war und es was auf den Hintern geben sollte, verkroch ich mich in Rolfs Hütte. Dann saß Rolf solange knurrend und mit gefletschten Zähnen vor der Hütte, bis Mutters Ärger verflogen war und ein Lächeln über ihr Gesicht huschte. Das verstanden Rolf und ich als Friedensangebot, die Luft war wieder rein.
Rolf musste fast immer an der Kette bleiben, denn er hasste jede russische Uniform und war stets bereit, das Vaterland zu verteidigen. Manchmal aber, wenn keine Russen in der Nähe waren, ließen wir Rolf von der Kette. Dann raste er davon und genoss seine Freiheit.
Eines Tages kam er nicht mehr nach Hause.
Wir Kinder suchten die ganze Umgebung ab und fanden Rolf schließlich – mit einem Drahtschlinge um den Hals an einen Zaun gebunden. Sein Kopf war blutig und seine Zunge hing aus dem Maul, aber er lebte und winselte leise. Christel rannte nach Hause, um einen Handwagen zu holen. Ich löste inzwischen vorsichtig den Draht von Rolfs Kopf und sah den Einschuss direkt neben Rolfs Auge. Ein Wunder, dass die Kugel nicht tödlich war.
Mutter und Christel kamen mit dem Bollerwagen. Sie wickelten Rolf ein Bettlaken um Hals und Kopf. Gemeinsam packen wir Rolf vorsichtig auf den Wagen und zogen mit traurigen Gefühlen nach Hause.
Mutter bereitete ihm in der sonnigen Veranda auf einer alten Matratze ein Krankenlager. Da lag er nun – wie ein kleines Unglücksbündel.
Am Tag zuvor wollte ein Habicht Hühner klauen und hatte sich dabei im Zaun verfangen. Mutter hatte kein Mitleid mit dem Hühnerdieb. Mit einem Spaten gab sie ihm den Rest. So bezahlte der Vogel seine räuberische Absicht, indem er von Mutter Grete zu einer kräftigen Suppe verarbeitet wurde. Rolf nuckelte davon aus einer Babyflasche. Das tat ihm gut. Nach etwa vier Wochen war er fast so fidel wie zuvor.
Irgendwann normalisierte sich das Leben. Vielleicht hatten wir uns nur daran gewöhnt. Die Russen waren wieder ausgezogen – und wir waren gar nicht froh darüber. Eher kamen wir uns einsam vor, der Geborgenheit beraubt, die wir mit den Soldaten im Haus empfunden hatten. Und das, obwohl die Offiziere Mühe hatten, ihre Truppen in den Griff zu bekommen. Aber Plünderungen, Vergewaltigungen und Schlägereien wurden in dieser Zeit weniger. So hat man es mir später einmal erzählt. Wir Kinder kannten ja nur die Zeit, in der wir lebten. Damals wurde nur weniger darüber gesprochen.
»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier«, hatte Mutter immer gesagt. Und als der Krieg vorüber war und wir noch lebten und auch das Haus stehen geblieben war, gewöhnten wir uns an das Leben, wie es nun einmal war.
Eines Tages kam ein Mann auf unseren Hof. »Hallo Ulli, meine liebe Christel!«, hatte er uns begrüßt, und als er ins Haus ging, folgten wir ihm unsicher in die Küche.
Er kannte sich aus. Wir krochen vorsichtshalber unter den Küchentisch. Wer war der fremde Mann?
»Das ist euer Vater«, klärte Mutter uns auf. Sie weinte und lachte gleichzeitig und umarmte den Mann und er sie und so standen sie lange zusammen.
»Ja, das ist er«, flüsterte Christel. Sie war zwei Jahre älter als ich und konnte sich besser erinnern.
Die Familie war wieder zusammen. Dazu gehörten auch Oma und Opa Krause sowie Oma und Opa Müller, die sich aber nie so richtig um Grete und ihre Kinder im Krieg gekümmert hatten; sie hatten ihre eigenen Sorgen. Margarete sollte sich mit ihren Kindern allein durchbeißen.
Aber nun war Vater ja da. Er war ein fleißiger Mann mit viel Energie, was er auch von uns erwartete. Den Hühnerstall sauber machen, den Garten umgraben und so weiter. »Die Kinder sollen sich nützlich machen«, sagte er.
Vater hatte eine kleine Schlosserei mit einer Schmiede. Vor dem Krieg wollte er sich selbstständig machen: »Schlosserei Werner Krause« – das war sein Traum. Dann aber wurde er eingezogen und bekam eine Grundausbildung darin, wie Menschen erschossen werden. Werner kannte seinen Ausbilder, er war mit ihm zur Schule gegangen und wusste, dass der saudämlich war.
Einmal, als dieser Schinder ihn zehnmal den Sandberg raufgejagt hatte, war Werner sauer geworden und beschimpfte ihn: »Du hast zehntausend Volt im Arm, aber nichts kommt im Kopf an. Noch einmal den Sandberg rauf und ich jage dir mein Messer in den Bauch.« Er hätte es wohl niemals getan. Denn Werner war nie in einer Partei und hasste jede körperliche Gewalt. Zwei Wochen später aber war er in Russland.
Gebe Dummen die Macht oder eine Uniform und das Volk ist verloren.
Nach seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft war Werner nur kurze Zeit ohne Arbeit. Im Gaswerk Eberswalde konnten sie einen ausgebildeten Schlosser gut gebrauchen, und bald übernahm er die Leitung der Schlosserei.
Das Gaswerk war fast zerstört. Alles, was abmontiert werden konnte, war von den Russen nach Russland gebracht worden. Werner war ein exzellenter Handwerker und Erfinder. Oft saß er bis Mitternacht in der guten Stube, zeichnete technische Dinge und grübelte – in Selbstgespräche vertieft – über Lösungen nach, wie unter diesen Umständen bald wieder Gas produziert werden konnte.
Werner machte viele Erneuerungen. In der freier Wirtschaft des Westens, wäre so manche Idee zum Patent geworden und hätte seiner Familie viel Geld eingebracht. In Eberswalde aber wurde Werner stattdessen mit einem Papporden ausgezeichnet und mit einem geringen Geldbetrag bedacht, der ausreichte, den Kollegen ein paar Biere auszugeben, weil sie so nett gratuliert hatten.
Immer am 1. Mai hing an jeder Litfaßsäule in Eberswalde ein Plakat mit dem Bild unseres Vaters. Das mochte er gar nicht, aber Mutter Grete war mächtig stolz auf ihren Mann. Zur Ehrung der Aktivisten und Erneuerer marschierte das ganze Werk zum Marktplatz, wo die Auszeichnung feierlich stattfand. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, verdrückte sich Werner und fuhr mit seinem Fahrrad nach Hause, um im Garten zu arbeiten.
Prompt kam nach einer halben Stunde ein Polizeiauto und holte Werner ab, um ihn auf der Marktplatzbühne zur Schau zu stellen. Da stand er dann in Arbeitsklamotten und in Holzpantinen, die er für sich selbst und seine Kinder aus Pappelholz gefertigt hatte – der vorbildliche Arbeiterheld.
Da Werner die Schlosserei leitete, sollte er in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) eintreten. Das gefiel ihm gar nicht. Als der Werksleiter selbst in die Werkstatt kam und Werner ein bereits schon ausgefülltes Parteibuch zur Unterschrift vorlegte, nahm er das Buch und schmiss es ins Schmiedefeuer.
Die vorhersehbare Folge: Werner wurde vor eine Kommission geladen, um sich politisch zu rechtfertigen. Besser gesagt: Um sich zu entschuldigen und sein Fehlverhalten zutiefst zu bereuen. Er kannte alle, die in der Kommission saßen.
Werner gab zu Protokoll: »Ich kenne euch. Alle. Du warst Nazi, du auch und du hast zwei uneheliche Kinder und kümmerst dich nicht um sie. Und Walter, du bist Alkoholiker, musst wohl einiges runterspülen. Ich aber bin viele Male für meine Arbeit ausgezeichnet worden. Was wollt ausgerechnet ihr mir erzählen?«
Er drehte sich um und fuhr nach Hause in seinen geliebten Garten mit seinen Hühnern und Gänsen.
Eberswalde war Kleinstadt, in der jeder den anderen kannte. Wenn Werner im Gaswerk nicht so dringend gebraucht würde, hätte er wohl ein Kämmerchen im Knast bekommen. Die Werksleitung wollte Werner zur Meisterschule schicken – aber ohne Parteibuch? Das ging doch nicht. Werner sagte: »Sowas Brauch ich nicht. Der Ziegenbock ist auch Meister.« Irgendwie ging es dann auch ohne Parteibuch; Gewerkschaftsmitglied zu sein, langte auch.
Die Gasgewinnung aus Steinkohle ergab ein Nebenprodukt: Koks mit Schlacke vermischt. Und wenn die Schlacke heraus sortiert war, blieb der Koks als wertvoller Brennstoff übrig. Wenn ich mir Taschengeld verdienen wollte, kippte Vater Werner einen Hänger voll Schlacken-Koks vor unser Eingangstor ab und ich sortierte am Wochenende den Koks heraus und füllte ihn in Säcke. Die Schlacke musste ich wieder auf den Hänger schaufeln, den Vater dann am Montag mit einem Lanz-Bulldozer zurück ins Gaswerk brachte. Den Koks brachten Christel und ich auf einem Handwagen in die Stadt. Dort kaufte Käse-Hönig den Koks.
Käsehändler Hönig war ein Freund der Familie. Vater Werner kannte ihn gut aus der Schulzeit. Er kannte sich gut mit Lebensmitteln aus. Als ich im dritten Lebensjahr ins Krankenhaus musste, half er dabei, mein Leben zu retten. Es gab damals kaum was zu essen. Heimlich schlich sich Grete dann nachts ins Krankenhaus und brachte mir ein Stück Wurst oder Käse aus Hönigs Laden. Einmal hatte sie solch ein Päckchen einer Krankenschwester anvertraut, doch davon kam nichts bei ihrem kranken kleinen Ulli an.
Mein Opa Krause hatte schon vor dem Krieg in seinem Garten eine große Windmühle gebaut, die Wasser aus acht Meter Tiefe nach oben in einen Tank pumpte. Über ein Leitungssystem wurde sein Garten mit Wasser versorgt. Die Kleingärten waren damals lebenswichtig. Die Eberswalder Zeitungen berichteten darüber ganz groß. Auch darüber, dass der Ururgroßvater Otto Krause nach Amerika ausgewandert war und bei Ford am Fließband als Endkontrolleur sein Kürzel »OK« zeichnete. Dies verbreitete sich als »In Ordnung« in Amerika und in der ganzen Welt.
Ob das wohl stimmte?
In den ersten vier Jahren meiner Schulzeit war ich ein recht guter Schüler. Ab der fünften Klasse wurden meine Leistungen schlechter. Selbst in meinen Lieblingsfächern Physik und Mathematik war ich nur noch Durchschnitt – in Russisch, Musik und Deutsch lief es ebenso schlecht. Zu Hause war einfach keine Zeit zum Lernen. Da musste ich Hühner, Gänse, Ziegen und Tauben versorgen und mich um fünfzig Obstbäume kümmern.
Um genug Futter für die Tiere beschaffen zu können, schmiedete Vater Werner in seiner kleinen Werkstatt für die Bauern Pflugschare, Schlösser für Scheunentore und vieles mehr. Bezahlt wurde mit Korn.
Aus Raps wurde Öl gepresst. Korn und Kartoffeln, die noch auf dem Feld weit verbreitet von der Ernte übrig geblieben waren, wurden eingesammelt. Zwei Zentner pro Fahrrad – ein Sack hinten, ein Sack vorne – und dann um zwanzig Kilometer zurück nach Hause.
Der Weg führte über den Mittellandkanal. Manchmal gab es auf der Wassertorbrücke Kontrollen durch die Volkspolizei. Hamstern war verboten – und alles wurde beschlagnahmt. Auch das Team Werner und Ulli wurde mal erwischt. Ein Vopo befahl Werner, die Säcke vom Fahrrad zu schnallen und in einen IFA-Transporter zu legen.
Die Fahrräder standen am Brückengeländer. Werner öffnete die Ledergurte, packte einen Sack nach dem anderen und warf alle von oben – aus zehn Metern Höhe – in den Kanal. Platsch!, machte es und die wertvolle Fracht versank. Die Vopos glotzten blöd aus der Wäsche, verhafteten Werner und verfrachteten ihn ziemlich unsanft in den Transporter, wo eigentlich Korn und Kartoffeln sein sollten.
Ich durfte gehen. Mit zwei Rädern, ohne Vater, Korn und Kartoffeln kam ich nach einer Stunde Fußmarsch zu Hause an. Mutter fragte geschockt: »Wo ist Vater?«
Ich berichtete, was passiert war. Grete war erleichtert: »Ich dachte schon, da ist was Schlimmes passiert.«
Daran, dass Werner ab und zu mal verhaftet wurde, weil er nie seinen Mund halten konnte, hatte sich die Familie gewöhnt. Grete setzte sich aufs Rad und sagte: »Ich bin gleich wieder da. Ich muss in die Stadt zu Herrn Müller von der Werksleitung, der muss Werner helfen.«
Werner bekam eine Verwarnung und musste 50 Mark zahlen, worüber er am meisten sauer war. Die mühevolle Selbstversorgung auf dem Feld und fünfzig Kilometer mit dem Rad – alles umsonst.
Am Montag musste ich nach der Schule in eine Ruine, um Steine von zerbombten Häusern zu klopfen. Wir schlugen den alten Zement von den Trümmerziegeln und luden sie auf einen Handwagen. Werner wollte noch einen Stall mit einer Garage bauen. Jeder, der Mauersteine brauchte, machte es genauso. Nach dem Krieg gab es woanders keine. Da der Handwagen sehr schwer zu ziehen war, wartete ich vor dem Gaswerk, bis Vater Feierabend hatte und mir helfen konnte. Der Lichterfelder Weg war nicht befestigt, sodass die Räder immer wieder im Sand stecken blieben. Pünktlich um 17 Uhr drängten sich die Arbeiter durchs Werkstor. Auch Werner kam pünktlich, er wusste ja: Da wartet Sohn Ulli mit dem Handwagen. Sonst kam er oft Stunden später.
Wir beide zottelten mit dem voll beladenen Handwagen hinter seinen Kollegen her. An der Straßenecke, wo es zur Brücke über den Finow-Kanal ging, gab es eine Kneipe, in die viele hinein gingen.
Ich fragte meinen Vater: »Warum gehen die Männer denn alle da rein?«
Werner: »Die wollen Bier trinken.«
»Und warum du nicht?«
»Nun, dann komm mal mit«, sagte Werner.
Wir stellten den Handwagen an die Seite und gingen in die Kneipe. Ein ohrenbetäubender Lärm, nach Zigaretten stinkender Rauch und schummeriges Licht empfing uns.
Werner bestellte zwei Bier, und ich fühlte mich wie ein Großer. Ich hatte auch ordentlich Durst und nahm einen kräftigen Schluck – um ihn gleich wieder auszuspucken. Bei den Arbeitern gab es ein großes Gelächter.
Werner fragte: »Was ist?«
»Schmeckt scheußlich!«
»Siehste, deshalb gehe ich auch nicht in eine Kneipe.«
Dann ließen wir beide unser Bier stehen und gingen zu unserem Handwagen. Dabei spürte ich eine starke innere Verbundenheit zu meinem Vater. Jetzt konnte ich ihn verstehen. Ich war ein Stück gewachsen.
Zu Hause, auf dem Hof angekommen, freute sich Rolf, bellte laut und zottelte wie verrückt an seiner Kette. Mein Vater war sehr tierlieb. Er strich Rolf über sein rotes Fell, befreite ihn von seiner Kette und sagte: »So, du musst mal richtigen Auslauf haben!«
Rolf raste vor Freude durch das Gemüsebeet und durch das Tor. Keiner hatte daran gedacht, es zu schließen.
Wir riefen: »Rolf, komm zurück.« Aber er kam nicht.
»Der kommt schon wieder, wenn er Hunger hat. Gott sei Dank hat er ja jetzt eine Marke am Halsband.«
Rolf kam nicht wieder nach Hause. Alle waren um Rolf besorgt, besonders ich. Heimlich schlief ich zwei Nächte in Rolfs Hütte, um da zu sein, wenn er wiederkommt.
Nach drei Tagen kam ein Polizist mit der Nachricht, dass mein Freund und Beschützer tot auf einem Trümmergrundstück gefunden wurde. Wir sollten ihn dort wegholen.
Rolf hatte einen russischen Lastwagen, der mit Soldaten beladen war, mit gefletschten Zähnen, bei voller Fahrt angesprungen und wurde dabei schwer verletzt. Er hasste russische Uniformen und Autos. Der Lastwagen stoppte, zwei Soldaten sprangen auf die Straße, nahmen den verwundeten Hund, warfen ihn auf ein Trümmergrundstück und machten seinem Leben mit Steinen ein Ende. So haben es Nachbarn erzählt. Das Schicksal wollte es so.
Es war das Trümmerfeld, von dem ich die vielen Handwagen voller Mauersteine für den Stall zu Hause holte. Mutter, Vater, Schwester und ich holten mit dem Handwagen nun unseren toten Rolf nach Hause. Er wurde im Garten, unter dem Schlafzimmerfenster meiner Eltern – dort, wo immer Tabak für Werner angepflanzt wurde – feierlich beerdigt. Die ganze Familie weinte. Und ich verkroch mich in Rolfs Hütte und dachte über Vaters Worte nach:
»Wer Tiere nicht liebt, der taugt nichts.«
Das Leben ging weiter, jeder versuchte, so gut wie möglich durchzukommen. Zu der Zeit konnte noch jeder nach Westberlin fahren. Um an etwas Westgeld zu kommen, wurde geschmuggelt. Mutter Grete war eine Schmuggel-Expertin, sie kannte alle Tricks. Ihre Handelsware waren Eier, Hühner, Enten und Buntmetall, was besonders strafbar war. Nebenbei bügelte Margarete noch Wäsche in einem Westberliner Haushalt.
Vater Werner hatte schon während der Nazizeit alle Buntmetalle, die er im Besitz hatte, hinterm Garten vergraben. Die buddelte er jetzt wieder aus, schnitt sie in Stücke oder bog sie zurecht – und jedes Stück bekam einen Haken. Mutter bekam einen kräftigen Ledergürtel um die Hüfte, an den die Metallstäbe angehängt wurden, immer so um die zwanzig Kilo. Dazu kamen noch zwei Handtaschen mit Eiern und Hühnern oder Enten.
Mit dem ersten Zug gegen fünf Uhr früh ging es über Bernau nach Berlin. Dort gab es Kontrollen. Wer erwischt wurde, musste aussteigen und bei einem Kontrollposten alles abliefern. Manchmal ging es auch in den Knast und man musste Strafe zahlen.
Mutter Grete kam immer mit dem letzten Zug aus Berlin zurück, da sie stets anschließend bei der Familie gebügelt hatte. Es war immer ein Hoffen und Bangen, dass alles gutgegangen ist. Auch auf der Rückfahrt wurde kontrolliert, denn es wurden ja in Westberlin auch gleich wieder lebenswichtige Dinge eingekauft und das war auch Schmuggeln. Es kam vor, dass Mutter Grete mit nichts nach Hause kam.
Manchmal brachte sie aber auch Lachgeschichten von ihrer Schmuggelreise mit: Da kontrollierte ein Volkspolizist eine Oma, die mit zwei Eimern Sand schüchtern in der Ecke am Fenster saß.
»Oma, was hast du da in deinen Eimern und wo willst du damit hin?«
Die Oma sagte: »Ich habe einen Garten. In den Eimern ist Hühnerscheiße und damit es nicht so stinkt, habe ich etwas Sand oben drauf getan.«
Der Vopo machte ein grimmiges Gesicht und herrschte die doch so schüchterne Oma an: »Willst du mich verscheißern?« Der Vopo vermutete Schmuggelware und griff mit der linken Hand bis zum Ellbogen in die stinkende Hühnerscheiße.
Die Oma: »Na, mein Junge, Omas lügen nicht. Ist heute ein Scheißtag, was?«
Das ganze Abteil brach in ein lautes Gelächter aus. Sein Kollege lachte mit. Und die beiden verschwanden auf die Toilette, wo es nie Wasser gab. Die Oma hatte gar keinen Garten, aber in ihrem zweiten Eimer keine Hühnerkacke, sondern Hühnereier.
***
Durch die viele Arbeit im Garten und weil ich meinem Vater in der Schmiede helfen musste, fand ich wenig Zeit zum Lernen. Mein Klassenlehrer kam manchmal zu Besuch und redete mit meiner Mutter, die dann mit mir schimpfte.
Abends um acht Uhr war meistens alles geschafft. Dann kamen noch zwei Stunden Lernen dazu, ich war dann immer übermüdet. Selbst in meinen Lieblingsfächern war ich nur noch Durchschnitt. Am liebsten bastelte ich bei Vater in der Werkstatt.
Einmal hatte ich eine Pistole gebaut, die auch funktionierte. Munition fand ich im Stall unterm Stroh, wo die russischen Soldaten geschlafen hatten. Beim ersten Probeschuss flog das Rohr – das sollte der Lauf sein – auseinander. Ein Nachbar, der gerade im Garten war, hörte den Knall und erzählte es Vater Werner abends, als der nach Hause kam.
»Dein Sohn hat geschossen, ich habe es genau gehört.«
Werner winkte ab: »Blödsinn, womit soll der Junge geschossen haben, wir haben kein Gewehr. Der hat bestimmt wieder mit Karbid gespielt. Du weißt doch: Karbid in eine Dose, Deckel zu, im Boden ein kleines Loch, Streichholz ran – und bumm.«
Zu Hause hörte sich das anders an: »Wo ist Ulli, der ist schon seit zwei Stunden weg, der soll mir mal nach Hause kommen.«
Ich war mit ein paar Kumpels zum Fußballspielen, barfuß und mit einem selbstgebastelten Ball aus alten Lumpen. Eigentlich traute ich mich nicht nach Hause mit meinem kaputten Knie und der zerrissenen Hose. Aber wo sollte ich denn hin? Zu Oma? Die hätte mich auch nur nach Hause geschickt.
Da stand ich nun vor der Tür und wie erwartet, gab es von Mutter eine Tracht Prügel.
Vater ging dazwischen: »Lass den Jungen, ich habe noch mit ihm zu reden. – Was war das für ein Knall am Nachmittag?«
Kleinlaut erzählte ich von meiner Pistole und erwartete ein deftiges Donnerwetter. Schläge gab es bei Vater nie, auch diesmal nicht. Aber ich musste mir eine lange Erklärung anhören, wie gefährlich das war. Ich musste alles herausgeben und der ganze Stall wurde sorgfältig nach Patronen durchsucht. Unterm Heu waren noch etliche Patronen.
***
Es war nicht erlaubt, aber trotzdem schwammen wir gern im Mittellandkanal. Auf Langstrecken waren wir bis zu drei Stunden im Wasser. Mutter bekam es sofort heraus, weil meine Augen so rot waren. Auf dem Kanal waren auch von Schleppern gezogen Holzflöße, auf denen kletterten wir herum, um dann wieder ins Wasser zu springen. Einmal rutschte ich dabei aus und verletzte mich am Schienbein bis auf den Knochen.
Auf dem Weg nach Hause kam ich an einer Apotheke vorbei, wo mein Bein versorgt wurde. »Damit musst du zum Arzt«, mahnte der Apotheker.
Zu Hause gab es erst einmal einen Rüffel: »Wo warst du so lange – und überhaupt, was ist mit deinem Bein und wer hat dich verbunden.«
Ich erzählte von meinem Missgeschick, aber nicht, dass ich in die Poliklinik gehen sollte. Nach zwei Tagen fing es unter dem Verband an zu riechen.
Mutter Grete hatte große Wäsche, die immer in der Werkstatt stattfand. Da gab es einen großen beheizbaren Kessel und einen Waschzuber mit einem Rubbelbrett. Wenn die Wäsche fertig war, wurden wir Kinder mit dem Rest des heißen Wassers von oben bis unten gewaschen. Ich stand nackt in der seifig-rutschigen Brühe und hielt mich an Mutters Schultern fest.
»Mein Gott, was ist denn mit deinem Bein, das stinkt ja schon.« Nachdem Mutter den Verband vorsichtig entfernt hatte, bekam auch ich einen Schreck: Das rohe Fleisch der Hautfetzen – ganz schwarz.
Es ist ja alles wieder verheilt, aber es sollte nicht die letzte Narbe sein. Immer öfter haute ich ab, und hatte sogar eine Höhle, in der ich mich gut verstecken konnte. Manchmal blieb ich sogar über Nacht dort. Dann war zu Hause die Sorge groß. Und wenn Mutter auch erleichtert war, wenn ich wohlbehalten wieder auftauchte, eine Tracht Prügel gab es trotzdem. Es waren wohl die Lust auf Abenteuer und die Gene meines Großvaters Otto Krause. Aber »OK« war eben doch nicht immer »In Ordnung«. Meine Mutter brachte es jedenfalls auf die Palme. Es gab nur noch Streit in der Familie. Zu diesem Zeitpunkt wusste keiner, dass Mutter seit Jahren schwer zuckerkrank war. Ob ihr deshalb so oft »die Hand ausrutschte «? Vater Werner strafte uns stattdessen mit Verachtung – auch das tat sehr weh.
In der sechsten Klasse blieb ich sitzen – und im Konfirmandenunterricht lief es auch nicht. Höchstens, wenn Mutter am Haupteingang aufpasste, ob ich auch zum Unterricht ging. Mutter brachte dem Pfarrer öfter etwas zu essen, Eier und Gemüse, sonst hätte er mich längst rausgeschmissen.
Ich wollte ganz abhauen, fühlte mich einfach nicht mehr wohl zu Hause. Morgens wachte ich mit den ängstlichen Gedanken auf: Habe ich wieder ins Bett gepinkelt? Fällt es auf, dass ich keine Schularbeiten gemacht habe? Was wird Mutter an diesem Tag beschimpfen?
Ich musste weg. Aber wohin? Da kam mir eine Idee: In den Westen gehen! Da ist doch alles besser. Der Gedanke, dass da auch Schularbeiten gemacht werden, kam mir nicht. Nur weg! Ich hatte zwei Kumpel, denen ich mich anvertraute. Die waren von dem Plan, in den Westen abzuhauen, begeistert und wollten mit.
Sofort wurden Pläne geschmiedet. Wir verabredeten, uns nachts in meiner Höhle zu treffen, um noch im Dunklen rauszukommen aus Eberswalde. Richtung Bernau etwa 30 km laufen und dann von dort mit der S-Bahn weiter nach Westberlin. Ich hatte ein Sparschwein, das ich von unten anbohrte, so dass man von oben nicht erkennen konnte, dass es ein Loch gab. Ich fummelte mit einem Draht mein Koksgeld heraus, das eigentlich für ein paar Fußballschuhe gedacht war.
Wir hatten verabredet, uns um 23 Uhr in der Höhle zu treffen. Wie gewohnt ging ich nach oben in mein Zimmer, das über dem meiner Eltern lag, und legte mich angekleidet aufs Bett – nur etwas entspannen, nicht um einzuschlafen.
Als die Zeiger meines Weckers auf 22 Uhr standen, stieg ich vorsichtig aus dem Bett und schlich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer in den hinteren Trockenboden. Dort hingen Tabakblätter wie Handtücher zum Trocknen auf der Wäscheleine. Es raschelte, wenn ich sie berührte. Bloß keinen Krach machen, sonst wachen die Eltern auf. Ich tastete mich zum Fenster, ein kleines Habseligkeitsbündel und die Schuhe unterm Arm. Vorsichtig öffnete ich das Fenster, das über dem Hühnerstall lag, schlich katzenartig übers Dach und von dort auf den Pflaumenbaum mit seinen zuckersüßen Erinnerungen besonders an die überreif heruntergefallenen Früchte. Mit geübten Griffen erreichte ich den Boden, schlüpfte in die Schuhe und rannte im Dauerlauf zur Höhle. Freund Dieter wartete bereits auf mich.
»Hast du was von Klaus gehört?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Dieter. »Der wird wohl gleich kommen.«
Und schon hörten wir Äste knacken und leise Stimmen. Wieso Stimmen, mit wem redete Klaus?
Dann ging alles ganz schnell. Zwei Männer mit Knüppeln packten mich und Dieter an den Beinen und zerrten uns aus der gut getarnten Höhle. Hart prügelten sie auf uns ein. Ich bekam einen Knüppelschlag übers Gesicht und auf das linke Auge, Blut schoss aus Nase und Lippen. Mit dem getroffenen Auge konnte ich nichts mehr sehen. Ich verstand überhaupt nicht, was da passierte.
Laut schrie einer der Männer: »Euch werden wir helfen! In den Westen abhauen! Verdammtes Packzeug!«
Als ich zur Besinnung kam, war mir schlagartig klar: Klaus hatte uns verraten.
Einer sagte: »Wir bringen sie nach Hause, zuerst zu Krause. Na, der wird sich wundern, wenn er seinen Bengel sieht.«
Vorn am Tor rissen sie so heftig an der Glocke, dass der Draht riss. »Werner Krause, aufmachen!«, grölten sie.
Ich hörte die Stimme meines Vaters von der Haustür zurück rufen: »Was ist los, wer seid ihr?«
»Wir bringen deinen Bengel. Der wollte abhauen – in den Westen.«
»Das kann nicht sein, der schläft oben.«
»Nein Papa«, rief ich weinend, »ich bin hier.«
Vater Werner kam zum Tor und sah mein blutverschmiertes Gesicht. »Was ist passiert mit deinem Gesicht?«
»Die haben mich verprügelt, wir wollten abhauen, aber jemand hat uns verraten. Da kamen die mit dem Knüppel und haben uns verprügelt.«
Mutter Grete war auch aus dem Haus gekommen, mit Hasso an der Leine, unserem neuen Hund. Sie reichte Vater die Leine, nahm mich in die Arme und brachte mich ins Haus.
Werner bückte sich und nahm einen von der Arbeit liegengebliebenen Spaten in die Hände und rief: »Hasso, fass! Ich schlage euch die Schädel ein! Wenn hier einer meinen Sohn schlägt, bin ich das.« Er holte mit dem Spaten aus und ließ ihn niedersausen – er traf nur einen Allerwertesten. Die beiden hatten blitzartig die Flucht angetreten. Nur mit Mühe konnte Werner Hasso zurückhalten.
Eine Anzeige wegen Körperverletzung ging nicht, das wäre auch eine Selbstanzeige wegen Republikflucht gewesen.
Mutter wusch mein Gesicht, während ihr selbst die Tränen übers Gesicht liefen. »Was machst du bloß Junge, ich weiß gar nicht mehr, was ich mit dir machen soll. Was soll denn bloß mal aus dir werden?«
In der Schule traf ich unseren Verräter.
Der jammerte: »Mein Vater hat mich erwischt, als ich aus dem Fenster kletterte. Aus Angst vor Prügel habe ich dann alles erzählt.«
Nach einigen Wochen waren die äußerlichen Wunden verheilt und ich konnte wieder zum Boxtraining gehen, wo auch Klaus trainierte. Nach dem Fitnesstraining durften alle unter strenger Aufsicht drei Runden richtig boxen. Ich fragte den Trainer, ob ich mit Klaus in den Ring steigen darf, weil es ein guter Kumpel von mir wäre. Der Trainer nickte und erinnerte obligatorisch, sportlich und technisch zu boxen. Ich nickte und ließ mir die Handschuhe anziehen.
Die erste Runde war ganz OK. Der Ringrichter mahnte trotzdem: »Ulli, nicht so hitzig, bleib ruhig.«
In der zweiten Runde legte ich richtig los – das war nicht mehr im Sinne des Sports. Ich schlug von allen Seiten auf den Verräter ein, in jedem Faustschlag lag meine ganze Wut, ich drehte völlig durch. Nur mit Mühe konnte der Ringrichter mich bändigen.
Eine dritte Runde gab es nicht, aber ein blaues Auge für Klaus und für mich eine Ringsperre von sechs Monaten. Das war es mir wert.
***
In der Schule hatte ich mich etwas berappelt, lag wieder im Mittelfeld. Besonders in Geografie, Physik und Sport ging es wieder aufwärts. Auch im Fußballverein Aufbau Eberswalde machte ich als rechter Verteidiger eine gute Figur.
Zu Hause war immer viel Arbeit. »Imma abeeten!«, hab ich oft berlinerisch gemeckert. Gänse hüten, wo immer es Gras gab, manchmal auch beim dann fürchterlich schimpfenden Nachbarn, über Land hamstern fahren, im Hühnerstall jeden Morgen die Hühnerkacke wegmachen – und dann im See nach Muscheln tauchen, das war Futter für die Enten. Das machte ich am liebsten, ich war sowieso eine »Wasserratte«. Seit ich zum Geburtstag das Buch »Von China bis Kiel« bekommen hatte, träumte ich von der weiten Welt. Ich war einfach dabei – schipperte mit den Kindern der Geschichte im gläsernen Unterseeboot von Kiel durchs Mittelmeer bis nach Singapur. Das waren wahrlich traumhafte Erlebnisse. Wir trafen Seesterne, Fische, Quallen, und wir sahen viele Länder mit Menschen, die ganz anders als wir aussahen.
Zum Muscheltauchen kam immer meine Schwester mit, das wollte Vater wegen der Sicherheit so. In der Nähe gab es einen großen Teich, wo es viele Muscheln in ein bis zwei Metern Tiefe gab. In zwei bis drei Stunden hatte jeder zwei Eimer voll. Die vollen Eimer stellten wir auf einen altersschwachen Holzsteg, auf dem auch unsere trockenen Sachen lagen.
Beim Anziehen verlor ich das Gleichgewicht, stürzte kopfüber ins Wasser und steckte mit dem Kopf im Morast fest. Christel dachte, ihr Bruder macht mal wieder Blödsinn und zog sich weiter an. Bis sie merkte: der zappelt ja gar nicht mehr.
Nur mit Mühe zog sie mich aus dem Schlamm und brachte mich an Land, wo sie Mund-zu-Mund-Beatmung und alles Notwendige machte. Sie rettete mir bestimmt das Leben.
Zu der Zeit gab es in Westberlin Lebensmittelspenden, die auch Ostdeutsche bekommen konnten. Es war nur schwierig, mit dem CARE-Paket über die Grenze zu gelangen. Vater Werner und ich haben dreimal mit dem Fahrrad von Eberswalde über die grüne Grenze gemacht und wurden einmal von einem russischen Grenzsoldaten erwischt. Das war beinahe Glücksache, denn die deutschen Volkspolizisten waren viel strenger.
Kinder ließen die Russen meistens sogar weiterfahren. Deshalb wurden bessere Lebensmittel wie Fett, Schokolade und Kaffee immer auf die Räder der Kinder geschnürt. Die Fahrt dauerte immer um die fünfzehn Stunden, was für mich schon eine riesige Anstrengung war. Ich wollte einmal meine Eltern überraschen, schwänzte die Schule und fuhr mit meinem Rad Richtung Berlin, um ein CARE-Paket zu holen.