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Andreas Latzko

Menschen im Krieg

Erzählungen

Andreas Latzko

Menschen im Krieg

Erzählungen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Verlag Rascher, Zürich, 1918 (200 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962815-39-4

null-papier.de/634

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Der Ab­marsch

Feu­er­tau­fe

Der Sie­ger

Der Ka­me­rad

Hel­den­tod

Heim­kehr

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Freund und Feind zu ei­gen


Ich weiß ge­wiss, die Zeit wird ein­mal kom­men,
wo al­les denkt wie ich.

Der Abmarsch

Es war im Spät­herbst des zwei­ten Kriegs­jah­res, im La­za­rett­gar­ten ei­ner klei­nen ös­ter­rei­chi­schen Pro­vinz­stadt, die am Fuße be­wal­de­ter Hü­gel, wie hin­ter ei­ner spa­ni­schen Wand ver­kro­chen, ihr ver­schla­fen fried­fer­ti­ges Dr­ein­schau­en noch im­mer nicht ab­ge­legt hat­te.

Tag und Nacht pfif­fen die Lo­ko­mo­ti­ven, roll­ten die schwer­be­la­de­nen Züge mit sin­gen­den, ge­schmück­ten Sol­da­ten, mit hoch­ge­schich­te­ten Heu­bal­len, brül­len­dem Schlacht­vieh, sorg­fäl­tig ver­schlos­se­nen, fins­te­ren Wa­gen mit Mu­ni­ti­on zur Front hin­aus; kro­chen lang­sam die an­de­ren heim­wärts, ge­zeich­net mit dem blu­ten­den Kreuz, das der Krieg über Wän­de und In­sas­sen ge­wor­fen. Mit Ra­se­schrit­ten durch­eil­te die große Wut das Städt­chen, ohne sei­ne Ruhe ver­scheu­chen zu kön­nen, als hät­ten die nie­de­ren, hell ge­tünch­ten Häu­ser mit den zop­fig ver­schnör­kel­ten Fassa­den still­schwei­gend das klu­ge Übe­rein­kom­men ge­trof­fen, den an­spruchs­vol­len, lär­men­den Ge­sel­len, der da das un­ters­te zu oberst kehr­te, vor­nehm zu igno­rie­ren.

In den An­la­gen spiel­ten die Kin­der un­ge­stört mit den großen, rostro­ten Blät­tern der al­ten Kas­ta­ni­en, Frau­en stan­den schwat­zend vor den La­den­tü­ren, in je­dem Gäss­chen schweb­te ir­gend­wo ein Mäd­chen mit bun­tem Kopf­tuch und rieb eine Fens­ter­schei­be blank. Trotz der Spi­tal­fah­nen, die auf Schritt und Tritt von den Häu­sern weh­ten, trotz der vie­len Ta­feln, Auf­schrif­ten und Weg­wei­ser, die der Ein­dring­ling dem wehr­lo­sen Städt­chen ins Ant­litz ge­hef­tet, schi­en da, kaum fünf­zig Ki­lo­me­ter hin­ter dem Ge­met­zel, des­sen Schein, in kla­ren Näch­ten, wie Thea­ter­feu­er über den Ho­ri­zont zuck­te, der Frie­den im­mer noch in Per­ma­nenz. Wenn, für Au­gen­bli­cke, der Strom der schwe­ren, fau­chen­den Kraft­wa­gen und ras­seln­den Fuhr­wer­ke ver­sieg­te, kein Zug über die Ei­sen­bahn­brücke pol­ter­te, und zu­fäl­lig auch kein Trom­pe­ten­si­gnal und kein Sä­bel­klir­ren krie­ge­risch tat, dann steck­te das trot­zi­ge klei­ne Nest blitz­schnell sein gut­mü­tig-stumpf­sin­ni­ges Pro­vinz­ge­sicht auf, um sich vor dem nächs­ten Ge­ne­ral­stab­s­au­to, das mit wich­tig­tue­ri­scher Schnel­le um die Ecke bog, re­si­gniert hin­ter die schlechts­it­zen­de Sol­da­ten­mas­ke zu ver­krie­chen.

Wohl brumm­ten in der Fer­ne die Ka­no­nen, als kau­er­te eine un­ge­heu­re Dog­ge ir­gend­wo tief un­ter der Erde, sprung­be­reit den Him­mel an­knur­rend. Das dump­fe Bel­len der großen Mör­ser klang her­über, wie schwe­res Hus­ten aus der Kran­ken­stu­be die Wa­chen­den schreckt, die mit rot­ge­wein­ten Au­gen ne­ben­an zum Ster­ben­den hin­über­lau­schen. Auch die lan­gen, nie­de­ren Häu­ser­rei­hen zuck­ten klir­rend zu­sam­men, horch­ten er­schüt­tert auf, so oft dies Hus­ten den Bo­den krampf­te, als läge die Kriegs­not, wie ein Alp, wür­gend auf der Brust der Welt. Er­staunt blick­ten die Stra­ßen ein­an­der in die Au­gen, schläf­rig blin­zelnd im Wi­der­schein der Nacht­lämp­chen, die drin ihre fröh­lich hu­schen­den Schat­ten über dicht­ge­reih­te Bet­ten jag­ten. Gel­len­de Schreie, Wim­mern, Stöh­nen sand­ten die not­ge­pfropf­ten Räu­me in die Nacht hin­aus. Je­der mensch­li­che Laut, der durch die of­fe­nen Fens­ter drang, fiel wie ein wü­ten­der An­griff die Stil­le an, war wil­de An­kla­ge ge­gen den Krieg, der da vor­ne sei­ne Ar­beit tat und zer­fetz­te Men­schen­lei­ber wie Ab­fall hin­ter sich warf, alle Häu­ser mit sei­nem blu­ti­gen Keh­richt fül­lend.

Aber die schö­nen, schmie­de­ei­ser­nen Brun­nen auf den Plät­zen rausch­ten doch gleich­mü­tig wei­ter, plau­der­ten mit be­ru­hi­gen­der Aus­dau­er von den Ta­gen ih­rer Ju­gend, da die Men­schen noch Zeit und Sorg­falt für edel ge­schwun­ge­ne Li­ni­en ge­habt, Krieg eine An­ge­le­gen­heit für Fürs­ten und Aben­teu­rer ge­we­sen. Aus je­dem Schnör­kel und je­der Ecke ström­te das Mär­chen, lief auf lei­sen Soh­len, von Frie­den und Be­ha­gen flüs­ternd, wie eine un­sicht­ba­re Klatsch­ba­se durch alle Gäss­chen, und die grei­sen Kas­ta­ni­en­bäu­me nick­ten zu­stim­mend, stri­chen mit dem Schat­ten ih­rer ge­spreiz­ten Fin­ger be­sänf­ti­gend über die er­schro­cke­nen Fassa­den. So dicht wu­cher­te die Ver­gan­gen­heit aus den ris­si­gen Mau­ern, dass je­dem, der in ih­ren Kreis trat, Brun­nen­rau­schen den Ka­no­nen­don­ner über­tön­te, die Kran­ken und Wun­den be­sänf­tigt hin­aus­horch­ten vom hei­ßen La­ger in die ge­schwät­zi­ge Nacht, blei­che Män­ner, die man auf wip­pen­den Bah­ren durchs Städt­chen trug, die Höl­le ver­ga­ßen, aus der sie ka­men, und selbst die schwer­be­pack­ten Op­fer, die im nächt­li­chen Eil­marsch dröh­nend vor­bei­zo­gen, mil­de wur­den für eine Weg­span­ne, als wä­ren sie dem Frie­den be­geg­net und ih­rem ei­ge­nen, un­be­waff­ne­ten Ich, im Schat­ten der Pfei­ler und blu­men­ge­schmück­ten Er­ker. Es er­ging dem Krie­ge wie dem Fluss, der von Nor­den her in to­ben­der Eile aus den Ber­gen kam, schäu­mend vor Wut über je­des Stein­chen, das ihm den Weg ver­trat; – und der am an­de­ren Ende, bei den letz­ten Häu­sern, doch sanft ge­rührt Ab­schied nahm von der Stadt, ganz ge­bän­digt, ganz lei­se plät­schernd, wie auf Fuß­spit­zen, wie ein­ge­schlä­fert von all’ der Ver­träumt­heit, die er ge­spie­gelt. Breit­spu­rig trat er ins wei­te Wie­sen­feld hin­aus, einen Bo­gen schlin­gend um das Gar­ni­sonss­pi­tal, das im Schat­ten dick­lei­bi­ger Pla­ta­nen wie auf ei­ner In­sel stand. Von drei Sei­ten her misch­te sich das Mur­meln der trä­gen Flut in das Ra­scheln der Blät­ter, als stimm­te der Gar­ten, wenn die Däm­me­rung auf ihn fiel, mit­lei­dig ein Schlum­mer­lied an für die Ge­schun­de­nen, die da in Reih und Glied zu lei­den hat­ten, re­gle­men­tiert bis in den Tod hin­ein, bis ans Grab, in das man sie, ver­un­glück­te Schuh­ma­cher, Klemp­ner­ge­sel­len, Bau­ern­knech­te und Schrei­ber­see­len, mit groß­mäu­li­gen Ge­wehr­sal­ven ver­scharr­te.

Der Zap­fen­streich war eben ver­k­lun­gen; die Wa­che hielt die Run­de, stö­ber­te im Schat­ten der großen Al­lee drei Nach­züg­ler auf und jag­te sie ins Haus.

»Sei­d’s ös viel­leicht Of­fi­zie­re, was?«, brumm­te ge­müt­lich pol­ternd der Kom­man­dant, ein stäm­mi­ger Land­sturm­kor­po­ral mit er­grau­ten Schlä­fen.

»Mann­schaft g’hört ins Bett um neu­ne!«

Und nur um sei­ne Wür­de zu wah­ren, füg­te er mit schlecht ge­spiel­ter Bär­bei­ßig­keit die Dro­hung hin­zu:

»Als­dann! Is g’­fäl­lig oder net?«

Bei­na­he hät­te er die in sol­chen Fäl­len üb­li­che Dro­hung, dem einen oder an­de­ren Bei­ne zu ma­chen, schon aus­ge­spro­chen, aus Ge­wohn­heit; doch konn­te er im letz­ten Mo­ment den Satz noch ver­bei­ßen und schnitt ein Ge­sicht, als hät­te er sich ver­schluckt. Denn die Drei, die nun er­ge­ben dem Mann­schaft­sein­gang zu­hum­pel­ten, hät­ten ge­wiss nichts ein­zu­wen­den ge­habt ge­gen das Bei­ne­ma­chen. Sie kro­chen, zu dritt, auf zu­sam­men zwei Fü­ßen und sechs klap­pern­den Krücken. Als hät­ten Re­gis­seur­hän­de, ängst­lich um Sym­me­trie be­sorgt, das le­ben­de Bild ge­stellt, ging rechts ei­ner, der nur sein rech­tes Bein be­hal­ten hat­te, links sein Pend­ant, auf dem lin­ken Fuße hüp­fend; und in der Mit­te schau­kel­te, zwi­schen zwei ho­hen Krücken, der arm­se­li­ge Rest ei­nes Men­schen­lei­bes, die lee­ren Ho­sen­bei­ne übers Kreuz auf die Brust ge­steckt, so kurz, dass der gan­ze Mann in ei­ner Kin­der­wie­ge Platz ge­fun­den hät­te.

Mit ge­senk­tem Kopf und ge­ball­ten Fäus­ten, wie ge­duckt un­ter der Last des An­blicks, starr­te der Kor­po­ral der Grup­pe nach, knurr­te einen Fluch, der nicht ge­ra­de pa­trio­tisch klang, und spie in wei­tem Bo­gen zi­schend durch die Vor­der­zäh­ne. Als er sich zum Ge­hen wand­te, schlug vom an­de­ren Ende des Gar­tens, aus der Rich­tung des Of­fi­ziers­flü­gels, schal­len­des Ge­läch­ter an sein Ohr. Ver­stei­nert blieb er ste­hen, zog den Kopf ein, wie aufs Ge­nick ge­schla­gen, und über sein brei­tes, gut­mü­ti­ges Bau­ern­ge­sicht husch­te ein Schein von un­bän­di­gem Hass. Er spie noch ein­mal aus, um sich zu be­ru­hi­gen, nahm einen An­lauf und pas­sier­te, stramm sa­lu­tie­rend, die lus­ti­ge Ge­sell­schaft.

Die Her­ren dank­ten läs­sig. Sie sa­ßen, – an­ge­steckt von dem Be­ha­gen, das wie eine Wol­ke über dem gan­zen Städt­chen schweb­te, – fröh­lich plau­dernd auf vier, zu ei­nem Qua­drat zu­sam­men ge­scho­be­nen Bän­ken vor dem Hau­se, spra­chen vom Krieg und – lach­ten, wie ver­gnüg­te Schul­kin­der, die freu­dig von über­stan­de­nen Prü­fungs­ängs­ten schwat­zen. Je­der hat­te sei­ne Pf­licht ge­tan, sein Teil ab­be­kom­men und saß nun, im Schut­ze sei­ner Wun­de, in mol­li­ger Er­war­tung auf Hei­m­ur­laub, Wie­der­se­hen, Ge­fei­ert­wer­den und we­nigs­tens zwei gan­ze Wo­chen als un­nu­me­rier­ter Mensch.

Am lau­tes­ten lach­te der jun­ge Leut­nant, den sie Mu­sul­mann nann­ten, we­gen sei­ner mo­ham­me­da­ni­schen Kopf­be­de­ckung als Of­fi­zier ei­nes Bos­n­ja­ken­re­gi­ments. Eine her­ab­sau­sen­de Hül­se hat­te ihm das lin­ke Bein ge­bro­chen und gründ­lich, denn es lag seit Wo­chen schon ver­schient und ein­ge­wi­ckelt in star­rer Gips­hül­se, sorg­fäl­tig ge­hegt von sei­nem Be­sit­zer, der es, auf Krücken ge­stützt, wie einen frem­den, ihm an­ver­trau­ten Wert­ge­gen­stand mit sich trug.

Auf der Bank ge­gen­über dem Mu­sul­mann sa­ßen zwei Her­ren: ein Ritt­meis­ter – der ein­zi­ge Ak­ti­ve in der Ge­sell­schaft – mit ei­nem Qu­er­schlä­ger im rech­ten Arm und ein Ar­til­le­rie­of­fi­zier, in Zi­vil Pri­vat­do­zent der Phi­lo­so­phie – da­her kurz Phi­lo­so­ph ge­nannt – mit ei­ner schon ver­hei­len­den Ha­sen­schar­te, die ihm ein Gra­nat­split­ter in die Ober­lip­pe ge­ris­sen. Die­se drei be­strit­ten, mit den zwei Da­men auf der Bank, die an der Mau­er stand, al­lein die Un­ter­hal­tung; denn der vier­te: Land­sturm­leut­nant mit ge­lich­te­tem Hin­ter­kopf, be­kann­ter Opern­kom­po­nist in Zi­vil, saß ver­sun­ken, mit zu­cken­den Glie­dern und un­s­tet ir­ren­den Au­gen auf sei­ner Bank, ohne An­teil zu neh­men am Ge­spräch. Er war vor ei­ner Wo­che erst ein­ge­lie­fert wor­den, mit ei­ner schwe­ren Ner­ve­n­er­schüt­te­rung, die er sich auf dem Do­ber­do-Pla­teau ge­holt. In sei­nem Blick kau­er­te noch das Grau­en. Fins­ter vor sich hin­brü­tend ließ er wil­len­los al­les mit sich ge­sche­hen, ging zu Bett oder saß im Gar­ten, von den an­de­ren wie durch eine un­sicht­ba­re Wand ge­trennt, auf die er stier­te. Selbst die un­ver­hoff­te An­kunft sei­ner hüb­schen, blon­den Frau hat­te die Vi­si­on des grau­si­gen Er­leb­nis­ses, das ihn aus dem Gleich­ge­wicht ge­bracht, für kei­nen Au­gen­blick ver­scheu­chen kön­nen. Das Kinn auf der Brust, ließ er die ge­flüs­ter­ten Ko­se­wor­te sei­ner Frau ohne ein Lä­cheln über sich er­ge­hen, rück­te, wie von ei­nem Krampf ge­packt, wie ge­pei­nigt bei Sei­te, so oft sie, mit un­end­lich viel Lie­be in den Fin­ger­spit­zen, ängst­lich eine Berüh­rung mit sei­nen ar­men, zit­tern­den Hän­den such­te.

Schwe­re Trä­nen roll­ten über die zärt­lich­keits­hung­ri­gen Wan­gen der klei­nen Frau, die sich so tap­fer durch alle Sperr­zo­nen ge­kämpft hat­te, bis zu dem Spi­tal im Kriegs­ge­biet – und nun, nach der er­lö­sen­den Freu­de: ih­ren Mann le­bend, un­ver­stüm­melt wie­der­ge­fun­den zu ha­ben, plötz­lich einen rät­sel­haf­ten Wi­der­stand spür­te, ein letz­tes, un­er­war­te­tes Hin­der­nis, das sie nicht mehr weg­bet­teln, nicht weg­wei­nen konn­te, und das doch da war, sie un­barm­her­zig von dem Er­sehn­ten trenn­te. In qual­vol­ler Rat­lo­sig­keit saß sie lau­ernd ne­ben ihm, zer­mar­ter­te sich das Hirn, ohne eine Er­klä­rung fin­den zu kön­nen für die Feind­schaft, die aus ihm strahl­te. Ihre Au­gen durch­bohr­ten die Fins­ter­nis, ihre Hän­de gin­gen im­mer wie­der den glei­chen Weg, sich schüch­tern vor­wärts­tas­tend, um wie ver­sengt, zu­rück­zu­zu­cken, wenn sein ge­häs­si­ges Aus­wei­chen sie von Neu­em in Verzweif­lung stürz­te.

Es war hart, so den Schmerz ver­bei­ßen zu müs­sen, nicht mit ei­nem vor­wurfs­vol­len Auf­schrei ih­rem Man­ne das Ge­heim­nis ent­rei­ßen zu kön­nen, das er in sei­nem Elend noch so trot­zig zwi­schen sich und sei­ne ein­zi­ge Stüt­ze schob. Hart war es auch, mit ge­heu­chel­ter Fröh­lich­keit über das glück­li­che Wie­der­se­hen teil­zu­neh­men an der leicht­fer­ti­gen Un­ter­hal­tung; im­mer wie­der et­was er­wi­dern müs­sen und nicht die Ge­duld zu ver­lie­ren über das ewi­ge Ki­chern der an­de­ren. Die frei­lich hat­te es leicht! Wuss­te den Mann ge­bor­gen bei ei­nem hö­he­ren Kom­man­do hin­ter der Front und war der Lan­ge­wei­le ih­res kin­der­lo­sen Hau­ses hier­her ent­flo­hen, in das er­eig­nis­rei­che Le­ben des Spi­tals. Seit sie­ben Uhr abends saß sie, auf­bruch­be­reit, in Hut und Ja­cke, ließ sich im­mer wie­der zum Blei­ben be­we­gen und schä­ker­te lus­tig drauf los, als wüss­te sie nichts mehr von all den Qua­len, die sie tags­über in dem Hau­se ge­se­hen, an das sie den Rücken lehn­te. Die trau­ri­ge klei­ne Frau at­me­te auf, als die Dun­kel­heit so dicht ge­wor­den war, dass sie un­auf­fäl­lig ab­rücken konn­te von der fri­vo­len Schwät­ze­rin.

Und doch war die Frau Ma­jor, trotz des auf­rei­zen­den Ge­kut­ters, der wich­tig­tue­ri­schen Mie­ne, mit der sie von ih­ren Schwes­tern­pflich­ten sprach, durch­drun­gen von ei­nem Ge­fühl, das sie – ohne ihr Wis­sen – hoch über sie selbst em­por­hob.

Die große Müt­ter­lich­keits­wel­le, die über al­les weib­li­che her­ein­brach, als den Män­nern die schwe­re Stun­de ge­schla­gen, trug auch sie. Die drei Män­ner, in de­ren Krei­se sie jetzt mol­lig in Re­dens­ar­ten plät­scher­te, hat­te sie – wie tau­send an­de­re – blut­über­strömt, un­be­hol­fen, vor Schmer­zen wim­mernd ge­se­hen; und et­was von der Freu­de der Hen­ne, de­ren Kü­ken flüg­ge wer­den, durch­wärm­te ihre Ko­ket­te­rie. Seit die Män­ner hockend, krie­chend, hun­gernd Mo­nat auf Mo­nat den ei­ge­nen Tod aus­tra­gen, wie Frau­en ihre Kin­der, – seit Dul­den und War­ten, pas­si­ves sich Ab­fin­den mit Ge­fahr und Schmerz das Ge­schlecht ge­wech­selt, füh­len die Frau­en sich stark, und selbst in ih­rer Lüs­tern­heit glimmt noch ein we­nig von der neu­en Lei­den­schaft des Be­mut­terns.

Die trau­ri­ge blon­de Frau, eben erst an­ge­kom­men aus ei­ner Zone, in wel­cher der Krieg nur in Ge­sprä­chen lebt, ganz auf ih­ren ein­zi­gen Mann ein­ge­stellt, litt un­ter der ge­schlechts­lo­sen Ver­trau­lich­keit, die sich da im Schat­ten von Tod und Qua­len breit mach­te, im La­za­rett­gar­ten, den die Dun­kel­heit im­mer mehr ver­schlang. Die an­de­ren aber wa­ren da­heim im Krie­ge, spra­chen sei­ne ei­ge­ne Spra­che, ge­mischt aus trot­zi­ger Le­bens­ge­frä­ßig­keit, ei­ner pa­ra­do­xen Mil­de in den Män­nern, ge­bo­ren aus Über­sät­ti­gung an Roh­heit und ei­ner selt­sa­men, ge­schwät­zi­gen Kalt­blü­tig­keit der Frau, die so viel von Blut und Ster­ben ge­hört, dass ihre ewi­ge Neu­gier wie Här­te und hys­te­ri­sche Grau­sam­keit klang.

Der Mu­sul­mann und der Ritt­meis­ter he­chel­ten den Phi­lo­so­phen durch, spöt­tel­ten weg­wer­fend über Wort­fuch­ser, Tüft­ler und ähn­li­che Ta­ge­die­be und freu­ten sich kin­disch über sei­ne breit lä­cheln­de Ver­le­gen­heit vor der Frau Ma­jor, die, aus weib­li­chem An­stand, der wehr­lo­sen Gut­mü­tig­keit des Phi­lo­so­phen ih­ren Bei­stand lieh, wäh­rend ihre Au­gen voll pas­sio­nier­ter Zu­nei­gung zu den an­de­ren hin­über­blitz­ten, die ihre Fäus­te pat­zig im Mun­de führ­ten.

»Las­sen Sie doch den ar­men Herrn Ober­leut­nant in Ruh’«, wehr­te sie ab mit gur­ren­dem La­chen, »er hat recht. Der Krieg ist scheuß­lich. Die Zwei zie­hen Sie ja doch nur auf!«, zwin­ker­te sie be­gü­ti­gend hin­über.

Der Phi­lo­soph schmun­zel­te phleg­ma­tisch und schwieg. Der Mu­sul­mann gab sei­nem Bein, das, weiß schim­mernd, ein­zig von ihm sicht­bar blieb in der Fins­ter­nis, mit lei­sem Zäh­ne­knir­schen eine bes­se­re Lage auf der Bank und lach­te laut auf:

»Der Phi­lo­soph? Ja, was weiß denn der Phi­lo­soph vom Krieg, Frau Ma­jor? Der is’ ja doch Ar­til­le­rist! Krieg führt nur die In­fan­te­rie. Wis­sens Frau Ma­jor …«

»Hier hei­ße ich Schwes­ter En­gel­ber­ta«, fiel sie ein und ihr Ge­sicht wur­de fast ernst für einen Au­gen­blick.

»Par­don, Schwes­ter En­gel­ber­ta! Ar­til­le­rie und In­fan­te­rie, das is’ näm­lich wie Mann und Frau. Wir In­fan­te­ris­ten müs­sen das Kind auf d’Welt brin­gen, wann ein Sieg ge­bo­ren wer­den soll. D’Ar­til­le­rie hat nur’s Ver­gnü­gen, wie der Mann in der Lie­be; fahrt stolz vor, wann’s Kind schon aus der Tauf ge­ho­ben wird. Hab ich nicht recht, Herr Ritt­meis­ter? Du bist ja jetzt auch Rei­ter zu Fuß.«

Der Ritt­meis­ter stimm­te dröh­nend ein. Laut sei­ner sum­ma­ri­schen An­schau­ung ge­hör­ten Ab­ge­ord­ne­te, die nicht ge­nug Geld fürs Mi­li­tär be­wil­lig­ten, So­zia­lis­ten und Pa­zi­fis­ten, kurz al­les was sprach, schrieb, über­flüs­si­ge Wor­te mach­te und vom G’­scheit sein leb­te in das glei­che Ka­pi­tel Bü­cher­wur­m wie der Phi­lo­soph.

»Ja, ja«, sag­te er mit sei­ner über­schrie­nen Stim­me, »für d’Ar­til­le­rie is’ so a Phi­lo­soph gra­d’s Rech­te. Auf’m Berg oben hock’n und zu­schaun, sonst tun’s ja eh nix. Wann’s nit un­se­re ei­ge­nen Leut z’amm­schießn! Mit dene Katzl­ma­cher vor uns, sein mir im­mer leicht fer­tig worn; aber vor euch Meu­chel­mör­der im Rücken hab ich im­mer an Mords­re­spekt g’habt. Aber jetzt hör­t’s end­lich auf vom Krieg zu re­den, sonst geh ich schlafn. Da sitzt man end­lich mit zwei rei­zen­den Da­men, sieht nach lan­ger Zeit wie­der ein G’­sicht ohne Bart­stop­peln, und Ihr sprichts im­mer noch von der da­mi­schen Schie­ße­rei. Herr­gott, wie zu mir in’ La­za­rett­zug das ers­te blon­de Mä­derl rein­kom­men is, mit­’m wei­ßen Häu­berl auf­’m Wu­schel­kopf, ich hät­t’s am liebs­ten bei der Hand g’nom­men und im­mer nur ang’schaut. Ehren­wort, Frau Ma­jor: Das bisl Schie­ßen wird ei­nem höchs­tens fad mit der Zeit; die Haus­tierln sind schon är­ger; aber’s Ärgs­te ist das voll­kom­me­ne Feh­len der hol­den Weib­lich­keit. Fünf Mo­nat lang nix als Män­ner sehn, – und dann auf ein­mal wie­der so an hel­les, lie­bes Frau­en­stim­merl hö­ren! … Das is’ doch’s Schöns­te! Da­für lohnt sich’s schon in Krieg zu ge­hen.«

Der Mu­sul­mann ver­zog sein be­weg­li­ches, von Ju­gend blit­zen­des Ge­sicht zu ei­ner Gri­mas­se:

»Das Schöns­te? … Nein, weißt Herr Ritt­meis­ter, wann ich auf­rich­tig sein soll … ge­ba­det wer’n, dann, mit­’n fri­schen Ver­band, ins sau­be­re, wei­ße Bett hin­ein, und wis­sen, dass ma sei’ Ruh habn wird für a paar Wo­chen, … das is’ a G’­fühl, wie … Da gib­t’s über­haupt kein Ver­gleich. Aber wie­der ein­mal Da­men se­hen is’ frei­lich auch sehr schön.«

Der Phi­lo­soph hat­te sei­nen run­den, flei­schi­gen Epi­kurä­er­kopf schief auf die Schul­ter ge­legt; sei­ne klei­nen, lis­ti­gen Au­gen be­ka­men einen feuch­ten Glanz. Er blick­te hin­über, wo ein hel­ler Fleck, in der fast greif­bar ge­wor­de­nen Fins­ter­nis, das wei­ße Kleid der Frau Ma­jor ver­mu­ten ließ und hub in ei­nem lei­se sin­gen­den Ton, ganz lang­sam zu er­zäh­len an:

»Das Schöns­te ist, fin­de ich, die Stil­le. Wenn man da oben in den Ber­gen ge­le­gen ist, wo je­der Schuss fünf­mal hin- und her­ge­wor­fen wird, und dann ist’s auf ein­mal ganz still, kein Pfei­fen, kein Heu­len, kein Don­nern, nichts als eine herr­li­che Stil­le, der man zu­hö­ren kann, wie ei­nem Mu­sik­stück – – – Ich habe die ers­ten Näch­te sit­zend durch­wacht und die Ohren ge­spitzt auf die­ses Schwei­gen, wie auf eine Me­lo­die, die man von wei­tem er­ha­schen will. Ich glau­be, ich habe so­gar ein we­nig ge­heult, so schön war’s zu­zu­hö­ren, dass man gar nichts mehr hört!«

Der Ritt­meis­ter schleu­der­te sei­ne Zi­ga­ret­te weg, dass sie, wie ein Ko­met, fun­ken­sprü­hend durch die Nacht flog und schlug sich klat­schend auf den Schen­kel.

»Na, also«, rief er höh­nisch, »hab’ns das ver­stan­den, Frau Ma­jor? Zu­hö­ren, dass man nix hört. Seh’ns, das heißt man Phi­lo­so­phie. Ich weiß aber noch was Schö­ne­res, du! Näm­lich: nicht zu hö­ren, was man hört. Be­son­ders wann’s so an phi­lo­so­phi­schen Stie­fel zu hö­ren gibt.«

Man lach­te, – und der Ge­hän­sel­te lä­chel­te gut­mü­tig mit. Auch er war ganz durch­tränkt von dem Frie­den, der aus der schla­fen­den Stadt in den herbst­li­chen Gar­ten her­über­weh­te, und die ag­gres­si­ven Scher­ze des Ritt­meis­ters perl­ten an ihm ab, wie al­les, was ge­eig­net ge­we­sen wäre, die Süße der we­ni­gen Tage, die ihn von der Rück­kehr an die Front noch trenn­ten, zu min­dern. Er woll­te sei­ne Zeit aus­ge­nie­ßen, be­hä­big, mit ge­schlos­se­nen Au­gen; wie ein Kind, das ins fins­te­re Zim­mer muss.

Die Frau Ma­jor beug­te sich vor:

»Über das Schöns­te ge­hen also die Mei­nun­gen aus­ein­an­der«, sag­te sie, und ihr Atem ging ra­scher, »was war aber das Gräss­lichs­te, das Sie drau­ßen er­lebt ha­ben? Vie­le sa­gen das Trom­mel­feu­er wäre das Gräss­lichs­te; vie­le kön­nen den Ers­ten, den sie fal­len ge­se­hen ha­ben, nicht ver­win­den. Und Sie?«

Der Phi­lo­soph, an den die Fra­ge ge­rich­tet war, schnitt ein ge­quäl­tes Ge­sicht. Die­ses The­ma pass­te so gar nicht in sein Pro­gramm. Er such­te noch nach ei­ner aus­wei­chen­den Ant­wort, als ein un­ver­ständ­li­cher, rö­cheln­der Aus­ruf alle Au­gen in die Ecke zog, in wel­cher der Land­sturm­of­fi­zier und sei­ne Frau sa­ßen. Man hat­te die bei­den fast schon ver­ges­sen in der Dun­kel­heit und wech­sel­te er­schro­cke­ne Bli­cke, als der tor­keln­de Mann mit den er­lo­sche­nen Au­gen, die zer­bro­che­ne Glie­der­pup­pe, de­ren Stim­me kaum ei­ner kann­te, jetzt im krä­hen­den Dis­kant has­tig zu re­den an­fing:

»Gräss­lich? Gräss­lich ist nur der Ab­marsch«, rief er. »Man geht, – – – und dass man ge­las­sen wird, das ist gräss­lich!«

Ein kal­tes, wür­gen­des Schwei­gen folg­te sei­nen Wor­ten; selbst das ewig fröh­li­che Ge­sicht des Mu­sul­man­nes er­starr­te in pein­li­cher Ver­le­gen­heit. Das kam so un­er­war­tet, klang so un­ver­ständ­lich und hat­te – viel­leicht durch das Vi­brie­ren der Stim­me aus dem zit­tern­den Leib oder den gur­geln­den Ne­ben­ton, der wie über­schrie­nes Schluch­zen klang – doch alle an der Keh­le ge­packt und ließ die Pul­se schnel­ler schla­gen.

Die Frau Ma­jor sprang auf. Sie hat­te den Mann an­kom­men ge­se­hen, auf eine Bah­re ge­schnallt, weil ihn das Wei­nen so hoch schleu­der­te, dass die Trä­ger nicht an­ders sei­ner Herr wer­den konn­ten. Ir­gen­det­was un­sag­bar Häss­li­ches hat­te, – so hieß es, – den ar­men Teu­fel halb um sei­nen Ver­stand ge­bracht, und die Frau Ma­jor durch­zuck­te jäh die Angst vor ei­nem Tob­suchts­an­fall. Sie kniff den Ritt­meis­ter in den Arm und rief mit ge­heu­chel­ter Eile:

»Um Got­tes­wil­len! Da klin­gelt ja schon die letz­te Tram­way! Schnell, schnell, gnä­di­ge Frau, wir müs­sen lau­fen.«

Alle wa­ren auf­ge­stan­den; die Frau Ma­jor hat­te sich in den Arm der un­glück­li­chen klei­nen Frau ein­ge­hakt und dräng­te im­mer has­ti­ger:

»Wir müs­sen eine Stun­de zu Fuß ge­hen bis zur Stadt, wenn wir die Elek­tri­sche ver­pas­sen.«

Rat­los, am gan­zen Lei­be zit­ternd, beug­te die Frau sich noch ein­mal zu ih­rem Mann hin­ab, um Ab­schied zu neh­men. Sie fühl­te ge­nau, dass die­ser Auf­schrei ihr galt; dass er einen grim­mi­gen, töd­li­chen Vor­wurf ent­hielt, den sie nicht be­griff. Sie fühl­te ih­ren Mann zu­rück­wei­chen, sich ver­kramp­fen un­ter der Berüh­rung ih­rer Lip­pen und schluchz­te auf, bei dem gräss­li­chen Ge­dan­ken an die end­lo­se Nacht in dem fros­ti­gen, ver­wahr­los­ten Ho­tel­zim­mer, al­lein mit die­sem quä­len­den Zwei­fel. Aber die Frau Ma­jor zog sie mit sich, zwang sie zum Lau­fen; ließ sie erst wie­der los, als sie schon, an der Tor­wa­che vor­bei, auf die Stra­ße tra­ten.

Die Her­ren blick­ten ih­nen nach, sa­hen die Fi­gu­ren im Schei­ne der Stra­ßen­la­ter­ne noch ein­mal auf­tau­chen, horch­ten dem Sau­sen der Tram­bahn nach. Der Mu­sul­mann griff nach sei­nen Krücken, blin­zel­te dem Phi­lo­so­phen be­deu­tungs­voll zu und sprach gäh­nend von Schla­fen­ge­hen. Der Ritt­meis­ter sah neu­gie­rig auf den Kran­ken hin­ab, fühl­te Er­bar­men und woll­te dem ar­men Teu­fel eine Freu­de ma­chen. Er klopf­te ihm auf die Schul­ter und sag­te in sei­ner bur­schi­ko­sen Art:

»Eine fe­sche Frau hast, das muss man sa­gen. Mein Kom­pli­ment!«

Im nächs­ten Au­gen­blick fuhr er er­schro­cken zu­rück. Das küm­mer­li­che, zu­sam­men­ge­sun­ke­ne Häuf­chen auf der Bank sprang plötz­lich hoch, wie em­por­ge­schnellt von ei­ner jäh er­wach­ten Kraft.

»Fe­sche Frau? Ja, ja. Schnei­di­ge Frau!«, kam es gei­fernd über die zu­cken­den Lip­pen, mit ei­ner Wut, die wie bro­delnd die Wor­te schleu­der­te, »hat kei­ne Trä­ne ver­gos­sen beim Ein­wag­go­nie­ren. Wa­ren alle fesch, wie wir ab­mar­schiert sind. Auch die Frau vom ar­men Dill. Sehr schnei­dig! Hat ihm Ro­sen nach­ge­wor­fen in den Zug und war erst seit zwei Mo­na­ten sei­ne Frau.« – Er ki­cher­te höh­nisch und ball­te die Fäus­te, schwer an­kämp­fend ge­gen die Trä­nen, die ihm in der Gur­gel glüh­ten. – Ro­auf Wie­der­se­hen­­­­­­­­­­­­­­­