Stephan Thome
Gott der Barbaren
Roman
Suhrkamp
Für meine Eltern
Niemand weiß etwas über sie. Manche nennen sie langhaarige Banditen, andere die Gottesanbeter, aber warum rasieren sie sich die Stirn nicht, und welchen Gott beten sie an? Zuerst sollen sie in der Provinz Guangxi aufgetaucht sein, in einer abgelegenen Gegend namens Distelberg, wo die Menschen so arm sind, dass sie schwarzen Reis essen und in Hütten mit undichten Dächern leben. Zugezogene Bauern vom Volk der Hakka, die von den Alteingesessenen verachtet werden. Einer meiner Kollegen hat sie Erdfresser aus dem Süden genannt, die nur darauf gewartet hätten, dass jemand kommt und sie mit aufwieglerischen Reden verwirrt. In diesem Fall ein gescheiterter Prüfungskandidat, von denen es bei uns so viele gibt. Dreimal durchgefallen und danach verrückt geworden, sagen die Leute, aber stimmt es auch? Ich bin selbst einmal bei den Prüfungen gescheitert und weiß, wie es sich anfühlt, wenn der große Traum platzt. Dornen hat man sich in die Schuhe gesteckt, um nicht über den Büchern einzuschlafen, und dann war alles umsonst?
Nicht wenige glauben, dass es mit den ausländischen Teufeln zu tun hat. Auch von ihnen weiß niemand, wer sie sind. Eines Tages kamen sie über den Ozean und ließen sich an unserer Küste nieder, als wäre es ihre. Sie handeln mit Opium, stellen Forderungen und drohen mit Krieg, wenn sie nicht erfüllt werden. Dem Himmel missfällt ihre Anwesenheit, doch leider ist unser Reich nicht mehr so stark wie früher. Gegen die Barbaren an unseren Grenzen kämpfen wir seit jeher, aber nie hatten sie Kanonen von solcher Feuerkraft. Im südlichen Meer haben die Fremden eine Insel besetzt, um noch mehr Opium zu schmuggeln und ihren fremden Gott anzubeten. Shang Di, der Herrscher in der Höhe, angeblich ist es derselbe, den auch die Langhaarigen verehren. Als ihr Anführer zum dritten Mal durch die Prüfung fiel, sollen die ausländischen Teufel ihm ein Buch gegeben haben, um ihn zu verhexen. Nach der Rückkehr in sein Dorf wurde er prompt krank, und als er fiebernd im Bett lag, träumte er davon, dass Shang Di ihn zu sich in den Himmel rief, ihm ein Schwert gab und ihm befahl, die Dämonen zu töten. So hat es begonnen, heißt es. Ein Traum platzt, und ein anderer beginnt. Seitdem hält er sich für Gottes Sohn und für Dämonen all jene, die den Zopf tragen und dem Kaiser in der Hauptstadt dienen ‒ so wie ich.
Hat das Auftauchen der Fremden die kosmische Ordnung zerstört? Inzwischen besitzen die Rebellen ihre eigene Hauptstadt, in der einst die Kaiser der Ming residierten und die nun Himmlische Hauptstadt genannt wird. Als junger Mann habe ich ihre prächtigen Gärten und Straßen bewundert und sehnsüchtig auf die Blumenboote am Qinhuai-Fluss geblickt. Wenn eine solche Stadt erobert wird, hat es etwas zu bedeuten, aber was? Wie können arme, ungebildete Bauern Gebiete besetzen, die größer sind als ihre Heimatprovinz? Ihren Anführer verehren sie als Himmlischen König, und ich kann nicht aufhören, mich über sie zu wundern. Wenn die Kollegen im Yamen sie beschimpfen, denke ich insgeheim, dass auch der Kaiser im Norden ein Fremder ist, ein Mandschu von jenseits der Großen Mauer. Dann frage ich mich, ob es nicht besser wäre, wir würden von unseresgleichen regiert. Früher habe ich darüber nicht nachgedacht, warum tue ich es jetzt? Der Himmel hat keine Vorlieben, heißt es im Buch der Geschichte, er bevorzugt allein die Tugendhaften.
Es gibt Tage, da erkenne ich mich selbst nicht wieder. Der Gouverneur, für den ich arbeite, ist so korrupt wie viele hohe Amtsträger, und manchmal wünsche ich, dass jemand kommt und den ganzen Schmutz hinwegfegt. Obwohl ich am liebsten in einem stillen Zimmer sitze und lese, träume ich von der großen reinigenden Flut. Ein Junzi muss die heiligen Texte studieren, den Ahnen opfern und seine Kinder zu Pietät und Bescheidenheit erziehen. All das tue ich, so gut ich kann, und dennoch findet mein Herz keine Ruhe. Warum ist das so? Woher kommt diese Wut in mir?
Vor dreihundert Jahren lebte der berühmte Beamte Hai Rui. Frustriert über den Zustand des Reiches, verfasste er eine Eingabe an den Kaiser und machte ihn für die vielen Missstände verantwortlich. ›Schon vor geraumer Zeit‹, schrieb er, ›haben die Menschen begonnen, Eure Majestät für unwürdig zu halten.‹ Bevor er den Text abschickte, kaufte er sich einen Sarg. Er wurde verhaftet und nur deshalb nicht hingerichtet, weil der Kaiser kurz darauf starb, aber als man Hai Rui die Todesnachricht überbrachte, soll er nicht etwa gejubelt haben, sondern vor Trauer in Tränen ausgebrochen sein. Nach der Entlassung stieg er in höchste Ämter auf, und trotzdem hinterließ er bei seinem Tod nicht genug Geld für ein ordentliches Begräbnis. Viele nennen ihn exzentrisch und töricht, für mich ist er ein Vorbild, schließlich werde ich auch oft für verrückt erklärt, weil ich meiner Tochter lesen und schreiben beibringe, statt ihr die Füße zu binden.
Was würde Hai Rui an meiner Stelle tun? Wie es heißt, wollen die Rebellen den Feldzug bald fortsetzen, dann wird auch um unsere Stadt gekämpft werden. Sind sie die Rettung oder unser Untergang? Sollen wir fliehen oder bleiben? Meine Kinder schauen zu mir auf und ahnen nichts von der Verwirrung in meinem Herzen. Wehe uns! Wir leben in einer Zeit der Zweifel und der bösen Omen, niemand ist mehr sicher.