Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Brandhorst
ISBN 978-3-492-99240-4
© Terry und Lyn Pratchett 2012
Titel der englischen Originalausgabe:
»A Blink on the Screen. Collected Shorter Fiction« bei Doubleday, London 2012
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Katarzyna Oleska
Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen
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Vorwort von A. S. Byatt
Kurzgeschichten außerhalb der Scheibenwelt
Die Hades-Angelegenheit
Lösung
Das Bild
Der Prinz und das Rebhuhn
Rincemangle, der Gnom von Even Moor
Bitte flach und langsam atmen
Die Glastonbury-Geschichte
Warteschlangenärger
Vogelfrei
Achtung, Monolithen
Die hohen Meggas
Zwanzig Pence mit einem Umschlag und Weihnachtsgruß
Inkubist
Letzter Lohn
Scheibenwahn
Cybertrip
Hollywood Hühner
Das geheime Buch der Toten
Einst und immerdar
Die Weihnachtsfestplatte
Sir Joshua Easement: Eine Kurzbiografie
Kurzgeschichten von der Scheibenwelt
Troll dich
Gefährliche Possen
Das Meer und der kleine Fisch
Die Hymne von Ankh-Morpork
Medizinische Anmerkungen
Klonk – Eine historische Perspektive
Einige Worte von Lord Havelock Vetinari
Tod und was als Nächstes kommt
Eine akademische Austreibung teuflischer Apparate
Protokoll der Sitzung zur vorgeschlagenen Pfadfinderschaft von Ankh-Morpork
Die Fußballberühmtheiten von Ankh-Morpork als Spielkarten
Gestrichener Auszug aus »Das Meer und kleine Fische«
Ich weiß noch, dass ich meinen ersten Pratchett – Helle Barden – in einer Buchhandlung am Sloane Square gekauft habe. Ich wollte geistig woanders sein, und der bunte Stapel von Scheibenweltromanen erschien mir als geeignete Zuflucht. Ich sah mir die Bücher an. Auf den ersten Blick schienen Josh Kirbys Darstellungen von vollbusigen Frauen und tatkräftigen Drachen nicht so mein Ding zu sein. Was mich schließlich zum Kauf bewog, war der Name Ankh-Morpork. Wer sich so etwas einfallen ließ, musste ein richtig guter Autor sein. Außerdem war eine Scheibenwelt Teil meiner Kindheit gewesen. Ich besaß nämlich ein Buch über nordische Sagen, und darin gab es auch eine indische Geschichte über eine Welt, die auf dem Rücken von vier Elefanten ruhte, die ihrerseits auf einer riesigen Schildkröte standen und von einer Schlange umgeben waren.
Ich nahm das Buch mit nach Hause, las es in einem Zug durch und war Feuer und Flamme. Anschließend besorgte ich mir auch die anderen Scheibenweltromane und nahm sie mir in der Reihenfolge ihres Erscheinens vor. Jeden Sommer, wenn ich über mein eigenes Schreiben nachdachte, blätterte ich erneut darin. Dabei entdeckte ich immer den einen oder anderen Witz, den ich übersehen hatte. Jedes Mal spürte ich den narrativen Sog eines großartigen Geschichtenerzählers. Irgendwann wusste ich auch Josh Kirbys Bilder zu schätzen. Seine Geschöpfe haben eine fröhliche, wilde Energie und Komplexität, sind sowohl frech als auch elegant, und das ist genau die richtige Mischung für die Geschichten der Scheibenwelt.
Terry Pratchett meint, seine Leser seien Leute, die mit Computern arbeiten. Aber meine literarischen Freunde sind ebenso süchtig wie ich – einmal habe ich mich fast um ein neues Buch gestritten (ich glaube, es war Der Zeitdieb), und zwar mit meinem gelehrten, geistreichen Lektor in einem Buchladen, in dem eine Lesung von mir stattfand. Letzte Woche habe ich mit einem angesehenen Philosophen über imaginäre Welten im Allgemeinen und Pratchett im Besonderen gesprochen. Außerdem: Menschen, die für gewöhnlich nicht lesen, lesen immerhin Pratchett. Zum Beispiel zwölfjährige Jungen, die Bücher sonst nicht ausstehen können. Hoffentlich wird Pratchett nie Schullektüre. In seiner Biografie auf dem Buchrücken hieß es, manche Leute hätten ihm »Literatur vorgeworfen«. Aber natürlich ist es Literatur, allerdings von jener Art, die man am besten allein und zurückgezogen genießt.
Tolkien benutzte den Begriff »sekundäre Welten« für die Beschreibung fiktiver, erfundener Welten mit eigenen Geschöpfen, eigener Geografie und eigener Geschichte. Menschen haben immer die Existenz des Anderen gebraucht, des Irrealen, der imaginären Personen und Dinge abseits des Vertrauten, der Märchen und Sagen bis hin zu Großstadtlegenden. Der Schöpfer sekundärer Welten benötigt Einfallsreichtum, für die großen Dinge ebenso wie für die kleinen. Pratchetts Welt ist wundervoll, weil er die schiere Kraft des großen Geschichtenerzählers besitzt. Man glaubt, alles über Drachen, einen Polizisten, den Plot oder die Landschaft zu wissen, und dann erzählt er noch mehr darüber, noch viel mehr, als man für möglich gehalten hätte, und das ist aufregend.
Pratchett wird von Buch zu Buch besser und seine Welt immer komplexer. Die Figuren wachsen ihm zunehmend ans Herz, und dadurch gewinnen sie an Tiefe. Nehmen Sie nur Hauptmann Mumm. Anfangs ein Trunkenbold an der Spitze der verlotterten Nachtwache, wird er zu einem Kommandeur, der zwei Heere wegen Landfriedensbruchs verhaften kann. Es fällt Pratchett schwer, unsympathische Figuren nur unsympathisch sein zu lassen. Wie bei der Stachelbeere™, einem Disorganizer, der Mumm gehört und von einem Kobold betrieben wird, einem kleinen Quälgeist, der aber wenigstens die Buchhaltung zu erledigen weiß. Oder A. E. Pessimal, ein Buchprüfer, der die Wache inspizieren soll, sich dann aber als Held entpuppt. (Ich habe in Wörterbüchern nachgeschlagen und herausgefunden, dass pessimal so viel bedeutet wie schlecht in einem maximalen Ausmaß.) Aber Pratchett kann auch echte Bösewichter kreieren, wie zum Beispiel Herrn Nadel in Die volle Wahrheit oder den obersten Inquisitor Vorbis in Einfach göttlich. Beide zeichnen sich durch grimmige Sturheit, wahre Grausamkeit und unbelehrbare Engstirnigkeit aus.
Wie Tolkien sagte: Sekundäre Welten müssen stimmig sein. Es besteht die Gefahr, dass der Weltenschöpfer romantisch ist oder dass Pläne für den Leser – didaktischer oder emotionaler Natur – erkennbar werden. Ich habe Tolkien noch einmal gelesen und besonderes Augenmerk auf die Landschaft und das beständige Gefühl von Gefahr gelegt. Mit Geschichten von realen Kindern, die sich in sekundären Welten wiederfinden, wie von einem Buch dorthin entführt, habe ich Probleme. J. K. Rowling ist eine ausgezeichnete Autorin, eine hervorragende Erfinderin von magischen Details. Der Ursprung ihrer Welt liegt jedoch in einem Internat, und dorthin möchte ich nicht zurückkehren. C. S. Lewis hat mir nie gefallen, weil ich den Eindruck gewann, dass er mich und seine Figuren moralisch manipulieren wollte. Philip Pullman schreibt wundervoll und dramatisch, aber er schreibt gegen Lewis und gerät in Gefahr, belehrend und kontrollierend zu werden. Pratchett ist trotz seiner Situationskomik, der teils recht groben, teils sehr komplizierten Witze auch klug und erwachsen. Als Leser vertraue ich ihm.
Bei einem Fernsehinterview bin ich einmal gefragt worden: »Geht es bei alldem nicht letztlich um uns?« – »Nein!«, habe ich empört geantwortet, weil ich wollte, dass meine sekundäre Welt separat und stimmig bleibt. Aber Pratchett schreibt natürlich über uns. Er kommt gut klar mit Polizisten, Geschäftsleuten, Betrügern, Mördern, Banken, Aktien und Musik mit Steinen im Innern, außerdem mit Kobolden, Hexen, Drachen, Trollen und Zwergen. Und natürlich mit Computern. Doch er schreibt weder Satiren noch Gleichnisse. Was in seine Welt gerät, befindet sich darin, mit eigener Kraft und Logik.
Die kürzeren Geschichten in der Sammlung A Blink of the Screen präsentieren oft Ausflüge von der sekundären Welt in unsere. Ein Fantasy-Autor tötet seinen barbarischen Helden und findet ihn vor der eigenen Haustür wieder, weil er seinem Schöpfer gegenübertreten möchte. Der Tod tanzt in einer Diskothek. Die erste Geschichte – Die Hades-Angelegenheit – schrieb Pratchett im Alter von dreizehn Jahren. Es geht dabei um den Teufel, der den Inhaber einer Werbeagentur in seiner Wohnung besucht. Pratchett entschuldigt sich für die Geschichte, aber sie hat ein fröhliches Tempo und ein zufriedenstellendes Ende. Alle seine Geschichten enden zufriedenstellend. Mir gefällt insbesondere die über einen Unfall, der sich im Jahr 1973 tatsächlich zugetragen hat und einen Laster betraf, der auf einer Straße in Hollywood umkippte, was einigen Hühnern unverhoffte Freiheit bescherte – sie fanden einen neuen Lebensraum im Gebüsch am Straßenrand. Oder die seltsame Geschichte über verzweifelte Reisende, die in der Welt viktorianischer Weihnachtskarten festsitzen, wie mit Schnee bedeckt von winzigen Lamettafetzen, monströsen Rotkehlchen und einem schrecklichen rechteckigen Schlitz. Es gibt Geschichten über Computer, darunter eine, die 1990 entstand und von einem freundlichen Techniker erzählt, der zwar nicht sonderlich intelligent ist, aber gut mit Apparaten umgehen kann – er arbeitet mit Maschinen, in denen der Benutzer eigene Realitäten erzeugen kann. (Übrigens hat auch diese Geschichte ein gutes Ende.)
Zu der Sammlung gehören auch einige Storys, die auf der Scheibenwelt spielen, darunter eine lange und gemeine über Oma Wetterwachs und eine komische Version der Nationalhymne von Ankh-Morpork.
Und es gibt da ein düsteres kleines Gedicht, in dem es heißt:
Über die Fakten des Todes sprechen sie nie mit dir,
Deine Mutter und dein Vater. Sie geben dir ein Tier.
Pratchett dazu: »Ich habe versucht, es mit der Stimme eines Dreizehnjährigen zu schreiben, mit der besonderen Ernsthaftigkeit eines jungen Amateurs. Was vermutlich nicht allzu weit davon entfernt ist, wie ich zu meinen besten Zeiten schreibe …« Ich verstehe, was er meint. Was sein Lehrer erkannte, als er dreizehn war, was wir alle mit großer Freude erkennen, Dreizehnjährige, Nerds, Geeks, lesende Autoren und Universitätsprofessoren: Pratchett ist ein geborener Schriftsteller, ein unnachahmlicher Schöpfer.
»The Hades Buisness«, Science Fantasy Zeitschrift, Hrsg. John Carnell, Nr. 60, Bd. 20, 20. August 1963. Eine frühere Version erschien in The Technical Cygnet, The High Wycombe Technical High School Magazine
Argh, argh, argh … wenn ich die Finger in die Ohren stecke und laut »Lalalala« sage, höre ich nicht, wenn Sie die folgende Geschichte lesen.
Sie ist kindisch. Kein Wunder, denn ich habe sie mit dreizehn geschrieben. Es handelt sich um den ersten von mir verfassten Text, der veröffentlicht wurde. Und damals geschah es zum ersten Mal, dass ich etwas mit dem Gefühl schrieb, eine richtige Geschichte zu verfassen.
Sie begann als eine Hausaufgabe. Der Englischlehrer gab mir dafür zwanzig Punkte von zwanzig und veröffentlichte sie in der Schülerzeitung. Die anderen Schüler fanden sie toll. Ich war ein Autor.
Und das war eine große Sache, denn bis dahin hatte ich kaum etwas vorzuweisen. Ich war gut in Englisch und in allem anderen mittelmäßig – ich gehörte zu den Schülern, die dem Lehrer nicht auffielen und darüber froh waren. Selbst im Sport schnitt ich schlecht ab, bis auf die Zeit, als wir Hockey spielten – darin war ich schlecht und gefährlich.
Meinen Mitschülern gefiel die Geschichte. Ich leckte Blut.
Damals gab es drei, ja, drei professionelle SF- und Fantasy-Magazine in Großbritannien. Unglaublich, aber wahr. Ich überredete meine Tante, die eine Schreibmaschine hatte, die Geschichte für mich zu tippen, und ich schickte sie John Carnell, der alle drei Magazine herausgab. Der Mut eines Heranwachsenden.
Er nahm sie.
Lieber Himmel.
Ich bekam 14 £, genug für den Kauf einer gebrauchten Imperial-58-Schreibmaschine von meinem Tipplehrer – meine Mutter hatte entschieden, dass ich als Autor in der Lage sein sollte, das Tippen selbst zu erledigen. Beim Schreiben merkte ich, dass es für vierzehn Piepen eine sehr gute Maschine war, und ich frage mich heute, ob meine Eltern nicht insgeheim für die Differenz aufkamen.
Bevor ich mit dem Ding großen Schaden anrichten konnte, nahmen Schule und Prüfungen mich voll in Anspruch, und ich ergatterte einen Job bei der Lokalzeitung, wo ich richtig schreiben lernte – oder wenigstens journalistisches Schreiben.
Ich habe die Geschichte noch einmal gelesen, und es juckte mir in den Fingern, sie auseinanderzunehmen, etwas schneller zu machen, die Klischees über Bord zu werfen, kurz gesagt: die Geschichte ganz neu zu schreiben. Aber das wäre dumm, und deshalb beiße ich stattdessen die Zähne zusammen.
Nur zu, lesen Sie.
Ich höre Sie nicht! Lalalalalala!
Tiegel öffnete die Eingangstür und blieb wie angewurzelt auf der Fußmatte stehen.
Stellen Sie sich das Innere einer Sturmwolke vor. Besprühen Sie es großzügig mit Asche und fügen Sie je nach Geschmack Schwefel hinzu. Dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie Tiegels Diele aussah.
Der Rauch quoll unter der Tür des Arbeitszimmers hervor. Tiegel erinnerte sich undeutlich an einen Film, den er einmal gesehen hatte, hielt sich ein Taschentuch vor den Mund und wankte in die Küche. Einen Eimer Wasser später kehrte er zurück. Die Tür rührte sich nicht vom Fleck. Das Telefon befand sich im Arbeitszimmer, damit es im Notfall leicht zu erreichen war. Tiegel stellte den Eimer ab und rammte die Schulter gegen die Tür, die noch immer geschlossen blieb. Mit tränenden Augen wich er zur gegenüberliegenden Wand zurück, biss die Zähne zusammen und lief los.
Die Tür öffnete sich von allein. Tiegel sauste in einem weiten Bogen durchs Zimmer und endete im Kamin, woraufhin alles schwarz wurde, im buchstäblichen und im übertragenen Sinn – er verlor das Bewusstsein.
Eine Herde Elefanten tanzte in Holzschuhen Squaredance auf seinem Kopf. Er sah eine verschwommene Gestalt, die sich über ihn beugte.
»Hier, trinken Sie das!«
Ah, ein gesunder Freudensaft! Ah, belebender Rachenputzer! Die Elefanten trugen jetzt Pantoffeln und tanzten einen ruhigen Walzer – der Whisky hatte die gewünschte Wirkung. Tiegel öffnete die Augen und sah den Besucher an.
»Wer zum Teufel sind Sie?«
»Genau!«
Tiegels Kopf stieß mit einem dumpfen »Klong!« an den Feuerrost.
Der Teufel hob ihn hoch und trug ihn zu einem Sessel. Tiegel öffnete ein Auge.
Der Teufel trug einen schlichten schwarzen Anzug mit einer roten Nelke im Knopfloch. Ein gewachster Schnauzer und ein dünner Bart verliehen ihm etwas Würdevolles. Ein Umhang und ein Zylinder lagen auf dem Tisch.
Tiegel hatte gewusst, dass es passieren würde. Zehn Jahre hatte er damit verbracht, Geld von ahnungslosen Geschäftsleuten loszueisen, und irgendwann musste es zu ausgleichender Gerechtigkeit kommen. Er stand auf und klopfte sich den Ruß von der Kleidung.
»Sollen wir gehen?«, fragte er kummervoll.
»Gehen? Wohin?«
»In die Unterwelt, nehme ich an.«
»In die Un…? Oh, nach Hause, meinen Sie! Lieber Hi. ups! Entschuldigung … Hölle, nein! Seit fast zweitausend Jahren ist niemand Nach Unten gekommen. Der Grund ist mir ein Rätsel. Nein, ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Dort Unten Hilfe brauche. Die Sache mit der Hölle lohnt sich nicht mehr – aus Mangel an verlorenen Seelen. In den letzten zweitausend Jahren kam nur ein Bursche Nach Unten, ein Blödmann namens Dante. Ging mit völlig falschen Eindrücken wieder weg. Sie hätten hören sollen, was er über mich erzählte!«
»Ich habe irgendwo davon gelesen.«
»Tatsächlich? Es läuft auf schlechte Publicity für mich hinaus. An dieser Stelle kommen Sie ins Spiel.«
»Ach?« Tiegel spitzte die Ohren.
»Ja, ich möchte, dass Sie für die Hölle werben. Wie ungeschickt von Ihnen! Sie haben Ihr Getränk auf dem Teppich verschüttet.«
»W-warum ich?«, krächzte Tiegel.
»Sie sind Inhaber der Fairen Werbeagentur, nicht wahr? Wir möchten, dass Sie in der Öffentlichkeit Interesse wecken, Bewusstsein für die Hölle und so weiter. Natürlich dachten wir dabei nicht an ewige Verdammnis. Nur Tagesausflüge und so weiter. Große Tour durch die Hölle, so was in der Art.«
»Und wenn ich ablehne?«
»Was würden Sie zu zehntausend Pfund sagen?«
»Leben Sie wohl.«
»Zwanzigtausend?«
»Hm. Sollte ich Sie nicht mit trickreichen Aufgaben betrauen oder so?«
In den Augen des Teufels blitzte es zornig.
»Vierzigtausend, und das ist mein letztes Angebot. Außerdem …«, der Teufel presste die Fingerspitzen aneinander und blickte mit einem Lächeln zur Decke, »… gibt es da einige belastende Einzelheiten in Hinsicht auf die Payne-Smith-Produkte, die wir veröffentlichen könnten …«
»Jetzt sprechen wir eine Sprache. Vierzigtausend Pfund, und von der P-und-S-Sache wird nichts bekannt.«
»Gut.«
»Abgemacht.«
»Ich bin ja so froh, dass Sie bereit sind, uns zu helfen!«, rief der Teufel. Tiegel nahm hinter seinem Mahagonischreibtisch Platz und zog einen Notizblock hervor. Er deutete auf einen silbernen Kasten.
»Zigarette?«
»Danke.«
Tiegel nahm selbst eine und suchte nach dem Feuerzeug. Plötzlich fiel ihm etwa sein.
»Woher soll ich wissen, dass Sie der Alte Nick sind?«
Der Teufel schauderte. »Bitte! Nikolaus Luzifer. Nun, ich weiß von dem P-und-S-Fall, nicht wahr?«
Tiegels Augen leuchteten.
»Vielleicht sind Sie nur ein Klugscheißer. Überzeugen Sie mich. Na los, überzeugen Sie mich!«
»Schön, wenn Sie unbedingt wollen. Übrigens, die Pistole in Ihrer linken Tasche wäre nutzlos gegen mich.« Der Teufel beugte sich lässig vor und zeigte mit einem Finger auf Tiegel.
»Na bitte. Sie sind ein Hochstapler, ein …«
Es knallte.
Ein Blitz zuckte durchs Zimmer. Das Ende von Tiegels Zigarette glühte.
»Ich … ich … ich bin überzeugt!«
»Freut mich.«
Tiegel fasste sich wieder.
»Kommen wir zum Geschäftlichen. Sie möchten vermutlich, dass alle Möglichkeiten der Hölle genutzt werden.«
»Ja.«
»Ich schätze, ich kann nicht viel tun, solange ich die Räumlichkeiten nicht selbst gesehen habe – aus der Perspektive eines Lebenden. Sie verstehen.«
»Ja. Nun, ich könnte Sie mitnehmen, aber es wäre vielleicht eine haarsträubende Erfahrung für Sie. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Warten Sie an der Ecke dieser Straße, sagen wir um acht Uhr heute Abend. Ich hole Sie ab, und dann gehen wir hinüber. Einverstanden?«
»Ja.«
»Bis dann. Tschüs.«
Pummpf!
Er war fort. Erneut zogen schweflige Rauchschwaden durchs Zimmer. Tiegel öffnete die Fenster und schloss sie dann wieder. Wenn irgendein Wichtigtuer den Rauch gesehen hätte, wäre es ihm schwergefallen, der Feuerwehr zu erklären, dass es gar kein Feuer gab. Er schlenderte in die Küche, nahm nachdenklich Platz und bedauerte, nicht mehr Fantasy gelesen zu haben.
Mit seinem Wunsch, der Teufel möge sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, stand Tiegel nicht allein – gewisse andere Wesen teilten ihn. Der Unterschied bestand aus dem Grund. Tiegel öffnete den Kühlschrank und nahm eine Dose Bier heraus.
Wenn jemand herumlief, der über Angelegenheiten Bescheid wusste, die man geheim halten wollte … So etwas war gefährlich. Tiegels Geldgier rang mit seiner Freiheitsliebe. Er wollte die vierzigtausend Pfund, aber er wollte nicht, dass Luzifer herumlief.
Plötzlich fiel ihm die ideale Lösung ein. Natürlich! Warum nicht? Er nahm seinen Hut und eilte zur nächsten Kirche.
Im strömenden Regen stand Tiegel an der Straßenecke. Wasser rann ihm über den Rücken und in die Wildlederschuhe.
Er sah auf die Armbanduhr. Eine Minute nach acht. Er fröstelte.
»Psst.«
Tiegel sah sich um.
»Hier unten.«
Er beobachtete, wie der Deckel eines Einstiegsschachts in Bewegung geriet. Der Kopf des Teufels erschien.
»Kommen Sie!«
»Dort hinein?«
»Ja.«
Tiegel zwängte sich durch die kleine Öffnung.
Platsch!
Er würde seine Schuhe auf die Spesenliste setzen müssen.
»Machen wir uns auf den Weg«, sagte der Teufel.
»Ich wusste gar nicht, dass man die Hölle durch die Kanalisation erreichen kann.«
»Ein Kinderspiel, alter Knabe. Hier nach links.«
Es waren nur die Geräusche ihrer Schritte zu hören, die Geräusche von Tiegels Wildlederschuhen und den Hufen des Teufels.
»Wie weit ist es noch?«
Sie waren seit einigen Stunden unterwegs. Tiegels Füße waren nass, und er nieste.
»Wir sind da, alter Knabe.«
Sie hatten das Ende des Tunnels erreicht, und vor ihnen erstreckte sich ein dunkles Tal. In der Ferne sah Tiegel eine riesige Wand mit einem kleinen Tor. Ein schwarzer Fluss strömte durchs Tal, und es roch nach Schwefel.
Der Teufel zog eine Plane von einem Buckel an der Tunnelöffnung.
»Wenn ich vorstellen darf: Geryon II.«
Tiegel blinzelte. Geryon II war eine Mischung aus einem Ford Modell-T und einem Austin 7, in geschmackvollem Schwefelgelb.
Der Teufel zerrte die Fahrertür auf – sie fiel ab.
Sie stiegen ein. Überraschenderweise sprang der Motor nach nur wenigen Drehungen des Startgriffs an.
Sie tuckerten über die Schwefelebene.
»Toller Wagen.«
»Nicht wahr? Vierzig Drachenstärken. Hab ihn selbst gebaut, mit Teilen von der Erde. Allerdings ist es problematisch, in der Nähe eines Schrottplatzes aus dem Boden zu klettern.« Der Teufel knirschte mit den Fangzähnen, als er den Wagen durch eine scharfe Kurve steuerte; Schwefelstaub wirbelte auf. »Oft kommt man unter einem Haufen aus rostigem Eisen an die Oberfläche.« Er rieb sich den Kopf. Tiegel bemerkte den Verband an einem der beiden Hörner.
Am Fluss kam der Wagen nach kurzem Rutschen zum Stehen; Dampfwolken stiegen auf.
Ein alter Stechkahn lag am Ufer vertäut. Der Teufel half Tiegel an Bord und griff nach den Rudern.
»Was ist mit – wie heißt er noch? – Charon passiert?«
»Darüber reden wir nicht gern.«
»Oh.«
Stille, bis auf das Knarren der Ruder.
»Ihr müsst dies natürlich durch eine Brücke ersetzen.«
»Klar.«
Tiegel wirkte nachdenklich.
»Nur ein Groschen Maut.«
»Ich denke ans Wasser, das an meinen Fußknöcheln plätschert«, sagte Tiegel.
Der Teufel sah nicht auf.
»Hier.«
Er reichte Tiegel einen abgenutzten Becher, an dem gerade noch die Initialen »B. R.« erkennbar waren. Und so setzten sie den Weg fort.
Sie standen vor dem Tor. Tiegel sah auf und las die Inschrift. »Gebt alle Hoffnung auf, die ihr hier eintretet. – Das ist nicht gut.«
»Nein?«
»Neonlampen.«
»Ach ja?«
»Rote.«
»Ach ja?«
»Blinkende.«
»Ach ja?«
Sie traten ein.
»Brav! Lass Tiegel in Ruhe!«
Drei Zungen leckten Tiegel gleichzeitig.
»Zurück in deinen Zwinger!«
Zerberus schlich jaulend davon.
»Nehmen Sie es ihm nicht übel«, bat der Teufel, als er Tiegel hochhob und abstaubte. »Er ist nicht mehr der Gleiche, seitdem er Orpheus ein Stück aus dem Bein gerissen hat.«
»Davon erwähnt die Geschichte nichts.«
»Ich weiß. Schade, denn die wahre Geschichte ist viel … äh, interessanter. Aber das gehört nicht hierher.«
Tiegel sah sich um. Offenbar standen sie im Foyer eines Hotels. Eine Wand enthielt einen kleinen Alkoven mit einem Schreibtisch, und darauf lag offen ein verstaubtes großes Buch mit den Namen der Hotelgäste.
Der Teufel öffnete eine kleine Holztür.
»Hier entlang.«
»Was?«
»Mein Büro.«
Tiegel folgte ihm eine schmale Treppe hinauf. Die hölzernen Stufen knarrten.
Das Büro des Teufels ruhte wacklig auf den Mauern der Hölle und wirkte fast baufällig. In der einen Ecke zeigte sich eine feuchte Stelle, vom über die Ufer getretenen Styx geschaffen, und die Tapeten lösten sich von den Holzwänden. In einer anderen Ecke stand ein rostiger Ofen und glühte rot. Tiegel bemerkte alte Zeitungen, Rechnungen und Rezepte für Zauber aller Art auf dem Boden.
Der Teufel sank in einen bequemen großen Sessel. Tiegel setzte sich auf einen unbequemen Rohrstuhl, der unter seinem Gewicht fast zusammenbrach.
»Was zu trinken?«, fragte der Teufel.
»Gern«, erwiderte Tiegel.
»Schmeckt gut«, sagte Tiegel kurze Zeit später. »Ihr eigenes Rezept?«
»Ja. Ganz einfach. Ein Liter Fledermausblut, ein … He, was ist los? Ihr Gesicht hat plötzlich so eine komische Farbe! Fühlen Sie sich nicht gut?«
»Bäh, igitt … Äh, schon gut, alles in Ordnung. Sollen wir jetzt zum Geschäftlichen kommen?«
»Ja.«
»Nun, unser größtes Problem dürfte darin bestehen, die Öffentlichkeit dazu zu bringen, die Hölle – und Sie – ernst zu nehmen. Ich meine, nach einer besonders weit verbreiteten Vorstellung ist die Hölle eine glühend heiße Örtlichkeit, Sie piesacken verlorene Seelen mit einer Heugabel, und überall laufen heulende Dämonen und dergleichen herum. Da fällt mir ein: Wo sind sie alle?«
»Alle wer?«
»Verlorene Seelen, Dämonen, Banshees und so.«
»Oh, das meinen Sie! Nun, wie ich schon sagte: Seit zweitausend Jahren ist niemand mehr hier gewesen, bis auf den Irren namens Dante. Und alle verlorenen Seelen, die es hier gab, haben sich ins Purgatorium emporgearbeitet, und die Dämonen sind inzwischen anderweitig beschäftigt.«
»Sie arbeiten als Steuerbeamte«, brummte Tiegel.
»Ja. Was Gluthitze betrifft … Der einzige noch funktionierende Ofen ist der Mark IV dort drüben. Sehr nützlich für meine kulinarischen Bemühungen, aber sonst für kaum etwas zu gebrauchen.«
»Hm. Ich verstehe. Haben Sie eine Karte der Hölle?«
»Ich denke schon.« Der Teufel kramte in dem alten Eichenschreibtisch, und zog eine gelbe Pergamentrolle hervor.
»Das ist die aktuellste Karte.«
»Sie dürfte genügen. Mal sehen. Hmm. Ich schätze, an dieser Stelle sind wir hereingekommen.«
»Ja! Jene Schattierung ist die Schwefelebene.«
»Gut. Ich schätze, die Acme-Bergwerkgesellschaft gäbe viel für die dortigen Schürfrechte …«
»Ach ja?«
»Natürlich müssten wir eine richtige Straße für den zunehmenden Verkehr bauen …«
»Ach ja?«
»Und einen langen Tunnel von der Erde aus graben …«
»Hier ein Cafe, dort ein Tanzsaal. Eine Rennbahn am anderen Ende und ein Bowlingzentrum …«
»Wir könnten hier einen Vergnügungspark errichten …«
»Dort für ein Restaurant Platz lassen …«
»Ein paar Eisbuden …«
»Und hier ein Jazzklub, der die ganze Nacht über geöffnet hat. Setzen Sie sich mit Ihren Dämonen in Verbindung und bieten Sie ihnen ein höheres Gehalt. Sie sollen zurückkehren und uns dabei helfen, alles in Gang zu bringen …«
»Orpheus könnte die Jazzband organisieren. Bestimmt wäre auch Apollo bereit, uns einen Gefallen zu tun …«
Und so ging es weiter. Bald war die Karte mit Zeichen übersät, die zahlreiche Einrichtungen symbolisierten, von der Tanzhalle bis zur Radrennbahn. Dann sprachen der Teufel und Tiegel über Phase eins: das Interesse der Öffentlichkeit wecken.
Natürlich gab es am Anfang Schwierigkeiten. Zum Beispiel als der Teufel am Tag des Pokalfinales mitten auf dem Spielfeld erschien. Immerhin kam er dadurch in den Boulevardblättern auf die Titelseite. Eine bekannte Brauerei verklagte ihn, weil sie Kunden verlor – viele Zuschauer des Pokalfinales schworen dem Alkohol ab, als sie ihn sahen.
Überall auf der Welt glühten, qualmten und schmolzen Telefonleitungen, als Tiegel mit Angeboten von Finanzmagnaten überschüttet wurde. Werbeagenturen kämpften gegeneinander um die Gunst des Teufels. Unter Tiegels Aufsicht kamen die Arbeiten am Tunnel London – Hölle schnell voran. Der Teufel zog bei ihm ein und meinte, alle diese Kräne und Bulldozer würden die Hölle zum Inferno machen.
»Seht nur, wie sehr Zerberus sein ›Lecker-Wauwau‹ mag! Auch euer Hund kann ein glänzendes Fell, gesunde Reißzähne und drei Köpfe haben, wenn ihr ihn mit ›Lecker-Wauwau‹ füttert! ›Lecker-Wauwau‹ in der praktischen Zwei-Unzen-Büchse! Zerberus sagt, ›Lecker-Wauwau‹ ist pr-r-rima! Fragt nach ›Lecker-Wauwau‹!«
»Männer, die etwas auf sich halten, rauchen ›Sargnägel‹!« »Sagen Sie, Luzifer, warum rauchen Sie ›Sargnägel‹?« »Mir gefallen das kühle, frische Gefühl, der Geschmack des hervorragenden Tabaks und die fünfzig Pfund, die mir Ihre Firma für diese blöde Reklame zahlt …«
»Sagen Sie, Sir, was halten Sie von der Rassenschranke?« »Nun, ich … äh … ich meine … äh … um ganz genau zu sein … äh …«
»Wie denken Sie über die jüngere Generation?«
»Nun, äh … ich meine ja … genau! Ganz klar!«
»Finden Sie, dass Gewalt im Fernsehen für die Zunahme der Kriminalität im Lande verantwortlich ist?«
»Nun, äh … ähm … nein. Das heißt, äh … ja. Ich meine … äh … nein, ähm.«
»Herzlichen Dank, dass Sie heute Abend zu uns gekommen sind und Ihre Meinung über aktuelle Angelegenheiten geäußert haben. Danke. Nun, meine Damen und Herren, schalten Sie nächste Woche zur gleichen Zeit wieder ein …«
Tiegel beobachtete die Menge leidenschaftslos. Es gab die übliche Schar aus missmutigen Hinterbänklern, Möchtegern-Sternchen und gelangweilten Reportern sowie einem Arbeitskommando aus Wächtern – sie alle tranken sich mit drittklassigem Sekt horizontal. Ein bunt gemischter und gesprenkelter Haufen. Tiegel war inzwischen zu einem Experten für Partyatmosphären geworden und erkannte diese als eine besonders würzige Mischung aus Zigarettenrauch, Fleurs de Mal, Methan und einem gelegentlichen Hauch Kohlenmonoxid. Er wandte sich an den Teufel, der mit dem Cocktailmixer Wunder vollbrachte.
»Dies, mein Freund, nennt man lächerlicherweise Party: ein Ritual, das in den besseren Teilen von Belgravia überlebt hat. Offenbar besteht es aus …«
»Ach, hören Sie auf, Tie! Diesch ischt der beschte Schwipsch seit fünfhundert Jahren, und ich möchte dasch Beschte darausch machen …«
Ein dumpfes Pochen wies darauf hin, dass der Teufel »das Beschte darausch gemacht hatte«, und zwar so gut er konnte.
Es war ein frischer Morgen im November, und in der abgelegenen Durchgangsstraße namens Cranberry Avenue zwitscherten die Vögel und fielen die Blätter von den Bäumen.
Außerdem frühstückte Tiegel dort. Er aß Schinken und Pilze, blätterte in der Zeitung, fand die Klatschspalte und dachte an den Teufel.
Schließlich warf er die Zeitung in den Papierkorb, wischte sich mit der Serviette den Mund ab und schritt zum Gästezimmer.
Dort bot sich seinen Augen eine chaotische Szene. Papierhüte, Luftballons und Papierschlangen lagen überall im Raum, und es mangelte nicht an leeren Flaschen. Der Teufel trug noch immer Tiegels zweitbesten Anzug, lag auf dem Bett und schnarchte laut.
»Aufwachen!«, rief Tiegel gnadenlos. Die Wirkung war verblüffend. Der Teufel sauste einen halben Meter weit nach oben und hielt sich den Kopf, als er zurückfiel. Er fluchte so detailreich, dass Tiegels Ohren rot anliefen.
Tiegel machte sich in der Küche zu schaffen und kehrte mit einer Tasse schwarzem Kaffee zurück.
»Hier.«
»Autsch! Nicht so laut.« Schlürf! »Oh, schon besser. Was ist gestern Abend passiert?«
»Sie haben eine Mischung aus Wodka und Kartäuserlikör ausprobiert.«
»O weh!«
»In der Tat. Und jetzt … Raus aus den Federn! Die Eröffnungsfeier der Hölle beginnt um zwölf.«
»In diesem Zustand kann ich nicht … autsch!«
»Tut mir leid. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als einige Liter schwarzen Kaffee zu trinken und es zu ertragen. Kommen Sie!«
Jazz erklang hinter den Wänden der Hölle. Popmusik hallte durch dunkle Korridore und vermischte sich mit dem Klicken von Spielautomaten. Dem Donnern von Motorrädern gesellte sich ein gespenstisches Kreischen hinzu, das sowohl von Banshees als auch von Menschen stammte (von elektrischen Gitarren, um genau zu sein). Die Bevölkerung der Hölle war ebenso angeschwollen wie das Bankkonto des Teufels.
Hoch oben auf seinem Balkon an der Höllenmauer schenkte sich der Teufel ein Glas Wasser ein und nahm drei Kopfschmerztabletten.
Das Unwetter wütete. Seit einem Monat wurde die nördliche Hemisphäre von Gewittern heimgesucht, wie sie die Menschen noch nie erlebt hatten. Die Meteorologen verbrachten ihre Arbeitstage damit, Korn und Algen zu überprüfen und andere Orakel zu bemühen, aber schließlich mussten sie eingestehen, dass sie nicht weiterwussten.
Im großen Arbeitszimmer seines neuen Landhauses legte Tiegel ein weiteres Holzscheit ins Feuer und versank noch tiefer in seinem Lehnsessel. Draußen stürmte auch weiterhin der Sturm.
Sein Gewissen, gezwungenermaßen das robusteste und ungetrübteste in ganz Europa, beunruhigte ihn. Etwas stimmte nicht mit dem Hades-Geschäft. In finanzieller Hinsicht war alles in bester Ordnung: Während der letzten drei Wochen hatte er reichlich Provisionen erhalten, worauf sein Landhaus, zwei Autos, fünf Rennpferde und eine Jacht hinwiesen.
Die Hölle war ein großer Erfolg. Es wimmelte dort von Leuten, die Rang und Namen hatten, und außerdem genoss sie die Billigung des Establishments.
Aber etwas stimmte nicht. Und das hing mit den Unwettern zusammen.
Irgendwo in Tiegels Innern regte sich ein anderer Tiegel, ausgestattet mit Flügeln, Heiligenschein und Harfe, und sprang auf dem Gewissen herum. Draußen grollte der Donner.
Pumpf!
Der Teufel erschien, wirkte sehr aufgeregt und lief zu Tiegels Getränkeschrank. Er schenkte sich eine Belladonna ein und fuhr zu Tiegel herum.
»Ich halte es einfach nicht mehr aus!«, rief er. Die Hand zitterte ihm.
»Was halten Sie nicht mehr aus?«
»Die Besucher! Sie haben mein Zuhause in ein Tollhaus verwandelt! Lärm! Lärm! Lärm! Ich finde überhaupt keine Ruhe mehr! Ist Ihnen klar, dass ich in den letzten beiden Wochen kein Auge zugetan habe? Überall wimmelt es von schreienden Leuten …«
»Einen Moment. Soll das heißen, dass Sie sich von den Besuchern gestört fühlen?«
»Sehr komisch!«
»Warum schließen Sie die Hölle nicht für eine Weile und machen Urlaub?«
»Ich hab’s versucht, weiß der Himmel …«
Donner!
»Ich hab’s versucht! Aber gehen die Leute? Nein! Einige Rowdys drohten mir mit einer ›Abreibung‹, wenn ich versuchen sollte, ihr lärmendes Paradies zu schließen …«
DONNER!
»Ich kann nirgends hin, ohne von einer wilden Schar Autogrammjäger belästigt zu werden! Ich bin berühmt! Ich habe überhaupt keinen Frieden mehr! Es ist die Hölle dort unten!« Der Teufel kniete auf dem Boden, und Tränen strömten ihm übers Gesicht. »Sie müssen mir helfen! Verstecken Sie mich! Tun Sie etwas! O mein Gott, ich wünschte …«
Der Donner schien den Himmel zu zerreißen und von den Gewölben des Firmaments widerzuhallen. Tiegel sank in seinem Sessel in sich zusammen und presste die Hände an die Ohren.
Schließlich wurde es still.
Der Teufel lag mitten im Zimmer auf dem Boden, von Licht umgeben. Dann sprach der Donner.
»MÖCHTEST DU ZURÜCKKEHREN?«
»O ja, Herr! Bitte! Es tut mir leid! Ich entschuldige mich für alles! Das mit dem Apfel bedaure ich wirklich sehr!«
Im Bücherregal zerplatzte eine Büste von Charles Darwin.
»Es tut mir leid! Bitte lass mich zurückkehren, bitte …«
»KOMM.«
Der Teufel verschwand. Draußen ließ das Unwetter nach.
Benommen stand Tiegel auf, wankte zum Fenster und entdeckte einen rasch klar werdenden Himmel.
Aus dem Abendrot reckten sich ein Arm und eine Hand aus Licht, zum Gruß erhoben.
Tiegel lächelte.
»Nicht der Rede wert, Herr. Es war mir ein Vergnügen.«
Er schloss das Fenster.
»Solution«, Technical Cygnet, 1:10, Juli 1964
An diese Geschichte erinnere ich mich nicht. Vor langer, langer Zeit gab es eine Phase, in der ich Einfälle, Konzepte und unausgegorene Dialoge aufs Papier warf, um festzustellen, ob sich wie durch Magie eine Kurzgeschichte oder ein Roman daraus ergab. Die aussortierten Teile landeten im Bit-Bucket, und wenn Sie wissen, was das bedeutet, sind Sie ebenso lange mit Computern vertraut wie ich. Diese Geschichte habe ich geschrieben und gleich wieder vergessen, weil mir etwas anderes interessanter erschien.
»Gold? Oder sind es diesmal Diamanten?«
Pyecraft schwang herum. »Was zum …?«
Der Inspektor trat durch die kleine Luke ins Cockpit und deutete knapp in Richtung Heckkabine.
»Dort drüben gibt’s ein großes Fach mit Fallschirmen. Ihren Schirm hab ich allerdings hinausgeworfen. Es liegt also in Ihrem Interesse, die Kontrollen aufmerksam im Auge zu behalten.«
Vorsichtig schob Pyecraft den Joystick zurück. »Dafür kriege ich Sie dran«, brummte er. »Nach der demütigenden Suche in Lemay verstecken Sie sich an Bord meines privaten Flugzeugs …«
»Wie wär’s, wenn Sie die Klappe halten?«, erwiderte der Inspektor freundlich. »Außer uns ist niemand hier. Die Nummer des entrüsteten Bürgers können Sie sich also sparen. Passt ohnehin nicht zu Ihnen.« Er zündete sich eine Zigarette an und verzichtete demonstrativ darauf, Pyecraft eine anzubieten. »Hiermit sind Sie verhaftet, Johan Pyecraft …«
»Warum? Sie haben keine Beweise.«
»Ich verhafte Sie wegen Schmuggel.«
»Was soll ich geschmuggelt haben?« Pyecrafts Hand tastete sich langsam zwischen die Sitze zum kleinen Feuerlöscher aus Messing.
»Das weiß ich noch nicht. In den vergangenen drei Wochen sind Sie mit diesem ramponierten alten Flugzeug fünfzehnmal über die Berge geflogen. Sie haben plötzlich viel Geld. Und Sie sind ein bekannter Schmuggler. Also habe ich mir gesagt: Gustave, mon ami, er ist wieder im alten Geschäft.«
»In Lemay haben Sie nichts gefunden.« Pyecraft griff nach dem Feuerlöscher.
»Genau. Was bedeutet, dass Sie es an Bord des Flugzeugs gebracht haben. Deshalb werden Sie jetzt freundlicherweise kehrtmachen und …«
Der Inspektor wich beiseite, und der Feuerlöscher flog an ihm vorbei. Pyecrafts Arm blieb in Bewegung und stieß gegen die Kontrollen.
Hoch oben am eisigen Berghang kauerten zwei kleine Gestalten an einem schwach brennenden Feuer.
Der Inspektor betrachtete erneut die Reste des Flugzeugs.
»Das war eine gute Bruchlandung.«
»Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie uns das Leben gekostet hätte. Wenn wir nicht erfrieren, erwischen uns die Wölfe.«
Eine Zeit lang starrten beide Männer ins Feuer.
»Heraus damit!«, verlangte der Inspektor schließlich. »Jetzt können Sie es mir ruhig verraten. Was haben Sie geschmuggelt?«
Pyecraft musterte ihn traurig.
»Flugzeuge«, antwortete er.
»The Picture«, Technical Cygnet, 1:11, Mai 1965
Meine Güte, das war vor langer Zeit! Ich bin froh, dass ich nie versucht habe, diese Geschichte zu verkaufen. Erneut habe ich mit Worten gespielt und wollte sehen, was dabei herauskommt. Das machen Autoren manchmal.
Es war nicht unbedingt ein erstklassiges Kunstwerk.
Der Maler hatte dem Himmel die falsche Farbe gegeben und ihn mit Klecksen bedeckt, offenbar in dem Versuch, über seinen Fehler hinwegzutäuschen. Der Blickwinkel, sofern man davon sprechen konnte, war falsch. Und eine derartige Vegetation kam nicht einmal in den wildesten Albträumen vor. Das ganze Bild lief auf eine surrealistische Darstellung der Hölle hinaus.
Und es steckte in einem Rahmen, der fast auseinanderfiel.
Das Bild hing an der Wand von Jons Zelle, an einer der gepolsterten Wände. So seltsam und schrecklich es auch sein mochte, es stellte eine Verbindung zum Draußen dar, eine Erinnerung daran, dass es noch etwas anderes gab als Essen, Schlafen und gelegentliche Arztbesuche. Manchmal beobachteten sie ihn durch das Gitter in der gepolsterten Tür und schüttelten den Kopf.
»Keine Heilung«, sagte einer.
»Es sei denn, wir nehmen ihm das Bild weg«, meinte der andere.
»Das könnte ihn umbringen.«
»Er bringt sich selbst um, wenn wir es ihm lassen. Sie wissen doch, dass es der Grund ist für seine …«
»Für seinen Wahnsinn.«
»Das dürfte der beste Ausdruck dafür sein. Das Bild ist jetzt sein Lebensmittelpunkt und die einzige Sache, die er nicht infrage stellt. Gestern erzählte er mir, es sei die eine wahre Welt. Unsere Welt nannte er falsch. Gegen so viel Starrsinn können wir nichts ausrichten.«
»Tod oder Heilung, darauf läuft es hinaus?«
»Ja. Ich werde es ihm bei der nächsten Untersuchung sagen. Der Schock, wenn wir ihm seine Welt nehmen, heilt ihn vielleicht.«
Die Aussichten standen nicht sonderlich gut. Jon saß mit krummen Schultern in seiner Zelle, starrte auf das Bild und versuchte sich zu erinnern …
Er hörte die leisen Schritte im Flur. Sie kamen, um ihm das Bild wegzunehmen – es blieb nur noch wenig Zeit! Er unternahm einen letzten, verzweifelten Versuch …
Und die Zelle war leer.
Sie fanden nie heraus, wohin er verschwunden war oder wie er seine Zelle verlassen hatte. Eine Zeit lang rätselte man darüber, doch dann geriet die Sache in Vergessenheit.
Der Arzt behielt das Bild und hängte es in seinem Büro auf. Er wusste, dass sein Verdacht absurd war, doch er wurde ihn einfach nicht los.
Manchmal betrachtete er das Bild mit allen drei Augen, während die grüne Sonne hinter dem Horizont versank, und hoffte, dass er sich irrte.
Denn wie konnte jemand in einer Welt mit brauner Erde, grünen Blättern und einem blauen Himmel mit nur einer Sonne überleben?
»The Prince and the Partridge«, »Children’s Circle« von Onkel Jim, Bucks Free Press 6., 13., 20. Dezember 1968
Diese Erzählungen habe ich unter dem Pseudonym Onkel Jim geschrieben – mehr als siebzig kurze Geschichten, die zwischen 1965 und 1973 erschienen sind. Zwei von ihnen haben es in diese Sammlung geschafft: Der Prinz und das Rebhuhn (The Prince and the Partridge) und Rincemangle, der Gnom von Even Moor (Rincemangle, the Gnome of Even Moor).
Es war einmal – immer ein guter Anfang – ein junger Prinz, der das Land der Sonne regierte. Es war ein hübsches Land mit langen Tagen und blauem Himmel, und die meisten Dinge darin glänzten gelb oder golden.
Die aus Sandstein erbauten Häuser hatten goldene Dachziegel. Narzissen und Butterblumen wuchsen auf üppigen Kornfeldern, und der Boden enthielt so viel Gold, dass die Straßen damit gepflastert wurden.
Im Westen des Landes erhob sich eine Bergkette, und dort hatte der Prinz – habe ich bereits darauf hingewiesen, dass sein Name Alfred lautete? – eine Jagdhütte.
Eines Tages, als er mit seinen Rittern Hirsche jagte, erschrak sein Pferd, stob davon und trug den Prinzen durchs Dickicht. Die Geräusche der Jagd verschwanden in der Ferne, während der Prinz an den Zügeln zog und sein Ross zu bändigen versuchte.
Als ihm das gelungen war, befand er sich in einem unbekannten Teil des Waldes, am Rand einer großen Lichtung. Er entdeckte, warum das Pferd durchgegangen war – eine große Klette steckte unter dem Sattelgurt. Der Prinz hatte sie gerade entfernt, als plötzlich ein Hirsch auf die Lichtung trat.
Es war der Hirsch, den er gejagt hatte. Doch bevor er nach seinem Bogen greifen konnte, zischte ein silberner Pfeil aus dem Wald und tötete das Geschöpf.
»Na so was!«, murmelte der Prinz. »Wilderer in meinen Bergen?«
Ritter in silbernen Rüstungen ritten auf weißen Pferden zwischen den Bäumen hervor. Eine Prinzessin in einem silbernen Gewand führte den Trupp an.
Sie hatte weißes Haar, und ich muss wohl nicht eigens darauf hinweisen, dass Alfred sie für die hübscheste und entzückendste Prinzessin hielt, die er jemals gesehen hatte, obwohl ihr langes Haar noch weißer war als das seiner Großmutter.
Ihre Ritter nahmen den Hirsch und ritten von dannen, und Alfred folgte ihnen natürlich. Bald wurde ihm klar, dass ihr Ziel auf der anderen Seite der Bergkette lag.
Die Sonne ging unter, und der Prinz beobachtete, wie ein großer silberner Mond aufging. Das ganze Land schimmerte wie Silber, silberne Blumen wuchsen im Gras, und in der Ferne ritt die Prinzessin.
»Was ist dies für ein Ort?«, fragte der staunende Prinz.
Im Baum über ihm hüstelte jemand.
»Das Land des Mondes, was denn sonst?«
Der Prinz hob den Blick und stellte fest, dass er sich unter einem alten wilden Birnbaum mit knorrigen Ästen und verschrumpelten Früchten befand. Blätter trug der Baum nur wenige. Auf dem niedrigsten Ast saß ein großer, dicker und hässlicher brauner Vogel mit buschigen Augenbrauen.
»Welcher Vogel spricht da?«, fragte Alfred.
»Ich. Ich bin ein Rebhuhn. Das Rebhuhn im Birnbaum, sollte ich besser sagen. Und du bist Prinz Alfred. Die junge Frau ist Prinzessin Selena, aber wenn du sie heiraten willst, musst du ihr den Hof machen. Mit Pralinen, Blumen und so weiter.«
»Sie sieht aus, als könnte sie alles bekommen, wonach ihr der Sinn steht«, erwiderte Alfred.
»Wie du meinst«, sprach das Rebhuhn. »Ich wollte nur ein wenig behilflich sein. Vielleicht weißt du den Hinweis zu schätzen, dass sie den Mann zu heiraten versprach, dessen Weihnachtsgeschenk tanzt, springt, Musik macht, trommelt, Eimer trägt, zischt, schwimmt, Eier legt, auf einer Hand getragen werden kann, singt, gackert, gurrt, mit den Augenbrauen wackelt und lecker schmeckt. Alles zusammen, möchte ich hinzufügen.«
»Warum?«, fragte Prinz Alfred.
»Ihr Vater ist der König des Mondlandes. Die Hand seiner Tochter verdient seiner Ansicht nach nur der Mann, der ihr ein angemessenes Geschenk präsentieren kann. Er hat keine Söhne, musst du wissen. Was bedeutet – der Ehemann seiner Tochter wird irgendwann König des Mondlandes«, fügte das Rebhuhn hinzu.
»Ein Papagei«, sagte der Prinz nachdenklich. »Er könnte das richtige Geschenk sein.«
»Der Kaiser des Regenbogenlandes hat es damit versucht«, entgegnete das Rebhuhn. »Hat nicht geklappt.«
Der Prinz verabschiedete sich von dem weisen alten Rebhuhn im Birnbaum und kehrte heim, tief in Gedanken versunken.
Dort angekommen, rief er die Palastzauberer zu sich, allesamt kluge und scharfsinnige Denker, und fragte sie, was tanzt, springt, Musik macht, trommelt, Eimer trägt, zischt, schwimmt, Eier legt, auf einer Hand getragen werden kann, singt, gackert, gurrt, mit den Augenbrauen wackelt und lecker schmeckt. »Macht euch an die Arbeit! Lasst euch etwas einfallen, oder ihr bekommt kein Weihnachtsgeld!«
»Ein Rätsel«, sagte einer von ihnen. Aber so lange und so scharfsinnig sie auch nachdachten, niemand fand die Antwort.
Also veranstaltete der Prinz einen großen Wettbewerb. Als Preis für die Lösung des Rätsels setzte er einen goldenen Pokal aus.
Es dauerte nicht lange, bis sich der Große Saal mit Postboten und Kurieren füllte, die Briefe brachten, und Leute standen Schlange in der Hoffnung, den goldenen Pokal zu gewinnen. Doch niemand von ihnen wusste die richtige Antwort. Der Prinz saß auf seinem goldenen Thron und seufzte.
Am Ende der Schlange wartete das Rebhuhn. Es ging zu Fuß, als es an die Reihe kam, denn es war viel zu dick, um zu fliegen.
»Was machst du denn hier?«, stieß Prinz Alfred überrascht hervor.
»Ich komme wegen des Preises«, sagte das Rebhuhn.
»Soll das heißen, du hast die Antwort von Anfang an gewusst?«
»Du hast mich nicht danach gefragt, stimmt’s? Aber ich will den Pokal gar nicht. Was ich möchte, kostet nichts und ist leicht wie Luft, aber ich verrate dir nicht, was es ist. Zumindest jetzt noch nicht.«
»Welches Geschenk soll ich der Prinzessin machen?«, fragte Prinz Alfred.