Das Buch
Manchmal muss man sich das Leben einfach pink färben! Vor allem, wenn man vorhat, bei diesem Tanzwettbewerb zu gewinnen. Deshalb färbt sich Winni ihre Haare pink und verbringt jede freie Minute mit Tanzen. Da kommt ihr Fiete alles andere als gelegen. Er ist zur Reha auf Winnis Heimat-Insel und hat in etwa die Coolness einer Wassermelone. Doch als einige Inseltiere verschwinden, machen sich die beiden zusammen mit Winnis zahmer Möwe Chickenwing auf, um dem Übeltäter auf die Spur zu kommen. Fiete gerät bei dieser Aktion jedoch in Lebensgefahr und Winni muss feststellen, dass sie ihn lieber hat als geplant. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …
Die Autorin
© Vanessa Rosenbrock
Mina Teichert wurde in dem schneereichen Jahr 1978 in Bremen geboren und lebt mit ihrer kleinen Familie im ländlichen Idyll Niedersachsens. Nachdem sie zunächst als Kind hartnäckig das Ziel verfolgte, Kunstreiterin im Zirkus und Wahrsagerin zu werden, sattelte sie mit vierzehn um und träumte von dort an von der Schriftstellerei. Heute schreibt sie mit Begeisterung Geschichten für Jung und Alt.
Mehr über Mina Teichert: https://minateichert.jimdo.com
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Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
wie ihr liebe ich Amrum und war schon oft dort, um Freunde zu besuchen. Es ist immer wieder wundervoll. Falls ich einige Details auf der Insel etwas verändert habe, so geschah das meiner Geschichte zuliebe und nicht, weil ich sie lieber anders hätte. Aber in der Fantasie ist ja bekanntlich alles erlaubt.
Herzliche Grüße an euch,
eure Mina
Es gibt so Tage, die muss man sich einfach schönfärben. Wenn einen das Pech verfolgt und ständig alles schiefgeht zum Beispiel. Seit gestern ist Chickenwing, meine zahme Möwe, verschwunden und das, obwohl sie keine fünf Meter weit fliegen kann. Das nenn ich ein echtes Unglück. Und dann hat mein letztes Tanz-Video auf meinem Vlog nur sechzig Likes bekommen. Wenig, wenn man sonst mehr als zweihundert hat. Also gehe ich davon aus, dass es grottenschlecht ist.
Ich werfe einen weiteren Blick auf meinen Monitor und drücke auf Aktualisieren. Der Bildschirm baut sich neu auf und ich halte gespannt die Luft an. Na toll! Jetzt sind es einundsechzig. Auch nicht viel besser.
»Wie soll ich bloß den Videowettbewerb gewinnen, wenn ich jetzt schon abloose?«, murre ich mir selbst zu und klappe den alten Laptop, den Papa mir vererbt hat, mit etwas zu viel Schwung zu. Der Wettbewerb rückt immer näher und ich hab nicht mal eine Idee für eine besonders geniale Tanzchoreografie. Chickenwing hätte gewusst, was zu tun ist. Die Möwe kann zwar nicht reden, aber sie nickt immer, wenn ich den richtigen Einfall habe. Und jetzt ist sie weg, ich bin alleine und niemand kurbelt meine Gedanken an. Ich gehe hinüber zu meinem großen Spiegel und wippe mit der Hüfte. Dann presse ich die Handflächen vor meiner Brust aneinander und lasse meinen Kopf wie ein Pharao von links nach rechts wandern. Sieht super aus, mit dem Handtuch auf dem Kopf. Nicht. Ich seufze.
Ja, heute ist ein Tag zum Abgewöhnen. Da kann man schon mal das Bedürfnis haben, sich das Leben mit Pink zu versüßen.
Plötzlich ertönt ein spitzer Schrei aus dem Badezimmer.
»Wernike Ritter!«
Oh, oh. Das ist Mama. Mir rutscht mein Handtuch von den frisch gefärbten Haaren, während sie in mein Zimmer stürmt.
»Was denn?«, frage ich vorsichtig, und Mamas Augen werden ganz groß, als sie mein pinkfarbenes Haar bemerkt.
»Was hast du getan?« Sie erstarrt zu einer Salzsäule und ich bekomme einen Moment Angst um ihre Gesundheit.
»Meinem Leben etwas Farbe gegönnt«, antworte ich und ziehe den Kopf ein, als sie auf meine Nase starrt.
»Oh mein Gott!«, stößt Mama aus. Zu ihrem Entsetzen hat sie jetzt auch noch ein neues Schmuckstück an mir entdeckt. »Ist das ein Nasenpiercing?«
Ich hole tief Luft, um zu einer Erklärung anzusetzen.
»Wer tut denn so was? Hier auf Amrum? Das ist Körperverletzung, den zeige ich bei der Polizei an. Sag mir, wer das war!«, fordert Mama und greift unter mein Kinn. Sie dreht mein Gesicht zur Seite. Grober als mir lieb ist, und ich mache mich von ihr los.
»Mann, Mama, der ist doch nicht echt.«
Ihr Gesicht entspannt sich wieder. »Ist er nicht?«
»Nö, ist er nicht.«
»Gut, dann nimm das sofort ab. Und wasch dir die Haare. So kannst du nicht rumlaufen«, sagt Mama, so streng sie kann. Und das fällt ihr nie leicht, weil sie ein so friedlicher Mensch ist, meint Papa immer. Aber seit die Zwillinge laufen können, musste sie das ja unbedingt üben. Und wer leidet jetzt darunter? Ich.
»Komm schon, das ist nur für mein neues Video. Du weißt doch, wie wichtig Style für so was ist«, erinnere ich sie an meinen Vortrag von letzter Woche. Da hatte ich gerade erst erklärt, was der neue Trend war. Regenbogen-Haarfarben zum Beispiel.
»Wernike, ich meine es todernst.« Sie hebt drohend ihren Zeigefinger. Mutig, wenn man weiß, dass Klara, eine der Zwillinge, letztens einfach hineingebissen hatte. Könnte ihr doch wieder passieren … Lust hätte ich ja.
»Mamiii«, bettle ich und gehe auf die Knie. »Bitte, bitte, ich hab einen Plan für ein Video und …«, versuche ich sie zu erweichen. Zugegeben, der Plan ist noch eher vage. Aber das wird schon noch.
»Ich will dein blondes Haar zurück. Sofort. Und keine Fake-Löcher im Gesicht meiner hübschen Tochter.« Das sind ihre letzten Worte, bevor sie wieder aus meinem Zimmer verschwindet. Die Tür knallt laut ins Schloss und meine Porzellanballerinas in der Glasvitrine vibrieren.
Ich halte für einen Moment die Luft an und glaube, ich platze gleich vor lauter Verzweiflung. Warum ist gerade alles so schwer? Wieso fühlt sich das Leben manchmal an, als stünde man in einer weiten Wattlandschaft ohne Horizont?
Ich sehe wieder in den Spiegel. Meine Locken legen sich wie pinke Zuckerwatte um mein Gesicht und sehen ziemlich genial aus. Das muss ich schon zugeben. Warum erkennt Mama das denn nicht? Ich ziehe vorsichtig den Fake-Nasenring ab und lege ihn auf den Schreibtisch. Auf den könnte ich notfalls verzichten, allerdings kann Mama das mit den blonden Haaren vorerst vergessen. Und wie um meine Gedanken zu vervollständigen, höre ich sie erneut fluchen. »Das ist total ruiniert. Das geht nie wieder von der Emaille ab!«
Ups! Sie meint das verfärbte Waschbecken. Schuldbewusst kaue ich auf meiner Unterlippe. Ich hätte nicht erst nach dem Färben die Gebrauchsanweisung lesen sollen. Dann hätte ich gewusst, dass die Farbe alles färbt, womit sie in Berührung kommt. Waschbecken und Handtücher inbegriffen.
Ich schlurfe zu ihr. »Kann ich dir helfen?«, frage ich kleinlaut.
»Ja, unbedingt. Mach so was nie wieder«, knurrt Mama und bearbeitet die pinken Flecken mit einem Schwamm.
»Mmh, das kann ich nicht versprechen. Mir gefällt es nämlich ziemlich gut«, gebe ich zu und trete vorsichtshalber einen Schritt zurück, als sie mich ansieht.
»Winni, du bist zwölf. Bunte Haare und Metall im Gesicht – das kommt nicht infrage.«
»Du als Mutter von drei Töchtern müsstest doch verstehen, dass man mit der Mode gehen muss.« Ich stemme die Hände in die Seiten und lege den Kopf schief.
»Mein kleines Fräulein, nicht alles aus den Musikvideos, die du dir ansiehst, ist alltagstauglich. Das sind nur Gags, oder denkst du, die Frauen rennen im wahren Leben auch so rum?«, fragt Mama säuerlich.
Ich überlege kurz. »Na, auf Amrum vielleicht nicht. Aber in der großen weiten Welt bestimmt.« So, da hat sie’s!
Mama seufzt und schrubbt weiter. »Was sollen denn die Leute in der Schule nur sagen? Deine Lehrer und die Eltern.«
Gott, immer dieses »Was sollen denn die anderen denken«. Pff!
»Erstens, wir haben Ferien. Zweitens, Nora aus der B hat sich die Haare grün gefärbt. Gut, das war ein Unfall, weil sie aus Blond Braun machen wollte, aber das ist ja egal. Und drittens, ist doch schnuppe, was die Leute denken.«
Zumindest sagt Papa das gerne. Jetzt macht Mama eine Schrubb-Pause und blickt mich nachdenklich an.
»Winni, wie ich das sehe, ist dir selbst sehr wichtig, was die Leute über deinen Vlog und deine Tänze sagen. Und mir ist wichtig, wie die Inselbewohner über uns denken. Außerdem hast du eine Vorbildfunktion für deine beiden Schwestern.«
Ich grinse. »Ja, ist doch großartig«, überlege ich. »Dann werden die beiden nicht so langweilig wie der Rest der Inselbewohner.«
»Ach, Winni …« Mama gibt auf, als wie auf ein unsichtbares Zeichen die Zwillinge ihre Köpfe ins Bad stecken.
»Mama, kann ich das auch haben, was Winni hat?«, fragen Klara und Sylvana, die von allen nur Klärchen und Vany genannt werden, wie aus einem Mund.
Mama platzt die Hutschnur. Sie schmeißt uns alle aus dem Haus. Die Zwillinge müssen in den Garten und unter Papas Aufsicht mithelfen, das erste gefallene Laub der Bäume aufzusammeln. Für Fünfjährige keine leichte Aufgabe. Aber nicht so schwer wie für Papa. Da die beiden sich einen Spaß daraus machen, ihr Verwechslungsspiel mit ihm zu spielen.
»Klara, du nimmst die Schaufel«, fordert Papa seine eine Tochter auf.
»Ich bin Sylvana, Papa. Wieso siehst du das nicht?« Vany hingegen lässt sich gerade rücklings in den großen Laubhaufen fallen und gluckst vor Lachen über Klaras Versuch, Papa zu verunsichern.
Wenig später sitze ich auf meinem Fahrrad und muss ganz alleine die Flugblätter von Chickenwings Verschwinden verteilen. Eigentlich wollte Mama mir dabei helfen. Da die jetzt aber wegen pinken Haaren sauer auf mich ist und ich noch saurer auf sie bin, muss ich ganz alleine über die halbe Insel radeln. So viel zum Thema, wie färbt man sich den Tag schön. Hat wohl nicht ganz geklappt!
Ich trete kräftig in die Pedale und düse durch Süddorf. An der Bushaltestelle halte ich an und klebe das erste Flugblatt mit dem Foto der Möwe neben den Halteplan. Chickenwing, zahme Sturmmöwe mit verkürztem rechten Flügel, wird seit dem 10. September in Süddorf vermisst. Familie Ritter. Darunter unsere Festnetz- und meine Handynummer. Für alle Fälle.
Ich starre eine Weile auf meinen Fahrradkorb, der an meinem Lenker hängt, und schlucke. Eigentlich müsste die blöde Möwe jetzt dort sitzen und mich begleiten. Bestenfalls lachend, wie Möwen das so tun.
Schnell fahre ich weiter, über die Straße und hinunter in Richtung Dünen. Ich will auf keinen Fall heulen, das würde meine Schminke ruinieren. Und für dieses Kunstwerk habe ich schließlich ewig gebraucht. In einem Musikvideo von Keesha hatte ich es gesehen und finde, es passt super zu meinem neuen Look. Dem ultimativen Tanzfilm-Look, der ohne meine Möwe nur halb so schön ist.
Als ich in einem ordentlichen Radius die Flugblätter verteilt habe, wird mir einiges klar. Erstens: Wenn es regnet, läuft meine pinke Farbe aus und hinterlässt Flecken auf der Kleidung. Zweitens: Ohne Chickenwing ist alles doof. Und drittens: Meine Möwe ist nicht das einzige Tier, das hier auf Amrum abhandengekommen ist. Ich entdecke weitere Steckbriefe mit Fotos von Hunden und Katzen. Aber wie ist das möglich? Wie kann es sein, dass in weniger als einem Monat so viele Tiere verschwinden?
Im Ort Nebel steige ich vom Rad und bringe den letzten Zettel an einem Laternenpfahl an. Dabei beobachtet mich Michel, ein Junge aus meiner Schule. Ich könnte kotzen vor Glück!
»Oh, bitte. Lass ihn nicht hier rüberkommen«, raune ich mir selbst zu und tue ganz beschäftigt mit dem Tesafilm. Aber an so einem Tag geht natürlich kein Wunsch in Erfüllung und Michel ist schneller bei mir, als ich mir eine gute Fee auch nur vorstellen kann. Mist!
»Hey, Wernike. Bist du in einen Tuschkasten gefallen?«, fragt er mich und zieht an einer meiner Haarsträhnen.
Ich schaue zu ihm auf. In seine wasserblauen Augen, die alle anderen Mädchen aus meiner Klasse so schön finden.
»Lass deine Finger bei dir, ja?«, bitte ich ihn und er wirkt plötzlich noch größer.
»Wieso? Wollte nur sehen, ob die echt sind.« Er zupft gleich noch mal an ihnen.
»Das geht dich nichts an«, erkläre ich, so ruhig es geht, und versuche, auf mein Rad zu kommen. Michel stellt sich mir in den Weg. Mein Magen zieht sich zusammen, weil ich mich noch zu gut daran erinnere, wie er versucht hat, mich in den Sommerferien in der Nordsee zu ertränken. Na gut, er hat mich aus Spaß untergetaucht, wie er sagte. Aber ich hatte wirklich gedacht, ich kratze ab. Beinahe schmecke ich das Salzwasser wieder in meinem Mund, als ich darüber nachdenke.
»Ist dein hässliches Vieh etwa weg?«, fragt Michel mich, während er den Flyer liest.
»Chickenwing«, berichtige ich.
»Wie auch immer.«
Wut keimt in mir auf. »Du bist ja blitzgescheit«, stelle ich fest und nehme Abstand. »Hätte nicht gedacht, dass du lesen kannst.«
Michels Gesicht verdunkelt sich, wie der Himmel vor einer ordentlichen Sturmflut. »Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du echt bescheuert aussiehst?«, fragt er mich und schaut mich dabei so abfällig an, dass es mir wehtut.
Ich recke mein Kinn kämpferisch vor. »Weißt du was, Michel? Geh und back dir ein Eis!« Ich springe aufs Rad und fahre ihn fast um.
»Blöde Kuh.« Er reckt mir die Faust entgegen, als ich mich über die Schulter zu ihm umschaue.
Nach den nächsten drei Straßen bin ich außer Puste. Mann, dieser bescheuerte Tag macht echt müde.
Während ich um die Ecke beim Bäcker biegen will, fahre ich beinahe dem Basset von Frau Kümmel über die langen Ohren. Ich trete gerade noch rechtzeitig in die Bremsen und falle dabei fast hin.
»Hoppla, Kind!«, stößt Frau Kümmel überrascht aus. Der Basset schaut aus blutunterlaufenen Augen zu mir hoch und bellt vorwurfsvoll. Es hört sich tief und grollend an.
»Sorry!« Ich halte dem Hund entschuldigend meine Hand entgegen und er schnüffelt daran.
»Winni, wohin des Weges?«, will Frau Kümmel interessiert wissen und rückt ihre dicke Brille auf der Nase zurecht. Sie hat Regentropfen abbekommen, die ihre Sicht trüben.
»Ich hab Flyer verteilt. Chickenwing ist weg«, sage ich traurig. Denk an Pink, Winni. Nicht weinen!
»Oh nein. Nicht auch noch dein kleiner Hühnchen-Flügel.« Frau Kümmel sieht sehr betroffen aus und legt mir ihre Hand auf die Schulter, um mich zu trösten.
Ihr Basset schnüffelt an meinen Turnschuhen, seine langen Ohren schleifen dabei über den Bürgersteig.
»Aber die Möwe kann doch gar nicht fliegen«, überlegt Frau Kümmel weiter.
Ich denke daran, wie ich Chickenwing als Jungmöwe in den Dünen des Kniepsandes, der wandernden Sandbank der Insel, gefunden hatte. Jemand musste auf ihn geschossen haben. Ja, ich meine so richtig geschossen. Mit einem Luftgewehr zum Beispiel. Und jeder auf der Insel weiß auch, wer so einem Hobby nachgeht. Niemand Geringeres als der alte Fischer Herr Holle, der Tiere hasst. Ich glaube, nur Kinder kann er noch weniger leiden. Jedenfalls wurde Chickenwings rechter Flügel so stark verwundet, dass er nie richtig fliegen lernte. Immer wenn er es versuchte, sah er aus wie ein Huhn, das seine bescheidenen Flugkünste zum Besten gibt.
»Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Zum Frühstück war Chickenwing noch da.« Mein Schokobrot hatte er mir noch geklaut und war damit in den Garten geflüchtet. »Und am Abend, als ich aus der Schule kam, war er einfach weg.«
Toll, jetzt fange ich doch an zu heulen. Ich schniefe und der Basset leckt tröstend meine Finger.
»Das ist wirklich ungeheuerlich! Die ganzen Tiere, die gerade verschwinden. Der Dackel vom Bäcker ist auch weg«, meint Frau Kümmel und runzelt die Stirn.
»Ist nicht wahr?!«
»Doch, schon seit einigen Tagen. Kurz vor der Sturmflut ist er verschwunden.«
»Oha.«
»Und die Katze vom Fischrestaurant fehlt seit zwei Wochen. Dann wären da noch die beiden Papageien, Klabautermann und E.T., von altem Helge und die Ziege Seekeks vom Lüttjes Hof.«
»Sogar eine Ziege?« Aber wer sammelt denn so viele verschiedene Tiere? Das ist ja wirklich schräg.
»Und es trifft nicht nur Einheimische. Der Labrador einer Familie, die in Norddorf Urlaub machte, ist in den Dünen verschwunden«, berichtet Frau Kümmel und kratzt sich nachdenklich am Kopf. »Da muss doch ein Verbrecher dahinterstecken. Meinst du nicht auch? Nicht auszudenken, wenn sie mir meinen Liebling stehlen würden.«
Der Basset hechelt und sabbert mir auf den Schuh. Ich trete dezent angeekelt zurück.
»Sie meinen einen Tierdieb? Aber was will der mit so vielen Tieren anstellen?«
»Keine Ahnung. Lösegeldforderungen sind jedenfalls noch nicht eingegangen.«
»Hm.« Ich würde mein gesamtes Taschengeld für Chickenwing bezahlen. Und Mamas Portemonnaie ausräubern, wenn es sein müsste, um meine Möwe wiederzubekommen.
»Na ja, vielleicht tauchen sie auch einfach wieder auf«, meint Frau Kümmel noch, als der Basset die Nase voll hat vom Warten und an der Leine reißt. »Hoffen wir einfach, dass es nicht die Unterirdischen waren. Dann sehen wir die Tiere nie wieder.«
»Die was?«, frage ich irritiert.
»Na, die Unterirdischen. Die Wesen, die unter den Dünen leben.«
»Die gibt es doch gar nicht«, antworte ich und mache ein komisches Gesicht. Alte Leute sind manchmal echt seltsam. Frau Kümmel sieht sich zu mir um. Sorge spiegelt sich in ihrer Miene.
»Das kann keiner sagen, Winni. Es gibt viele Geschichten von ihnen. Nicht nur dass sie bei Vollmond ihre Wäsche in den Dünen zum Trocknen aufhängen.«
»Was denn noch?«, will ich wissen und erinnere mich daran, dass Papa immer sagt: Was haben der Seniorenkartenklub und ein Verwirrten-Treffen gemeinsam? Frau Kümmel.
»Na, die Unterirdischen klauen auch«, ruft sie mir mit voller Überzeugung zu. »Und übrigens, Winni: schöne Haare!«
Na toll, wie verrückt kann sie schon sein, wenn sie meine Haare gut findet? Inselschauergeschichten hin oder her. Ich ziehe mir meine Kapuze über den Kopf, als es wieder zu nieseln beginnt, und stapfe weiter. In meinem Hirn toben die Geschichten wild durcheinander. Tierdiebe, die mit Fischernetzen Katzen und Hunde fangen, lösen sich mit Wesen aus den Dünen ab. Angeblich lassen die Unterirdischen grausige Trugbilder entstehen, wenn man versucht, sie zu finden. Der eine sieht plötzlich sein eigenes Haus brennen und eilt davon. Ein anderer wird ins Watt gelockt, um sich zu verirren. Böse, sag ich euch. Aber ich hab sie bereits gesucht. Mehrfach. Und mir ist nichts passiert! Welch Überraschung. Also tendiere ich ganz klar zu Dieben aus Fleisch und Blut. Mit Fischernetzen. Ich schaue in den leeren Fahrradkorb und schlucke trocken. Geheult wird später, Winni! Jetzt wird erst mal nach Hause gefahren und eine neue Choreografie für das nächste Video geplant – und der pink verfärbte Pullover heimlich in der Wäsche getan. Bestenfalls so, dass Mama es nicht merkt.