Für L. und R. und die Erfindung des Tiefsommers
periplaneta
JESKO HABERT: »Tiefsommer«
1. Auflage, September 2018, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege
© 2018 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.
Lektorat und Projektleitung: Swantje Niemann
Cover: Nicole Altenhoff
Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-95996-073-1
epub ISBN: 978-3-95996-074-8
Tiefsommer
periplaneta
Knisternde Kondorfedern
So fliegen wir am liebsten
Die Zehen zahlloser Nager auf dem steinigen Boden
Steinig, herbstlaubduftend
Segeln in den Bergen
Grüner oder roter Schleier verhängt alles
Kaleidoskopgleich
Sechsecke bis zum Horizont oder dem eckigen Gebirge
Sind kein Kondor, sind Linie und Form, wir brennen
Riecht heiß
Schwarzes Nichts frisst Licht unter uns
Durch die rot-grünen Hexagone
Die reden, oder gehen, oder rauschen
Bis der nachtfarbene Strich sie vertilgt
Sie beugen sich an den Rändern fort von dem finsteren Abgrund
Verbranntes Papier
Brüchige Bücher
Zerrissene Tücher
Wir fallen hinein
Kondorsturzflug
Zwischen Knochenbeinen und im Nichts liegenden
Luftlos leidenden Lungen
Stetig mehr werdend
Schreien und Heulen, alles brüllt
Das Schwarz ist Rot und stinkt
Monotone Moleküle lösen sich auf
In saurem Gewürz.
Faulig-bitterer Nachgeschmack im Mund.
Augen aufmachen.
Verfluchte Horrortrips.
Teil 1
Tiefsommer
Alles war Feuer. Die Stadt brannte loh, stürzte zusammen. Fackelndes Gebälk zerbarst auf warmer Haut. Zertrennte Gliedmaßen, von Flammen umzingelte Menschen. Das Massaker währte kurz. Nur ein Fingerstreich, und hunderte zerstörte Seelen quollen aus den verkohlten, verstümmelten Körpern, die sie ihr Eigen genannt hatten. Nur Knochen und Ziegel zeugten vom einstigen Leben. Fleisch verbrennt.
Eine Stunde zuvor.
Es roch nach Tarnfarbenolivgrün. Wie metallischer Wald, oregano-holzig mit Eisengeschmack. Leicht faulig. Kein üblicher Geruch für einen Sonntagvormittag auf dem Marktplatz.
Roja erschauerte. Sie ging soeben zu ihrer Geschäftszentrale, dem »Drei-Farben-Eck«; die Arbeit türmte sich nach den Feiertagen des Jahresbeginns. Ihr kleines Kleidungsimperium verwaltete sich nicht von selbst, ob Sonntag oder nicht.
Normalerweise witterte sie hier die alltägliche Mischung aus straßengräulichem Heu und Herbstlaub, würz-knusprigem Ziegelrot und der verregnet-minzigen bis jasmin-ledrigen Farbe des Himmels. Je nach Windrichtung auch einen kaum spürbaren Hauch vom rosa-rauchigen Anis ihres aktuellen Kollektionsstücks im Schauraum. Dieses oregano-holzige Tarnfarbenolivgrün indes war ungewöhnlich.
Sie blieb stehen und lugte umher. Die schmalen Steinhäuschen Meñiqus warteten verschlafen, der träge Hochsommerwind des Januars wehte über die plattgetretene Erde und trug feinen Staub durch die Gassen. Vereinzelte Passanten. Keiner von ihnen schien etwas zu bemerken.
Roja hatte vor Jahren festgestellt, dass die Fähigkeit, Farbtöne zu riechen, höchst ungewöhnlich war. Eine Begabung, die niemand kannte, geschweige denn nachvollziehen konnte. Kopfschüttelnd schritt sie weiter. Vermutlich irrte sie sich. Was hatte Olivgrün schon in ihrem Ort verloren? Meñiqu war ein hübsches Hochlandstädtchen hinter den Akhi-Bergen, in dem Roja den Großteil ihres Lebens verbracht hatte. Es gab nur einige Läden, mehrere Äcker im Umfeld, ihre Färberei, ein überdimensionales Schlagloch in der Sommergasse und zwei Bastler, die einen Teil der Stadt von ihrem Baumhaus aus mit Strom versorgten. Im Frühjahr kamen ein paar Touristen und Wandervögel, im kurzen Winter wenige Gäste aus den höhergelegenen Ortschaften der Akhi. Es gab kein militärisch relevantes Ziel in Meñiqu. Trotzdem. Vielleicht sollte sie ihre Arbeit heute im Keller des Drei-Farben-Ecks erledigen. Traue niemals einem tarnfarbenolivgrünen Tag.
*
Das Feuer kam aus dem Himmel über die Stadt. Aus Orange wurde Rot, und das Sirren der Sonnenplatten verstummte hinter dem Donnern von Drohnen. Sie saßen im Schaltraum der Stromzentrale, die sie vor Jahren in der mächtigen Eiche außerhalb der Stadt errichtet hatten. Eine alte Hochspannungsleitung verband die fünf großen Paneele auf dem Wipfel des Baumes mit dem Städtchen. Sie würden die Verbindung kappen müssen.
»Zora, ich habe Angst.«
»Ich weiß, Lucio. Geh und hol die Lichterzwerge rein.«
Er erklomm die Leiter zu den Plattformen und klopfte wortlos auf eine der Metallplatten. Die kleinen Wesen hörten ihn, wie immer, und strömten in einem Funkenwirbel auf seine Schultern. Die Kontrollleuchten am Ende der Platte erloschen, und das allgegenwärtige Sirren erstarb, als die Lichterzwerge sich schreckensstumm an Lucios Kleidung klammerten. Zu klein, um zu sehen, was geschah, spürten sie doch Lucios Beunruhigung. Er war ihr Fels; doch sein Stein bröckelte. Mit goldschimmerndem Torso stieg er hinunter in den Schaltraum zu Zora, die aus dem Fenster gelehnt nun die Verbindung zur Hochleitung durchschnitt.
»Sie kommen näher«, merkte sie mit düsterer Stimme an und zeigte auf die noch fern erscheinenden Drohnen. Die Flieger malten Kondensstreifen von rotglühendem Feuer in den kupferfarbenen Himmel. Es könnte beinah ein verfrühter Sonnenuntergang sein, ein Farbenspektakel über die Hochebene werfend. Die gedrungenen Häuser Meñiqus blutrot färbend, auf dem braun-gelben Land, das sich bis zu den westlichen Felsen erstreckte.
»Meinst du, es liegt an uns?«, fragte Lucio. Der Gedanke war nicht völlig abwegig, angesichts der Serie von Sabotageakten, die der große Stromversorger gegen sie unternommen hatte. Ihre Elektrizität war nie über die Stadtgrenzen gelangt; doch ihr Kleinrebellentum war den Konzernbesitzern offenbar ein kratzendes Steinchen auf der Netzhaut. Sie hatten sich nicht aufkaufen lassen, und plötzlich fielen Strommasten um und Kabel bekamen Löcher. Einmal erreichten sie morgens gerade noch rechtzeitig ihr Quartier, um einen Brand am Fuße des Baumhauses zu löschen.
Zum Glück stand Meñiqu zu ihnen und ließ sich nicht davon abbringen, Strom aus dem Baumhaus zu beziehen. Anfangs hatte man sie noch schräg angesehen ob ihrer kruden Ideen, doch der günstige Preis hatte einige Überzeugungsarbeit geleistet. Sie hatten das Netz über die Jahre ausgebaut und verbessert, verdienten genug, um Essen und eine Wohnung zu kaufen, mehr brauchten sie nicht. Und trotz aller Professionalisierung saßen sie noch immer zwischen Holz und Nägeln, und galten weiterhin als schräge Vögel. Aber sie gehörten zum Städtchen wie die Akhi-Berge an den Horizont, und spräche man von einer kleinen Revolution, täte man ihnen nicht unbedingt unrecht. Dennoch: Drohnen?
»Nein, um uns geht es hier nicht«, sagte Zora und zog mit den Fingern die Flugrichtung der Maschinen am Himmel nach. »Sie werden über die Stadt fliegen, jedoch nicht bis zu uns, und dann in die Berge. Meñiqu wird ein Trümmerhaufen sein.«
Lucio sah sie entsetzt an. »Können wir sie retten?« Die Erkenntnis schlug ihm sichtbar auf den Magen. Seine Muskeln spannten sich an im Drang, sofort zu seiner Familie zu stürmen, die ahnungslos zuhause saß. ›Kurioses Abendlicht‹, würden sie staunen. Er musste sie rauszerren. Fortrennen.
Zora schüttelte den Kopf. Ihre Lippen formten »Keine Zeit«, doch die Schallwellen verschwanden im Klang der Detonationen, die dem roten Licht über der Stadt nachjagten und ihre Heimat unter dem explodierenden Himmel Pagaus begruben. Es ging zu schnell, um es zu begreifen.
Ihre Augen folgten hilflos dem Horror und erblickten alles und erkannten nichts. Sahen von Ferne die brennenden Häuser, sahen den Tod und zweifelten doch an den Bildern. Der Lärm kam, der Lärm ging. Regungslos stand Zora am Fenster, die Seele taub. Es ging viel zu schnell, um es zu begreifen.
*
»Lucio. Steh auf.«
Es surrte in seinen Ohren. Mühsam öffnete er die Augen und sah durch den goldenen Schimmer der Lichterzwerge hindurch in das violette Augenpaar Zoras, die sich über ihn beugte. War er in Ohnmacht gefallen? »Zora«, murmelte er, und das Wissen um ihre Anwesenheit schickte eine Welle goldener Ruhe durch seine Brust, beinah so golden wie sein Blickfeld, in dem die Lichterzwerge aufgeregt umherliefen. Er brauchte einen Moment, um durch die Taubheit in seinem Kopf hindurch aufzutauchen. Wie, wenn man eben wieder aufwacht aus einem wirren Traum, und noch nicht ganz klar ist, welcher Teil zur Wirklichkeit gehört. Bloß, dass da kein Traum war. Zoras Blick schrie die Verzweiflung in die Welt, auch wenn sie den Mund zusammenkniff, und er wusste, ab heute würde alles anders werden.
*
»Wir müssen schauen, ob jemand überlebt hat«, sagte Zora bemüht beherrscht, und zog Lucio auf die Beine. Sie schienen ihn nicht tragen zu wollen. Unsicheren Schrittes folgte er ihr über die gezimmerten Dielen ihres Baumhauses.
Draußen regierte die Stille. Stille und tödliche Röte. Sie kletterten hinab und gingen stumm in Richtung Meñiqus zerstörten Zentrums, und nur der goldene Schweif der Lichterzwerge, der Lucio voranlief, zog Farbe durch den mit jedem Tritt schwärzer werdenden Grund.
Trümmer tauchten auf, wo sich früher Häuser am Stadtrand erhoben hatten. Es roch verkohlt und schwefelig, der Boden war übersät mit glühendem Schutt, über den sie gen Marktplatz stiegen.
»Sag ihnen, dass sie nach Überlebenden suchen sollen«, wandte sich Zora an Lucio und stieß mit dem Fuß einen Balken aus dem Weg. Lucio sprach lautlos mit den Lichterzwergen, wie er schon als Kind getan hatte. Zoras Worte hingegen verklangen bei den winzigen Wesen meist ungehört. Sie hatte nie jenen Draht verstanden, der Lucio mit ihnen verband.
Lucio kniete sich auf die Trümmer und streckte den Finger in die Richtung der Lichterzwerge aus. Sie brummten – das hatten sie lange nicht mehr getan. Aber schließlich war dies keine normale Aufgabe, und wäre es nicht Lucio, der sie darum bat, säßen sie vermutlich trotzig auf dem Boden und grummelten vor sich hin. Zora schnaubte, wie stets, wenn sie sich über das Verhältnis zwischen Lucio und den Zwergen wunderte.
Sie musste zum Haus ihrer Eltern. Die oberflächliche Kühle, die sie Lucio zuliebe vorschob, verbarg nur bedingt das Chaos in ihrem Innern, das ihre Organe zu zerfetzen drohte beim Gedanken, sie hätten sich nicht in die Keller retten können.
*
Scharf-beißendes Rot. Bitter-schwefeliges Schwarz. Nie hatte sie solch deutliche Farben gerochen. Sie hatten alle anderen Farbdüfte mit einem Schlag verdrängt, als sie das Krachen der Bomben und der in sich zusammenbrechenden Häuser hörte. Schutt stürzte die Kellertreppe herunter und versperrte den Ausgang. Die Lichter waren schon kurz zuvor ausgegangen, nun war es dunkel und kühl im Keller. Sie fröstelte.
Ihr rosa Federkleidchen sollte nicht wärmen, sondern gut aussehen. Die geographische Lage von Meñiqu erlaubte solchen Luxus über lange Monate hinweg, und Roja trug das Kleid seit der Gründung ihres Betriebs den ganzen Sommer hindurch. Doch jetzt verfluchte sie das Kleidungsstück ob der eisigen Kälte, die durch die Federn drang und durch ihre Angst noch verstärkt wurde.
Die Hitze der Bomben war in Wellen zu ihr heruntergedrungen, aber nur von kurzer Dauer gewesen. Das war kein normales Feuer, sondern Explosionen, die eine beißende Kälte zurückließen. Sie hatte von solchen Waffen gelesen. Die Union von Uriwa hatte sie entwickelt, hieß es.
Oben im Geschäft hätte sie aus zahllosen, wärmenden Kleidungsstücken wählen können, doch hier unten fanden sich nur die Gobelins, die sie dieser Tage für einen Kunden färben sollte, und die an den Wänden aufgereiht hingen. Das dürfte nun hinfällig sein. Sie nahm einen davon und schlang ihn sich wie einen langen Wickelrock um den Körper. Viel besser.
Die Balken, die den Ausgang versperrten, waren zu schwer für sie. Staubig-fahles Licht drang durch die Lücken zwischen dem Gebälk und zeichnete starre Dreiecke auf den Boden. Das Drei-Farben-Eck war zerstört.
Die Seitengänge blieben im Dunkeln und so überließ Roja es mehr ihrem Farbgeruch und der jahrelangen Kenntnis des Gewölbes als den Augen, sich in dem weitverzweigten Keller zurechtzufinden. Es gab nicht viele Dinge hier unten. Aber vielleicht fände sie etwas, was ihr beim Überleben helfen könnte. Ein paar der Pflanzen, die sie zum Färben verwendete, konnte man essen. Ein Messer. Ihr Skizzenbuch samt Feder und Tusche. Ein Säckchen Großmünzen aus dem Tresor. Es war nicht wenig, was sie sich in den letzten Jahren als Färberin und Händlerin angespart hatte.
Trotzdem blieben ihr nur ein gefüllter Rucksack, eine Decke und ein rosa Flamingofederkleid.
Plamm. Der Stab, den sie gegen das Metall schwang, war schwer, und ihr Arm schmerzte. Das Zeitgefühl hatte sie vor einer Weile verloren. Die Minuten in einem totenstillen, dunklen Keller sind träger als anderswo, und wann sie zu einer Stunde kumulieren, ist jene Art Kulturwissen, das in einer schwarzverkohlten Stadt zuerst entfleucht.
Plamm. Wenn es noch Überlebende gäbe, horchten sie nach solchen Zeichen. Warum hatte sie bloß niemanden vorgewarnt? Aus Angst, ausgelacht zu werden für ihren unerklärlichen Geruchssinn? Aus Ignoranz? Waren all die Menschen ihr nicht wichtig genug? Sie schluchzte. Der Schmerz des Alleinseins zerriss sie innerlich. Ob noch irgendeiner ihrer Freunde lebte? Joana und ihr Sohn? Namen und Bilder von Menschen, die ihr etwas bedeuteten, schossen durch ihren Kopf. Sie hätten ihr Glauben geschenkt, hätte Roja sie gewarnt. Trug sie die Schuld? Und wer tat so etwas? Warum um alles in der Welt wollte man ausgerechnet Meñiqu zerstören?
Beschäftigt mit ihren Gedanken bemerkte sie erst spät den klebrig-süßen Zimtgeruch goldener Farbe. Irritiert suchte sie mit Blicken den Keller nach dem ungewohnten Duft ab. Plamm, schlug sie erneut ihr Hilfesignal und nahm einen ständig stärker werdenden Goldduft wahr.
Winzige, mattgoldene Funken stoben aus den Ritzen des zugefallenen Ausgangs über den Kellerboden und strömten wie ein funkelndes Rinnsal auf sie zu. Sie verharrte, ungewiss ob der Natur des Phänomens, und ließ sich von ihnen umzingeln. Es kribbelte an ihren Füßen und dann verschwanden sie wieder, wie von einem lautlosen Befehl geleitet. Keine zehn Schläge auf der Metallplatte später hörte sie Geräusche von der Treppe.
»Hey, ist da jemand?«, erklang eine dunkle Stimme, während ein Scharren und Knacken auf das Verschieben der Trümmer hindeutete.
»Hier unten! Am Ende der Kellertreppe!«, erwiderte sie und versuchte erneut, die Balken zu bewegen, um der Stimme entgegenzuarbeiten. Die goldenen Funken erschienen erneut und formten sich zu Pfeilen und Kreisen, wo lockerer Schutt und leichtes Gebälk lagen. Was immer es war, es schien mehr als ein Haufen simpler Funken zu sein.
»Bist du verwundet?«, rief ihr Retter zwischen den letzten im Weg liegenden Balken hindurch.
»Nein, es geht schon. Danke«, antwortete Roja und ließ sich nach draußen ziehen. Unter einem Lockenkopf blickten ihr große Mahagoniaugen aus feinen, dunkelbraunen Gesichtszügen entgegen. Hübsch, aber von Traurigkeit gebrandmarkt. Ein paar Jahre jünger als sie, jedoch definitiv in den späten Zwanzigern, schmal, aber gutaussehend.
»Ich bin Lucio. Das da hinten ist Zora.« Er deutete auf eine kräftige Frau ähnlichen Alters, die bei einer nahegelegenen Ruine stand. »Wir sind die beiden vom Lichtbaumhaus.«
»Ah, ja«, reagierte Roja entrückt, während sie sich zwischen den halbzerstörten Häusern und schwarzverkohlten Überresten umsah. Der Himmel trug die erdfarbene Tönung des frühen Abends, doch sie roch weiterhin einen scharfen Rotgeruch. Eisenhaltig. Hier lagen viele Tote.
»Du bist die Färberin, richtig?«, fragte Lucio und sah sie besorgt an.
»Ja. Entschuldige. Mein Name ist Roja«, antwortete sie und taumelte einige Schritte vorwärts.
»Sieh es dir nicht zu genau an. Ich musste mich ein paarmal übergeben«, warnte Lucio und deutete auf die Ruinen. Roja blickte zu einer aus den Angeln gefallenen Haustür, aus der ein blutiger Arm herausragte. Zerfetzte Haut gab den Blick auf die Muskeln des Unterarms frei, und ein gesplitterter Knochen ragte aus dem verbrannten Fleisch. Saure Galle in der Kehle. Würgreflex.
»Komm«, sagte Lucio, sie an der Hand zu Zora führend, die in einem Schutthaufen wühlte. »Hier wohnten ihre Eltern«, flüsterte er. »Sprich sie besser nicht an.«
Sie standen schweigend am Rande des schwarzen Trümmerberges, durch den sich dünne Linien aus goldenen Funken zogen. Zora kämpfte sich systematisch mit versteinerter Miene durch die Ruine, so dass die Asche ihre Leinenhose grau färbte. Es war aussichtslos. Roja konnte Fleischfetzen und Knochenreste zwischen den verkohlten Steinen erkennen. Niemand überlebte solch ein Massaker. Zora suchte nach dem Unmöglichen.
»Zora. Lass uns gehen«, sagte Lucio gedämpft. »Hier ist niemand mehr.«
Zora funkelte ihn aus den Augenwinkeln an. »Woher weißt du das? Sie könnten immer noch irgendwo sein!«
»Die Lichterzwerge hätten sie aufgespürt«, widersprach Lucio und deutete auf den untätigen goldenen Haufen. »Sie fanden nur Roja.«
Zora schnaubte und schien das erste Mal Roja zu bemerken. Sie musterte sie von oben bis unten, und ihre Miene wurde leicht abfällig, als sie das rosa Federkleid unter dem umgeschlungenen Gobelin bemerkte. »Roja. So«, bemerkte sie mit kaltem Tonfall. »Es dämmert. Wir übernachten im Baumhaus, und morgen ziehen wir fort. Es gibt keinen Grund mehr zu bleiben«, befand sie und drehte sich um.
»Ich muss noch in der Sommergasse schauen. Nur da. Bitte.« Rojas Stimme klang brüchig beim Gedanken an ihre beste Freundin. Wie oft hatten sie auf der Terrasse gesessen und zu dem 20 Jahre alten Schlagloch geschaut, das man hier Krater nannte. Hatten gelacht und geklatscht, über die Provinzstadt gelästert und von der Welt geträumt. Und als Roja begann, für ihr Geschäft zu reisen, hatte sie ihr jedes Mal etwas mitgebracht, und ihr bei einem Kaffee auf den klapprigen Stühlen vor ihrem Haus von der Ferne vorgeschwärmt.
»Du hast ihn doch gehört. Hier lebt niemand mehr«, sagte Zora mit harter Stimme und einem ebensolchen Glanz in den Augen.
»Es liegt auf dem Weg. Wir werden nachsehen«, versprach Lucio und bedeutete Roja, Zora zu folgen.
Sie fanden sie. Die wackeligen Schemel zerbrochen, der Krater gefüllt mit dem Schutt der umgebenden Häuser. Die Terrasse war herabgestürzt, in große Stücke zerfallen. Joana lag darunter. Lediglich der grausam zerfetzte Oberkörper ragte aus den Trümmern. Er triefte vor Blut. Ihr halbes Gesicht fehlte. Roja wandte sich um und übergab sich. Der Geruch von Erbrochenem und Tod waberte über ihnen. Sie griff den Gobelin, in den sie sich eingewickelt hatte, und legte ihn über die tote Freundin.
Der Schmerz ließ keinen Gedanken für eine weitere sinnlose Suche nach Joanas Sohn übrig. Tränen überströmten ihr Antlitz, als sie schließlich aufstand und Zora und Lucio folgte, mutterseelenallein in ihrer plötzlich ruinierten Welt.
Die Dämmerung über der toten Stadt roch heu-gräulich und scharf-schwefel-schwarzrot. Der Boden knirschte unter ihren Füßen und machte die Lautlosigkeit eines menschenleeren Ortes greifbar. Sie klammerte sich an diese Stille, jenen letzten verbliebenen Begleiter, der von ihrer Existenz zu zeugen wusste. Vernichtung ist leichter zu begreifen als Schöpfung: Was noch nicht ist, entzieht sich der Vorstellungskraft wie eine Seifenblase den eiligen Griffen einer Hand. Das Zerstörte jedoch prägt sich mit unwiderstehlicher Kraft im Innersten ein. Die Bilder der verbrannten Stadt wurden in den Köpfen der drei stummen, im Dämmerlicht verschwimmenden Figuren zum Sinnbild des Verlorenen: die Hände der Familie, der Geschmack der Geschichte, das sanft zurrende Gefühl von Heimat.
Was nun begann, war anders, und sie wussten nicht, warum. Der ahnungslose Himmel drückte die Nacht auf sie herab und presste alle Ängste und Tränen der qualmenden Ruinen in ihre Körper.
Und mit der Finsternis, da kam die Einsamkeit.