Untersuchungen zu Paulus
Stuttgarter
Biblische
Aufsatzbände 66
Herausgegeben von
Thomas Hieke und Thomas Schmeller
© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2018
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller
www.bibelwerk.de
Satz: SatzWeise GmbH, Trier
Druck: Sowa Sp. z.o.o., Warschau
Printed in Poland
eISBN 978-3-460-51058-6
ISBN 978-3-460-06661-8
Zur Erinnerung an Joachim Gnilka
Vorwort
Kollege Paulus. Die Jesusüberlieferung und das Selbstverständnis des Völkerapostels
In: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 88 (1997) 260–283
Paulus und die Konkurrenz. Vom Ehrgeiz
In: Wissenschaft und Weisheit 67/2 (2004) 163–178
Die Erinnerung an die Leiden Jesu Christi bei Paulus
In: Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Zur Notwendigkeit einer am Judentum orientierten Erinnerungskultur. FS Joachim Maier, hg. v. A. Strotmann / R. Oberle / D. Bertrand-Pfaff (Übergänge 15), Frankfurt/M. 2010, 49–62
Kreuz und Kraft. Apostolisches Durchsetzungsvermögen nach 1 und 2 Kor
In: W. Eisele / Ch. Schaefer / H.-U. Weidemann (Hg.), Aneignung durch Transformation. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum. FS M. Theobald (HBS 74), Freiburg i.Br. 2013, 241–263
Die Cicerobriefe und die Frage nach der Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs
In: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 95 (2004) 181–208
Der ursprüngliche Kontext von 2 Kor 6,14–7,1. Zur Frage der Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs
In: New Testament Studies 52 (2006) 219–238
No Bridge over Troubled Water? The Gap between 2 Corinthians 1–9 and 10–13 Revisited
In: JSNT 36 (2013) 73–84
Zwei Narrenreden? 2 Kor 11,21b–33 und Phil 3,2–11 im Vergleich
In: J. Frey / B. Schliesser (Hg.), Der Philipperbrief des Paulus in der griechisch-römischen Welt (WUNT 353), Tübingen 2015, 189–205
Der Konflikt in Korinth. Sozialgeschichtliche Überlegungen zu den Gegnern im zweiten Korintherbrief
In: W. Stegemann / R. E. DeMaris (Hg.), Alte Texte in neuen Kontexten. Wo steht die sozialwissenschaftliche Bibelexegese?, Stuttgart 2015, 33–52
Paulus und seine Gegner im 2. Korintherbrief. Die Inszenierung einer Kontroverse
In: M. Ebner / G. Häfner / K. Huber (Hg.), Kontroverse Stimmen im Kanon (QD 279), Freiburg i.Br. 2016, 108–137
2 Kor 3,1–4,6 bei Markion und Tertullian
In: Neutestamentliche Exegese im 21. Jahrhundert. Grenzüberschreitungen. FS J. Gnilka, hg. v. Th. Schmeller, Freiburg i.Br. 2008, 154–169
Christsein nach dem 2. Korintherbrief
In: ZNT 38 (2016) 55–65
Mit diesem Band schließe ich den Nachdruck eigener Aufsätze unter dem verbindenden Titel »Kreuz und Kraft« ab. Der erste Band ist 2016 unter der Nummer 62 in derselben Reihe erschienen. Dort waren Aufsätze zur Jesusüberlieferung und zu frühchristlichen Gemeinden zusammengefasst, hier sind es nun Aufsätze zu Paulus.
Bei der Vorbereitung dieses Bands haben sich wieder meine Sekretärin Petra Januszewski, meine Hilfskräfte Anna-Lena Meininger und Emma Kringel und mein Mitarbeiter Philipp Betz große Verdienste erworben. Ich danke ihnen sehr!
Der erste Band war meinem Lehrer Joachim Gnilka gewidmet. Unerwartet ist der Widmungsempfänger im Januar 2018 verstorben. Deshalb sei auch der zweite Band ihm gewidmet. Das Buch möge dazu beitragen, die Erinnerung an diesen außerordentlichen Menschen und Gelehrten wachzuhalten.
Frankfurt am Main, im März 2018 | Thomas Schmeller |
260 In seinem neuen Paulusbuch hat Joachim Gnilka darauf hingewiesen, daß Paulus nicht als »ein von seinen Zeitgenossen unverstandener Einzelgänger« zu sehen sei: »Er suchte die Gemeinschaft und setzte sie gezielt ein«1. Dieser Weg einer Einordnung des Paulus in die urchristliche Mission scheint mir wichtig und vielversprechend. Er könnte uns einer Lösung auch der vielbehandelten Frage nach dem Verhältnis des Paulus zur Jesusüberlieferung näherbringen. Darum soll es in diesem Beitrag gehen. Bevor wir uns aber dem »Kollegen Paulus« zuwenden, muß das Problem etwas genauer bestimmt werden.
An den Stellen, an denen Paulus ein Herrenwort anführt, geschieht dies nicht beiläufig. Er verweist hier nicht auf eine Autoritätsquelle neben (oder gar unter) gleichwertigen anderen, sondern schreibt dem Herrenwort überragende Verbindlichkeit zu. Besonders deutlich ist dieser Sachverhalt in 1 Kor 7, wenn Paulus zunächst zwischen der Anweisung des Herrn und seiner eigenen unterscheidet (V. 10.12) und dann bedauert, zu einer anderen Frage keine ἐπιταγὴ κυρίου (V. 25) zu haben. Auch in 1 Kor 9,14 läßt sich das Herrenwort am ungezwungensten als Höhepunkt der Argumentation für sein Unterhaltsrecht verstehen. Diese Auffassung von der großen Bedeutung der Herrenworte im Rahmen der paulinischen Argumentation ist zwar nicht unbestritten2, wird aber doch in der jüngeren Diskussion meist geteilt3.
261 Damit steht aber nun der Sachverhalt in einer gewissen Spannung – und daraus ergibt sich das Problem –, daß trotz ihrer großen Bedeutung 1. der Umfang der bei Paulus nachweisbaren Jesustradition gering ist, 2. solche Tradition nur in bestimmten Kontexten, und zwar gerade nicht in den für Paulus theologisch zentralen, begegnet, 3. Jesustradition immer in freier Formulierung angeführt wird und 4. Paulus im Kontext dem Inhalt der Tradition manchmal sogar zu widersprechen scheint. Diese vier Punkte sollen wenigstens mit einigen Andeutungen erläutert werden.
1. Was den Umfang betrifft, kann und muß ich hier nicht die unendliche Diskussion dokumentieren oder gar eine neue Lösung bieten. Auch wer meint, erheblich mehr an Jesustradition identifizieren zu können, als ich im folgenden akzeptiere, wird doch kaum anders urteilen können, als daß aufs Ganze gesehen der Umfang tatsächlich gering ist – und nur darauf kommt es hier an.
Zur Erzählüberlieferung: V. P. Furnish hat informativ zusammengestellt, was man über das Leben Jesu wüßte, wenn man nur die Paulusbriefe hätte: »Man wüßte, daß Jesus unter dem Gesetz als Jude geboren worden war (Gal 4,4), aus dem Stamm Davids (Röm 1,3), daß er wenigstens zwei Brüder hatte (1 Kor 9,5), von denen einer Jakobus war (z.B. Gal 1,19), und zwölf Jünger (1 Kor 15,5), von denen er (sc. Paulus, Th. Sch.) namentlich nur Petrus (Kephas) und Johannes nennt (z.B. Gal 2,9); daß er ein letztes Mahl mit ihnen aß und in derselben Nacht verraten wurde (1 Kor 11,23ff.); daß Jesus sich aufgrund seines Gehorsams gegenüber dem Willen Gottes selbst in den Tod hingab (Gal 1,4; Phil 2,8), am Kreuz hingerichtet wurde (Gal 3,1; 1 Kor 2,2, et passim) und begraben wurde (1 Kor 15,4; Röm 6,4)«4. Alles andere wüßte man nicht: nichts von den Umständen der Geburt, nichts von Wundern, Konflikten, Verklärung, Tempelreinigung, Getsemani usw. Manche Autoren vermuten für Paulus die Kenntnis einer frühen Passionsgeschichte5; allein von den dafür angeführten Stellen her (vor allem 1 Kor 11,23ff., dann auch 1 Kor 15,3–5; 2,8ff.; Röm 15,3), d.h. ohne synthetische Zusatzannahmen (wie vor allem: Paulus spielt nur auf bereits Bekanntes an), ist dieser Schluß aber alles andere als zwingend6.
262 Zur Wortüberlieferung: Eindeutige Bezugnahmen auf Herrenworte sind nur solche, wo Paulus eigens auf den Herrn verweist und wo wir gleichzeitig in der synoptischen Überlieferung Logien finden, die traditionsgeschichtlich mit den paulinischen Herrenworten verwandt sind. Es gibt nur zwei derartige Bezugnahmen: Das Ehescheidungsverbot 1 Kor 7,10f. (vgl. Mk 10,11f.; Lk 16,18; Mt 5,32; 19,9) und die Anweisung zum Unterhaltsrecht der Verkündiger 1 Kor 9,14 (vgl. Mt 10,10 par Lk 10,7). Zwei weitere Stellen, an denen Paulus nach Meinung einiger Interpreten auf Herrenworte verweist (1 Kor 14,37; 1 Thess 4,15–17), sind problematisch: An beiden Stellen ist unklar, ob Paulus überhaupt an ein Jesuswort denkt7 und wenn ja, wo es genau zu suchen ist8; zudem finden sich keine klaren Entsprechungen in der synoptischen Tradition. Über die vier genannten Stellen hinaus wird in der Literatur eine mehr oder weniger große Zahl von wahrscheinlichen oder möglichen Anspielungen auf Jesustradition genannt, die nicht als solche kenntlich gemacht sind. Auf diesem Gebiet besteht keinerlei Einigkeit. Zwar geht niemand mehr so weit wie A. Resch, der am Anfang unseres Jahrhunderts mehr als 900 solcher Anspielungen ausmachte9. Aber es gibt zu dieser Frage doch ein weites Spektrum von entdeckerfreudigen10 über moderate11 bis zu sehr zurückhal-263tenden Antworten12. Das Problem wird dadurch erschwert, daß an keiner der Stellen, wo man Tradition vermutet (bes. Röm 12,14; 13,7.8–10; 14,14; 1 Kor 4,12; 13,2; Gal 5,14), sicher zu entscheiden ist, ob Paulus diese Tradition als Jesuswort kennt und weitergibt oder ob es sich um anonym umlaufende urchristliche Tradition handelt, die nur in bestimmten Kreisen, möglicherweise erst nach Paulus, Jesus zugeschrieben wurde. Besonnen urteilt J. Gnilka: Es »ist kaum zu klären, ob Paulus synoptisches Gut kannte, als er erkennen läßt. Man möchte es vermuten«13.
2. Wie man die Kontexte bestimmt, in denen Paulus Jesustradition verwendet, hängt natürlich von dem Umfang der Traditionsbenutzung ab, die man ihm zuschreibt. Beschränkt man diese auf die oben angegebenen Stellen, die sicher die meistgenannten sind, stellt sich die Ethik als der für paulinische Jesustradition mit Abstand wichtigste Kontext heraus14. Nimmt man weitere Stellen hinzu, erweitert sich das Spektrum, ohne daß sich aber an der entscheidenden Beobachtung etwas ändert: In den zentralen theologischen Aussagezusammenhängen, also in Christologie und Soteriologie, greift Paulus nicht auf Jesustradition zurück. Auch bei vorsichtiger Auswertung dieser Tatsache wird man mit W. Schrage zumindest folgern dürfen, »daß Paulus sich nicht primär als Vermittler und Garant von Jesustradition versteht«15.
3. An den beiden einzigen Stellen, wo Paulus explizit ein Herrenwort anführt, und wir dieses Wort in der synoptischen Überlieferung identifizieren können (1 Kor 7,10f.; 9,14), zeigt der traditionsgeschichtliche Vergleich eindeutig: Paulus formuliert selbst16. Unter der – m.E. wahrscheinlichen – Voraussetzung, daß Paulus fixierte Tradition vorfand, muß man ihm große Freiheit bei der Wiedergabe dieser Tradition für den neuen Aussagezusammenhang zuschreiben.
4. Diese Freiheit bezieht sich nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch auf die Applikation. Die Frage, ob Paulus in 1 Kor 7,10f.; 9,14 das jeweilige Herrenwort konsequent aktualisierend weiterführt17 oder angesichts veränderter Rahmenbedingungen korrigierend 264 umdeutet18, kann hier im Detail nicht behandelt werden. Man sollte sich jedenfalls vor apologetischer Abschwächung der Spannung zwischen Tradition und Kontext hüten. Daß Paulus ein als verbindliche Autorität (s.o.) eingeführtes Herrenwort im Kontext nicht einfach ignoriert oder wieder aufhebt, versteht sich von selbst. Offenbar bezieht sich die Verbindlichkeit aber nicht auf die konkrete Norm, sondern auf den durch diese Norm geschützten Wert19. Nur so läßt sich die Tradition in 1 Kor 7,10.11b (Verbot der Ehescheidung) mit der doch wohl paulinischen Parenthesen in V. 11a (Einschränkung des Scheidungsverbotes auf ein Verbot der Wiederheirat) und mit der paulinischen Regelung in Vv. 12ff. (Ermöglichung von Ehescheidung) vereinbaren: Verbindlich ist der Schutz der Ehe. Nur so kann man auch verstehen, warum Paulus in 1 Kor 9,14 ein Gebot des Herrn (die Verpflichtung des Missionars, auf Kosten der Adressaten zu leben) als Argument für seine apostolische Autorität anführen kann, obwohl er diesem Gebot durch das eigene Verhalten (Unterhaltsverzicht) ja widerspricht: Verbindlich ist der Dienst am Evangelium.
Das Problem liegt also in der Spannung zwischen der hohen Autorität, die Paulus der Jesusüberlieferung einerseits zuschreibt, und der geringen Bedeutung, die sie andererseits dem Umfang, der theologischen Funktion, dem Wortlaut und dem materialen Gehalt nach in seinen Briefen hat. Eine überzeugende Erklärung dieser Spannung steht bislang aus. Die Vielzahl der Deutungsversuche läßt sich auf einige Grundtypen reduzieren, die im folgenden in ihren Stärken und Schwächen skizziert werden sollen.
Selten vertreten werden heute extreme Lösungen, die die Existenz der Spannung bestreiten, indem sie einen der beiden Pole negieren. Die eine Lösung (R. Bultmann u.a.) leugnet die Autorität der Jesusüberlieferung für Paulus und erklärt dies oft unter Hinweis auf 2 Kor 5,16, mit einer bewußten Beschränkung des Paulus auf das »Daß« des Gekommenseins Jesu20. Die andere Extremlösung leugnet die geringe faktische Bedeutung: Die Paulusbriefe seien unter der Oberfläche in sehr hohem Maße von Jesusüberlieferung geprägt21 Beide Auffassungen werden der Komplexität des Befunds, wie er oben angedeutet wurde, nicht gerecht.
265 Heute wird die genannte Spannung meist ernst genommen. Lösungen werden mit Blick auf eines (oder mehrere) der Elemente des Kommunikationsvorgangs gesucht: 1. Theologie und Situtation des Autors, 2. die Art der Jesusüberlieferung, 3. die Gattung des Briefs und 4. die Situation der Adressaten.
1. Unbestreitbar ist, daß die Theologie des Paulus ihren Schwerpunkt nicht beim irdischen Jesus hat. Man kann mit J. Becker sagen, daß bei Paulus eine »ungeheure Konzentration auf den Grundsinn des Lebens Jesu«22 stattfindet, auf »Gottes Erschlossenheit durch die Grunddaten der Geschichte Jesu«23: Das ist mehr als ein »Daß«, aber weniger als ein Evangelium24. Man kann auch vermuten, daß Paulus diesen theologischen Grundentscheid nicht allein und unvermittelt getroffen hat, sondern daß ein Zusammenhang mit seiner Situation im urchristlichen Traditionsprozeß besteht. Die Rekonstruktion von Wilckens, wonach bis etwa 70 n.Chr. zwei Traditionsströme nebeneinander existierten, von denen einer auf Jesusüberlieferung, der andere auf Christuspredigt konzentriert war25, ist zwar in dieser Pauschalität kaum zu halten. Daß aber Paulus nicht der erste und einzige war, der seinen Schwerpunkt in der Christuspredigt suchte, sondern gerade in der antiochenischen Gemeinde Ansätze zu einer solchen Theologie vorfand bzw. mitprägte (vgl. aber u. Anm. 90!), ist kaum zu bestreiten. Allerdings sind mit diesem Lösungsansatz keineswegs alle Fragen beantwortet. Auch hier können ja, ähnlich wie bei Bultmann, die tatsächlich vorhandenen Bezüge des Paulus auf Jesustradition nicht so gewürdigt werden, wie Paulus selbst sie offenbar verstanden hat: als bleibend, d.h. auch nach Ostern verbindliche Worte des irdischen Jesus. Warum betont Paulus neben den »Grunddaten« eben manchmal auch Details?
2. Gegenüber der radikalen These, Paulus biete deshalb so wenig Jesusüberlieferung, weil er nicht mehr kannte26, wird heute oft und zu Recht hervorgehoben, wie vielfältig seine Möglichkeiten waren, sowohl vor wie nach der Berufung Jesustradition kennenzulernen: die Verfolgung der Christen, die damaszenische und die antiochenische Gemeinde, der immerhin zweiwöchige Besuch bei Petrus (Gal 1,18) usw.27. Manchen Autoren erscheint aber fraglich, ob Paulus genug passende Jesusüberlieferung zur Verfügung hatte28. Man muß wohl tatsäch-266lich damit rechnen, daß Teile der ländlich geprägten Jesustradition in Stadtgemeinden nicht unmittelbar situationsadäquat waren. Zu weit dürfte allerdings G. Theißen gehen, wenn er von einer »soziologische(n) Überlieferungsschwelle« spricht: Die Worte Jesu waren ihm zufolge geprägt vom Wanderradikalismus und damit von einem »afamiliäre(n) Ethos«; dieses aber hatte in den hellenistisch-städtischen Gemeinden »keinen Platz – einfach deshalb nicht, weil man es nicht praktizieren konnte. Mochte man die Worte Jesu auch kennen, man konnte sie ja doch nicht leben. Was aber innerhalb mündlicher Überlieferung von einer Gemeinschaft nicht akzeptiert werden kann, wird durch die ›Präventivzensur‹ dieser Gemeinschaft abgestoßen«29. Zum einen scheint mir von grundsätzlichen Überlegungen her die Annahme einer »Präventivzensur« kaum zu halten30; zum anderen zeigt der Erfolg der Gegner des Paulus in Korinth, die ja nach Theißen ebenfalls Träger palästinisch-synoptischer Jesustradition waren31, daß man mit solcher Überlieferung durchaus ankommen konnte.
3. L. Goppelt macht geltend, daß die übrige frühchristliche Literatur »die Evangelienüberlieferung genausowenig wie Paulus (zitiert, Th. Sch.), obgleich ihr diese zweifellos bekannt war. Lukas z.B. weist in keiner Missionspredigt der Apostelgeschichte auf Inhalte seines Evangeliums zurück (…). Genausowenig führt der Verfasser des 1. Johannesbriefes das 4. Evangelium an. Selbst der 2. Clemensbrief, eine gegen Mitte des 2. Jh. niedergeschriebene Homilie, verwendet die ihm zweifellos bekannte Evangelienüberlieferung kaum. Demnach kann auch Paulus die später in den synoptischen Evangelien niedergelegte Jesusüberlieferung gekannt haben, obgleich er sie nicht zitiert«32. Der Grund für den Ausfall von Jesusüberlieferung sei einfach der, daß diese in die Umkehr rufe, während die apostolische Literatur zu Menschen spreche, die bereits in der Umkehr ständen33. Von anderen wird Goppelts Überlegung speziell für die Apostelbriefe aufgenommen, die eben nicht das richtige Genus für Jesusüberlieferung seien: der Apostelbrief wolle das Kerygma »unter den Gesichtspunkten aktueller Paraklese« entfalten, die Evangelientradition dagegen sei »Lehrverkündigung (…) in der Form von memorierbaren Erzählungen und Lehrsummarien«34. Dieser Verweis auf die Gattungsproblematik hat sicher seine Berechtigung35. Auch hier sind aber Einschränkungen am Platz. Zunächst: In den Evangelien wird Jesusüberlieferung durchaus für aktuelle Gemeindeprobleme fruchtbar gemacht; mit der aktuellen Ausrichtung der Briefe kann man das Fehlen von Jesusüberlieferung also nicht erklären. Ferner könnte ein Unterschied zwischen den Paulusbriefen und Apg/1 Joh/ 2Clem gerade darin bestehen, daß die letzteren bei ihren Adressaten die Kenntnis eines oder mehrerer Evangelien voraussetzen und vielleicht eben deshalb auf Jesusüberlieferung verzichten – daß die Empfänger der Paulusbriefe Jesus-267tradition in größerem Umfang bereits kannten, ist dagegen ziemlich unwahrscheinlich (dazu gleich). Und schließlich ist zu bedenken, daß ja auch gerade der normative Einfluß der Paulusbriefe dazu beigetragen haben könnte, daß spätere Briefschreiber wenig Jesusüberlieferung aufnahmen36.
4. Die Situation der Adressaten wird in zweifacher, sehr verschiedener Weise zur Lösung unseres Problems herangezogen. Zum einen: Den Adressaten sei durch die vorangegangene mündliche Predigt des Paulus die Jesusüberlieferung so vertraut gewesen, daß in den Briefen Anspielungen als Erinnerung an Gehörtes genügten37. Diese These wäre zwar ein eleganter Ausweg aus dem Dilemma, ist aber schlechterdings nicht zu belegen. Die wenigen Hinweise auf die Missionspredigt des Paulus (bes. 1 Thess 1,9f.; 1 Kor 2,1f., ferner evtl. manche der mit »Wißt ihr nicht, daß …« eingeleiteten Stellen) sprechen eindeutig gegen eine größere Rolle der Jesusüberlieferung in der Predigt als in den Briefen38. Aufschlußreich ist auch, daß im Röm, dem einzigen Brief an eine nicht von Paulus gegründete Gemeinde, Jesusüberlieferung nicht stärker hervortritt als in den übrigen Briefen39. Eine ganz andere Lösung liegt in der Annahme, Paulus sei deshalb so zurückhaltend gegenüber Jesustradition gewesen, weil diese in den Adressatengemeinden von seinen Gegnern in Anspruch genommen worden sei: Wundergeschichten für ein Bild Jesu als θεῖος ἀνήρ, Herrenworte für eine weisheitlich-enthusiastische Theologie – zugleich mit diesen Positionen habe Paulus auch die Jesusüberlieferung abgelehnt40. Daß gerade die Gegner in Korinth Jesusüberlieferung weitergaben, läßt sich m.E. wahrscheinlich machen (vgl. u. 3.2). Daß aber Paulus im Gegenzug auf solche Tradition verzichtet habe, ist sehr unwahrscheinlich. Mit mehr Recht vermutet z.B. Balch, Paulus argumentiere in 1 Kor 7,10f. gerade deshalb mit einem Jesuswort gegen die Ehescheidung, weil eine gegnerische Position mit Worten wie Lk 14,20.26 dafür votiert habe41. Zudem kann man hier nicht für alle Paulusbriefe eine Situation wie die in Korinth voraussetzen.
Fazit: Eine überzeugende Deutung steht nach wie vor aus, auch wenn manche bisherigen Antworten (die Fragen nach der Gattung und nach passender Jesusüberlieferung) hilfreiche Aspekte enthalten. Keinen Sinn macht es wohl, ein weiteres Mal die Paulusbriefe auf Jesustradition abzuklopfen. Gibt es aber überhaupt noch einen Weg, der bisher nicht beschritten worden ist?
268 Erfolgversprechend scheint mir allein der Versuch, das Phänomen aus seiner Isolation zu lösen. Für sich genommen entzieht es sich offenbar einer Erklärung. Die Chancen steigen aber, wenn wir von mehreren gleichartigen Phänomenen ausgehen können. Es soll deshalb im folgenden darum gehen, die Paulusbriefe auf verwandte Erscheinungen hin zu untersuchen. Dabei wird sich zeigen, daß die eigentümliche Spannung zwischen hoher Wertschätzung und geringer faktischer Bedeutung auch andere Bereiche der Missions- und Gemeindearbeit des Paulus prägt.
Nicht nur Jesusüberlieferung fällt in der Missionstätigkeit des Paulus weitgehend aus – er tauft auch nicht, oder doch kaum. Daran läßt 1 Kor 1,14–17 keinen Zweifel: »Ich danke Gott, daß ich keinen von euch getauft habe außer Krispus und Gaius, damit niemand sagt, ihr wäret auf meinen Namen getauft. Ich habe aber auch das Haus des Stephanas getauft; ob ich sonst noch jemanden getauft habe, weiß ich nicht. Denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu verkündigen (…)«42. Wer hat aber dann getauft? Man kann vermuten, daß Mitarbeiter des Paulus wie z.B. Timotheus43 oder andere Missionare diese Aufgabe wahrnahmen. Sicher wurde die Taufe aber bald von Gemeindemitgliedern selbst gespendet, die ja nach kürzerer oder längerer Zeit auf sich allein gestellt waren.
Ob hier eine Analogie zur Frage der Jesusüberlieferung vorliegt, entscheidet sich daran, wie Paulus die Taufe bewertet. Daß er sich selbst tauft, muß nicht heißen, daß Taufe für ihn eine Nebensache ist44. Es ist wohl auch zumindest mißverständlich zu sagen, die Taufe sei für Paulus zwar wichtig, aber nicht grundlegend, weil sie ja offenbar nicht zu seiner nach 1 Kor 3,10 »grundlegenden« Tätigkeit gehört45. Will man 1 Kor 1,14–17 und 3,10 zusammenbringen, ergibt sich daraus zwar sicher ein zeitlicher Vorrang der Christusverkündigung: Sie muß der Taufe vorangehen, ebenso wie beim Hausbau dem 269 Hochziehen der Mauern das Fundamentlegen vorangeht. Wie weit damit aber auch ein sachlicher Vorrang gegeben ist, scheint mir nicht so eindeutig. Die Erstverkündigung begründet ohne Frage ein einmaliges Verhältnis zur Gemeinde, das Paulus als Vaterschaft beschreiben kann (1 Kor 4,14f.) und das ihm besondere Autorität verleiht. Inhaltlich gesehen hat aber der Missionar, der das Werk des Paulus weiterführt, immerhin den Vorteil, daß er nicht mehr nur Milch, sondern jetzt endlich feste Speisen bieten kann (1 Kor 3,1f.). In dieser Hinsicht ist für Paulus die Folgemission der Erstverkündigung sogar überlegen. Auf dieses Problem komme ich zurück (vgl. u. 3.1).
Zu Recht wird heute, gerade mit Blick auf Stellen wie Röm 6, meist betont: Der weitgehende Verzicht auf eigene Tauftätigkeit impliziert keine Abwertung der Taufe46. Diese ist für Paulus ein selbstverständlicher, von der Tradition vorgegebener Initiationsritus der Christen, den er für seine eigene Theologie fruchtbar machen kann. Der Grund für die Zurückhaltung des Paulus ist allein sein persönlicher Auftrag: »Taufen kann jeder. Er hat den Heiden das Evangelium zu sagen«47.
Damit finden wir auch bei der Taufe die oben beschriebene Spannung: Sie genießt bei Paulus hohe Wertschätzung, hat aber für sein Tun geringe Bedeutung. Diese Sichtweise hat erhebliche Konsequenzen. Offenbar unterscheidet Paulus zwischen Elementen des Christseins, für die er selbst, und solchen, für die andere zuständig sind, ohne daß letztere weniger wichtig sein müssen. Oder anders gewendet: Die paulinische Mission erhebt nicht den Anspruch, alles zu vermitteln, was zum Christsein nötig ist. Was Paulus in 1 Kor 12;
Röm 12 zu den verschiedenen Charismen in der Gemeinde schreibt, bezieht ihn mit ein48. Nicht nur auf der Ebene des alltäglichen Gemeindelebens 270 gilt, daß niemand einen Monopolanspruch hat – auch die Mission ist eine Aufgabe, die das Zusammenwirken verschiedener Kräfte braucht, wobei nicht immer eine klare Über- und Unterordnung möglich ist. Die Taufe ist für Paulus ein wesentliches Element des Christseins, das er anderen überläßt49.
Paulus hat seinen Lebensunterhalt im Unterschied zu anderen Missionaren in der Regel selbst bestritten. Für dieses Verhalten dürfte er mehrere Gründe gehabt haben. Manche nennt er selbst: Die Verbindung von Evangeliumsverkündigung und Erwerbsarbeit dient dazu, »niemandem von euch zur Last zu fallen« (1 Thess 2,9); jeder Anschein von Schmeichelei und Habgier, also versteckter Gewinnsucht, soll vermieden werden (1 Thess 2,5); sein Lohn liegt gerade darin, »das Evangelium ohne Entgelt zu verkündigen« (1 Kor 9,18). Weitere Gründe lassen sich rekonstruieren bzw. vermuten: die Abgrenzung von nichtchristlichen Wanderpredigern und -philosophen, deren Tätigkeit nicht immer so selbstlos war50; die finanzielle Absicherung der »weltumspannenden« Missionspläne des Paulus, die mit den unplanbaren Gaben von Gemeinden nicht gewährleistet schien51 oder einfach die Befürchtung, anderenfalls würden »Minderbemittelte aus Angst vor Kosten, die sie nicht tragen können, der Gemeinde fern bleiben«52.
Interessant ist für uns, daß Paulus trotzdem am Unterhaltsrecht der Missionare grundsätzlich festhält. In 1 Kor 9,1–18 führt er eine ganze Liste verschiedenartiger Argumente dafür an, daß ihm wie den anderen dieses Recht zusteht: »Die übrigen Apostel, die Brüder des Herrn und Kephas« (V. 5) nehmen auf Missionsreisen sogar ihre Ehefrauen mit, die (zusätzlich zu den Missionaren selbst) von den Gemeinden zu unterhalten sind; Soldaten, Weingärtner und Hirten leben von ihrer Tätigkeit (V. 7); die Schrift (V. 9f.), die Praxis der Priester am Tempel (V. 13) und – als Höhepunkt – selbst ein Wort des Herrn (V. 14) belegen das Recht des Verkündigers auf Unterhalt. Sehr umstritten ist, wie die Vorwürfe in Korinth aussahen, auf die Paulus hier reagiert (V. 3). Wurde ihm sein Unterhaltsverzicht als Unsicherheit bezüglich des eigenen Apostolats ausgelegt53? Wurde dieser Apostolat selbst bestritten54? In bei-271den Fällen wäre schwer zu verstehen, warum Paulus sein Unterhaltsrecht so ausführlich begründet, das doch entweder gar nicht zur Debatte stand oder aber nicht der Zielpunkt gegnerischer Kritik war. Eine dritte Lösung, die Annahme einer doppelten Front – einerseits Kephasanhänger, die den Apostolat des Paulus bestreiten, andererseits Enthusiasten, die ihn wegen seiner unwürdigen Handarbeit angreifen – ist nicht zu belegen55. Ansprechend ist nach wie vor die von G. Theißen vertretene Auffassung, in Korinth sei dem Paulus nicht der Verzicht auf ein anerkanntes Recht, sondern die Abweichung von einer verbindlichen Norm für Missionare vorgeworfen worden56; das Herrenwort in V. 14 formuliert ja in der Tat ein Gebot, das Paulus in Kontext als ein Privileg zu interpretieren versucht – ein Privileg, das er zugunsten der Evangeliumsverkündigung nicht in Anspruch genommen hat.
Wie dem auch sei: Die letztgenannte Beobachtung zeigt, wie Paulus das Verhältnis von Unterhaltsrecht und -verzicht verstanden wissen will. Das Unterhaltsrecht ist durch menschliche Analogien, durch Schriftaussagen und durch ein Herrenwort als eine wichtige und unbestreitbare Norm abgesichert. Dennoch wendet Paulus diese Norm nicht auf sich an, weil und wenn er dem Evangelium durch Unterhaltsverzicht besser dienen kann. Allerdings ist eben auch dieser Verzicht keine Grundsatzentscheidung: Es gibt Ausnahmen, wie die von Paulus mit dem Dank akzeptierte Unterstützung durch die Gemeinde von Philippi zeigt (Phil 4,10–20; 2 Kor 11,8f.).
Für das Paulusbild der Apg haben Wunder große Bedeutung. Paulus vollbringt hier ein Strafwunder (Apg 13,8–11), Heilungen (Apg 14,8–10; 19,12), Exorzismen (Apg 16,16–18; vgl. 19,13–16), sogar eine Totenauferweckung (Apg 20,9–12). Seine Mission wird nicht unwesentlich durch solche Wunder gefördert.
In den Paulusbriefen finden wir freilich keine einzige dieser Taten erwähnt, nicht einmal Summarien, aus denen die Art der vollbrachten Wunder hervorgeht. Von (außerordentlicher) δύναμις bzw. δυνάμεις allgemein spricht Paulus an mehreren Stellen. Gal 3,5 ist allerdings kaum von Wundern die Rede, die Paulus vollbringt; immerhin findet sich hier eine positive Bewertung von Wundern. 1 Thess 1,5 ist mit der Gegenüberstellung von Verkündigung im Wort und in der Kraft ebenso unbestimmt wie 1 Kor 2,4: Es ist keineswegs klar, daß hier Wundertaten des Paulus gemeint sind57. Solche sind eindeutig 272 nur in 2 Kor 12,12 und Röm 15,19 bezeugt. Diese beiden Stellen müssen wir uns deshalb genauer ansehen.
Von dem gerade beschriebenen Befund her überrascht es, daß Paulus in 2 Kor 12,12 Wundertaten unter die »Zeichen des Apostels« rechnet. Auch wenn er hier noch als »Narr« spricht und ein Schlagwort seiner Gegner aufgreift58, so ist diese positive Qualifikation doch sehr ernst zu nehmen59. Paulus weist darauf hin, daß auch sein Apostolat das Signum der Zeichen und Wunder aufweist, wobei er wohl vor allem an Exorzismen und Heilungen denkt; er steht den Gegnern hierin ebensowenig nach wie in Entrückungen, Visionen und Offenbarungen (2 Kor 12,1–6)60. Eingeschränkt wird die hohe Bewertung des Wundertuns allerdings dadurch, 1. daß Paulus eben nicht von sich aus, sondern gezwungenermaßen auf dieses Thema kommt, 2. daß er auf die »Geduld« verweist, mit der er die »Zeichen des Apostels« vollbrachte, d.h. auf den Kontext seiner apostolischen Leiden (2 Kor 11,23–33)61, und 3. daß er es auch hier bei einer ganz allgemeinen Kennzeichnung beläßt, ohne konkrete Fälle zu nennen62.
Die beiden ersten Einschränkungen gelten nicht für Röm 15,19. Hier kommt Paulus ohne äußere Veranlassung und ohne Relativierung auf Wunder 273 als Teil seines Missionswerks zu sprechen: Die Folge des Wirkens Christi in der Mission des Paulus, in »Wort und Tat, in der Kraft von Zeichen und Wundern, in der Kraft des Geistes«, ist die Verbindung des Evangeliums im ganzen östlichen Mittelmeerraum. Zwar werden die Wunder auch hier weder spezifiziert noch thematisiert, sondern nur im Vorübergehen summarisch erwähnt, aber selbst das ist angesichts der sonstigen Zurückhaltung des Paulus schon auffällig. Der Grund dürfte mit der Besonderheit des Römerbriefs zusammenhängen: Um sich für die römische Gemeinde, die ihn nicht kannte, als berufener Heidenapostel zu legitimieren, stellt Paulus ihr sein bisheriges theologisches und missionarisches Wirken vor. Für den ganzen Brief kennzeichnend ist die Bemühung, dabei ein möglichst umfassendes Bild zu entwerfen, also – im Unterschied zu den übrigen Briefen – nicht nur Teilaspekte, die für die jeweilige Gemeinde relevant sind, zu behandeln. So gesehen, steht es nicht in Spannung zum sonstigen, wenig ergiebigen Befund, daß in Röm auch die paulinische Wundertätigkeit Erwähnung findet.
Abschließend müssen wir uns die Frage stellen, ob man den Briefen überhaupt ein zutreffendes Bild der Pauluswunder entnehmen kann. Wäre es nicht denkbar, daß in der missionarischen Praxis solche Wunder größeren Raum einnahmen als in den Briefen? Diese Möglichkeit kann man zwar nicht völlig ausschließen. Es gilt aber zu bedenken, daß – wie z.B. die Jesusüberlieferung zeigt – Wunder auf Wundergeschichten zielen. Wer religiöse Propaganda betreibt und dafür Wunder einsetzt, ist in der Regel auch an deren Verbreitung interessiert. Daß Paulus selbst in größerem Umfang Wunder zu missionarischen Zwecken gewirkt haben sollte, in den Briefen darauf aber so gut wie nie zu sprechen kommt, ist deshalb unwahrscheinlich.
Wir können festhalten: Obwohl Wundertätigkeit für Paulus zu den »Zeichen des Apostels« gehört und als solches hoch eingeschätzt wird, spielt sie in seiner eigenen missionarischen Arbeit nur eine untergeordnete Rolle63. Auch hier zeigt sich, daß er die eigene nicht als die einzige Weise der Verkündigung ansieht. Er erkennt abweichende Mittel anderer Missionare an, sofern sie von diesen nicht gegen ihn ausgespielt werden.
Paulus ist nicht erst für die Nachwelt der Heidenapostel schlechthin (vgl. z.B. 1 Tim 2,7), sondern hat sich bereits selbst so verstanden. Schon in seiner Berufung war diese Ausrichtung auf die Heiden enthalten (Gal 1,16); er wußte sich als »Diener Christi Jesu für die Heidenvölker« (Röm 15,16); den Titel »Apostel der Heidenvölker« hat er selbst für sich verwendet (Röm 11,13)64.274 Auch wenn es um diesen Anspruch zu seinen Lebzeiten immer wieder Streit gab, so wurde er doch zu Beginn seiner großen selbständigen Missionstätigkeit auf dem Jerusalemer Apostelkonvent anerkannt: Die »Säulen« einigten sich mit Paulus und Barnabas (der in der Folgezeit aber nicht mehr mit Paulus missionierte), daß diese für die Heiden, sie selbst für die Juden zuständigen sein sollten (Gal 2.9).
Die gerade genannte Vereinbarung wird man nun weder ethnographisch verstehen können, als hätte Paulus damit auf jede Juden- und die Jerusalemer Autoritäten auf jede Heidenmission verzichtet, noch geographisch, als hätten die Jerusalemer ihre Mission damit auf Palästina beschränkt. So oder so wäre in der Folgezeit die Abmachung von beiden Seiten ja mit Füßen getreten worden. Was Paulus betrifft65, kann man zunächst auf die Darstellung der Apg verweisen, wonach er die Mission in jeder neuen Stadt in der Synagoge begann und erst nach Ablehnung durch die Juden zur Heidenmission überging. Zwar entspricht dieses Schema sicher auch lukanischem Interesse, aber daß Paulus tatsächlich in der Synagoge auftrat, wird heute selten grundsätzlich bezweifelt66. Die Paulusbriefe sagen dazu zwar nicht viel; mindestens 1 Kor 9,19–23 ist aber eine Stütze für diese Annahme: Paulus paßt sich in seiner Verkündigung und Lebensweise den jeweiligen Adressaten an, wird den Heiden ein Heide, den Schwachen ein Schwacher, aber eben auch – und sogar an erster Stelle – den Juden ein Jude. Alle diese Gruppen will er gewinnen, oder doch wenigstens »einige« daraus (V. 22). Daß Paulus die Juden von seiner Mission ausklammert, paßt zu dem »Schmerz«, den ihm ihre Ablehnung Christi bereitet (Röm 9,2f.), und zu seinem Wunsch und Gebet für ihre Rettung (Röm 10,1).
Damit ist klar: Die Abmachung auf dem Apostelkonvent kann nur missionarische Schwerpunkte bestimmt haben67. Obwohl Paulus sich als Heidenmissionar sah und einer entsprechenden Arbeitsteilung zustimmte, überließ er die Judenmission, die ihm am Herzen lag, nur weitgehend, nicht vollständig anderen 68.
275 Die vier beschriebenen Fälle verbindet ein gemeinsames Muster: Paulus weist diesen vier Aspekten der Mission große Bedeutung zu; er sieht sie aber nicht als Teil seines eigenen Auftrags; dennoch praktiziert er sie bei Gelegenheit.
Was oben zur Taufe gesagt wurde, gilt mutatis mutandis für alle vier Punkte. Paulus reklamierte für seine Mission weder die einzig richtige Methode (vgl. 2.2 und 2.3) noch Vollständigkeit der Inhalte (vgl. 2.1) und Adressaten (vgl. 2.4). Sie war auf Ergänzung angewiesen und angelegt. Daß Paulus sich den Briefen nach so oft in Korinth mit Gegnern befand, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sich selbst grundsätzlich in die urchristliche Mission einordnete (vgl. dazu 3.).
Es liegt nun natürlich nahe, seinen Umfang mit Jesusüberlieferung derselben Haltung zuzuschreiben. Könnte es nicht sein, daß Paulus bei entsprechender Gelegenheit analog zu 1 Kor 1,17 auch geschrieben hätte: »Christus hat mich nicht gesandt, seine Worte und Taten zu überliefern, sondern das Evangelium zu verkündigen«, ohne daß er damit die eminente Bedeutung von Jesusüberlieferung schmälern wollte? Könnte es nicht sein, daß er sich für Jesusüberlieferung ebensowenig – oder besser: nur in demselben geringen und situationsabhängigen Maße – zuständig fühlte wie für die Taufe, für die Realisierung charismatischer Armut, für Wunder und für die Verkündigung unter Juden?
Wie kann man prüfen, ob diese Vermutung mehr als nur eine Möglichkeit ist? Explizite Stellungnahmen des Paulus finden sich ja eben nicht69. Ein gangbarer Weg könnte es sein, nach den Missionaren neben Paulus zu fragen und dabei zwei Aspekte im Auge zu behalten: 1. Pflegten sie Jesusüberlieferung? 2. Wie stand Paulus zu ihnen? Es ist also zu untersuchen, ob es Hinweise darauf gibt, daß Paulus andere Missionare und ihre Jesusüberlieferung als sinnvolle Ergänzung seiner eigenen Tätigkeit verstand.
Über die Mission außerhalb Palästinas vor und neben Paulus wissen wir leider ausgesprochen wenig. Immerhin ist nicht zu bezweifeln, daß es eine solche Mission, oder besser: solche Missionen, gegeben hat, auf die z.B. die Gründung der Gemeinden in Rom und Ephesus70 zurückging71. Die oben zi-276tierte Absprache auf dem Apostelkonvent hatte unter anderem den Sinn, Überschneidungen der Missionen (und damit gemischte Gemeinden) zu vermeiden, war dazu aber wohl doch zu allgemein gehalten. Jedenfalls begegnen in den von Paulus gegründeten Gemeinden auch andere Missionare, wie ja umgekehrt auch Paulus – trotz des in Röm 15,20 formulierten Grundsatzes – teilweise Gemeinden anderer Gründungsmissionare besucht (Rom, Ephesus).
Die nebenpaulinischen Missionare, mit denen Paulus zu tun hatte, treten in seinen Briefen am deutlichsten in der Gestalt von Gegnern hervor, gegen die Paulus sich und sein Werk verteidigt. Damit dürfte zu erklären sein, daß in der neueren Paulusliteratur in der Regel fast nur solche Verkündiger Aufmerksamkeit finden, die, wenn nicht abhängige Mitarbeiter, dann unabhängige Gegner des Paulus waren72. Daß es daneben unabhängige, gleichberechtigte und von Paulus anerkannte Missionskollegen gegeben hat, wird selten gesehen73.
Es ist verständlich, daß das reibungslosere Miteinander in den Paulusbriefen weniger hervortritt und deshalb in der heutigen Literatur weniger Beachtung findet. Immerhin hat sich Paulus an einigen Stellen dazu geäußert. Bevor wir uns den einzelnen Missionaren oder Missionen und der Frage ihrer Jesusüberlieferung zuwenden, soll es um die Einschätzung solcher Missionskollegen durch Paulus gehen.
Eine erste einschlägige Stellungnahme finden wir in 1 Kor 15,3–11. Nach einer traditionellen Formulierung des gemeinsamen Glaubens (V. 3–5), einer Auflistung von Auferstehungszeugen (V. 6–8) und einer Beschreibung seiner eigenen Stellung in dieser Gruppe der Apostel (V. 9f.) faßt Paulus hier zusammen: »Ob nun ich oder sie, so verkünden wir und so seid ihr zum Glauben gekommen« (V. 11). Nun sind kaum alle der genannten Zeugen als Missionare in Paulusgemeinden aufgetreten; zumindest mit zweien, Petrus und Jakobus, 277 hatte Paulus aber direkt oder indirekt zu tun74, wobei durchaus gravierende theologische Differenzen hervortraten (Gal 2,11–14). Solche Unterschiede führten zu dem berühmten »ich stellte mich ihm (sc. Petrus) offen entgegen« (Gal 2,11); daneben findet sich aber eben auch das zitierte Wort 1 Kor 15,11, das die grundlegende Übereinstimmung der Verkündigung betont75.
Noch eindrucksvoller kommt das Nebeneinander von Differenzen und Gemeinsamkeiten in Phil 1,12–18 zum Ausdruck. Am Ort der Gefangenschaft des Paulus und der Abfassung des Phil, vermutlich also in Ephesus76, treten Missionare auf, deren Verkündigung von Paulus unterschiedlich klassifiziert wird: Die einen predigen »in guter Absicht« und »aus Liebe (sc. zu Paulus)«, die anderen »aus Neid« und »aus Streitsucht (sc. gegenüber Paulus)«. Was konkret dahintersteht, läßt sich nicht sicher klären. Mag sein, daß die gegen Paulus negativ eingestellte Gruppe mit der vorpaulinischen Gründungsmission in Ephesus in Zusammenhang stand, sich durch Paulus zurückgesetzt fühlte und nun in seiner Verhaftung eine Chance sah, verlorenes Terrain zurückzugewinnen77; verbunden damit war dann wohl eine für Paulus wenig vorteilhafte Deutung seiner Gefangenschaft. Obwohl Paulus dieses Verhalten scharf kritisiert78 und seine persönliche Abneigung gegenüber solchen Missionaren nicht verhehlt, kommt er in V. 18 zu dem überraschenden Urteil, er freue sich darüber, »daß auf jede Weise, zum Schein oder in Wahrheit, Christus verkündet wird«. Die Gemeinsamkeit in der Sache79, zu deren Eigendynamik Paulus offenbar großes Zutrauen hat80, relativierte für ihn persönlich Ab- und Zuneigungen.
Eine ausführlichere Stellungnahme zum Verhältnis verschiedener Missionare findet sich in 1 Kor 3,5–11. Es geht zunächst um Apollos; die Aussagen 278 sind aber so allgemein gehalten, daß sie auch andere Missionare miteinschließen. Das Auftreten des Apollos in Korinth hat, wohl ohne daß er das wollte, zur Bildung einer Gruppe geführt, die sich ihm besonders verbunden fühlte und die ihn gegen Paulus ausspielte. Die Argumentation des Paulus, die sich verschiedener Bilder bedient, hat zwei Schwerpunkte. Es geht erstens um die Differenzierung der beiden Missionare und ihres Wirkens: Paulus pflanzt, Apollos gießt (V. 6); Paulus legt das Fundament, ein anderer – im Zusammenhang speziell, aber nicht nur Apollos81 – baut darauf weiter (V. 10). Die Aufgaben sind verschieden. Der Tätigkeit des Paulus kommt sicher ein zeitlicher und in gewisser Hinsicht (vgl. o. 2.1) auch ein sachlicher Vorrang zu. Dieser Vorrang wäre aber falsch bestimmt, wollte man Paulus die Mission und Apollos die vertiefende Katechese zuweisen82; durch den Dienst beider ist die Gemeinde zum Glauben gekommen (V. 5). Zweitens geht es Paulus darum, die Verbundenheit der beiden Missionare im Einsatz für eine gemeinsame Sache herauszustellen: weder das Pflanzen noch das Gießen, sondern das Wachstum der Pflanze ist entscheidend, und dieses ist Sache Gottes (V. 7); weder der, der das Fundament legt, noch der, der darauf weiterbaut, kann auf das Fundament selbst Einfluß nehmen, denn dieses ist Jesus Christus (V. 11). Apollos, Paulus und andere Missionare sind nichts als Mitarbeiter Gottes (V. 9), jeder auf seine Weise (V. 5), aber alle gleich notwendig83: Ein Fundament ohne Haus ist mindestens ebenso sinnlos wie ein Haus ohne Fundament.
Diese Erinnerung an positive Stellungnahmen des Paulus zu Missionarskollegen ist deshalb wichtig, weil seine negativen Abgrenzungen durch ihre Intensität und wirksame Polemik (»die falschen Apostel, heimtückischen Arbeiter, Satansdiener« [2 Kor 11,13.15], »die Hunde, die schlechten Arbeiter, die Zerschneidung« [Phil 3,2], die »Aufwiegler«, die sich am besten »entmannen lassen« [Gal 5,12]) die Tendenz haben, sich in den Vordergrund zu schieben und so das Bild zu verfälschen.
Eine besondere Art von Jesusüberlieferung wird man zunächst für eine Gruppe von Missionaren annehmen dürfen, die nicht Kollegen, sondern Gegner des Paulus waren. Obwohl bezüglich der im 2 Kor vorausgesetzten Opponenten vieles im unklaren bleibt, kann man doch folgende Kennzeichen erhe-279ben84: sie kommen von außen in die Gemeinden (11,4); sie sind Wandermissionare, die sich auf Empfehlungsbriefe stützen (3,1); sie sind Judenchristen, die auf ihre jüdische Herkunft stolz sind (11,22); sie lassen die Gemeinde für ihren Unterhalt aufkommen (11,20); und sie verkünden ein »anderes Evangelium« als Paulus (11,4). Es wurde oft vermutet, diese Missionare könnten sich – zu Recht oder zu Unrecht – auf die Autoritäten der Urgemeinde oder speziell auf Petrus berufen haben85. Auch wenn sich das nicht eindeutig belegen läßt, weist immerhin die Art ihrer Mission nach Palästina (oder Syrien): Die genannten Kennzeichen lassen eine deutliche Ähnlichkeit mit den Wandermissionaren erkennen, die von der synoptischen Aussendungstradition vorausgesetzt werden86. Es ist deshalb anzunehmen, daß diese Gegner mit Jesustradition vertraut waren. Hat aber dann Paulus nicht gerade solche Jesustradition gemeint und abgelehnt, wenn er sich 2 Kor 11,4 von der gegnerischen Verkündigung eines »anderen Jesus« distanziert? Diese Deutung scheint mir sehr unwahrscheinlich, und zwar weitgehend unabhängig davon, welchen der neueren Identifikationsversuche bezüglich der Gegner man bevorzugt. Hält man sie mit Georgi und anderen für θεῖοι ἄνδρες, dann war ihre Christologie vor allem an Jesus als großem Wundertäter orientiert, während dem Kreuz geringe Bedeutung zukam87. Dann lag Paulus nicht an einer Ablehnung der Jesustradition an sich, sondern an der Korrektur eines einseitigen Jesusbildes durch die Kreuzestheologie. Schließt man sich aber dem neueren Trend an, die Auseinandersetzung nicht religionsgeschichtlich, sondern »innerchristlich« als Konflikt über den richtigen apostolischen Dienst zu bestimmen, dann tritt die Frage nach der theologischen Einschätzung des irdischen Jesus ohnehin ganz zurück88.
280 Es muß nun darum gehen, konkrete Fälle urchristlicher Missionare zu belegen, die 1. in Paulusgemeinden auftraten, 2. Jesustradition pflegten und 3. von Paulus nicht als Gegner verstanden wurden. Das ist nicht so einfach. Für Apollos z.B. gelten sicher das 1. und das 3. Kriterrium – ob er aber Jesustradition kannte und pflegte, läßt sich ebensowenig ausmachen wie der Missionstyp, zu dem er gehörte, und seine Theologie überhaupt89. Auf die antiochenischen Missionare, insbesondere Barnabas, kann man das 2.90 und das 3. Kriterium positiv anwenden – ob sie aber nach dem Ausscheiden des Pau-281lus noch mit dessen Gemeinden zu tun hatten, muß offenbleiben; für Barnabas kann man es wegen 1 Kor 9,6 immerhin vermuten. Alle drei Kriterien scheint mir jedenfalls die Mission palästinischer Wandercharismatiker zu erfüllen, zu denen auch Petrus gehörte. Von dieser Mission können wir doch noch einiges erkennen91. Schon ihre Verbreitung spricht dafür, daß solche Missionare auch paulinische Gemeinden besuchten. Die Gegner im 2 Kor (und Phil) sind in der Tat diesem Typ zuzuordnen. Im 1 Kor wendet sich Paulus gegen eine deutlich andere theologische Front, die hier zwar gemeindeintern ist, aber ebenfalls auf Wandermissionare zurückgeht, die von außen in die Gemeinde kamen. Greifbar sind für uns zwei Gruppen: Die eine berief sich auf Apollos, die andere auf Petrus. Über Apollos wissen wir, wie gesagt, ausgesprochen wenig. Petrus dagegen ist nicht so unbekannt. Er lebte schon vor Ostern den Wanderradikalismus der Jesusbewegung und dürfte nach einer Phase der Seßhaftigkeit in Jerusalem dieselbe Art der Mission wiederaufgenommen haben92. Dabei war er nach Gal 2,7.9 vor allem in der Judenmission tätig. Es gibt aber Anzeichen dafür, daß er auch Heidenmission betrieb, so etwa die Tatsache, daß sich ein Gemeindeteil in Korinth, der wohl kaum judenchristlich lebte, auf ihn berufen konnte93. Ob Petrus in eigener Person in Korinth auftrat, ist stark umstritten94. Grundsätzlich ist es ihm zuzutrauen – wenn er in Antiochien und Rom wirkte, warum nicht auch in Korinth95? Zudem ist die nächstliegende Annahme, daß sich die Petrusgruppe wie auch die Apollos- und die Paulus-282gruppe direkt auf ihren Gewährsmann zurückführte96. Denkbar ist allerdings auch, daß Wandermissionare auftraten, die sich auf Petrus beriefen, daß der Bezug also nur indirekt war97. Für beide Fälle gilt aber: Ohne Jesustradition ist eine solche Mission nicht denkbar98, und Paulus hat hier offenbar keinen Anlaß zur Korrektur gesehen. Die Petrusmission wird in 1 Kor 9,5 ohne jede Kritik oder Polemik erwähnt, wie ja auch die der »übrigen Apostel und Brüder des Herrn«, die ebenfalls am ehesten dem wandercharismatischen Typ zuzuordnen ist.