Selbstliebe als
Illusion und Befreiung
Vorab: Selbstgenügsamkeit und Selbstvergessenheit
I.Von Kindern, Katzen und Frauen, die uns zu wenig lieben
II.Narzissmus als Arrangement der Normalität
III.Narzissmus – Die protestantische Ethik der Gegenwart
IV.Sie macht uns auch lächerlich …
Handlungsethischer Epilog
Anmerkungen
Bibliografie Narzissmus
Reflex der Eitelkeit
Die Welt, die im Gewande lebt,
nach Genuss und Gewinn und nach Würden strebt,
an der Macht und am Schein, an der Meinung klebt,
ihr Nichts erhebt und vor nichts erbebt
und sich dünkt der Schöpfung Scheitel –
sie sagt, weil ich sah, wie sie, diese Welt,
sich täglich mit sich zufrieden stellt
und sich weitaus besser als mir gefällt,
der sie nicht für die beste der Welten hält:
ich sei eitel.
Karl Kraus
Der Ursprungsmythos des Narzissmus stammt nicht von Ovid, sondern von Sigmund Freud. Und am Anfang war der Narzissmus. Und der Urnarzisst war der Säugling der oralen Phase; in jener ozeanischen Einheit des Kleinkinds mit seiner Mutter, ehe die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt sich zogen und der Mensch noch ganz Zentrum der Welt und die Brust und das Lächeln der Mutter das befriedigende Zubehör der eigenen archaischen Babyallmacht waren. Werden später Zurückweisungen erfahren – so die Theorie –, wird die Libido von den Objekten abgezogen und auf sich selbst gerichtet, eine Rekonstruktion der schützenden kleinkindlichen Allmacht. Eine fragile zumal, denn das Ego bleibt unsicher und abhängig von permanenter Belohnung.
In Freuds von ihm selbst und etlichen Psychoanalytikern modifizierten Hypothese des ursprünglichen kindlichen Narzissmus wuchs aber ein versteckter Zwilling mit, dessen sich der Vermesser des Unbewussten nicht bewusst war und der parallel zu den Diskursen des Narzissmus seither wuchert: der konforme Narzissmus der Mehrheit.
Anmaßend wäre es von diesem Essay, sich als dessen diskursiver Geburtshelfer zu brüsten, denn er ist als weggelegtes Kind schon lange auf der Welt. Es gilt bloß, den klinischen Narzissmus vom Thron zu stoßen – und sein unbeachtetes Geschwister als den rechtmäßigen Herrscher der bürgerlichen Gesellschaft auszurufen, dessen Wesen Ambrose Bierce mit seiner lakonischen Definition des Egoisten angedeutet hat: »Person minderen Geschmacks; mehr an sich interessiert als an mir.«.1
Vor diesem projektiven Narzissmus war die Psychologie selbst nicht gefeit. Eine Spur zum Narzissmus der Diagnostiker legte Freud – unbewusst – bereits 1914 mit seinem Aufsatz »Zur Einführung des Narzißmus«: »[D]er Reiz des Kindes beruht zum guten Teil auf dessen Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit, ebenso der Reiz gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu kümmern scheinen, wie die Katzen und großen Raubtiere.«2 Diese Selbstgenügsamkeit und diesen Reiz teilten sich Kinder und Leoparden Freud zufolge auch mit Verbrechern, Humoristen, Gauklern, primitiven Völkern und schönen, stolzen unnahbaren Frauen, die wir genau darum beneideten, was wir durch die Last der normalen Objektbeziehungen verloren hätten. Regressivität und Unreife dieser selbstgenügsamen Tier- und Menschenspezies erscheinen hier nicht unbedingt als therapiebedürftige, so doch pathologisierungsbedürftige Eigenarten.
Man könnte die Entwicklung des Kindes auch ganz anders erzählen, zum Beispiel als Geschichte der Selbstgenügsamkeit. Das Kind als suchendes, forschendes, tastendes, begreifendes Wesen. Empirische Studien der letzten Jahrzehnte belegen, dass der Säugling bereits unmittelbar nach der Geburt zwischen sich und den Objekten der Außenwelt zu unterscheiden weiß, und der Psychoanalytiker Otto F. Kernberg hatte Freuds Konzept des primären Narzissmus lange zuvor verworfen. Ihm zufolge würden Säuglinge und Kleinkinder mit großem Vertrauen in Kontakt zu ihrer Außenwelt treten und ihre Allmachtsfantasien stünden in keinem Verhältnis zu jenen der Erwachsenen. Und so liegt auch der größte Reiz des Kindes, wie Freud ihn suggeriert, im narzisstischen Auge des Betrachters.
Für mich liegt der größte Reiz des Kindes im protowissenschaftlichen und doch so spielerischen Ernst, mit dem es sich die Welt erschließt. Sosehr es der Bestätigung bedarf, in keinem Verhältnis steht die fiebrige Selbstvergessenheit und Selbstlosigkeit, mit der Kinder Atlanten oder Google Maps durchstöbern, mit ihren Chemiebaukästen experimentieren, Wälder und Wiesen durchstreunen, das Internet und andere Wunder des Seins erfassen, zum pubertären Wunsch nach Anerkennung, zum unsicheren Abwägen, ob ihre selbstlosen Interessen nach außen kommunizierbar sind. So sehr in der neuen Sache aufzugehen, dass die Faszination darüber den noch keimenden Wunsch vergessen macht, von Gleichaltrigen, Lehrern und Eltern als toller Forscher erkannt zu werden. Nichts ist unnarzisstischer als die Selbstgenügsamkeit des forschenden Kindes, ehe das soziale Ich so viele erworbene Schätze für die Belohnungen des Dazugehörens wieder opfern muss.
Zu einem dieser Schätze gehört oft auch ein unhintergehbares Gerechtigkeits- und Richtigkeitsempfinden. Und die unzulänglichen Antworten auf die Fragen, warum es Reiche, warum Arme, warum es Krieg und Stress und Zwietracht gibt und warum das süße Ferkel und die Wurstscheibe die gleiche Farbe haben, festigen unweigerlich die Überzeugung, dass diese Welt mehr schlecht als recht eingerichtet ist und die Erwachsenen zweifelhafte Autoritäten sind.
Kinder und Jugendliche zu Orakeln der Wahrheit zu machen aber ist selbst eine romantische Wunschvorstellung regressionsbedürftiger Erwachsener in den Sackgassen ihrer Entwicklung. Nein, Kinder sind keine Seher, aber oft doch auf dem besten Weg, klarer zu sehen als wir. Um das zu verhindern, haben wir ein großes Sortiment an Brillen für sie zur Auswahl. Die normale Entwicklung des neugierigen und fragenden Kindes zum sozial nützlichen Steuerzahler, der die verkehrte Welt passiv oder aber mit Ironie hinnimmt, wird durch ein System von sozialer Anerkennung und Ablehnung reguliert. Was wahr ist, weicht dem Sinn dafür, was sich als wahr verkaufen lässt. Die Elektroschocks der Ablehnung treiben die Labormäuse, die Menschen sein könnten, in ihre gesunde psychosoziale Normalität. Renitenz ist Eigensinn, ist Selbstgenügsamkeit, mitunter Narzissmus. Diese rebellische Geschichte ist Tausende Male erzählt worden, mal komplexer, mal simpler, selten unrichtig, und so oft, dass sich die von ihr Betroffenen ebenso dagegen abhärteten wie gegen die Demütigungen, mit denen sie sich im Laufe der Zeit identifizieren lernten. Sie finden diese Geschichten von der kranken Norm kitschig, zu schematisch oder tendenziös, und mit einer Ironie, die zwischen Sinn und Wahnsinn, der sich nicht heilen lässt, versöhnt, fügen sie sich den Anforderungen gesellschaftlicher Macht. Deshalb muss diese Geschichte immer wieder erzählt werden. Ich werde das aus einem anderen Fokus tun: aus dem Fokus von Narzissmus und Konformität.
Wieder einmal geht ein Gespenst um. Spätestens seit Jean Twenges Bestseller The Narcissism Epidemic (2009) wurde die feuilletonlesende Welt hellhörig, seit Donald J. Trumps Triumph ist auch die restliche per Ferndiagnosen am laufenden Band von einer Gefahr unterrichtet, die mitten unter uns weilt: der Narzisst. Die Ausbildung zum Vampirjäger ist langwierig und kompliziert, die Lizenz zum Narzisstenjäger hingegen kann bereits durch Anlernen der wissenschaftlichen Erkennungsmerkmale des malignen Egomanen im Schnellkurs erworben werden.
Der Narzissmus ist in aller Munde, vor allem als Markierung machtverwöhnter Eliten, soziopathischer Massenmörder und liebloser Lebensabschnittspartner. Narzissmus ist mithilfe medialer Volksaufklärung im Alltagsbewusstsein angekommen.
Donald J. Trump, bevorzugtes Pin-up zu Artikeln über die Narzissmusgefahr, verkörpert die guten alten Werte des amerikanischen Grenzers. Er hat die frontier, die Demarkationslinie zum Reich des Unfassbaren weit hinausgeschoben. Und die Mächtigen dieser Welt sind ihm zu Dank verpflichtet. Trump hat die Entdemokratisierung dermaßen forciert, dass sich im Vergleich zu ihm die Autokraten Europas als Bewahrer der res publica brüsten können, er treibt seine Lächerlichkeit derart auf die Spitze, dass die restlichen Polit-Clowns sich für Garanten staatsmännischer Seriosität halten dürfen, und mit seinem plakativen Narzissmus beschenkte er all die anderen Ärmelschonernarzissten in Konzern- und Staatschefsesseln mit der Chance, sich als psychische Norm zu ihm in Kontrast zu setzen.
Nach diesen Zeilen könnte man den Eindruck gewinnen, ihr Autor nehme das Phänomen Narzissmus nicht recht ernst. Doch je ernster man übersteigerte Selbstbezogenheit nimmt, umso kritischer wird man auch die Diskurse darüber ins Visier nehmen müssen. Man erfährt über den Narzissmus mehr, wenn man ihn gegen den Strich bürstet. Dieser ist gleich vielen psychischen Störungen kein klar identifizierbares Faktum wie ein Schlüsselbeinbruch oder eine Nagelpilzinfektion etwa, sondern eine Konfliktzone oft gegensätzlicher Interpretationen, wechselnder Gewichtungen und ideologischer Projektionen. Auch er blieb von der naiven Hybris nicht verschont, die seelischen Vorgänge nach naturwissenschaftlichem Vorbild in geschlossene Entitäten zu isolieren und so zu tun, als könnte man ihre Struktur wie die von organischen Kohlenstoffverbindungen festlegen. Er nimmt sich wie eine bewegliche und variable Schnittmenge altbekannter Eigenschaften wie Hochmut, Eitelkeit, Gefallsucht, Egoismus, Empathielosigkeit aus, die sich ihrerseits nie klar voneinander abgrenzen lassen. Doch werde ich mich hüten, eine Definition dieses Zusammenhangs zu suchen, in welchem gerade seine Grau- und Bruchzonen verräterische Einblicke gewähren. Es soll also nicht der Narzissmus als Kategorie infrage gestellt werden, sondern narzisstische Prägungen, Energien und Motive auch dort aufgestöbert, wo man sie nicht vermuten würde, zumal oft, wo am lautesten Narzissmus geschrien wird, viel gesellschaftlich akzeptierter und geförderter Narzissmus am Werk ist.
Doch was kann der Begriff, was seine bewährten Vorgänger Eitelkeit, Selbstsucht oder Egozentrik nicht können? Bezeichnet er nun eine pathogene Persönlichkeitsstörung oder die Kollektivdisposition einer verdinglichten Gesellschaft? Ist er Maske vor der Labilität oder doch Ausdruck eines authentischen Überwertigkeitsgefühls? Die Sucht nach sozialer Bestätigung oder – im Gegenteil – völlige Selbstgenügsamkeit? Ist er Produkt der allgemeinen Psychologisierung oder brauchbares Werkzeug der Gesellschaftskritik? Sozialpsychologisches Attest einer vereinzelten Konkurrenzgesellschaft oder gar Kampfbegriff eines neuen Puritanismus?
Der Narzissmus hat mich immer vor Rätsel gestellt. Das größte war wohl die Frage, ob der idealtypische Narzisst sich nun durch die Sucht nach Anerkennung oder durch seine Unabhängigkeit davon charakterisiere. Eine befriedigende Antwort darauf lässt sich in der Fachliteratur kaum finden. Ausgefuchste Dialektiker unter den Psychoexperten würden wohl argumentieren, dass die beiden Dispositionen in keinem Widerspruch zueinander stünden, sondern einander auf heimlichen Wegen bedingten.3 Denn die überhebliche Selbstgenügsamkeit des Narzissten sei nur ein Schutzfilter, um jenes Feedback abzublocken, das nicht mit dem idealen Selbstbild kompatibel ist, daneben suche er jedoch fieberhaft nach Gratifikation. Er braucht die Likes, aber nicht die Liker. Er ist süchtig nach positiver Bestätigung, um die imaginäre Position zu halten, von der er weiterhin auf seine Bestätiger herabschauen kann. Der richtige Narzisst ist selten der Dandy, der seinem Spiegelbild Küsschen zuwirft, da er zu solch augenzwinkernder Selbstobjektivierung kaum fähig ist. Narzissten, so bekunden die meisten einschlägigen Bestimmungsbücher, können charmant, betörend und manipulativ sein, doch selten besitzen sie Humor.
Ausgangshypothese bleibt, dass Narzissmus als Charakterstörung das genaue Gegenteil von ausgeprägter Eigenliebe ist, denn – wie Richard Sennett weiß, schafft die Versenkung ins Selbst »keine Gratifikation, sie fügt dem Selbst Schmerz zu. Die Auslöschung der Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen bedeutet, dass dem Selbst nie etwas Neues, ›Anderes‹ begegnen kann. Dieses wird verschlungen und so lange umgeformt, bis sich das Selbst darin wiedererkennt – damit aber wird das oder der Andere bedeutungslos.«4
Es kommt zum scheinbaren Paradox einer ichbezogenen Entindividualisierung. Je mehr ein solcher Innenbezug zur allgemeinen gesellschaftlichen Norm wird, desto narzisstischer erscheinen Reste nichtnarzisstischer, erfahrungsfreudiger und spontaner Individualität; solcher, die über ihr Ich die Welt erfahren will und nicht über die Welt sich zu erfahren glaubt. Die Verweigerung der kollektiven Nabelschau stößt dann auf als eitler Eigensinn.
Im Jahr 2002 haben die kanadischen Psychologen Delroy L. Paulhus und Kevin M. Williams einen Zusammenhang bestimmter Persönlichkeitsmerkmale postuliert, den sie die Dunkle Triade nannten. Diese sei ein Dreischritt aus Psychopathie, Narzissmus und Machiavellismus. Insbesondere in der Personalpsychologie und in der Psychologie des Managements hat sich das Konzept als nützlich erwiesen. Weniger stört hier der Begriff des Machiavellismus als Paulhus’ und Williams’ Überzeugung, bei dieser Dunklen Triade handle es sich um eine soziale Fehlanpassung. Im Gegenteil ist sie sowohl für das gängige Wirtschaftssystem als auch die populistischen Bewegungen, die von dessen Verwüstungen auf den Plan gerufen wurden, hochfunktional.
Ich würde eine ganz andere Dunkle Triade des Narzissmus postulieren: Sie bestünde aus Psychologisierung, Moralisierung und Personalisierung. Allen drei Modi ist die kognitive Verzerrung gemeinsam, Gesellschaft nur durch den Filter des eigenen Ichs und seiner Interessen wahrnehmen zu können. Diese narzisstischen Grundpotenzen machen den individuellen Schuldanteil von jeglicher Entpolitisierung aus, von Entsolidarisierung, Opportunismus, Mitläufertum, Regression, Pop- und Führerkult, Projektion auf Sündenböcke sowie unzähliger weiterer Missstände.
Der Narzissmus ist die vorherrschende Persönlichkeitsform im Neoliberalismus. Mit der Pathologisierung von Einzelfällen jedoch versucht der Eisberg seine sichtbare Spitze abzusägen. Der psychologisierende Fokus des Alltagsbewusstseins, aber auch manche Fachdiskurse identifizieren das Charakterbild als pathologische Eigenschaft von Einzelmenschen. Und lösen den Narzissten aus dem Netz seiner sozialen Bindungen und gesellschaftlichen Verstricktheit.
Die durch Narzissten Gekränkten erleben selbst narzisstische Kränkungen, die Abspaltung eigener narzisstischer Persönlichkeitsanteile und ihre Projektion auf geächtete Einzelne verspricht Teilhabe an einer gesunden Norm sowie moralische Überlegenheit. Ich nenne diese Reziprozität zwischen Opfer und Täter das narzisstische Arrangement. Der Narzissmus erscheint somit nicht als essenzialisierbarer klinischer Charaktertyp, sondern als flexibles Modulsystem, an dem die gesamte Gesellschaft pathisch teilhat.
Der Narzisst ist immer der Andere. Hierin schreiben auch die Psychodiskurse durch ihr Othering die alte bürgerlich-puritanische Ächtung von Egoismus, Spiel und Hedonismus fort.
Der zweite Teil des Essays wird dementsprechend dem Thema »Narzissmus als neue protestantische Ethik« (Richard Sennett) nachspüren und über einen kleinen historischen Exkurs bei der Geschichte der bürgerlichen Selbstversagung und ihrer biomachttechnischen Ideologien in der unmittelbaren Gegenwart landen, bei den sozialen Medien und auch einer neuen Moralisierung von Gesellschaftskritik, in der der Narzissmus zum idealen Vehikel für die Psychologisierung des Kapitalismus und ein bigottes Rechtschaffenheitspathos avanciert. Bereits bei Christopher Lasch konnte man Ende der Siebzigerjahre den Umschlag einer kritischen Gesellschaftscharakterologie in die Einübung zum Gleichsein verfolgen. Kritische Theorie verkehrt sich in Konservatismus und in die Werte des präurbanen selbstgenügsamen Kollektivs. Interessant ist an dieser Entwicklung, dass dem Narzissmusdiskurs seit Freud bestimmte Gruppen, vor allem Frauen, als besondere Ruhestörer gelten – noch bei Lasch manifestiert sich das in antifeministischen Tendenzen, die weibliche Selbstermächtigung ins Gatter kollektiver Verantwortungsethik zurückpfeifen wollen.
Der Egomane versteckt sich neuerdings wieder hinter gemeinschaftlichen Tugenden. Die Gemeinschaften indes bleiben virtuell, und dort wo sie sich wirklich konstituieren, wüten sie als völkische und religiöse Kollektive in unversöhnlicher Konkurrenz gegeneinander um knappe Ressourcen. Für eine zutiefst narzisstische Gesellschaft, welche sich mittels politischer Korrektheit und sozialer Tugenden über ihre Vereinzelung hinwegtäuscht, kann die Ächtung des Narzissmus auch ein Mittel sein, Reste unverschnittener Individualität zu verfolgen. Ein neuer Puritanismus, neue Triebunterdrückungen und Verhaltensreglements bemächtigen sich progressiver Gesellschaftskritik und machen sie zu einer weiteren Disziplinarübung. Das Verächtliche am Narzissmus ist somit nicht die Selbstüberhebung, sondern das krankhafte Bedürfnis nach sozialer Bestätigung als Surrogat für geraubten Selbstwert.
Nur träumen konnten die überkommenen Herrschaftstechniken von der Reibungslosigkeit, mit der das System über den Wunsch nach Aufmerksamkeit, Dabei- und Angesagtsein, Gemocht- und Bewundertwerden sich selbst reproduziert und in Millionen kleiner Choreografien des Schnorrens um Anerkennung Menschen zu ihren Trends, Gadgets, Boutiquen, Lügen, Entrechtungen und Entwertungen hinselektiert. Nicht nur steuert sich über diese Mikrosysteme der Gratifikation vom CEO bis zur Globalisierungsgegnerin die Zentripetalkraft der totalen Konformierung, sondern auch das soziale Aushungern, Abwerten und Wegwischen all dessen, was dieser wirklich widerstand. Geist muss sich in Zeitgeist übersetzen, um nicht vernichtet zu werden, Subversion in Slogans, Libertinage in Polyamorie, Witz in Entertainment, Reflexion in powerpointfähige Positionen. Sobald Restindividualität diese Selbstzurichtung aber der Kommunikation und dem allgemeinen Verständnis zuliebe vollzogen hat, schnappt die Falle zu, und sie findet sich nicht wie erhofft auf der Agora einer freien Welt wieder, sondern im Zentrum der totalen Shoppingmall. Der Totalität dieses Systems wird nicht allein durch Revolutionen, Vergesellschaftungen, strukturelle Verweigerungen beizukommen sein. Man wird wie die blauen oder roten Drähte der Bombenzündungen mit Zangen die Adern durchtrennen müssen, welche die Mitläufer in narzisstischer Hörigkeit an das zu überwindende System bindet.
Das erste Mal reicht es nicht, die materiellen Verhältnisse zu verändern, denn der Neoliberalismus hat das Bewusstsein der Einzelnen an ihrer Eitelkeit gepackt und unmittelbar in Energiequellen der eigenen sinnlosen Selbstreproduktion verwandelt. Man wird bei diesem Exorzismus auf Empathie und Verständnis der Besessenen verzichten müssen.
Wie aber kroch dieser kollektive Narzissmus, diese hoffnungslose Reise ins eigene Innere, die Chimäre von Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, von Transparenz und Authentizität, diese tölpelhafte Eitelkeit der Gleichheit mit sich selbst in die Individuen?
Es ist eine Konsequenz einer geistigen Tradition, die vom frühen Protestantismus über Rousseau zur Romantik führte. Und man könnte diesen psychohistorischen Umschlag mit dem 2. Mai 1824 datieren, als Johann Peter Eckermann gegenüber Goethe bekannte: »Ich trage in die Gesellschaft gewöhnlich meine persönlichen Neigungen und Abneigungen und ein gewisses Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Ich suche eine Persönlichkeit, die meiner eigenen Natur gemäß sei; dieser möchte ich mich ganz hingeben und mit den andern nichts zu tun haben.« Darauf erteilt ihm der alte Goethe, der noch einer anderen Zeit angehörte, folgenden Rüffel: »Diese ihre Naturtendenz ist freilich nicht geselliger Art; allein was wäre alle Bildung, wenn wir unsre natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen. Es ist eine große Torheit zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmonieren sollen, ich habe es nie getan. Dadurch habe ich es dahingebracht, mit jedem Menschen umgehen zu können, und dadurch allein entsteht die Kenntnis menschlicher Charaktere, sowie die nötige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bei widerstrebenden Naturen muß man sich zusammennehmen, um mit ihnen durchzukommen. So sollten Sie es auch machen. Das hilft nun einmal nichts, Sie müssen in die große Welt hinein. Sie mögen sich stellen, wie Sie wollen.«5
Im Jahre 1964 eroberten zwei Horrorfamilien die Bildschirme der US-Amerikaner. The Munsters und The Addams Family. Lag der etwas flaue Witz ersterer in der Persiflage amerikanischer Mittelstandswerte, erschöpfte er sich bei den Addams in einem Familienensemble abartiger Charaktere. Die Munsters waren nette Nachbarn in Monster- und Vampirgestalt, die Addams hingegen die launige Entfesselung unamerikanischer Umtriebe. Fielen jene hinter die kritischen Absichten ihrer Macher zurück, erwiesen sich diese wider Willen als hochinteressante Anamnese amerikanischer Normopathie. Denn die Familienaufstellung der Ausgestoßenen, Missgebildeten und moralisch Ambivalenten verkörperte so ziemlich alles, was der Öffentlichkeit der Neuen Welt als dekadent und morbid – mit einem Wort: europäisch vorkam. Sei es der cembalospielende Diener Lurch, die melancholische Tochter Wednesday mit ihrer geköpften Puppe Marie Antoinette oder die vampiristische Morticia, die in erotischer Ekstase ins Französische verfällt – am stärksten aber ihr Gatte Gomez, ein spanischstämmiger Anwalt, der seinen Stolz aus dem Verlieren seiner Gerichtsfälle bezieht und sexuell hörig ist, das aber – hier wurde das Verständnis der Fernsehzuschauer arg strapaziert – seiner eigenen Frau. Aus Yankeeperspektive wurde hier Amour fou derselbe Rang verliehen wie Vampirismus, Lykanthropie und Cembalomusik. Lenin, Kafka und Karl Lagerfeld hätten ohne Weiteres von den Addams adoptiert werden können.
Prüft man die Narzissmuskonzepte der letzten hundert Jahre, fast ausschließlich von angelsächsischen oder in die USA ausgewanderten österreichischen Psychospezialisten ersonnen, ergibt sich ein ähnliches Bild. Zu den Grundannahmen der Selbstliebe, der Größenfantasien und der mangelnden Empathie gesellten sich in erstaunlichen Korrelationsketten auch viele weitere Charakteristika, die in Summe und in all ihrer divergierenden Vielfalt ein beängstigend graues Sittenbild der Diagnose erstellenden Normalität ergeben.
Bereits 1913, ein Jahr vor Freuds grundlegender Narzissmus-Schrift, erkannte der britische Neurologe und Psychoanalyriker Ernest Jones, ein Freund und erster Biograf Freuds, bei Narzissten ein mangelndes Interesse an Gruppenaktivitäten, die Tendenz, Briefe nicht zu beantworten, eine ausgeprägte Verachtung für Geld im Alltagsleben sowie Eloquenz und Vorliebe für Sprache. Robert Waelder indes bemerkt in den Zwanzigerjahren bei ihnen eine Präferenz von Konzepten gegenüber Fakten. Otto Fenichel attestierte etwa zehn Jahre später einen ausgeprägten Leistungstrieb, der aber nie Befriedigung verschaffe und unbewusste Schuldgefühle kompensiere, die auf frühe mütterliche Verführung schließen ließen. Wilhelm Reichs Ex-Frau, die Psychoanalytikerin Anna Reich-Rubinstein, stellt einen Hang zu perversen sexuellen Praktiken fest. Helen H. Tartakoff steuerte 1966 zur Diagnostik des Narzissmus den »Nobelpreis-Komplex« bei, den Ehrgeiz, einen Oscar zu gewinnen oder Präsident zu werden. Salman Akhtar vom Jefferson Medical College in Philadelphia, Abteilung Psychiatrie und menschliches Verhalten, erwähnt als Narzissmusmerkmale der früheren Literatur »Über-Ich-Defekte, eine Tendenz zur Promiskuität und Perversion sowie kognitive Auffälligkeiten«.6 Sheldon Bach registrierte 1977 eine »Tendenz zu exzessiver Selbstmanipulation in Form von libidinisierendem Denken, Selbstberührungen und Masturbation«, Arnold Rothstein 1979 eine eingeschränkte genitale Sexualität, einen zeitlosen Lebensstil (!), respektloses Draufgängertum, Promiskuität und perverse Bildungen. 1986 machte André Green den Narzissmus zudem an der besonderen Aufmerksamkeit für die eigene äußere Erscheinung fest, ferner an einer Libidinisierung des Denkens sowie der »Tendenz, andere durch intellektuelle Kühnheit zu dominieren«. Salman Akhtar und J. Anderson Thomson (1982) zufolge erkenne man Narzissten an ihrem Hang zu »kalter und gieriger Verführung, außerehelichen Beziehungen und Promiskuität«; der »kognitive Stil der narzisstischen Persönlichkeitsstörung« gewärtige »beeindruckende Kenntnisse, auffällig artikuliert, egozentrische Wahrnehmung der Realität; Vorliebe für die Sprache«. Außerdem zeigten Narzissten »offensichtlichen Enthusiasmus für sozialpolitische Belange«, »besondere Betonung der äußeren Erscheinung« sowie die »Unfähigkeit, wirklich authentisch an Gruppenaktivitäten teilzunehmen«. Das waren Akhtar und Thomson zufolge nur die offen sichtbaren Merkmale. Verdeckte Kennzeichen seien: ausschweifender ethischer und moralischer Relativismus, Unehrerbietigkeit gegenüber Autoritäten und die »Tendenz, die Bedeutung der Realität zu verändern, wenn diese als Bedrohung für das Selbstwertgefühl betrachtet wird«. »Sprache und Sprechen«, so Akhtar und Thomson, werden »zur Regulation des Selbstwertsystems benutzt.«
Das ist nur ein selektiver Auszug aus dem Pandämonium narzisstischer Hybris, das Intellektualität, Unbotmäßigkeit und erotische Freizügigkeit unverkennbar pathologisiert. Die restlichen Kriterien wären aus alteuropäischer Perspektive wohl so unspektakulär, dass eher ihr Fehlen auf Persönlichkeitsstörungen hinwiese. Die erschreckende Enddiagnose: Rekonstruiert man durch Substraktion all dieser Warnzeichen eine nichtnarzisstische gesunde Norm, so wird diese wohl nur von zwei Gruppen erfüllt: den Amish People und mausgrauen Psychoanalytikern mit hohen moralischen Verfolgerambitionen. Übrig bleibt die Elimination von Persönlichkeit, und auf Anhieb verständlich wird, wieso Menschen so gerne auf Narzissten und Narzisstinnen hereinfallen; vor allem, warum ihnen das nicht als Naivität angerechnet werden darf – denn sie wissen, was sie tun. Jedes manipulative, windige Arschloch scheint allemal besser zu sein als die Horrorvision wohlbehüteter Langeweile. Ein Schuss Exzentrik im lauen Taufbecken des Nedflanderismus. Jeder dahergelaufene Homo ludens besser als die konfektionierten Homunculi reifer und empathischer Wohlanständigkeit – als Hank und Susan Mae daheim. Wir wissen nur zu gut, dass der Herzchirurg mit dem französischen Akzent oder die betörende Leadsängerin jener Punkband uns mit einem gebrochenen Herzen zurücklassen werden, aber auch – welch fette Entschädigung – mit dem narzisstischen Surplus der Opferrolle.
Sollte es so etwas wie Narzissmus geben, dann ist er psychischer Aggregatszustand der gesamten Gesellschaft mit ihren seit dem 18. Jahrhundert behaupteten monadischen Ich-Identitäten, und handelt es sich um eine Epidemie, wie die Psychologin Jean Twenge insinuiert, dann ist die gesamte Gesellschaft verseucht damit. Somit schlage ich vor, Narzissmus nicht als substantialistische, sondern attributiveNarzisphäre