James McBride
Die Farbe von Wasser
Aus dem Amerikanischen
von Monika Schmalz
Inhalt
Meine Mutter und ich möchten Jesus Christus danken. Dank auch an meine Ehefrau, Stephanie Payne, die mir immer wieder auf die Beine half und mir Rückhalt gab. Dank meinen Kindern, Jordan und Azure, die wissen sollen, woher sie kommen.
Dank an meine elf Geschwister: Dr. Andrew Dennis McBride, Rosetta McBride, Dr. William (Billy) McBride, Dr. David McBride, Helen McBride-Richter, Richard McBride, Dorothy McBride-Wesley, Kathy Jordan, Judy Jordan, Hunter Jordan und Henry Jordan. Dank euch, dass ihr mir geholfen habt, dieses Buch zustande zu bringen, und dafür, dass ihr unsere Familie zusammengehalten habt. Dank an meine ganz besondere Schwester Jacqueline Nelson aus Louisville, Kentucky, die meinem Leben eine neue Wendung gab.
Dank meiner Lektorin Cindy Spiegel vom Verlag Riverhead, ohne deren Kreativität, Phantasie, Rat, Einsatz und Weitblick das Buch in dieser Form nicht zustande gekommen wäre, und auch meiner Agentin Flip Brophy von Sterling Lord Literistic, die mich zehn Jahre lang nicht aufgab, obwohl ich ihr keinen Pfennig einbrachte.
Meine Mutter und ich möchten unseren Freunden und unserer Familie in Harlem, in der Red-Hook-Siedlung in Brooklyn, in St. Albans, Queens und in Philadelphia danken, die uns über die langen Jahre immer zur Seite gestanden haben: vor allem meiner Patentante und meinem Patenonkel, Tante Rachel und Pfarrer Tom McNair, und Familie; Virginia Ingram und ihrer Familie; Pfarrer Edward Belton und seiner Familie aus Passaic, New Jersey; der verstorbenen Irene Johnson, ihren Töchtern Deborah und Barbara, ihrer Schwester Vera Lake, ihrem Bruder, Pfarrer Hunson Greene, und dem Rest ihrer Familie; Pfarrer Elvery Stannard, Pfarrer Arnet Clark und der Tiberian Baptist Church; Pastor Joseph Roberts und der Ebenezer Baptist Church; Dr. Gary Richter, Rose McBride, Rebecca Randolph; Gladys und Fred Cleveland, Alive und Neddie Sands, Dorothy und Thomas Jones. Dank an die Familien Napper und Harris, Sheila Warren und Evelyn Hobson; Trafina »Ruth« Wilson und ihrer Familie in Wilmington, Delaware; Dank an unsere geliebte verstorbene Tante Sallie Candis Baldwin und an das verstorbene Ehepaar Etta und Nash McBride; an die Familien Hinson, Leake und Rush aus Mount Gilead, North Carolina; Tante Mag Lomax, Cousine Edna Rucker und an die Familie Gripper aus High Point, North Carolina; Dank an die New Brown Memorial Baptist Church in Brooklyn; an Pfarrer Thomas Davis von der Crossroads Baptist Church in Harlem; an Cousine Maggie Harris und ihre Familie aus Richmond, Virginia; an Thelma Carpenter, Onkel Walter Jordan, Flossie Jordan und die Jordans aus Brooklyn und Richmond; an die Familien Payne und Hawkins in Los Angeles.
Dank an die Menschen aus Suffolk, Virginia: Frank und Aubrey Sheffer, Helen Weintraub, den verstorbenen Aubrey Rubinstein, Mrs. Frances Holland, Mary Howell-Read vom Rathaus, Curly Baker und Eddie Thompson. Herzlich umarmt seien Frances und Nick Falcone, weil sie wieder in unser Leben getreten sind. Dank an Dina Abramowicz vom Yido Institute für Jüdische Forschung in New York und an alle Brüder von der Ecke vor dem Schnapsladen »Vermont Liquors« in Louisville, vor allem an Mike Fowler, Big Richard Nelson und den verstorbenen Chicken Man. Dank an meinen Steuerberater Milton Sherman, an Janette Bolgiani und Julian »Sharon« Jones. Dank an Jim Naughton vom Philadelphia Enquirer, Rhonda Goldfein, an die Holocaust-Überlebenden Halina Wind und George Preston und an ihren Sohn David Preston, der mich in die Wunder des Judaismus einweihte. Dank an meine vielen Freunde beim Boston Globe: Dennis Lloyd, Al Larkin, Jack Driscoll, Ed Siegel, Cindy Smith, Steve Morse und natürlich Ernie Santosuosso. Dank an Mary Hadar, die mir als Redakteurin bei der Washington Post viel gegeben hat, und an den Bebop-Gitarristen Jeff Frank, dessen zweite Karriere noch bevorsteht. Dank an Jay Lovinger und Gay Daley, die mein Manuskript lasen und die mit ihrer Freundlichkeit für mich und meine ganze Familie eine große Inspiration gewesen sind; Dank an Bill Boyle, Mike Daley, Hank Klibanoff, Marguerite del Giudice, Doran Twer, Gar Joseph, Gary Smith und Sally Wilson; Dank an Isabel Spencer und Fred Hartman, der der Erste war, der mich als Reporter einstellte; an Norman Isaacs, der mich ermutigte, mir ein Saxophon anzuschaffen, und Jann Wenner von den Zeitschriften Rolling Stone und Us, der mir erlaubte, in seinem Büro Sopransaxophon zu üben (»kein Problem«), und an Eric »Bud Powell« Levin, Jesse Bimbaum, Pat Ryan, Jim Gaines, Richard Ben Kramer, Carolyn White, Gerri Hershey und an die lebende Legende, den Autor John A. Williams, dessen Arbeit allen Schriftstellern eine Quelle der Inspiration ist. Dank an Anita Baker und Walter Bridgeforth, der mir mit seiner Großzügigkeit geholfen hat, durch die mageren Jahre zu kommen. Dank an die Jazzlegende Jimmy Scott, der mir das Swingen beibrachte, an den Saxophonisten Grover Washington jun., an Gary Burton, Everett Harp, an Damon Due White und Rachelle Ferrell, Gerard Harris, meinen Partner Ed Shockley, Larry Woody, Sy Friend und Vinnie Carrissimi, der noch immer nicht springen kann; an George Caldwell, meinen musikalischen Begleiter Pura Fé, Dana Crowe, Lisa Hartfield Davé, Professor Wendell Logan, Fred Nelson III, Laurie »Colgate« Weisman, Roz Abrams und die Familie Rouet aus Frankreich. Schließlich möchte ich noch der Familie Bien aus Concord, New Hampshire, danken sowie deren Söhnen Alec und Leander, denen ich in vielen langen Nächten von meinen Träumen erzählen durfte und die mir während der harten Zeit danach zur Seite gestanden haben.
»Sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen.«
Sprüche, 3:6
Im November 1942 wurde eine zwanzigjährige jüdische Frau namens Halina Wind von ihren Eltern ins Versteck geschickt, nachdem die Nazis in ihre polnische Heimatstadt Turka einmarschiert waren und fast alle 6 000 Juden, die dort lebten, sowie ihre Eltern, einen Bruder und die Großmutter ermordet hatten. Halina Wind floh in die Stadt Lwow, wo sie und neun andere Juden sich vierzehn Monate lang in der Kanalisation versteckt hielten, zwischen Ratten und Abwässern und ohne Tageslicht in einem nassen, unterirdischen Gefängnis hausten und von polnischen Kanalisationsarbeitern mit Essen versorgt wurden. Halina Wind überlebte dieses Grauen, um später davon berichten zu können.
Im Jahr 1980 – fast vierzig Jahre später – kam Halinas einziger Sohn David Lee Preston, ein dünner, gutaussehender Typ mit einem schmalen Gesicht, dunklen Augen und einer Brille, an meinen Schreibtisch in den Redaktionsräumen der Wilmington, News Journal geschlendert. In der Hand hielt er einen Artikel von mir über den Boxer Muhammad Ali. Er arbeitete wie ich als Reporter für den Journal, aber wir kannten uns noch nicht persönlich.
»Der Artikel ist ausgezeichnet«, sagte er.
»Danke«, sagte ich.
»Sie haben Muhammad falsch buchstabiert. Das schreibt man hinten mit ›a‹ statt mit ›e‹. Die Korrektur hat das wohl übersehen.« Normalerweise sollte die Korrektur solche Fehler ausmerzen, ehe das Blatt in Druck ging.
»Gut«, sagte ich achselzuckend. Von mir aus.
»Ich hab gehört, Sie spielen Saxophon?« sagte er. »Kennen Sie zufällig Albert Ayler?«
Albert Ayler war ein phantastischer Avantgarde-Saxophonist, der normalerweise nur eingefleischten Jazzfans ein Begriff war. Gerüchten zufolge hatte er sich in den East River in Manhattan gestürzt. Ich war ziemlich erstaunt. »Wie kommen Sie darauf?«
Er zuckte seinerseits mit den Achseln und lächelte. Seit diesem Tag gehört Halina Winds Sohn zu meinen besten Freunden. Als wir uns kennenlernten, wusste ich noch nicht, dass David Preston Jude war. Es war nichts, was er jedem auf die Nase binden musste. Er war ein sensibler, neugieriger, humorvoller Intellektueller und ein großartiger Autor, und seine religiöse Herkunft tauchte weder als Thema auf, noch fand ich es damals wichtig, danach zu fragen. Erst als ich ihm erzählte, meine Mutter sei die Tochter eines orthodoxen jüdischen Rabbiners, enthüllte er mir seine eigene Geschichte, weil er das Ausmaß von Mamas Erfahrungen sofort begriff. »Das ist ja ganz unglaublich«, sagte er. Und das sagte einer, dessen eigene Mutter etwas ganz Unglaubliches erlebt hatte.
Während er sich weiterentwickelte – heute schreibt er ein Buch über seine Mutter und arbeitet als Kolumnist für den Philadelphia Enquirer –, ging auch mein Leben weiter. Im Jahr 1991 heiratete ich meine afroamerikanische Verlobte Stephanie und bat ihn, zu meiner Hochzeit zu kommen. Als er im darauffolgenden Jahr mit seiner jüdischen Verlobten Rondee Hochzeit feierte, lud er mich ein. Er wollte auch, dass Mama mitkam. Ich erklärte mich einverstanden, Mama für ihn zu fragen, obwohl ich meine Zweifel hatte, dass sie zusagen würde.
»Interessant.« So lautete ihre Antwort, als ich ihr die Einladung überbrachte.
»Er würde sich wirklich sehr freuen«, sagte ich. Ich wusste, dass sie David sehr gern hatte.
»Ich komme, wenn Kathy mich begleitet«, sagte sie. Ihr war es lieber, eine Tochter dabeizuhaben, wenn irgendetwas Aufwühlendes bevorstand. Mit ihren Söhnen gibt sie an und erzählt, was für tolle Sachen sie schon gemacht haben und wo sie studiert haben und so weiter und so weiter, aber in Wirklichkeit sind es die Frauen des McBride-Jordan Clans, die die Familie zusammenhalten, und das auch nach Mamas Tod noch tun werden. Wie Mama haben meine Schwestern gelernt, mit Widrigkeiten zu leben und sich nach Rückschlägen wieder aufzurappeln und weiterzumachen. Die Männer, inklusive meiner Wenigkeit, taumeln eher umher, wenn uns das Leben einen Schlag versetzt, und zu Weihnachten und Thanksgiving werfen wir uns auf Mamas Couch und gucken Baseball, auch wenn die Spiele noch so miserabel sind. Kathy jedenfalls erklärte sich bereit, zusammen mit ihrer neunjährigen Tochter Maya mit Mama zu Davids Hochzeit zu fahren, also war es abgemacht.
Die Trauung fand im Beth Shalom Temple in Wilmington statt, wo Halina Preston dreißig Jahre lang unterrichtet hatte. Ich war Platzanweiser, und als ich im schwarzen Anzug und mit weißer jarmelke hinter sechs jüdischen Musikern, die das traditionelle israelische Volkslied »Erew Schel Schoschanim« spielten, das Hauptschiff heruntermarschierte, war ich traurig, gerührt und stolz zugleich. David Preston heiratete seine Frau mit derselben Art von Begeisterung und Überzeugung, mit der er auch im täglichen Leben die Dinge anpackte. Sie unterschrieben den Vertrag und wurden schließlich unter einem Baldachin, der chuppa, getraut. Zwei weibliche Kantoren, eine davon Davids Schwester, Shari Preston, traten nach vorne und sangen. Davids Onkel und Halina Prestons Bruder, Rabbi Leon Wind, leitete die Zeremonie, und seine Worte waren ehrfurchtgebietend. »Mein Herz ist heute von tiefen und widerstreitenden Gefühlen erfüllt«, sagte der 78-jährige Rabbiner. »Ich bin überglücklich, dass eure Ehe zustande gekommen ist. Und doch schmerzt es mich, dass meine Schwester, für die dieser Augenblick der schönste in ihrem Leben gewesen wäre, nicht mehr bei uns ist, um diesen Tag zu erleben.« Davids Mutter, Halina Wind Preston, war im Dezember 1981 mit 61 Jahren nach einer Herzoperation gestorben. Die Worte des Rabbiners rührten die ganze Gemeinde, und ich musste unwillkürlich an meine eigene Mutter denken, die in der vierten Reihe saß.
Ich drehte mich nach ihr um und sah, wie sie sich gerade die gerötete Nase putzte. Am Handgelenk hing ihr Fotoapparat. Bei solchen Gelegenheiten macht sie gern Fotos. So hält sie alle wichtigen Augenblicke fest, watschelt extra die ganze Atlantic Avenue in Brooklyn von der U-Bahn-Station bis zur Long-Island-Universitätsklinik hinunter, um meine neugeborene Tochter Azure zu fotografieren, oder stellt meinen kleinen Sohn Jordan in ihrem Garten vor einen Baum, um von ihm, der fürs Osterfest herausgeputzt ist, noch mal eben einen Schnappschuss zu machen. Ihre Fotos sind grauenhaft: Manchmal sind die Köpfe abgeschnitten, manchmal ist gar nichts auf dem Bild zu sehen, dann wiederum nur ein Tisch, eine Hand, ein Stuhl. Dennoch fotografiert sie alles, was ihr wichtig erscheint, weil sie jetzt so viel wie möglich in Erinnerung behalten will – verloren hat sie ja schon genug. An diesem regnerischen Nachmittag macht sie allerdings keine Aufnahmen. In diesem Augenblick sitzt sie da in einem weißen Kleid und mit Halskette, sieht stur geradeaus und fällt mit ihrer langen Nase und den dunklen Augen nicht im Geringsten auf inmitten der vielen, überwiegend osteuropäischen Gesichter ringsum. Sie hatte keine Schwierigkeiten, die Synagoge zu betreten. Sie sah sich in der Vorhalle um und nickte anerkennend. »Guck mal«, zeigte sie mir, »hier an der Wand haben sie die Namen der Leute angeschlagen, die gestorben sind. Guck mal, die Männer verlassen den Raum, wenn weibliche Kantoren auftreten.« Sie redete wie jemand bei einem Museumsbesuch.
»Und – wie fühlst du dich hier?«, fragte ich sie.
»Gut«, sagte sie. »Ich bin froh, dass David heiratet. Er ist ein netter jüdischer Junge«, und lachte im selben Moment über sich selbst. Mir ging auf, dass diejenigen, die für Mama das Kaddisch gebetet hatten – das jüdische Trauergebet, das einen Todesfall bekanntgibt, das Ritual, das einen vom Schicksal eines Kindes freispricht –, richtig daran getan haben, denn Mama gehörte wahrhaftig nicht mehr in ihre Welt. Heute war sie lediglich zu Gast hier. »Von all dem spüre ich nichts mehr«, sagte sie irgendwann im Lauf des Tages.
Als bei dem Empfang, der auf die Zeremonie folgte, die Klezmer-Musiker anfingen, traditionelle jüdische Volkslieder zu spielen, lebte Mama noch mehr auf. Sie aß koscheren Hummus, Tehini und Baba ghanusch und klärte dabei meine Nichte Maya über koscheres Essen auf; sie lachte und scherzte mit einer Gruppe alter jüdischer Damen, die neben uns saßen, und stand sogar auf, um zuzusehen, wie ein paar der Männer David auf einen Stuhl setzten, ihn hochhoben und entsprechend dem traditionellen jüdischen Hochzeitstanz durch den Saal trugen. Aber bald darauf kam sie zurück an unseren Tisch und sagte: »Es ist Zeit zu gehen.« Ihr Tonfall ließ keine Sekunde daran zweifeln, dass es ihr ernst war.
Als wir die Türen der Synagoge öffneten, stellten wir fest, dass es regnete und wir keinen Schirm dabeihatten. Kathy und Maya spurteten zum Auto, während ich mit Mama langsam hinterherkam. »So wird das gemacht«, sagte sie, während ich ihr die Stufen der Synagoge hinunterhalf. Ihre arthritischen Knie schmerzten sie bei dem feuchten Wetter. »Genauso haben’s die alten Juden auch damals schon gemacht, als ich jung war. Man heiratete unter diesem Ding, dieser chuppa. Dann tritt man auf das Glas. Das hätte genauso gut ich sein können«, sagte sie, nahm die letzte Stufe und setzte ihren Fuß ein bisschen wacklig auf dem Bürgersteig auf.
»Ich weiß«, sagte ich, ließ ihren Arm los und ging auf den Wagen zu. »Aber was wäre dann aus mir geworden …?« Doch ich musste feststellen, dass ich mit mir selbst redete. Sie war verschwunden. Sie stand vor dem Eingang der Synagoge und sah gedankenverloren vom Bürgersteig zurück zum Portal, während sich große Pfützen um ihre Füße bildeten. Eine Weile stand sie so da, mitten im Regen, und sah nachdenklich vor sich hin, dann drehte sie sich um und watschelte rasch, mit ihrem üblichen, o-beinigen Gang, zum Auto.
James McBride ist Autor, Komponist und Saxophonist. Er arbeitete beim Wilmington (Deldware) News Journal, beim Boston Globe und bei der Washington Post und schrieb auch für den Philadelphia Inquirer, Rolling Stone, Us und Essence. 1993 erhielt McBride den Stephen-Sondheim-Preis des American Music Theater Festival in der Kategorie Komposition, insbesondere für das Jazz/Pop-Musical »Bobos«. Er hat Lieder geschrieben u. a. für Anita Baker, Grover Washington jun. und Gary Burton. Er begleitet häufig als Bandmitglied den Jazzsänger Jimmy Smith. Er studierte am Oberlin College und an der Columbia University Journalistik. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in South Nyack, New York.
Ruth McBride Jordan wurde als Rachel Deborah Shilsky (Ruchel Dwajra Zylska) im Jahr 1921 in Polen geboren. Als sie zwei Jahre alt war, wanderte ihre Familie nach Amerika aus und ließ sich Schließlich in Suffolk, Virginia, nieder. Nach der Schule zog sie nach New York und heiratete Andrew D. McBride, mit dem sie gemeinsam die New Brown Memorial Church in Brooklyn. gründete. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1957 heiratete sie Hunter Jordan, der 1972 starb. Sie studierte an der Temple University, wo sie mit 65 Jahren ein Diplom in Sozialpädagogik erwarb. Zuletzt reiste Ruth regelmäßig nach Paris, London, New York und Atlanta, Georgia, arbeitete ehrenamtlich beim Philadelphia Emergency Center, einer Hilfsorganisation für obdachlose junge Mütter, leitete eine Arbeitsgruppe in der Stadtbücherei in Ewing, New Jersey, und setzte sich außerdem bei der Jerusalem Baptist Church in Trenton, New Jersey, für Obdachlose ein. Ruth McBride ist im Alter von 88 Jahren in New Jersey gestorben.
Ich bin gestorben.
Du willst über meine Familie sprechen, wo ich für sie gestorben bin, schon vor fünfzig Jahren? Lass mich doch in Ruhe. Geh mir nicht auf die Nerven. Die wollen von mir nichts wissen, und ich will von denen nichts wissen. Beeil dich lieber mit diesem Interview. Ich will Dallas gucken. Wärst du in meiner Familie groß geworden, hättest du für so einen Unsinn keine Zeit, für deine sogenannten Wurzeln. Du tätest besser dran, Dick und Doof zu gucken, als mit denen ein Interview zu machen. Mit meinem Vater ein Interview – vergiss es. Der würde einen Herzinfarkt kriegen, wenn er dich sähe. Er ist jetzt tot, und wenn nicht, ist er 150 Jahre alt.
Ich wurde als orthodoxe Jüdin am I. April 1921 in Polen geboren. Ich erinnere mich nicht mehr, wie der Ort hieß, wo ich geboren wurde, aber ich erinnere mich wohl noch an meinen jüdischen Namen: Ruchel Dwajra Zylska. Meine Eltern legten den Namen ab, als wir nach Amerika kamen, und änderten ihn in Rachel Deborah Shilsky, und diesen Namen legte ich ab, als ich neunzehn war. Ich habe ihn nie wieder benutzt, seit ich 1941 für immer aus Virginia weggegangen bin. Was mich betrifft, ist Rachel Shilsky gestorben. Sie musste sterben, damit ich, der Rest von mir, leben konnte.
Meine Familie trauerte um mich, als ich deinen Vater heiratete. Sie beteten das Kaddisch und saßen schiwe. So trauern die orthodoxen Juden um ihre Toten. Sie beten, drehen ihre Spiegel um, sitzen sieben Tage lang auf Kisten und bedecken ihre Köpfe. Das ist richtig anstrengend, deshalb bin ich vielleicht auch heute keine Jüdin mehr. Es gab zu viele Regeln, an die man sich hatten musste, zu viele Verbote, dies darfst du nicht und jenes nicht, aber sagt dir jemals einer, dass er dich liebte? Nicht in meiner Familie jedenfalls. Das sagte bei uns kein Mensch. Bei uns sagten sie: »Da drin ist ein Kästchen für die Nägel«, oder mein Vater sagte: »Seid leise, ich will schlafen.«
Mein Vater hieß Fishel Shilsky und war orthodoxer Rabbiner. Er floh aus der russischen Armee und kroch heimlich über die polnische Grenze und heiratete meine Mutter. Es war eine vereinbarte Ehe. Früher sagte er immer, sie hätten ihn bei seiner Flucht aus der Armee unter Beschuss genommen, und sein Talent, sich immer aus allem rauszuwinden, was nicht gut für ihn war, verlor er nie, zumindest solange ich ihn kannte. Tate nannten wir ihn. Das heißt Vater auf Jiddisch. Er war ein Schlitzohr, besonders wenn’s ums Geld ging. Er war klein, dunkel, behaart und unfreundlich. Er trug ein weißes Hemd, schwarze Hosen und einen Talles, das war seine Uniform. Die schwarzen Hosen trug er, bis sie glänzten und man sie in die Ecke stellen konnte, aber hilf dir Gott, wenn diese schwarzen Hosen eilig auf dich zukamen, denn mit meinem Vater war nicht zu spaßen. Der war hart wie Stein.
Meine Mutter hieß Hudis, und sie war genau das Gegenteil von ihm, sanft und duldsam. Sie wurde 1896 in der polnischen Stadt Dobrzyn geboren, aber wenn du da heute nachfragen würdest, würde sich niemand mehr an ihre Familie erinnern, weil alle Juden, die noch nicht weg waren, als Hitler in Polen einmarschierte, im Holocaust ums Leben kamen. Ihr Gesicht war hübsch. Dunkle Haare, hohe Wangenknochen, aber sie hatte Kinderlähmung gehabt. Ihre linke Seite war gelähmt, und danach wurde sie nie mehr richtig gesund. Sie konnte ihre linke Hand nicht benutzen. Sie war am Handgelenk umgeknickt, und meine Mutter hielt sie immer an die Brust gedrückt. Sie war auf dem linken Auge fast blind und hinkte stark beim Gehen, weil sie ihren linken Fuß hinterherzog. Sie war eine stille Frau, meine liebe Mame. So nannten wir sie, Mame. Sie ist diejenige auf dieser Welt, der ich wirklich Unrecht getan habe …
Als ich vierzehn Jahre alt war, hatte meine Mutter plötzlich zwei neue Hobbys: Fahrradfahren und Klavierspielen. Das Klavier störte mich nicht weiter, aber das Fahrrad machte mich wahnsinnig. Es war eine riesige alte Klapperkiste, blau mit weißen Zierleisten und dicken fetten Reifen, riesig breiten Schutzblechen und einer batteriebetriebenen Hupe, die ins Gestell eingebaut war und per Knopfdruck betätigt wurde. Das Ding hätte heute einen Sammlerwert von mindestens fünftausend Dollar, aber damals hatte es mein Stiefvater einfach nur in Brooklyn auf der Straße gefunden und mit nach Hause geschleppt, ein paar Monate bevor er starb.
Ich weiß nicht, ob es seine Entscheidung war, abzudanken, aber ich glaube es eigentlich nicht. Er starb mit 72 und war gut in Form, stark, gelassen, scheinbar unerschütterlich, und obwohl er mein Stiefvater war, nannte ich ihn immer Daddy. Er war ein ruhiger Mann, der leise sprach und altmodische Kleider trug, Samthüte, buttondown Wollmäntel, Hosenträger, und er war immer ordentlich angezogen, egal wie schmutzig er sich bei der Arbeit machte. Er arbeitete immer langsam und bedächtig, aber unter seinem traktorhaften Tempo und seiner äußerlichen Sanftheit war er eine Mischung aus verschwiegenem Indianer und ländlichem Schwarzen: trittsicher, hart, kühn und schnell. Er ließ sich nicht zum Narren halten und hielt auch niemand zum Narren. Er heiratete meine Mutter, eine weiße Jüdin, als sie schon acht schwarze Mischlingskinder hatte, von denen ich als knapp Einjähriger das Jüngste war. Sie hatten zusammen noch vier weitere Kinder, um das Dutzend voll zu machen, und er sorgte für uns, wie für seine eigenen Kinder. »Ich hab genug für eine ganze Baseballmannschaft«, witzelte er. Es passierte von einem Tag auf den anderen – ein Schlaganfall, und weg war er.
Nachdem er gestorben war, fiel ich in allen Fächern durch und flog in hohem Bogen von der Schule. Ich brachte das Jahr damit zu, mit meinen Freunden in der 42nd Street am Times Square ins Kino zu gehen. »James macht gerade Revolution«, spotteten meine Geschwister. Dennoch waren meine Schwestern besorgt, meine älteren Brüder verärgert. Ich beachtete sie nicht. Ich und die Jungs, mit denen ich durch die Gegend zog, guckten uns jeden Film an. Wir rauchten jede Menge Gras. Ich klaute Handtaschen. Ich beging Ladendiebstähle. Ich raubte sogar mal einen Kleindealer aus. Und dann, nach einem Tag Schuleschwänzen, Kiffen, Rasiermesserschwenken und U-Bahnfahren, kam ich nachmittags nach Hause und erblickte meine Mutter auf ihrem blauen Fahrrad.
Sie fuhr immer in Zeitlupe unsere Straße entlang, die Murdoch Avenue in St. Albans, im Bezirk Queens, die einzige Weiße weit und breit, während die Autos einen großen Bogen um sie machten und schwarze Mopedfahrer diese merkwürdige weiße Frau mittleren Alters auf ihrem uralten Fahrrad begafften. Es war ihre Art zu trauern, obwohl mir das damals noch nicht klar war. Hunter Jordan, mein Stiefvater, war tot. Andrew McBride, mein biologischer Vater, war vierzehn Jahre zuvor gestorben, als sie gerade mit mir schwanger war. Es war klar, dass Mama kein Interesse mehr daran hatte, noch einmal zu heiraten, trotz der Bemühungen einiger örtlicher Priester mit ihren Cadillacs und ihrem breiten Grinsen, die genau wussten, dass Mama, das heißt wir alle, chronisch pleite waren. Mit 51 war sie noch immer schlank und hübsch, mit schwarzen Locken, dunklen Augen, einer großen Nase, einem strahlenden Lächeln und einem o-beinigen Gang, den man schon von weitem erkannte. Wir sagten dazu immer »Mamas wütender Gang«, denn wenn sie einem so entgegenkam, konnte man sicher sein, dass gleich die Hölle los war. Ich hatte schon manches Mal erlebt, wie sie auf einige ziemlich harte Typen zumarschiert war und ihnen ihre Faust vor der Nase hin- und hergeschüttelt hatte vor lauter Wut – aber das war noch bevor Daddy starb. Jetzt schien sie es sich in den Kopf gesetzt zu haben, Klavier zu spielen, mit Geldeintreibern Versteck zu spielen, uns durch schiere Willensanstrengung auf die Universität zu schicken und mit dem Fahrrad kreuz und quer durch Queens zu fahren. Sie weigerte sich, Autofahren zu lernen. Daddys altes Auto stand wochenlang draußen am Straßenrand geparkt. Lautlos. Sauber. Glänzend. Jeden Tag fuhr sie mit dem Fahrrad daran vorbei und tat einfach, als sähe sie es nicht.
Ihr Anblick auf diesem Fahrrad fasste für mich ihre ganze Existenz zusammen. Ihre Andersartigkeit, ihr komplett fehlendes Bewusstsein dafür, was die Leute von ihr dachten, ihre Gelassenheit angesichts der, wie ich fand, ständigen Bedrohung sowohl durch Schwarze als auch Weiße, denen es nicht passte, dass sie als Weiße unter Schwarzen lebte. Sie sah nichts davon. Sie fuhr so langsam, dass es von weitem so aussah, als bewegte sie sich gar nicht, das Bild erstarrte, zeichnete sich gegen den Frühlingshimmel ab, eine weiße Frau mittleren Alters auf einem uralten Fahrrad, an der schwarze Kinder auf Skateboards und Stingray-Rädern vorbeisausten und Kunststücke aufführten und sich Bälle zuwarfen, die an ihrem Kopf vorüberschwirrten, und Knallfrösche warfen, die neben ihr niedergingen. Sie kümmerte sich nicht im Geringsten darum. Sie trug ein geblümtes Kleid und schwarze Halbschuhe, ihr Kopf schlackerte hin und her, während sie wacklig um die Ecke bog, an der ich mit meinen Freunden Baseball spielte, die Lewiston Avenue rauf, die Mayville Street bergab, wo ein hübscher Junge namens Roger bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, die Murdock Street wieder bergauf, über die Schwelle zu unserer Einfahrt und bis vor unser Haus. »Puh!«, sagte sie dann immer, während meine Geschwister, die draußen auf den Stufen saßen, um ein Auge auf sie zu haben, den Kopf schüttelten. Meine Schwester Dotty sagte dann immer: »Mir wär’s wirklich lieber, du würdest diese Radfahrerei sein lassen, Mama«, und im Stillen pflichtete ich ihr bei, aber vor allem, weil ich nicht wollte, dass meine Freunde sahen, wie meine weiße Mutter auf einem Fahrrad durch die Gegend gurkte. Sie war ohnehin schon weiß, was schlimm genug war, aber ein altes Rad zu fahren, das schon seit hundert Jahren aus der Mode war? Und das auch noch als Erwachsene? Das war einfach zu viel für mich. Schon als Junge fand ich meine Mutter immer sonderbar. Ihr lag nichts daran, sich mit den Nachbarn anzufreunden. Über ihre Vergangenheit sprach sie grundsätzlich nicht. Sie trank Tee aus einem Glas. Sie konnte Jiddisch. Sie hegte entschiedenes Misstrauen gegenüber Autoritäten, und unser Privatleben war ihr heilig, was sie, und meine ganze Familie, für die anderen nur noch sonderbarer machte. Meine Familie war riesig, mit zwölf Kindern, und ganz anders als alle Familien, die ich je kennengelernt hatte. Wir waren so viele zu Hause, dass uns Mama manchmal rief, indem sie »He, James-Judy-Henry-Hunter-Kath – wie auch immer, komm doch mal eben.« Es war nicht so, dass sie vergessen hätte, wer wir waren, bloß waren wir so viele, dass oft keine Zeit blieb für so etwas Nebensächliches wie Namen. Bei uns zu Hause war sie der Kommandeur, weil mein Stiefvater nicht bei uns wohnte. Er wohnte bis kurz vor seinem Tod in Brooklyn, hielt sich von der Meute fern und kam nur an den Wochenenden nach Hause, mit Lebensmitteln und Dreirädern und dem Vorsatz, all die verschiedenen Dinge zu reparieren, die wir im Lauf der Woche kaputtgemacht hatten. Die Kleinarbeit, also unsere Erziehung, überließ er Mama, die zugleich Oberärztin (»Tu Jod drauf«), Kriegsministerin (»Wenn dich jemand schlägt, nimm deine Faust und hau ihm eine rein«), religiöser Wegweiser (»An erster Stelle kommt Gott«), Psychologin (»Denk einfach nicht dran«) und Finanzberaterin war (»Was willst du mit Geld, wenn du nichts im Kopf hast?«). Fragen, die mit Hautfarbe oder Identität zusammenhingen, überging sie einfach.
Ich weiß noch, wie ich mir als Kind wünschte, zu der Familie in der Fernsehserie Father Knows Best zu gehören. Da kam der Vater abends im Anzug von der Arbeit nach Hause, und nie gab es mehr Kinder, als auf seinen Schoß passten, anders bei uns, wo alle mit zerlöcherten Hosen und Turnschuhen herumliefen, die im John’s Bargains-Laden 1 Dollar 99 kosteten, und die Eltern waren immer beschäftigt und nie bei der Sache, und einen Stiefvater hatten wir, der tauchte nur am Wochenende in Hemdsärmeln mit seinem Werkzeugkasten auf, und eine Mutter, die unablässig Windeln, Sicherheitsnadeln, Waschlappen, Ohrenstäbchen und auf jedem Arm ein Kind durch die Gegend schleppte, während ein drittes an ihrem Rock zerrte. Kaum hatte sie einem Kind den Hintern abgewischt, brüllte sich schon das nächste die Seele aus dem Leib. Damals in der Red-Hook-Siedlung in Brooklyn, wo wir wohnten, bevor wir nach Queens ins relativ paradiesische St. Albans zogen, schliefen wir immer wie die Ölsardinen zu dritt oder viert in einem Bett, einer mit dem Kopf zum Kopfende, der Nächste mit dem Kopf zum Fußende und immer so weiter. »Kopf oben, Zehen unten«, rief Mama, gab jedem von uns einen Gutenachtkuss und legte ihn in Position. Sobald sie aus dem Zimmer war, stritten wir darum, wer an der Wand liegen durfte. »Ich lieg an der Wand!«, brüllte ich immer, und Richard, mein nächstälterer Bruder und somit überlegener Gegner, schüttelte dann immer den Kopf und sagte: »Nein, nein, nein. David schläft an der Wand. Ich geh in die Mitte. Du, Holzkopf, gehst nach außen.« Also musste ich die ganze Nacht lang Davids Atem einatmen und hatte Richies Zehen im Gesicht, und wenn ich die Kombination aus Zehen und Atem nicht mehr aushielt, drehte ich mich rum und knallte auf den kalten Zementboden.
Friss oder stirb war bei uns die Devise, und Mama war Spezialistin auf dem Gebiet, immerhin hatte sie das System selbst eingeführt. Man war auf sich gestellt, oder so dachte man zumindest, bis man mit seinem Latein am Ende war, woraufhin sie dann einschritt und einen rettete. Ich hatte schreckliche Angst, als ich an der Reihe war, eingeschult zu werden. Obwohl die Public School Nr. 118 nur acht Blocks entfernt war, durfte ich nicht zusammen mit meinen Geschwistern hinlaufen, weil die Vorschulkinder den Schulbus nehmen mussten. An jenem schicksalsschweren Morgen jagte mich Mama durch die ganze Küche und versuchte, mich anzuziehen, während sich meine Geschwister über ihren völlig verängstigten Bruder kaputtlachten. »Der Bus ist gar nicht so schlecht«, bemerkte einer, »abgesehen von den Schlangen.« Und eine andere fügte hinzu: »Manchmal bringt einen der Bus nur nicht wieder nach Hause.« Allgemeines Hohngelächter.
»Seid still«, sagte Mama und inspizierte meine Schulkleidung. Meine Sachen waren zwar nicht neu, aber sauber. Die Hosen waren mal Billys gewesen, das Hemd war von David, den Mantel hatten vor mir Dennis, Billy, David und Richie getragen. Es war ein grauer Mantel mit Pelzkragen, in dem die Motten saßen. Mama bürstete ihn ab, stellte acht oder neun Schüsseln auf den Tisch, schüttete Haferflocken in jede Schüssel, gab dem Ältesten Anweisungen, den Rest zu füttern, und fuhr dann mit einem Kamm durch meine Haare. Es fühlte sich an wie ein Mähdrescher. »Komm«, sagte sie zu mir, »ich bring dich zur Bushaltestelle.« Eine unerwartete Belohnung! Ich und Mama waren allein – soweit ich mich erinnere, war es das erste Mal überhaupt.
Es war immer der Höhepunkt des Tages, und die Erinnerung daran brannte sich mir ins Gedächtnis wie eine Tätowierung, wenn Mama mich zur Bushaltestelle brachte und dann am Nachmittag wieder abholte. Da stand sie, an der 114th Road Ecke New Mexico, in einem braunen Mantel und mit einem bunten Kopftuch um ihre schwarzen Haare, und beobachtete gemeinsam mit den anderen Eltern, wie der gelbe Schulbus um die Ecke bog und mit fauchenden Druckluftbremsen anhielt.
Während die Wochen vergingen und die Schule allmählich ihren Schrecken verlor, fiel mir an meiner Mutter immer deutlicher etwas auf: sie sah nämlich überhaupt nicht so aus wie die anderen Mütter. Eigentlich sah sie sogar eher aus wie meine Vorschullehrerin, Mrs. Alexander, die weiß war. Ich spähte aus dem Fenster, während der Bus um die Ecke bog und die Türen aufklappten, und ich bemerkte, dass Mama immer abseits stand und sich nur selten mit den anderen Müttern unterhielt. Sie stand hinter ihnen, wartete geduldig mit den Händen in den Manteltaschen, hielt nach mir Ausschau, dann lächelte sie und winkte, wenn ich ihr aus dem Fenster zurief. Schnell schnappte sie sich meine Hand, wenn ich aus dem Bus stieg, und zog mich davon, ohne sich um die Blicke der schwarzen Frauen zu kümmern.
Eines Nachmittags, auf dem Nachhauseweg von der Bushaltestelle, fragte ich Mama, warum sie nicht so aussehe wie die anderen Mütter.
»Weil ich nicht die anderen Mütter bin«, sagte sie.
»Wer bist du denn?«, fragte ich.
»Ich bin deine Mutter.«
»Aber wieso siehst du dann nicht so aus wie Rodneys Mutter, oder Petes Mutter? Wieso siehst du nicht so aus wie ich?«
Sie seufzte und zuckte die Achseln. Offensichtlich kam ihr das bekannt vor. »Ich sehe doch so aus wie du. Ich bin deine Mutter. Du stellst zu viele Fragen. Bilde dich. Die Schule ist wichtig. Vergiss Rodney und Pete. Vergiss ihre Mütter. Denk an die Schule. Vergiss alles andere. Kümmer dich nicht um Rodney und Pete. Wenn sie in eine Richtung gehen, gehst du in die andere. Hörst du?«
»Ja.«
»Ich weiß, wovon ich rede. Lass die Finger von denen. Halte dich einfach an deine Brüder und Schwestern. Und behalte deine Angelegenheiten für dich.« Ende der Diskussion.
Ein paar Wochen später stieg ich aus dem Bus, und Mama war nicht da. Ich geriet in Panik. Irgendwo in meinem Hinterkopf schlummerten ihre warnenden Worte: »Du wirst lernen müssen, allein nach Hause zu laufen«, aber vor lauter Aufregung war mein Gedächtnis wie ausgeschaltet. Unser Haus war nur zwei Blocks entfernt, aber es hätten genausogut zehn Meilen sein können, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie man dorthin kam. Ich stand an der Ecke und gab mir alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Die anderen Eltern sahen mich mitleidig an und fragten nach meiner Adresse, aber ich hatte Angst, sie ihnen zu verraten. Mama hatte mich ja gewarnt, sie hatte es uns allen zwölfen eingebläut, seit wir laufen konnten: »Behaltet nur ja eure Angelegenheiten für euch«, und ich schüttelte den Kopf und sagte nein, meine Adresse wüsste ich nicht. Nach und nach gingen sie, bis nur noch einer übrig geblieben war, ein schwarzer Vater, der mit seinem Sohn vor mir stand und sagte: »Mach dir keine Sorgen, deine Mutter kommt bestimmt gleich.« Ich schenkte ihm keinerlei Beachtung. Er versperrte mir die Sicht, und Tränen stiegen mir in die Augen, während ich versuchte, hinter ihm den Block hinunterzuspähen, ob nicht doch der vertraute braune Mantel und das weiße Gesicht in der Ferne auftauchten. Aber nichts davon geschah. Niemand tauchte in der Ferne auf, abgesehen von ein paar Kindern, und die sahen bestimmt nicht aus wie Mama. Es war eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Jungen und Mädchen, zerlottert, schmuddelig, mit wilden Frisuren und löchrigen Jacken, die krähten und Krach machten, und erst als sie fast vor mir standen, erkannte ich die Gesichter meiner älteren Geschwister und das meiner kleinen Schwester Kathy, die hinter der Gruppe hertrödelte. Ich warf mich ihnen in die Arme und brach in Tränen aus, während sie mich umringten und lachten.
Die Ehe meiner Eltern wurde durch einen row geschlossen, einen hochrangigen Rabbi, der zu den jeweiligen Eltern hingeht und die Mitgift aushandelt und den Ehevertrag entsprechend dem jüdischen Gesetz arrangiert, das heißt also, die Sache hatte mit Liebe nichts zu tun. Das war so: Die Familie meiner Mutter hatte Stil und Geld. Tate, ich weiß nicht, woher seine Familie kam. Mame war seine Eintrittskarte nach Amerika, und kaum war er hier angekommen, war er fertig mit ihr. Er kam auf Empfehlung von Laurie her, der ältesten Schwester meiner Mutter, und von ihrem Mann, Paul Schiffman. Man konnte nicht einfach so in das Land reinspazieren. Es musste einen jemand empfehlen, es musste jemand sagen: »Ich bürge für diesen Menschen.« Zuerst traf er ein, und ein paar Monate später ließ er seine Familie nachkommen – also mich, Mame und meinen älteren Bruder Sam. Ich war zwei Jahre alt und Sam war vier, als wir ankamen, darum erinnere ich mich überhaupt nicht mehr an unsere lange, gefahrvolle Reise nach Amerika. Das, was ich darüber weiß, weiß ich aus Kinofilmen. Ich hab ein Blatt Papier in dem Schuhkarton unter meinem Bett, auf dem steht, dass ich am 23. August 1923 hier angekommen bin, auf einem Dampfer namens Austergeist. Ich habe dieses Dokument 23 Jahre lang immer mit mir rumgetragen. Das war mein Schutz, ich wollte. nicht rausgeschmissen werden. Von wem? Egal wer … die Regierung, mein Vater, irgendjemand. Ich dachte, man könne aus Amerika rausgeschmissen werden wie aus einem Baseballspiel. Mein Vater sagte immer: »Ich bin Staatsbürger und du nicht. Ich kann dich jederzeit zurück nach Europa schicken.« Früher drohte er uns oft damit, dass er uns zurück nach Europa schicken würde, vor allem meiner Mutter, weil sie die letzte aus ihrer Familie war, die hierherkam, und einen Großteil ihres Lebens damit zugebracht hatte, vor russischen Soldaten in Polen zu fliehen. Sie redete früher oft über den Zaren oder den Kaiser, und wie die russischen Soldaten ins Dorf kamen und die Juden aufreihten und kaltblütig erschossen. »Ich musste um mein Leben laufen«, sagte sie immer. »Beim Laufen hielt, ich dich und deinen Bruder in meinen Armen.« Sie hatte schreckliche Angst vor Europa und war froh, in Amerika zu sein.
Als wir vom Schiff runterkamen, wohnten wir erst bei meinen Großeltern Sejde und Babe in der 115th Street Ecke St. Nicholas in Manhattan. Obwohl ich noch ein kleines Kind war, erinnere ich mich gut an Sejde. Er hatte einen langen Bart und war lustig und trank immer seinen Tee aus einem Glas. Alle Männer in meiner Familie hatten lange Bärte. Sejde hatte auf seinem Schreibtisch ein Bild von sich und meiner Großmutter. Es war eine Aufnahme aus der Zeit, als sie noch in Europa lebten. Sie standen nebeneinander, Sejde trug einen schwarzen Anzug, einen Hut und seinen Bart, und Babe trug eine Perücke, einen Scheitel, wie es der Brauch vorschrieb. Ich glaube, unter ihrer Perücke hatte Babe eine Glatze. Deswegen mussten die Frauen auch ihre Köpfe bedecken, weil sie Glatzen hatten.
Ich mochte meine Großeltern sehr. Sie waren warmherzig, und ich liebte sie so, wie jedes Enkelkind seine Großeltern liebt. Sie hatten eine schöne, aufgeräumte Wohnung mit schweren, dunklen Mahagonimöbeln. Auf dem Esstisch lag immer eine blütenweiße Spitzentischdecke. Sie waren streng orthodox und aßen jeden Tag koscher. Du hast ja keine Ahnung, was das heißt. Bestimmt meinst du, koscher, das sei so was wie Chalwa-Süßigkeiten. Du solltest lieber was darüber lesen, ich bin doch kein Fachmann. Es gibt Leute, die schreiben ganze Bücher darüber, such die mal und frag sie! Oder lies die Bibel! Verflixt noch mal! Wer Ich bin ich denn schon! Ich kann doch nicht der ganzen Welt einfach irgendwas erzählen. Ich weiß doch kaum was! Bei uns war es jedenfalls so, dass man für jede Mahlzeit anderes Geschirr hatte, andere Tischdecken, andere Teller, Gabeln, Löffel, Messer, alles. Und man durfte das Essen nicht mischen. Stattdessen gab es Milchiges oder Fleischiges. Das heißt, man aß bei einer Mahlzeit nur Milchprodukte und bei der nächsten nur Fleisch. Nie gemischt. Auch kein Schweinefleisch – keine Koteletts mit Kartoffelsalat, kein Ei mit Speck, das kannst du vergessen. Man setzt sich auf seinen Hintern und isst, was sie einem geben, und man macht, was sie einem sagen. Bei uns gab es ein besonderes Tischtuch für Milchiges, weil man das mit einem Lappen einfach abwischen konnte, anstatt es zu waschen. Dann musste man jeden Freitag bei Sonnenuntergang die Kerzen anzünden und beten, und dann fing der Sabbat an. Der dauerte bis zum Sonnenuntergang am Samstag. Man durfte kein Licht an- oder ausmachen, kein Papier zerreißen, man durfte nicht Auto fahren oder ins Kino, noch nicht mal so was Einfaches wie den Herd anschalten durfte man. Man musste stillsitzen und bei Kerzenschein lesen. Oder einfach stillsitzen. Das war für mich das Schwerste, das Stillsitzen. Schon als Mädchen rannte ich immer gern. Ich schlug die Haustür hinter mir zu und rannte einfach los. Das Einzige, was ich am Sabbat durfte, war Romanhefte lesen. Das tat ich auch jahrelang.
Ich erinnere mich noch, wie Sejde in der Wohnung starb. Ich weiß nicht, wie er starb, ich weiß nur, dass er starb. Damals trödelte man nicht erst noch lange rum wie heutzutage, wo die Ärzte einem Schläuche in den Mund stecken und sich an einem dumm und dämlich verdienen. Sie sterben einfach. Tot. Mach’s gut. Der war jedenfalls tot, Schätzchen. Sie legten ihn aufs Bett und brachten uns Kinder in sein Schlafzimmer, damit wir ihn angucken konnten. Sie mussten mich und meinen Bruder Sam vom Boden hochheben, damit wir ihn sehen konnten. Sein Bart lag flach auf seiner Brust, und seine Hände waren gefaltet. Er trug eine kleine schwarze Krawatte. Er sah aus, als würde er schlafen. Ich weiß noch, wie ich zu mir sagte, der kann unmöglich tot sein, weil es noch gar nicht lange her schien, da hatte er noch gelebt und gescherzt und mit mir Unsinn gemacht, und jetzt lag er da, tot wie ein Stein. Sie beerdigten ihn am selben Tag, vor Sonnenuntergang, und wir saßen schiwe für ihn. Wir verhängten alle Spiegel in unserem Haus. Die Erwachsenen bedeckten ihre Köpfe. Alle saßen auf Kisten. Meine Großmutter trug noch lange danach schwarz. Aber weißt du, ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass sie ihn zu früh begraben hatten. Ich hätte am liebsten gefragt: »Und was ist, wenn Sejde gar nicht wirklich tot ist? Vielleicht macht er nur Spaß, und dann wacht er auf und stellt fest, dass er unter der Erde liegt!« Aber in meiner Familie stellte man als Kind keine Fragen. Man tat das, was einem gesagt wurde. Man gehorchte, Punktum.
Das habe ich nie vergessen, und ich glaube, deshalb leide ich auch heute noch unter Klaustrophobie, weil ich nämlich nicht wusste, was der Tod ist. Weiß du, in meiner Familie sprach man nicht über den Tod. Man durfte das Wort nicht aussprechen. Die alten Juden spuckten immer auf den Boden, wenn sie das Wort »Tod« auf Jiddisch sagten. Ich weiß nicht, vielleicht war das Aberglaube, jedenfalls, wenn mein Vater »Tod« sagte, dann konnte man drauf wetten, dass ihm zwei Sekunden später die Spucke aus dem Mund schoss. Warum? Warum nicht! Er hätte in seinem Haus auf den Boden kotzen können, und keiner hätte irgendwas dagegen sagen können. Warum er spuckte, weiß ich nicht, aber als mein Großvater dahinging, fragte ich mich immer wieder: was ist, wenn Sejde gar nicht wirklich tot ist? Was dann? Er ist doch umzingelt von diesen vielen Toten. Was ist, wenn er noch lebt?« Lieber Gott … immer, wenn es irgendwo zu eng ist, hab ich das Gefühl, dass ich keine Luft mehr kriege und dass ich sterben muss. Deswegen sag ich euch ja immer, achtet nur ja drauf, dass ich auch wirklich tot bin, wenn ich sterbe. Tretet mich und kneift mich und seht zu, dass ich wirklich hinüber bin, denn der Gedanke, lebendig begraben zu sein, ganz zusammengepfercht dazuliegen und zu ersticken und ringsum die vielen Toten und ich bin noch am Leben, Lieber Gott, davor hab ich eine Todesangst.