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Andreas Latzko

Sieben Tage

Roman

Andreas Latzko

Sieben Tage

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962815-43-1

null-papier.de/635

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Buch – Das Geld

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

Zwei­tes Buch – Die Hand

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

Drit­tes Buch – Der Kopf

I.

II.

III.

IV.

V.

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Erstes Buch

Das Geld

I.

Die ers­ten Schat­ten des Weih­nachts­abends fie­len in das ver­rauch­te Grau der Bahn­hofs­hal­le, als der längst fäl­li­ge Ham­bur­ger Schnell­zug end­lich in Ber­lin ein­fuhr. Er schüt­te­te eine un­ge­wöhn­lich dich­te Mas­se von Rei­sen­den auf den Bahn­steig, Kauf­leu­te, die in letz­ter Stun­de vor dem Fest ih­ren Fa­mi­li­en zu­streb­ten, und ei­ni­ge hun­dert Ur­lau­ber der Ma­ri­ne, die zum An­hal­ter Bahn­hof hin­über muss­ten und, in Sor­ge um den ge­fähr­de­ten An­schluss, rück­sichts­los durch das Ge­drän­ge ru­der­ten. Baron Man­gi­en ließ die Men­ge an sich vor­bei­has­ten, be­lus­tigt von dem über­mü­ti­gen Trei­ben der Ma­tro­sen, das so an­ge­nehm von der ir­ri­tie­ren­den Bie­der­keit der zahl­rei­chen Fa­mi­li­en­vä­ter ab­stach. Er ver­trug den selbst­ver­lie­he­nen Glo­ri­en­schein, das Sich­wich­tig­neh­men die­ser Brot­ver­die­ner nicht.

Im Grun­de aber wuss­te er sehr wohl, warum ihm die­se ar­men Teu­fel so arg auf die Ner­ven gin­gen. Sie er­in­ner­ten ihn an die Sze­ne bei sei­ner Abrei­se, an den ein­zi­gen vor­wurfs­vol­len Satz, den sich sei­ne Frau, ganz ge­gen ihre Ge­wohn­heit, dies­mal hat­te ent­rei­ßen las­sen. Na­tür­lich war sie im Recht. Ohne Zwei­fel ver­brach­te je­der Durch­schnitts­mann den Hei­li­gen Abend im Krei­se sei­ner Fa­mi­lie. Aber wie tö­richt war es, hieraus die Fol­ge­rung ab­zu­lei­ten, der Ge­ne­ral­di­rek­tor und Haupt­ak­tio­när der Man­gi­en-Wer­ke müss­te sich erst recht frei­ma­chen kön­nen. Lag es nicht im Ge­gen­teil auf der Hand, dass die er­höh­te Verant­wort­lich­keit Be­schrän­kun­gen not­wen­dig mach­te? Man konn­te nicht ei­ner Fa­brik vor­ste­hen, die vier­tau­send Ar­bei­ter be­schäf­tig­te, und das Fa­mi­li­en­glück ei­nes Wirk­wa­ren­rei­sen­den be­an­spru­chen!

Der pein­li­che Au­gen­blick des Ab­schied­neh­mens, da er wie ein ver­lo­ge­ner Schul­jun­ge vor sei­ner Frau ge­stan­den, hat­te einen bit­te­ren Nach­ge­schmack zu­rück­ge­las­sen. Um ihn los­zu­wer­den, re­de­te der Baron sich ein, er sei nur aus Trotz ab­ge­reist. Ein ein­zi­ges, zärt­li­ches Wort hät­te ge­nügt, ihn zum Blei­ben zu be­we­gen. Er er­tapp­te sich bei die­sem Selbst­be­trug, als er auf den glit­schi­gen, ne­bel­feuch­ten Platz vor dem Bahn­hof hin­austrat und die Ber­li­ner Licht­re­kla­men in die Däm­me­rung rie­seln sah. Beim ers­ten Schritt in das Häu­ser­meer fie­len alle Be­den­ken und Ver­stim­mun­gen von ihm ab. Er dach­te an das lei­den­schaft­li­che Drän­gen sei­ner Ge­lieb­ten am Te­le­fon – warum hät­te er die Fle­hen­de, die sich mit Wor­ten schon die Klei­der vom Lei­be riss, ab­wei­sen sol­len sei­ner Frau zu­lie­be, die es un­ter ih­rer Wür­de fand, den Kampf auf­zu­neh­men um ih­ren Mann. Nach bald zwölf­jäh­ri­ger Ehe tat es zwölf­fach wohl, noch im­mer um­wor­ben und be­gehrt zu wer­den.

Eben woll­te er un­ge­dul­dig die Num­mer sei­nes Ge­päck­trä­gers ru­fen, da sah er ihn auch schon her­an­hum­peln, schwer be­la­den, schäu­mend ge­gen die »Blau­en Jun­gens«, die kei­nen Men­schen an ein Auto her­an­lie­ßen. In der Tat jag­te eben das letz­te Taxi, joh­len­de Ma­tro­sen auf dem Tritt­brett und selbst auf dem Ge­päcks­git­ter hin­ten, mit Voll­gas da­von, und der Baron muss­te froh sein, dass er ge­ra­de noch eine elen­de Pfer­de­drosch­ke für sich re­qui­rie­ren konn­te.

Als der vor­sint­flut­li­che Kar­ren klap­pernd los­fuhr, ver­gaß Man­gi­en Zorn und Un­ge­duld und be­dau­er­te nur, dass kein Zei­tungs­fo­to­graf bei der Hand war, den Ber­li­ner Ein­zug des größ­ten Au­to­mo­bil­fa­bri­kan­ten Deutsch­lands in ei­ner Pfer­de­drosch­ke zu ver­ewi­gen. Aber die­se hu­mo­ris­ti­sche Sei­te hör­te bald auf, ihn zu un­ter­hal­ten, da kein vor­beif­lit­zen­der Chauf­feur auf sein Win­ken und Ru­fen ach­te­te und das Abströ­men der Men­ge aus dem Stadt­zen­trum die Schne­cken­fahrt an je­der Stra­ßen­kreu­zung stopp­te. Wie ein un­er­schöpf­li­ches Re­ser­voir ent­leer­te sich das Ge­schäfts­vier­tel, beu­te­be­packt stürm­ten die Hor­den der Plün­de­rer aus der lo­dern­den Stadt.

Im of­fe­nen Wa­gen, den ru­ßi­gen, feucht­we­hen­den Ne­bel auf den Lip­pen, um­tobt und über­holt von al­len Sei­ten, ver­lor der Baron den letz­ten Rest sei­ner Ge­duld, als in dem He­xen­kes­sel vor dem Bran­den­bur­ger Tor sein Wa­gen wie ein ängst­li­cher Fuß­gän­ger ste­cken­blieb und der alte Kut­scher zwei­mal die Ge­le­gen­heit zum über­que­ren ver­säum­te.

Mehr noch als der Zeit­ver­lust är­ger­te ihn je­doch sei­ne ei­ge­ne Ge­reizt­heit. Er muss­te an sich hal­ten, um nicht aus dem Wa­gen zu sprin­gen, so laut don­ner­te ihm aus dem be­täu­ben­den Lärm der zehn­tau­send­fach wi­der­hal­len­de Vor­wurf sei­ner Frau in die Ohren. Je­der ein­zel­ne Men­schen­trop­fen in dem vor­bei­ja­gen­den Strom hat­te das glei­che Ziel, je­der eil­te heim, nur er saß ab­seits in der alt­mo­di­schen Drosch­ke, her­aus­ge­ho­ben, an­ge­pran­gert so­zu­sa­gen als der eine, der von Frau und Kin­dern fort zu der Ge­lieb­ten fuhr.

Sein Zorn mach­te sich in lau­tem Un­mut Luft und wäre viel­leicht in Tät­lich­kei­ten ge­gen den Kut­scher aus­ge­ar­tet, ohne den wei­ßen Hand­schuh des Ver­kehrs­schutz­man­nes, der eben zum drit­ten Mal die Durch­fahrt frei­gab. Ob nun der alte Mann auf dem Bock sei­ne be­lei­dig­te Be­rufs­eh­re her­stel­len oder nur sei­ne Wut an dem wehr­lo­sen Tier aus­las­sen woll­te: das arme Pferd, un­sanft aus sei­nem knie­wei­chen Dö­sen ge­ris­sen, glitsch­te aus und stürz­te auf die Deich­sel, die zer­brach.

Nach der Bum­me­lei auf der Bahn auch noch ein Un­fall! Das konn­te al­les ver­der­ben, wenn den Her­ren im Ho­tel das War­ten zu lan­ge wur­de! Die an­geb­lich wich­ti­ge Kon­fe­renz hat­te den Vor­wand für die Rei­se ge­bo­ten, das Ali­bi durf­te nicht ver­säumt wer­den. Statt erst lan­ge nach ei­nem Fahr­zeug zu fahn­den, er­such­te der Baron einen ärm­lich ge­klei­de­ten Mann, ihm das Ge­päck zum na­hen Ho­tel zu tra­gen.

Aber der Mann ge­bär­de­te sich wie ein Toll­häus­ler, sprang vor, um dem Baron aus nächs­ter Nähe un­ter den Hut zu schau­en, stieß mit dem Fuß nach den Hand­ta­schen und schrie: »Ih­nen – Ih­nen soll ich hel­fen? Tra­gen Sie sich Ihren Dreck da sel­ber!«

Man­gi­en konn­te sich nicht er­in­nern, dem Men­schen je­mals be­geg­net zu sein. An­de­re Hän­de grif­fen dienst­eif­rig zu und das Ge­sicht des Wü­te­richs tauch­te un­ter, ehe der Baron es ge­nau­er hät­te prü­fen kön­nen.

Ohne die Ver­spä­tung, die ihn zur Eile an­trieb, wäre es ihm wohl kaum ent­gan­gen, dass sein un­be­kann­ter Feind ge­gen­über dem Ho­te­lein­gang hin­ter ei­ner Lit­fass­säu­le her­vor­späh­te, ver­ächt­lich schmun­zelnd über die Ehr­furchts­be­zeu­gun­gen des her­aus­stür­zen­den Per­so­nals. Wie eine Kop­pel los­ge­las­se­ner Hun­de spran­gen die li­vrier­ten Bur­schen an dem rei­chen Gast hoch, wett­ei­fernd um die Gunst, sei­ne Ak­ten­ta­sche tra­gen zu dür­fen. Gold­be­treß­te Müt­zen flo­gen von den Köp­fen, tie­fe Bück­lin­ge be­glei­te­ten den großen Mann in die taghell strah­len­de Hal­le. Erst als der Tür­ste­her wie­der al­lein war, wag­te sich der Frem­de aus sei­nem Ver­steck her­vor, ging zö­gernd nä­her und ließ es sich be­stä­ti­gen, dass der eben an­ge­kom­me­ne Gast der rei­che Baron Man­gi­en aus Ham­burg ge­we­sen.

»Hast viel­leicht wat aus­je­fres­sen in sei­ner Fa­brik?« – er­kun­dig­te sich der Tür­ste­her, neu­gie­rig we­gen der fins­te­ren Bli­cke und des ge­häs­si­gen Tons, aber der son­der­ba­re Kauz gab über­haupt kei­ne Ant­wort, ras­te da­von und blieb erst ste­hen, als die ge­stau­te Men­ge an der nächs­ten Stra­ßen­e­cke ihn auf­hielt. Es fehl­te we­nig, und er wäre noch ein­mal um­ge­kehrt, sein Blick blieb haf­ten an dem ho­hen Dach des Ho­tels. In Ge­dan­ken ver­sun­ken, starr­te er es un­ver­wandt an, als könn­te er durch Mau­ern und Wän­de jede Be­we­gung des ver­hass­ten Geg­ners be­ob­ach­ten.

Karl Abt – so hieß der arm­se­lig ge­klei­de­te Mann mit den star­ken, ver­brauch­ten Pro­le­ta­ri­er­hän­den – war ein flei­ßi­ger Be­su­cher der Licht­spiel­thea­ter, ließ sich aber sein Geld nur aus der Ta­sche lo­cken, wenn die aus­ge­stell­ten Bil­der ele­gan­te Da­men und be­tö­rend gut ge­klei­de­te Le­be­män­ner in den ver­schie­de­nen Auf­ma­chun­gen ih­res be­weg­ten Nichts­tu­er­da­seins zeig­ten. Wie es ar­men Leu­ten ging, brauch­te er sich nicht auf der Lein­wand vor­füh­ren zu las­sen. Von Schmutz und Not, Vor­stadt­knei­pen und Zins­ka­ser­nen wuss­te er oh­ne­hin mehr, als ihm lieb war.

Als Fol­ge die­ses gründ­li­chen Stu­di­ums hat­ten sich in dem Ge­hirn des Fa­brik­me­cha­ni­kers Karl Abt un­ver­rück­bar fes­te Vor­stel­lun­gen von der Le­bens­füh­rung des rei­chen Man­nes ein­ge­nis­tet. Der An­blick ei­ner ele­gant ge­klei­de­ten Wachs­fi­gur, ein sei­de­ner Schlaf­an­zug im Schau­fens­ter ge­nüg­te, um den aus hun­dert Fil­men ge­schnit­te­nen und zu­sam­men­ge­kleb­ten Bild­strei­fen, der als Il­lus­tra­ti­on des Be­grif­fes »Wohl­le­ben« in ihm be­reit lag, au­gen­blick­lich vor sei­nem in­ne­ren Blick ab­rol­len zu las­sen.

So blitz­te jetzt, von den hell­gel­ben Rei­se­ta­schen Man­giens an­ge­kur­belt, der Film »Abrei­se des vor­neh­men Man­nes« an den ge­häs­sig fun­keln­den Au­gen vor­bei. Ein glat­tra­sier­ter Kam­mer­die­ner leg­te meh­re­re An­zü­ge mit sei­de­nem Fut­ter sorg­sam in den Kof­fer. Dann über­nahm der Chauf­feur die Ta­schen aus knir­schen­dem Schweins­le­der … Hier je­doch riss der Film jäh ab, ver­drängt von der über­ra­schen­den Fra­ge, was wohl den Frei­herrn von Man­gi­en, der in Ham­burg Frau und Kin­der und ein neu­er­bau­tes »fürst­li­ches Heim« be­saß, nach Ber­lin führ­te – am Hei­li­gen Abend?

War es über­haupt mög­lich, dass ein Mann, so reich und un­ab­hän­gig, den Weih­nachts­abend nicht im Fa­mi­li­en­krei­se ver­leb­te? Der Tür­ste­her hät­te lü­gen, sich einen Scha­ber­nack leis­ten kön­nen, aber das Bild? … Das Bild in der il­lus­trier­ten Zei­tung?

Strich für Strich er­weck­te Abt die ver­dun­kel­te Erin­ne­rung, bis das auf­ge­frisch­te Bild je­den Zwei­fel ver­jag­te. Der schmun­zeln­de Herr, mit Frau und Kin­dern auf dem Ra­sen­platz vor sei­nem neu­en Schloss fo­to­gra­fiert, war be­stimmt der­sel­be Mann, der so­eben in dem vor­nehms­ten Ho­tel Ber­lins ab­ge­stie­gen war. Was hat­te er aber hier zu su­chen, wäh­rend in Ham­burg der Christ­baum für sei­ne Kin­der an­ge­steckt wur­de? Leb­te er am Ende nicht in gu­tem Ein­ver­neh­men mit sei­ner Frau? Das Fa­mi­li­en­bild in der Zei­tung konn­te ge­stellt sein. Auch eine Art Re­kla­me.

So trost­reich es für Abt ge­we­sen wäre, den ver­hass­ten Mann un­glück­lich zu wis­sen – er schüt­tel­te doch gleich die­sen Ge­dan­ken ab, weil er sich nicht fei­ge mit Wahn­bil­dern be­sänf­ti­gen woll­te. Wen Er­bit­te­rung von da­heim ver­trieb, trug den Kopf nicht so hoch wie der Herr Baron, schritt nicht so ein­ge­näht in sei­ne Herr­lich­keit an ge­wöhn­li­chen Sterb­li­chen vor­über.

Was sonst aber konn­te – – –

Ge­schäf­te? – Un­sinn! Dem ärms­ten Mann war die­ser Abend nicht feil.

Ohne recht zu wis­sen, warum, fühl­te Abt sich bis in sein In­ners­tes auf­ge­wühlt von der Fra­ge. Wie ein Hund, der zit­ternd Wild wit­tert, stand er mit­ten im Men­schen­ge­wühl, den Blick im­mer noch an den First des fer­nen Ho­tel­pa­las­tes ge­fes­selt. An­fangs nur bei­sei­te ge­sto­ßen, im Vor­bei­ei­len an­ge­schnauzt, er­reg­te er all­mäh­lich Auf­se­hen. Der Men­schen­strom be­gann sich zu kräu­seln und la­ger­te eine In­sel von Neu­gie­ri­gen um das Ver­kehrs­hin­der­nis. Man wis­per­te und hielt ihn wohl für be­trun­ken. Wer sonst pflanz­te sich an der Ecke der Lin­den wie ein Wahr­zei­chen auf, ver­rußt und schmut­zig, als hät­te er es dar­auf ab­ge­se­hen, Är­ger­nis zu er­re­gen in dem fest­li­chen Ge­drän­ge.

Mit kräf­ti­gen Stö­ßen schaff­te er sich Raum, ru­der­te mit Schul­tern und El­len­bo­gen rasch da­von, ohne recht zu wis­sen, wo­hin. Was woll­te er mit sei­ner Zeit be­gin­nen? Die Ein­la­dung Dok­tor Land­aus lau­te­te erst auf halb acht, zum Ra­sie­ren und Um­klei­den ge­nüg­ten zwan­zig Mi­nu­ten – frü­her als nö­tig in sei­ne un­ge­heiz­te Bude zu­rück­zu­keh­ren, dräng­te es ihn wahr­haf­tig nicht, aber die ver­wünsch­te Be­geg­nung mit dem Baron hat­te ihm das Bum­meln gründ­lich ver­lei­det. Er konn­te nun kei­nen Schritt mehr tun, nir­gends ste­hen­blei­ben oder hin­schau­en, ohne an den Herrn Baron er­in­nert zu wer­den, der al­les, was in den zahl­lo­sen Schau­fens­tern ge­schich­tet lag, kau­fen konn­te.

Nein, mit die­sem Ge­dan­ken im Kop­fe war es nicht mög­lich, ru­hig durch die Stra­ßen zu schlen­dern. Al­lein in ei­ner Knei­pe zu sit­zen, war aber noch we­ni­ger ver­lo­ckend, und selbst die Aus­sicht, den gan­zen Abend mit Dok­tor Lan­dau ver­brin­gen zu müs­sen, schreck­te Abt nun so sehr, dass er am liebs­ten gleich te­le­fo­nisch sich ent­schul­digt und un­ter ir­gend­wel­chem Vor­wand ab­ge­sagt hät­te, wäre es nicht eine un­ver­zeih­li­che, ganz nie­der­träch­ti­ge Un­dank­bar­keit ge­we­sen, sei­nen Wohl­tä­ter in letz­ter Stun­de im Sti­che zu las­sen.

Ein Mann von der Bil­dung des Dok­tors hät­te leicht bes­se­re Un­ter­hal­tung fin­den kön­nen als die Ge­sell­schaft ei­nes ver­brumm­ten, un­wis­sen­den Fa­brik­ar­bei­ters. Und nun soll­te Abt ihn al­lein las­sen?

Nein!

Ent­schlos­sen schnell­te er in das Ge­drän­ge zu­rück und stieß so rück­sichts­los um sich, als hät­te es un­ter all den Ei­li­gen kein an­de­rer so ei­lig ge­habt wie er. Nur fort, fort aus der Nähe der Ver­su­chung! – An je­der Ecke über­fiel ihn neu die Angst, er könn­te doch noch um­keh­ren und vor dem Ho­tel den Baron an­pö­beln. Auf der Flucht vor sich selbst er­reich­te er durch fins­te­re Ne­ben­gäss­chen den Schle­si­schen Bahn­hof und press­te sich in den ers­ten ost­wärts fah­ren­den Stadt­bahn­zug.

Wie eine Kom­pres­se kühl­te die Schwär­ze vor dem Fens­ter des Ab­teils sei­ne licht­mü­den Au­gen. Er ruh­te aus von Lärm und Eile und wäre auch ein­ge­nickt, hät­te er nur die läs­ti­ge, stör­risch wie­der­keh­ren­de Fra­ge ver­scheu­chen kön­nen:

»Wa­rum hat­te der Baron sein Haus ver­las­sen? Wa­rum ver­leb­te er die­sen Abend im Ho­tel?«

»Wa­rum?«

II.

Der Baron hat­te sich an den Her­ren vor­bei­steh­len müs­sen, die ihn längst in der Hal­le er­war­te­ten; viel drin­gen­der als die an­geb­lich wich­ti­ge Kon­fe­renz war ihm ein Te­le­fon­ge­spräch mit Mimi. Er woll­te hö­ren, ob al­les pro­gramm­ge­mäß ver­lau­fen, Gat­te und Sohn rich­tig ab­ge­reist und alle Vor­sichts­maß­nah­men ge­trof­fen wa­ren.

Da fiel der Auf­tritt am Bran­den­bur­ger Tor ihm ein. Wäre der Ge­dan­ke nicht so un­sym­pa­thisch, bei­na­he wi­der­wär­tig ge­we­sen, den Freund un­ter dem ei­ge­nen Dach, auf dem ei­ge­nen La­ger zu be­trü­gen – in der hei­li­gen Christ­nacht noch dazu – hät­te Man­gi­en sich kei­nen Au­gen­blick mit dem lä­cher­li­chen Pro­blem be­schäf­tigt, warum er auf die Sym­pa­thie ei­nes un­be­kann­ten Pro­le­ten ver­zich­ten muss­te. Auch so schüt­tel­te er die Be­den­ken rasch ab – warum soll­te er sich die Freu­de ver­der­ben, da ihn kei­ne Verant­wor­tung traf? Mimi selbst hat­te die Zu­sam­men­kunft an­ge­regt – auch die »wich­ti­ge Kon­fe­renz« war ihr Ein­fall, und die Schuld trug al­lein Bodo. Wa­rum hat­te er sei­ne Frau über Weih­nach­ten al­lein ge­las­sen? Sonst schlepp­te er sie auf alle Ge­schäfts­rei­sen mit, hing so fest an ih­ren Rö­cken, dass sie ihm un­ter tau­send Schwie­rig­kei­ten die Zeit für je­des has­ti­ge Schä­fer­stünd­chen ab­lis­ten muss­te, und ge­ra­de dar­um hat­te sie sich mit sol­cher Ve­he­menz auf die un­ver­hoff­te Ge­le­gen­heit ge­stürzt, ein­mal ohne Angst vor dem Uhr­zei­ger zwei gan­ze Näch­te »frei« zu sein.

Auf dem Schreib­tisch lag die Mit­tei­lung der Ho­tel­te­le­fo­nis­tin, es sei zwei­mal be­reits, um sieb­zehn Uhr zwölf und um sieb­zehn Uhr sechs­und­zwan­zig nach dem Herrn Baron ge­fragt wor­den. Das konn­te nur Mimi sein. Sie rech­ne­te nicht mit der Ver­spä­tung und zit­ter­te schon, er könn­te zu­letzt doch nicht los­ge­kom­men und da­heim ge­blie­ben sein.

Es be­rei­te­te dem Baron Ver­gnü­gen, sie noch ein we­nig zap­peln zu las­sen, wäh­rend er sich im Ba­de­zim­mer die Hän­de wusch und, vom Haus­die­ner as­sis­tiert, rasch die Klei­der wech­sel­te. Er wuss­te nur zu gut, wie tief er hin­ab­stieg, wenn er sei­ne Frau mit dem »Lu­der­chen« hin­ter­ging, das die gute Mimi ohne alle Zwei­fel war.

Aber für zwei heim­li­che Lie­bes­näch­te taug­te am bes­ten ein »Lu­der­chen«. Was konn­te die arme Mimi letz­ten En­des da­für, dass ein un­wan­del­ba­res Na­tur­ge­setz die frosch­blü­tigs­ten, lang­wei­ligs­ten Män­ner vom Schla­ge Bodo Bren­kens ge­ra­de zu den tem­pe­ra­ment­volls­ten, ab­wechs­lungs­be­dürf­tigs­ten »Lu­der­chen« hin­zog? Eine sol­che Frau hei­ra­ten und dann auch noch al­lein in Ber­lin zu­rück­las­sen, der acht­zig­jäh­ri­gen Mut­ter zu­lie­be, so­viel Ein­falt er­for­der­te Süh­ne.

Das spöt­ti­sche Schmun­zeln Man­giens ver­schwand beim Ein­tritt des Boys, der im Auf­trag der Her­ren Jus­tiz­rat Ril­la und Di­rek­tor Krü­ger ins Zim­mer spreng­te mit der Mel­dung: es sei gleich sechs, und aus Rück­sicht auf den Hei­li­gen Abend un­mög­lich, den Be­ginn der Kon­fe­renz noch län­ger hin­aus­zu­schie­ben.

Dass sie ihm nicht da­von­lau­fen wür­den, auch nicht, wenn er sie bis sie­ben war­ten lie­ße, wuss­te der Baron ge­nau. Es war durch­aus nicht blo­ßer Zu­fall, dass er ge­ra­de die­se bei­den Na­men aus der Lis­te sei­ner Auf­sichts­rä­te her­aus­ge­sucht hat­te: die bei­den, das stand un­er­schüt­ter­lich fest, konn­te kein Christ­fest und kein To­des­fall ab­hal­ten, wenn es ums Geld­ver­die­nen ging. Von den un­ters­ten so­zia­len Spros­sen, mit Kral­len und Zäh­nen, Bück­lin­gen und Fuß­trit­ten em­por­ge­langt, hass­ten sie je­den, der ohne Pla­ge und Er­nied­ri­gung auf die Spit­ze der Lei­ter hin­auf­ge­bo­ren war. Ob höf­lich oder un­höf­lich, ob er sie war­ten ließ oder nicht, für die­se bei­den blieb er im­mer das ver­ächt­li­che Va­ter­söhn­chen. Wa­rum soll­te er ih­nen nicht Zeit las­sen, ihre Gal­le aus­zu­spei­en?

Auf der Fahrt von Ham­burg nach Ber­lin hat­te der Baron einen schlau­en Kriegs­plan aus­ge­heckt: er woll­te sei­ne An­kunft Mimi of­fi­zi­ell be­kannt­ge­ben, durch den Die­ner bei der Haus­frau an­fra­gen las­sen, ob er als Tisch­gast er­wünscht sei. So gab er Mimi un­auf­fäl­lig Nach­richt und bau­te al­len Ver­däch­ti­gun­gen vor – nur die ver­damm­te Pfer­de­drosch­ke hat­te ihm einen Strich durch die Rech­nung ge­macht. Für den »Sprung« in den Spiel­wa­ren­la­den war es zu spät ge­wor­den, als an­ge­sag­ter Gast muss­te er Mi­mis Kin­der un­be­dingt be­schen­ken, er ver­such­te es mit ei­nem te­le­fo­ni­schen Auf­trag, und sein Name übte die ge­wohn­te Zau­ber­kraft. Der In­ha­ber ver­pfän­de­te dem Herrn Baron sein Wort, für recht­zei­ti­ge Zu­stel­lung zu sor­gen, und wenn er selbst im Taxi mit den Wa­ren in die Vil­la Bren­ken fah­ren müss­te!

Der zwei­te An­ruf fiel we­ni­ger glück­lich aus, statt des Die­ners kam gleich Mimi an den Ap­pa­rat, und der Ton­fall ih­rer Be­grü­ßung ver­riet, dass sie nicht al­lein im Zim­mer war.

»Gib acht, was ich sage, Lieb­ling!« – in­stru­ier­te sie der Baron. – »Ich fra­ge dich jetzt, ob ich mor­gen bei euch zu Mit­tag es­sen darf – nach­her sagst du mir, dass Bodo mit dem Jun­gen nach Bren­ken­burg ge­fah­ren ist und dei­ne Klei­ne mit Fie­ber zu Bett liegt.«

Sie führ­te den Auf­trag aus und rief un­mit­tel­bar an­schlie­ßend, als wehr­te sie sein Be­dau­ern ab: »Es ist nicht so schlimm, wirk­lich nicht so schlimm, Baron! Ich gehe mit ei­nem gu­ten Buch zu Bett, den Leu­ten habe ich das Gram­mo­phon ge­borgt, die wer­den tan­zen und ge­nau so ver­gnügt sein, als wäre auch die Kat­ze aus dem Hau­se.«

Man­gi­en lä­chel­te be­frie­digt. Kü­che und Die­ner­schafts­räu­me la­gen im Sou­ter­rain, mit den Fens­tern nach dem Gar­ten; wur­de auch noch ge­tanzt und Mu­sik ge­macht, so konn­te man vor­ne aus und ein ge­hen, wie man woll­te – Mimi ver­stand sich dar­auf, alle Mög­lich­kei­ten zu nüt­zen – der arme Bodo war ihr, weiß Gott, nicht ge­wach­sen.

»Pass auf, Schatz!« – rief er zwin­kernd, als könn­te sie sei­nen Ge­sichts­aus­druck se­hen – »ich wer­de jetzt die Stun­den zäh­len, von Mit­ter­nacht zu­rück. Du rufe nur ›Ja‹, da­mit ich weiß, wann ich kom­men soll. Also: Zwölf, elf, zehn – nun? Halb zehn? – Nein, hör mal! Noch frü­her wäre Leicht­sinn! Ge­gen halb zehn also. Und den Schlüs­sel wie be­spro­chen, nicht wahr?«

Ein Weil­chen blieb er noch vor dem Ap­pa­rat sit­zen, dann griff er seuf­zend nach der Ak­ten­ta­sche und er­teil­te Auf­trag, die Her­ren her­auf­zu­füh­ren.

Viel schlim­mer, als der Baron ver­mu­ten konn­te, war sei­ne »Un­ver­fro­ren­heit«, am Weih­nachts­abend eine Be­spre­chung an­zu­set­zen, von den bei­den War­ten­den kri­ti­siert wor­den. Be­son­ders Di­rek­tor Krü­ger, Be­sit­zer von Farb­wer­ken, die mit großen Lie­fe­run­gen an dem Un­ter­neh­men Man­giens in­ter­es­siert wa­ren, zap­pel­te ru­he­los zwi­schen den großen Le­der­stüh­len der Hal­le um­her und spar­te nicht mit Kraft­aus­drücken. In re­gel­mä­ßi­gen Zwi­schen­räu­men riss er sei­ne gol­de­ne Uhr her­vor, mit der Dro­hung, kei­ne Se­kun­de län­ger zu war­ten. Jus­tiz­rat Ril­la zuck­te nur die Ach­seln und lä­chel­te sein sau­res, eis­kal­tes Lä­cheln.

»Gön­nen Sie dem Mann doch sein Ver­gnü­gen! Wel­ches Hoch­ge­fühl, an­de­re an­ti­cham­brie­ren zu las­sen, wenn man von Vä­tern ab­stammt, die sich näch­te­lang auf dem Bock die Bei­ne ab­frie­ren muss­ten, wäh­rend ihre Her­ren am Kar­ten­tisch sa­ßen. Das wel­sche Kut­scher­blut mel­det sich, voilà.«

»Kut­scher­blut? – Der Baron Man­gi­en?« – staun­te auf­strah­lend Di­rek­tor Krü­ger und hör­te au­gen­blick­lich zu tän­zeln auf. »Ist das rich­tig? – Von Kut­schern?«

»Das wis­sen Sie nicht? Stamm­va­ter Man­gin, ohne e, mit dem fran­zö­si­schen Na­sal­laut ge­spro­chen, ist auf dem Bock ei­ner gräf­li­chen Kut­sche nach Ham­burg ge­kom­men, als die Ari­sto­kra­ten von drü­ben vor der Guil­lo­ti­ne da­von­lie­fen. Genau wie un­se­re rus­si­schen Emi­gran­ten, hat­te auch der Mar­quis oder Vi­com­te nur mit ei­nem klei­nen Aus­flug ge­rech­net, muss­te aber bald Pfer­de und Wa­gen an sei­nen ei­ge­nen Kut­scher ver­kau­fen. Für die Han­sea­ten war eine Fahrt in der gold­strot­zen­den, weich fe­dern­den fran­zö­si­schen Ka­ros­se eine Sen­sa­ti­on, das Ge­schäft flo­rier­te, und der schlaue Fran­zo­se ver­leg­te sich auf das Fa­bri­zie­ren ähn­li­cher Ka­ros­sen, auf Halb­part mit ei­nem Ham­bur­ger Wa­gen­bau­er, den er na­tür­lich hin­aus­warf, als er ihn nicht mehr nö­tig hat­te. Na und, was Kon­junk­tur heißt, braucht Ih­nen ja nicht er­klärt zu wer­den. Fünf­zehn Jah­re lang hetz­te Na­po­le­on sei­ne Of­fi­zie­re und Mi­nis­ter durch Eu­ro­pa – man wohn­te und schlief auf der Land­stra­ße. Als der Wie­ner Kon­gress end­lich Ord­nung ge­schaf­fen, reis­te der alte Mar­quis auf Kos­ten sei­nes Kut­schers nach Frank­reich, der Kut­scher blieb in dem präch­ti­gen Pa­tri­zi­er­haus, das er aus dem Zu­sam­men­bruch für sich her­aus­ge­fischt hat­te, und schrieb fort­an sei­nen Na­men mit dem deut­schen ›ie‹. Mehr noch als sein Reich­tum war die Nase wert, die alle Nach­kom­men von ihm erb­ten. Der En­kel warf sich auf Wag­g­ons und Lo­ko­mo­ti­ven, wie dann der Va­ter un­se­res jet­zi­gen Herrn und Ge­bie­ters als ers­ter in Deutsch­land die Zu­kunft des Mo­tors ge­ro­chen hat. Zwi­schen­durch be­scher­te der Wag­gon­be­darf des Krie­ges Anno 70 den fran­zö­si­schen Kut­scherssöh­nen das Frei­herrn­wap­pen, und wenn heu­te der Herr Vi­com­te oder Mar­quis von da­zu­mal den Uren­kel sei­nes Leib­kut­schers spre­chen woll­te, müss­te er auch hier un­ten an­ti­cham­brie­ren – ganz wie wir.«

Mit ge­spitz­ten Lip­pen hat­te Di­rek­tor Krü­ger die Ge­schich­te der kom­pro­mit­tie­ren­den Ab­stam­mung, wie ein er­göt­zen­des Ge­tränk, in sich ein­ge­schlürft. tief be­glückt von der Ver­hei­ßung, den glü­hend be­nei­de­ten Baron mit An­spie­lun­gen auf Peit­schen­schäf­te und Po­stil­lons­tie­fel meu­cheln zu kön­nen. Er hät­te vor Freu­de bei­na­he ver­ges­sen, sich wei­ter über das lan­ge War­ten auf­zu­re­gen, wäre nicht der große Zei­ger der elek­tri­schen Uhr im­mer hö­her ge­rückt.

»Sechs Uhr!« – herrsch­te er wü­tend den Jus­tiz­rat an – »wie lan­ge wol­len Sie denn ei­gent­lich war­ten? Wir sind doch nicht sei­ne La­kai­en! Fah­ren wir ein­fach heim und fer­tig!«

Dr. Ril­la wand­te sich ver­ächt­lich ab, ohne die Auf­for­de­rung ei­ner Ant­wort zu wür­di­gen. Ger­ne hät­te er sich den Spaß ge­leis­tet, auf den Vor­schlag Krü­gers ein­zu­ge­hen, aber der gute Mann dach­te ja nicht dar­an, einen so mäch­ti­gen Kom­mit­ten­ten wie Man­gi­en wirk­lich vor den Kopf zu sto­ßen. Ge­we­se­ner Korps­stu­dent mit de­ko­ra­tiv zer­sä­bel­tem Ge­sicht, hat­te der Jus­tiz­rat früh ge­lernt, dass al­les be­zahlt wer­den muss­te; die Fra­ge war nur, ob die Ware den Preis wert sei. Es tat ja auch nicht ge­ra­de wohl, von den eins­ti­gen Korps­brü­dern ge­schnit­ten zu wer­den, weil man die ge­tauf­te Toch­ter des all­mäch­ti­gen Bankju­den Ge­heim­rat Lan­dau ge­hei­ra­tet hat­te und mit dem be­rüch­tig­ten Stän­ke­rer und Ehren­pro­le­ten Dr. Hein­rich Lan­dau ver­schwä­gert war. Wer aber mit noch nicht vier­zig Jah­ren Syn­di­kus1 des größ­ten Ban­ken- und In­dus­trie­kon­zerns sein woll­te, muss­te die­se Unan­nehm­lich­kei­ten mit in Kauf neh­men.

Den Herrn Di­rek­tor brach­te die­se Gleich­gül­tig­keit im­mer noch mehr aus dem Häu­schen.

»Als Kut­schers­sohn könn­te der Herr Baron we­nigs­tens auf un­se­re Chauf­feu­re Rück­sicht neh­men! Mei­ner ist ver­hei­ra­tet, es ist nicht kol­le­gi­al …«

»Schi­cken Sie Ihren Wa­gen ru­hig fort«, fiel der Jus­tiz­rat ein, »mein Chauf­feur bringt Sie nach Hau­se.«

»Wie denn das? Sie woh­nen doch im Gru­ne­wald! Ich kann Ih­nen nicht zu­mu­ten, jetzt noch …«

Dr. Ril­la wink­te un­ge­dul­dig ab: »Ich muss oh­ne­hin noch in die Stadt, zu mei­nem Schwa­ger. Sie set­zen mich nur am Gen­darmen­markt ab, das kos­tet Sie kei­ne fünf Mi­nu­ten, und mir ist es gleich, ob der Wa­gen mich un­ten er­war­tet oder eine Fahrt macht un­ter­des­sen.«

Di­rek­tor Krü­ger trat un­ent­schlos­sen von ei­nem Fuß auf den an­de­ren, sei­ne klei­nen Äug­lein tanz­ten neu­gie­rig über das stei­ner­ne Ge­sicht Ril­las.

»Ihr Schwa­ger? Ist das etwa der Bru­der Ih­rer Frau Ge­mah­lin? Der Dok­tor Lan­dau? Soll ein son­der­ba­rer Hei­li­ger sein. So ’ne Art Pro­le­ta­ri­er­hei­land. – Wie?« Das von Schmis­sen ge­schmück­te Ge­sicht Ril­las blieb un­durch­dring­lich. »Mehr son­der­bar als hei­lig«, gab er tro­cken zur Ant­wort, nicht ge­neigt, der bos­haf­ten Klatsch­sucht Krü­gers mit nä­he­ren Ein­zel­hei­ten zu die­nen. Was aus den Zei­tun­gen über die Re­den und Ta­ten Dr. Hein­rich Land­aus be­kannt war, ge­nüg­te vollauf.

Wie ein Fox­ter­ri­er um einen Igel, tän­zel­te der di­cke, klei­ne Di­rek­tor um die un­an­tast­ba­re Stach­lig­keit des Jus­tiz­ra­tes, red­lich be­müht, mit takt­lo­sen An­spie­lun­gen und ge­heu­chel­tem Be­dau­ern auf eine durch­läs­si­ge Stel­le in der Pan­ze­rung zu sto­ßen. Aber Ril­la ver­leug­ne­te den Schwa­ger nicht, die­ser Schand­fleck war in dem Kauf­preis sei­ner Kar­rie­re mit in­be­grif­fen. Der Bru­der sei­ner Frau, Dr. Hein­rich Lan­dau, war ein Narr – er be­frei­te Pro­le­ta­ri­er­frau­en von un­er­wünsch­tem Kin­der­se­gen und hat­te den ge­ehr­ten Na­men sei­nes Va­ters durch die Ge­richts­saal­ru­brik al­ler Zei­tun­gen ge­schleift – was wei­ter? Das al­les war stadt­be­kannt, Herr Krü­ger durf­te sich den Schna­bel dar­an wet­zen. Wal­de­mar Ril­la hielt still, wie auf dem Men­sur­bo­den, bis der Geg­ner, von der un­durch­sich­ti­gen Höf­lich­keit ver­lockt, sich zu weit vor­wag­te:

»Ich fin­de es merk­wür­dig, dass Ihr Herr Schwie­ger­va­ter den un­be­que­men Sohn nicht längst un­schäd­lich ge­macht hat. Nach der Brandre­de im Ge­richts­saal wäre es ei­nem Man­ne mit sei­nen Ver­bin­dun­gen doch ein leich­tes ge­we­sen …«

Wie ein gu­ter Fech­ter im rich­ti­gen Mo­ment die Pa­ra­de durch­schlägt, hol­te der Jus­tiz­rat nun mit ei­si­ger Ruhe zu ei­nem wohl­be­rech­ne­ten »Durch­zie­her« aus: »Aber, ich bit­te Sie«, rief er bei­na­he herz­lich, »was kön­nen mei­nem Schwie­ger­va­ter sol­che Tor­hei­ten an­ha­ben? Je­der an­stän­di­ge Mensch zieht vor dem Na­men Ge­heim­rat Land­aus den Hut. Nur schä­bi­ger, ge­mei­ner Neid wird das un­ge­heu­re Le­bens­werk des Va­ters über dem ver­rück­ten Trei­ben des Soh­nes ver­ges­sen – statt um­ge­kehrt.«

Eine Ohr­fei­ge von sol­cher nicht all­täg­li­cher Do­sie­rung still­schwei­gend ein­zu­ste­cken, wäre selbst ei­nem ab­ge­här­te­ten Käm­pen wie Di­rek­tor Krü­ger nicht leicht ge­wor­den, hät­te nicht, wie auf Stich­wort, ein Boy die Mel­dung ge­bracht, der Herr Baron las­se bit­ten.


  1. Rechts­bei­stand  <<<

III.

Jus­tiz­rat Ril­la fand die Woh­nungs­tür sei­nes Schwa­gers un­ver­sperrt, ein Zei­chen, dass die »Or­di­na­ti­on« noch nicht be­en­det war. Er hät­te es un­ter Um­stän­den zwar vor­ge­zo­gen, auf dem kal­ten Flur zu war­ten, über­zeug­te sich aber, dass kein so­ge­nann­ter Pa­ti­ent im War­te­zim­mer saß, und pen­del­te zwi­schen Türe und Fens­ter auf und ab, ängst­lich be­sorgt, ja nicht die Stüh­le zu strei­fen, die als ein­zi­ge Mö­bel rings­um an den Wän­den stan­den. Es emp­fahl sich, mit den Kli­en­ten, die hier­orts ver­kehr­ten, nicht ein­mal mit­tel­bar in Berüh­rung zu kom­men.

Das Knar­ren des Fuß­bo­dens muss­te auch im Or­di­na­ti­ons­zim­mer hör­bar sein, denn die Türe wur­de plötz­lich ge­öff­net und in dem schma­len Spalt er­schi­en das blas­se, ma­ge­re Ge­sicht Dr. Land­aus. Er späh­te mit sei­nen kurz­sich­ti­gen Au­gen in den man­gel­haft be­leuch­te­ten Raum und rief ohne Gruß: »Sind Sie’s, Abt? Nur fünf Mi­nu­ten! Ich bin so­fort fer­tig.« Dann ver­schwand sein läng­li­cher Kahl­kopf hin­ter der zu­schnap­pen­den Tür.

Der Jus­tiz­rat wieg­te spöt­tisch den Kopf. Das war wie­der ein­mal der un­ver­fälsch­te Hein­rich Lan­dau! Sprach zu ei­nem Men­schen, der gar nicht im Zim­mer war – wie er im­mer und über­all sei­ne Hirn­ge­spins­te für die Wirk­lich­keit hielt und die Rea­li­tät vor­nehm igno­rier­te. Die­se wi­der­spruchs­vol­le Exis­tenz, dem er­folg­rei­chen, ziel­si­che­ren Le­ben des Va­ters als un­wür­di­ge Fort­set­zung an­ge­hängt, er­in­ner­te den Jus­tiz­rat an die Theo­rie, die er ein­mal ir­gend­wo ge­le­sen hat­te: das Ju­den­tum sei kei­ne erns­te Ge­fahr für den Ge­sell­schafts­kör­per, weil es ge­gen sei­nen bru­ta­len Raub­tier­hun­ger nach Geld zu­gleich das An­ti­to­xin im Blu­te tra­ge. Längs­tens die drit­te, vier­te Ge­ne­ra­ti­on – so hieß es – schied er­schöpft aus dem Kampf um Macht und Be­sitz, rasch ge­sät­tigt und weh­lei­dig, zu­frie­den, in ir­gend­ei­ner brot­lo­sen Kunst fried­lich das Le­ben zu ver­spie­len.

Für den ku­rio­sen Fall Dr. Hein­rich Land­aus lie­fer­te aber auch die­se ge­wag­te Hy­po­the­se kei­ne Er­klä­rung, hielt er sich doch für stark ge­nug, an der be­ste­hen­den Wel­t­ord­nung zu rüt­teln. Al­les, was er tat, ent­behr­te der Fol­ge­rich­tig­keit – er selbst stand sich über­all im Wege. Nicht aus phi­lo­so­phi­scher Ge­nüg­sam­keit haus­te er wie ein mo­der­ner Dio­ge­nes zwi­schen kah­len Wän­den. Der ein­zi­ge Sohn des rei­chen Bank­prä­si­den­ten Lan­dau hat­te nie ge­nug Geld, sei­ne be­schei­dens­ten Wün­sche zu er­fül­len, weil er drau­ßen in den Elends­quar­tie­ren der Mil­lio­nen­stadt Tag für Tag auf Men­schen mit drin­gen­de­ren Be­dürf­nis­sen stieß.

Mit ei­nem Fünk­chen ge­sun­den Men­schen­ver­stan­des hät­te er sich die fet­tes­ten Stel­len ver­schaf­fen kön­nen, um von ei­nem großen Ein­kom­men ein Heer von Ar­men­ärz­ten so­wie Ge­bär­kli­ni­ken, Kin­derkrip­pen, Tu­ber­ku­lo­sen­hei­me zu un­ter­hal­ten. Statt so im großen Sti­le zu hel­fen, zog er es vor, sei­ne schä­bi­ge Wohl­tä­tig­keits­greiß­le­rei not­dürf­tig in Gang zu hal­ten, im­mer in Geld­ver­le­gen­heit, im­mer un­ter­wegs und ab­ge­hetzt, nicht ein­mal be­frie­digt von den Re­sul­ta­ten sei­nes lä­cher­li­chen Kamp­fes ge­gen die un­er­schöpf­li­che Not der Groß­stadt. Der Reich­tum des Va­ters galt ihm nicht für »red­lich« ver­dient, nur sein müt­ter­li­ches Erbe, vor sei­ner Ge­burt auf ihm un­be­kann­te Wei­se er­wor­ben, soll­te ihn mit al­len sei­nen Schma­rot­zern er­hal­ten.

Für Jus­tiz­rat Ril­la be­deu­te­te die­se Prin­zi­pi­en­treue großen Ge­winn, die Mil­lio­nen, die sein Schwa­ger aus­schlug, flos­sen sei­ner Frau und sei­nen Kin­dern zu – ein an­sehn­li­cher Pro­fit, den des Schick­sals Lau­ne als Ge­schenk be­scher­te.

Nur eine Furcht trüb­te die­se rei­ne Freu­de: der Schwa­ger konn­te von heu­te auf mor­gen sei­ne An­sich­ten än­dern, plötz­lich die ent­ge­gen­ge­setz­te Mei­nung ver­tre­ten, das »sün­di­ge« Ver­mö­gen des Va­ters müs­se durch große Stif­tun­gen in die Hän­de je­ner zu­rück­ge­lei­tet wer­den, die es auch wirk­lich »er­ar­bei­tet« hat­ten. Wer wür­de dann sol­chem Un­glück zu steu­ern ver­mö­gen?

Auf den al­ten Herrn, so stramm er an­sons­ten die Zü­gel noch in Hän­den hielt, war in die­ser Fra­ge kein Ver­lass. Als Va­ter war er der rich­ti­ge, sen­ti­men­ta­le Jude, be­reit zu je­dem Op­fer, wenn nur sein viel­ge­lieb­ter Herr Sohn sich her­beiließ, zu ihm zu­rück­zu­keh­ren. Ein auf­rech­ter deut­scher Va­ter hät­te sein Haus mit der Hetz­peit­sche ver­tei­digt ge­gen den un­ge­ra­te­nen Er­ben, statt Ver­mitt­ler zu su­chen, die »heim­lich« trach­ten soll­ten, den ver­lo­re­nen Sohn heim­zu­brin­gen. Und ge­ra­de das hei­li­ge Christ­fest war als Rah­men ge­wählt wor­den für die sen­ti­men­ta­le jü­di­sche Fa­mi­li­en­sze­ne! So zu­wi­der Wal­de­mar Ril­la eine sol­che Ge­fühl­san­ge­le­gen­heit auch war, sei­ne Frau hat­te ihn doch leicht zu der Mis­si­on über­re­den kön­nen. Eine wirk­li­che Ge­fahr, der stren­ge Herr Sohn könn­te sich er­wei­chen las­sen, droh­te nicht. Ein Se­ne­gal­ne­ger und ein Es­ki­mo leb­ten in we­ni­ger ver­schie­de­nen At­mo­sphä­ren als der Herr Ge­heim­rat und der Dok­tor Lan­dau. Der Alte glitt in sei­nem Auto wie in ei­nem Tauch­boot durch die Stadt, von der Vil­la zur Bank und von der Bank zur Vil­la; die Men­schen­mas­sen, die er durch­quer­te, wa­ren ihm nicht mehr als dem Per­len­fi­scher das Meer, in das er mit an­ge­hal­te­nem Atem hin­ab­stößt nach Beu­te. Wie soll­te der Sohn, der das Geld ver­ach­te­te und die Men­schen lieb­te, in die Glet­scher­re­gi­on des Va­ters zu­rück­fin­den? Ein der­art ri­si­ko­frei­es Un­ter­neh­men, das nur dem Schwie­ger­pa­pa eine Dan­kes­schuld auf­hals­te, war durch­aus nach dem Ge­schma­cke Ril­las. For­de­run­gen an den Prä­si­den­ten der Deut­schen Bo­den­bank ver­zins­ten sich glän­zend. Ge­müt­sein­la­gen be­son­ders. In der Ver­rech­nung mit Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen dul­de­te der alte Herr kein De­bet­sal­do.

Es ge­sch­ah also durch­aus nicht aus Un­ge­duld, dass Ril­la nä­her an das Or­di­na­ti­ons­zim­mer her­an­rück­te. Er hat­te Zeit, war es nur müde, über den knar­ren­den Par­kett­bo­den zu spa­zie­ren, und horch­te neu­gie­rig an der Tür. Gera­de klirr­te ein In­stru­ment in die Stil­le – dann sag­te der Dok­tor ei­ni­ge Wor­te, wur­de un­ter­bro­chen von dem wei­ner­li­chen, mo­no­ton gur­geln­den Ge­mur­mel ei­ner Frau­en­stim­me.

Über­zeugt, es sei nur Karl Abt im War­te­zim­mer, wid­me­te sich Dok­tor Lan­dau mit der ge­wohn­ten Gründ­lich­keit dem aus­ge­mer­gel­ten, er­schre­ckend ver­brauch­ten Weib, das halb­nackt, wie es vom Un­ter­su­chungs­tisch her­ab­ge­stie­gen war, sei­ne Lei­den klag­te.

»Zie­hen Sie sich erst an! Nach­her spre­chen wir wei­ter.«

Dem ver­zo­ge­nen Mund der Frau ent­fuhr ein Stöh­nen, sie warf sich vor und starr­te dem Dok­tor ins Ge­sicht, von der Angst ge­packt, dass er sie nur ver­trös­ten woll­te. Nach lan­gem, nutz­lo­sen Wü­ten ge­gen den ei­ge­nen Leib, von Ärz­ten und Heb­am­men wie ein räu­di­ges Tier ver­jagt, war ihr von ei­ner mit­lei­di­gen See­le die Adres­se des Dok­tor Lan­dau zu­ge­raunt wor­den. Sein Ge­sichts­aus­druck schi­en ihr ver­hei­ßungs­voll, und sie hät­te sich auf sei­ne her­ab­hän­gen­den Hän­de ge­stürzt, die En­den sei­nes wei­ßen Lei­nen­kit­tels ge­küsst, wäre er nicht auf sei­ner Hut ge­we­sen.

»Zie­hen Sie sich an, zum Don­ner­wet­ter! Man war­tet ja drau­ßen!« schimpf­te er mit ge­küns­tel­ter Wut, aber sei­ne Au­gen, ver­le­gen ab­seits ir­rend, straf­ten sei­nen Zorn Lüge. Wie von der­sel­ben Ma­schi­ne ge­stanzt, die schon Hun­der­te ih­rer Pro­duk­te auf das Wachs­tuch sei­nes Un­ter­su­chungs­ti­sches ge­wor­fen hat­te – sah er die schlot­tern­de, er­schöpf­te Krea­tur vor sich ste­hen, die schlaf­fen Brüs­te mit ver­narb­ten Wun­den be­sät, zer­bis­sen von dem be­tro­ge­nen Hun­ger der Kin­der, die aus Spar­sam­keit mög­lichst lan­ge an der Brust be­hal­ten wur­den, weil nur die ver­geu­de­te Le­bens­kraft die Wo­chen­rech­nung beim Krä­mer nicht er­höh­te. Nur was dem ei­ge­nen Kör­per ab­ge­lis­tet und aus­ge­presst wur­de, muss­te am Löh­nungs­ta­ge nicht be­zahlt wer­den. Er­schüt­tert wand­te sich der Dok­tor ab und flüch­te­te zu dem Kind, das für die Dau­er der Un­ter­su­chung vor das Fens­ter ver­bannt wor­den war. Dort stand es reg­los, kei­nen Zug von Neu­gier­de im alt­klu­gen Ge­sicht­chen, so un­be­tei­ligt, als hät­te es die Mut­ter nicht wim­mern und fle­hen ge­hört hin­ter sich.

Was muss­te ein sie­ben­jäh­ri­ges Mäd­chen schon ge­hört und er­lebt ha­ben, um gar nicht mehr dar­auf zu ach­ten, was im glei­chen Zim­mer zwi­schen den Er­wach­se­nen vor­ging? Auch die­ses ver­hun­ger­te klei­ne Ding wuchs un­auf­halt­sam dem Schick­sal der Mut­ter ent­ge­gen, schon blitz­te Feind­schaft aus den ver­wil­der­ten Au­gen und das zer­zaus­te Köpf­chen ent­zog sich miss­trau­isch der frem­den Hand, die teil­nahms­voll über den sträh­ni­gen Schei­tel strich. Wo­her soll­te das Kind auch wis­sen, was Lieb­ko­sun­gen wa­ren? Es kam von dort, wo der Kampf ums Da­sein Bru­der ge­gen Bru­der stellt, der Äl­te­re nur auf Kos­ten des Jün­ge­ren sich sät­ti­gen kann. Und da­mit nun noch ein sie­ben­tes hung­ri­ges Kind die Ge­schwis­ter ver­kür­ze, soll­te der Un­glück­li­chen da hin­ten noch eine Ge­burt auf­er­legt, ih­rem aus­ge­wei­de­ten, zer­fez­ten Leib noch ein Le­ben ent­ris­sen wer­den?

Den Blick ver­lo­ren im Ne­bel, der am Fens­ter vor­bei­zog, ver­glich Dok­tor Lan­dau die Här­te ei­nes To­des­ur­teils, das Siech­tum, To­des­furcht und Qual auf Stun­den und Se­kun­den re­du­ziert, mit der Grau­sam­keit, die ein schuld­lo­ses We­sen zu le­bens­läng­li­chem Le­ben ver­damm­te, ver­schärft mit Hun­ger, har­ter Ar­beit, har­tem La­ger, und als ein­zi­ger Weg in die Frei­heit den Tod. Wie konn­te man das ge­hetz­te Men­schen­tier von der Schwel­le ja­gen, den Le­bens­keim in ih­rem Lei­be nicht be­gna­di­gen, mit Be­ru­fung auf Pf­licht und Ge­wis­sen?

»Ge­wis­sen?« – knurr­te der Dok­tor halb­laut vor sich hin, aber der Zischlaut in der Mit­te des Wor­tes schlug an das Ohr der ängst­lich lau­ern­den Frau und traf sie wie ein Peit­schen­hieb. Die Un­glück­li­che miss­deu­te­te das Ach­sel­zu­cken, warf sich auf die Knie, und es war kei­ne klei­ne Mühe, sie wie­der zu be­ru­hi­gen. Vor ih­ren Au­gen trug Lan­dau Na­men und Adres­se in den Vor­merk­ka­len­der ein, gab sein Ehren­wort, nächs­ten Don­ners­tag, zu Sil­ves­ter also, mit ei­ner Pfle­ge­rin bei ihr zu sein.

Die Frau stieß wie ein Raub­vo­gel auf die Hand des Dok­tors nie­der und be­deck­te sie mit Küs­sen, bis es ihm end­lich ge­lang, sich zu be­frei­en.

Wü­tend über­schimpf­te er ihr Dank­ge­stam­mel, schob sie mit dem Kind zur Tür hin­aus, und der An­blick ih­rer ecki­gen Schul­ter­blät­ter, der schma­le, wie aus Holz ge­haue­ne Mär­ty­rer­rücken hiel­ten sei­nen Blick ge­fan­gen, so­dass er, wie aus dem Schlaf ge­schreckt, zu­sam­men­zuck­te, als Ril­la ihn beim Vor­na­men an­rief.

»Ach, du bist’s? Ich kom­me so­fort.«

Der Jus­tiz­rat lä­chel­te spöt­tisch über den ent­täusch­ten Ton, der Herr Schwa­ger hielt es nicht für nö­tig, sich Zwang an­zu­tun – da­für ver­ab­schie­de­te er umso herz­li­cher das lum­pi­ge Weib. Wohl auch eine Kli­en­tin von der be­wuss­ten Sor­te? Der alte Herr muss­te sich be­ei­len, woll­te er nicht er­le­ben, dass der ge­lieb­te Sohn für eine Wei­le Papp­schach­teln zu kle­ben be­kam.

Aus dem Vor­zim­mer zu­rück­ge­kehrt, bot der Dok­tor dem Schwa­ger kei­nen Stuhl, er­kun­dig­te sich barsch nach sei­nem Be­geh­ren und ver­hehl­te sei­nen Un­wil­len nicht, als Ril­la un­auf­ge­for­dert in das Or­di­na­ti­ons­zim­mer hin­über­ging.

»Wir könn­ten hier ge­stört wer­den, wie ich ge­hört habe, er­war­test du ja noch einen Pa­ti­en­ten.«

Die wür­de­voll her­ab­las­sen­de Hal­tung wirk­te so ir­ri­tie­rend, dass Lan­dau nicht gleich den Sinn der sal­bungs­vol­len Rede er­fass­te. Er hör­te die Wor­te Dan­kes­pflicht, Grei­sen­al­ter, Va­ter­herz, trau­te an­fangs sei­nen Ohren kaum. Von die­sem kalt­her­zi­gen Stre­ber, den nur Er­folgs­an­be­tung und Neid lei­te­ten, ran­zi­ge Va­ria­tio­nen über das Mo­tiv El­tern­lie­be – Weih­nachts­zau­ber an­zu­hö­ren, das war doch mehr, als man er­tra­gen konn­te.

»Ja, zum Don­ner­wet­ter! Hast du dich nur her­auf­be­müht, um mir mit­zu­tei­len, dass Va­ter nicht jün­ger ge­wor­den ist? Die Tat­sa­che ist mir nicht un­be­kannt. Ich weiß auch, dass er längst die Hoff­nung auf­ge­ge­ben hat, mich zu be­keh­ren. Er hat mich ab­ge­schrie­ben wie eine du­bio­se For­de­rung, und das ist hart für ihn, denn es ge­hört sonst nicht zu sei­nen Ge­wohn­hei­ten, zwan­zig Jah­re lang Geld und Mühe in ein ver­fehl­tes Un­ter­neh­men hin­ein­zu­ste­cken. Und jetzt soll ich ihm als Weih­nachts­ge­schenk den De­frau­dan­ten1 ge­gen­über­set­zen, der ihm sein Geld un­ter­schla­gen hat? Eine Zeit lang wür­de er an sich hal­ten, um zu­letzt aus ir­gend­ei­nem lä­cher­lich ge­rin­gen An­lass doch zu ex­plo­die­ren. Nein, er soll un­ge­stört mit sei­nen En­kel­kin­dern spie­len, ich den­ke nicht dar­an, ihm und mir und euch al­len den Weih­nachts­abend zu ver­der­ben! Bit­te, sage das auch dei­ner Frau! Ich kom­me nächs­tens mal bei ihr vor­bei.«

Es ließ sich nicht viel ge­gen die­se ver­nünf­ti­ge Ant­wort ein­wen­den, aber dem Jus­tiz­rat war es dar­um zu tun, nicht so glatt da­von­zu­kom­men. Er brauch­te einen Streit mit Grob­hei­ten, die er op­fer­freu­dig ein­ste­cken und, mit über­le­ge­ner Nach­sicht zi­tiert, als Ak­tiv­pos­ten bu­chen las­sen konn­te. Mit be­rech­ne­ter Schär­fe ent­geg­ne­te er:

»Wenn du so rück­sichts­voll sein willst, brauchst du nur Va­ter nicht zu wi­der­spre­chen! Ich mei­ne, du könn­test ihm auch mal eine Ant­wort schul­dig blei­ben, da du ihm ja, wie du selbst zu­gibst, man­ches an­de­re schul­dig ge­blie­ben bist. Er ist nicht nur um vier­zig Jah­re äl­ter als du, er hat sich red­lich Mühe mit dir ge­nom­men, hat dir …«

»Va­ter? Mühe? Mit mir? Du meinst wohl …«

»Genau, was ich ge­sagt habe!« schnarr­te Ril­la streng, in­ner­lich tri­um­phie­rend über den Er­folg sei­ner Pro­vo­ka­ti­on. »Bis zu dei­ner Groß­jäh­rig­keit hat dich dein Va­ter er­zo­gen …«

»Er­zo­gen sagst du? Wo hast du je ge­se­hen, dass rei­che Leu­te ihre Kin­der er­zie­hen? Wie könn­ten sie die Zeit dazu auf­brin­gen, da sie doch für die Zu­kunft, für die Lauf­bahn und das Erb­teil ih­rer Kin­der vor­sor­gen müs­sen? Für die Zeit des Wer­dens gibt es ja be­zahl­te Kräf­te ge­nug, un­wis­sen­de Bäue­rin­nen, Haus­meis­ter­stöch­ter, arme Schlu­cker, an Hun­gern und Frie­ren ge­wöhn­te. Ja, wenn, mein Va­ter mich er­zo­gen hät­te, dann wäre ich auch sein Sohn ge­wor­den! Wie hät­te der wei­che, noch un­ge­form­te Ton der Va­ter­hand wi­der­ste­hen kön­nen? Aber der böse, ver­bit­ter­te Me­di­zi­ner, der sich als Kor­re­pe­ti­tor durch das Gym­na­si­um ge­hun­gert hat­te, wie soll­te der mich auf mein Le­ben, auf die Zu­kunft, die mein Va­ter für mich zu­recht­zim­mer­te, vor­be­rei­ten? Was wuss­te er denn vom Reich­tum, au­ßer dass er ihn hass­te? Täg­lich hat­te er mir den Geiz mei­nes Va­ters, der ihm um kar­gen Ent­gelt sei­ne Zeit ab­press­te, un­ter die Nase ge­rie­ben. Sei­ne ei­ge­ne Tüch­tig­keit hat er mei­nem Schlem­mer­da­sein ent­ge­gen­ge­stellt, ge­prü­gelt hat er mich – um sei­ne Wut aus­zu­las­sen an der Men­schen­sor­te, die es so un­ver­dient gut hat­te, wie es ihm un­ver­dient schlecht ging.«

Für eine Se­kun­de ver­stumm­te Lan­dau, hol­te tief Atem und rief dann mit tri­um­phie­ren­dem Hohn: »Das ist ja das Fan­tas­ti­sche! Gera­de die Män­ner, die nichts von dem fried­li­chen Ein­eb­nen der so­zia­len Un­ter­schie­de hö­ren wol­len, die schroffs­ten, un­ver­söhn­lichs­ten ge­ra­de, lie­fern ihre Kin­der dem Ein­fluss aus dem feind­li­chen La­ger aus! Glaubst du, es könn­te auch um­ge­kehrt ei­ner von par­fü­mier­ten Ge­cken er­zo­gen wer­den und doch als tüch­ti­ger Metz­ger­meis­­­­­­­­­­­­­