Ina May
Unterhaltsamer Krimi im Wintersport-Milieu
mit einer Prise schwarzem Humor
Privatermittler Casper Brandt soll die Hintergründe in einem Mordfall recherchieren. Es geht um einen grausigen Leichenfund in einer Schlucht nahe der Biathlonstrecke in Oberhof in Thüringen. Casper meint, einen Zusammenhang zu einem drei Jahre alten Fall zu sehen, als ein Sportler in seinem Wagen in eine Kiesgrube gestürzt war. Bald stößt er auf eine rätselhafte Spur, die der Täter anscheinend absichtlich hinterlassen hat. Langsam aber sicher verknüpft Casper die beiden Fälle und kommt dem Täter gefährlich nahe.
Copyright © 2018 26|books, Auenwald
Christine Spindler
Bert-Brecht-Weg 13
71549 Auenwald
christine@26books.de
http://www.26books.de
Coverfoto: © René Jungwirth
Covergestaltung: Christine Spindler
Lektorat: Christine Spindler
ISBN 978-3-945932-52-0
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Persönlichkeiten, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Besuchen Sie uns im Internet:
http://www.26books.de
Inhaltsverzeichnis
Tod in der Schlucht
Danksagung
Das Gesicht eines Toten
Rätselhaftes Verschwinden
Die erste Brücke ist geschlagen
Nachgefecht
Leitfäden
Beharrlichkeit
Abscheu
Das Ergebnis glücklicher Zufälle
Schlupfwinkel des menschlichen Körpers
Anzeichen des Todes
Du bist der Schuldige!
Kein Raum für Irrtümer
Das sinnlose Argument
Das unauslöschliche Siegel
Verlockung des Geheimnisses
Unabhängige Geister
Mit leichter Hand
Identifizierungsparade
Die Gebenden
Sinnbetrogen
Der sicherste Weg ins Jenseits
Todesurteil
Schauplatz der Tat
Finde ihn heraus …
Bestechliche Erfolge
Die Stille der Spannung
Die unmögliche Lösung eines Rätsels
Anmerkungen
Dekodierungsschlüssel
Wohin darf es als Nächstes gehen?
In die Südsee
An die Ostsee
Autoren sagen auf den letzten Seiten im Buch »Dankeschön«, ich möchte es auf der ersten tun, denn ohne die Hilfe und Unterstützung gäbe es nicht einmal eine Zeile.
Mein besonderer Dank gilt meinem sportlichen Berater - Ali (Alexander Wolf), der seine Zeit opferte, sich jede meiner Fragen geduldig anhörte, einige Male blinzelte (ich hab's gesehen), und sich ins Zeug legte, alles zu beantworten - so dass ich es kapierte.
Zu seinen Bildern schloss ich mit meinen Gedanken auf … ein Rennen ist ein ganz eigener Krimi - und macht einen ganz schön atemlos.
Mit Marco Schübel saß ich oft zusammen, wir lachten, planten, er fotografierte und erzählte spannende Geschichten. Neben der, an der wir gerade arbeiteten. Danke für die vielen Stunden, in denen wir uns gemeinsam den Kopf zerbrachen.
Grit Ewald - Du konntest mir mit deinem herzlich-fröhlichen Lachen den Ernst der Lage ganz wunderbar begreiflich machen ;-)
Ich danke dem, der nicht genannt werden will, für die sehr anschauliche Beschreibung eines verwesenden Körpers im Winter.
Dass ich in Kürze von einer Frau aus dem Bett getrommelt werden würde, wusste ich noch nicht.
Ich befand mich gerade traumselig im Nirgendwo; zugegeben, eine Frau kam da auch vor - nur anders.
»Herr Brandt«, tönte es von weither, zuerst jedenfalls, bis da plötzlich etwas an meiner Bettdecke zupfte. Und noch einmal: »Herr Brandt«, diesmal schon lauter, ungeduldiger.
Wenn jemand mit Ihnen spricht und Sie wissen genau, dass außer Ihnen keine andere Person im Raum ist, weil Sie allein zu Bett gegangen sind, dann bedeutet das ganz scharf nachdenken. Und so was geht morgens um … nun, keine Ahnung wann … überhaupt nicht.
Ich öffnete vorsichtig ein Auge und sah vor mir … ein Karomuster.
Ein scheußliches Karomuster, das mich an meine Großmutter erinnerte, die mit Vorliebe Kittelschürzenkleider getragen hatte. Diese Kleider mochte ich nicht. Die Großmutter auch nicht.
Gezwungen, den Blick ein wenig zu verändern, registrierte ich, dass es sich bei meiner frühen Besucherin um meine Vermieterin handelte - Frau Eusebia. Und sie brachte den eisigen Winter gleich mit ins Schlafzimmer.
Im Normalfall wollte sie etwas, dass ich ihr meist nicht geben konnte, zumindest nie pünktlich - die Miete. Die war für mein Gefühl so hoch wie der große Beerberg, zu dessen Füßen sich Suhl-Goldlauter dahinschlängelt.
Frau Eusebia hatte mit Sicherheit auch einen Nachnamen, aber den kannte außer meinem Mietvertrag niemand. Ein Blick aus dem Fenster und mir wurde klar, dass sie Weiß heißen musste, denn so hieß hier jeder Zweite und das auch im Sommer. Wie es dazu kam, weiß bis heute niemand.
Was also hatte Frau Eusebia in meinem Schlafzimmer zu suchen, was hatte sie überhaupt in meiner Wohnung verloren? Viele Fragen. Zu viele. Ich sollte mindestens eine davon stellen …
»Haben Sie geklingelt? Ich habe nicht aufgemacht.«
War etwa die alte Höflichkeitsform des Türklingelbetätigens über Nacht abgeschafft worden?
»Aber Herr Brandt, ich habe doch einen Schlüssel.«
Na ja, dass sie bei mir eingebrochen war, hätte ich auch nicht vermutet, doch gerade begann, zumindest in meinen Augen, der letzte Tag, an dem Frau Eusebia einen Schlüssel hatte.
Ich schaute meine Vermieterin durchdringend an um sie zu einer Äußerung über das Warum zu bewegen.
»Der kleine Kerl hat so gejammert. Sie sollten ihn wirklich nicht über Nacht draußen in der Kälte lassen.«
Aha. Wenn ich jetzt noch wüsste, von wem die Rede ist … wie es schien, tauchte da schon wieder eine neue Frage auf.
»Frau Eusebia, wie Sie bestimmt mitbekommen haben, lebe ich hier allein. Ich habe keine Kinder.«
»Was sind Sie nur für ein Mensch? So roh und herzlos. Keinen Funken Liebe im Leib«, ereiferte sie sich.
Jetzt reichte es aber, fand ich, und wollte mich ruckartig aufrichten.
Als überzeugter Nacktschläfer wäre das bei vielen anderen Frauen sicherlich eine gute Idee gewesen. Nicht aber bei meiner Vermieterin, die gerade umständlich hinter sich deutete.
Musste ich jetzt Angst haben, dass da noch jemand durch die Türe kommen würde? Ich verrenkte mir fast den Hals, konnte aber niemanden sehen - zuerst.
Meine Augen fokussierten auf das Größenverhältnis Mensch, während ein leises Klacken in Bodennähe eine andere, kleinere Präsenz ankündigte.
Ich verrenkte mir den Hals noch mehr und Frau Eusebia tat das Gleiche. Wonach schielte sie bloß, sie wusste doch genau, wer da klackte.
»Ich erlaube Ihnen, eine Katzenklappe für ihn zu bauen«, bot sie mir großzügig an.
»Nein, bestimmt nicht!«, lehnte ich ab, stemmte unter der Bettdecke in einer Verweigerungsgeste meine Hände in die leicht überproportionierten Hüften und ließ dazu einen griesgrämigen Gesichtsausdruck sehen.
»Das da«, ich deutete auf das tropfnasse Fellbündel in Ocker-schwarz-weiß, das sich in aller Heimlichkeit gerade anschickte abzutauen und in Kürze die Höhen meines Bettes erklimmen würde, »ist Garibaldi.«
»Oh, wie süüüß«, sagte Frau Eusebia und zog die Süße gnadenlos zuckrig in die Länge.
»Jaha«, stimmte ich ihr äußerst widerwillig zu, weil ich keine Katzen mochte. »Die Katze gehört dem Nachbarn von 3a.«
»Das sieht Garibaldi aber ganz anders«, meinte sie, und untermalte ihre Ansicht mit einem halben Dutzend Kopfnicker, so dass ich schon Sorge hatte, sie würde vom vielen Schaukeln einen Schwindelanfall bekommen. In meinem Schlafzimmer!
Wir einigten uns schließlich darauf, dass ich mit meinem Nachbarn über die Katze reden würde. Reden kann man ja über vieles.
»Herr Brandt«, begann sie von neuem, als ich schon zu glauben begann, ich wäre sie los. Die Katzensache war doch soweit geklärt. »Es ist wegen der Miete … Sie schulden mir noch den letzten Monat. Und natürlich diesen.« Sie zog ein Gesicht, als hätte sie etwas wirklich Schlimmes gegessen.
Derweil trommelten meine Hände, die noch immer unter der Bettdecke steckten, einen Fingerwirbel auf meine nackten Oberschenkel.
Die Miete. Das war eine wirklich prekäre Sache. War es fast immer, und dazu mein schlimmster Morgengedanke.
»Gerade habe ich einen ausgesprochen einträglichen Auftrag an Land gezogen«, behauptete ich dreist. »Es geht um …« Ich machte eine Kunstpause und ließ dann meine ohnehin tiefe Stimme um zusätzliche 30% in den Keller fahren. »Mord.«
»Ohh«, hauchte sie, schlug eine Hand vor den Mund, und die ausstehende Miete war für diesen Moment vergessen.
Stattdessen setzte sie sich auf den Bettrand - wohlgemerkt, meinen Bettrand - und jetzt befand ich mich in der blöden Lage, dass meine Hände unter der Decke feststeckten. Frau Eusebia war ziemlich gewichtig, und ihr Hinterteil hatte nun, obwohl sie nur am Rand saß, meine Extremitäten erfasst.
Das Gefühl wich allmählich aus meinen Händen und sie begannen wohl schon abzusterben. Frau Eusebias Hintern wusste das sicherlich auch. Ich musste sie unbedingt dazu bewegen, ihre Position zu verändern. Es war ein unangenehm schmerzhafter Wettlauf mit der Zeit.
Schnell und noch schneller erzählte ich ihr in aller Kürze meinen Fall und hoffte, sie würde endlich aufstehen.
Damit machte ich sie zu einer Vertrauten, aber in meiner gegenwärtig-blanken Finanzsituation war mir selbst das egal. Ich wollte schließlich auch noch in sechs und mehr Wochen ein Dach über dem Kopf haben.
Sehenden Auges beschwor ich eine konspirative Situation herauf und vertraute auf Frau Eusebias Wertschätzung meiner Fähigkeiten als Privatermittler. Sie müsste mir eigentlich zu Füßen liegen … doch das tat im Augenblick nur Garibaldi, der mich mit großen Augen und zerzaustem Fell ansah.
Die Wahrheit ist, Casper Brandt hatte keinen solchen Fall. Ich hatte überhaupt keinen Fall.
Bloß Glen Leborski, der sich gerade anschickte, ein verschleiertes Tötungsdelikt als Mord zu outen. Der hatte einen Fall - in dem Kriminalroman, der aufgeschlagen auf meinem Nachttisch lag.
Aber was tat man nicht alles, um sich und das bisschen Gemütlichkeit zu retten.
»Der rätselhafte Tod dieses Biathlon-Sportlers. Sie haben bestimmt davon gelesen.« Das war es nämlich. Gelesen hatte ich davon auch.
Zur Antwort bekam ich einen Seufzer, auf den ein aufgeregtes »Nein?!?« folgte.
»Oh doch!«, gab ich zurück, die Überzeugtheit in Person. »Daran ist nämlich so gut wie gar nichts echt und die Umstände geradezu undurchsichtig furchterregend. Verkaufen es als Selbstmord. Aber, wenn man sich die Einzelheiten betrachtet … der ganze Fall ist absolut nebulös.«
In meiner Kommode und dem Kleiderschrank, der vormals Frau Eusebia gehört haben musste, lag in den Fächern überall Zeitungspapier aus.
Ich muss nicht erwähnen, dass sich Druckerschwärze und weiße Hemden nicht sonderlich gut vertragen. Mein Glück, dass ich bunte Hemden bevorzugte. Da hinterlässt die Faltenlage des Druckerzeugnisses dann bloß ein Muster mehr auf dem Stoff.
Obendrein war die Nachricht über den verunfallten Sportler eine von vor drei Jahren.
Na ja, Frau Eusebia hielt ihren/meinen Kleiderschrank eben nicht gerade auf dem aktuellen Stand.
Die Schlagzeile lautete vielsagend: »Seine letzte Runde« und die Zeilen berichteten von einem jungen Biathleten (23 Jahre), der mit seinem Audi A sonst was in eine Kiesgrube gestürzt war.
Ich sollte meine Socken und Hemden ausräumen und mir die Zeitungsmeldung noch mal vornehmen, denn der Name des Sportlers war wohl zwischenzeitlich in die Nebelregion meiner Gehirnwindungen gerutscht.
Auch konnte ich mir nicht denken, was ausgerechnet einen Biathleten - der ja von Berufswegen eine scharfe Waffe mit sich führt - dazu bringt, sich für sein Ausscheiden im doppelten Sinn, ausgerechnet eine abgelegene, ehemalige Kiesgrube auszusuchen.
Eine Kiesgrube, die sich nach Beendigung des Aushubs wieder mit Grundwasser gefüllt hatte. Und hinein in diese Lorke hatte sich der junge Mann mittels eines bis zum Anschlag durchgedrückten Gaspedals befördert.
Der Wagen war natürlich völlig ruiniert, der Mensch mausetot, und der Biathlonsport war um ein Ausnahmetalent ärmer.
Nun kannte ich mich in diesem Sport nicht so rasend aus. Streng genommen beinahe gar nicht.
Auch Autos waren nicht mein Steckenpferd. Ich fuhr noch immer meinen alten, schmutzbraunfarbenen Opel Ascona, der, so hab ich mir sagen lassen, inzwischen ein Oldtimer ist. Das klingt jetzt eindeutig vorteilhafter, als es sich in Wirklichkeit verhält. Schönreden kann man sich ein altes Auto nämlich auch. Gut, bei einem Opel Ascona tut man sich da schon etwas schwerer.
»Ach, und jetzt hat Sie bestimmt Ihr Reporterfreund vom Fernsehen gebeten, diesbezüglich nachzuforschen, hab ich Recht, ja?« Das war der Einwurf von Frau Eusebia, die mich nun mit einem Strahlen anschaute, als wäre ich dieser dürre Show-Master mit dem langen Hals, der so bereitwillig Geld für richtig beantwortete Fragen locker macht.
Oh, du entgegenkommende, morgendliche Nervensäge!
Aber gerade eben hätte ich Frau Eusebia sogar umarmt, nur waren ja meine Hände nicht frei. Und wären sie auch frei gewesen, sie hätten nie und nimmer für eine derart ausladende Umarmung getaugt.
Das war überhaupt die Idee. Ein Telefonat mit Chris Harte, meinem »Reporterfreund«.
Der harte Chris war mir noch einen Gefallen schuldig, so zumindest lautete meine Erinnerung, während ihm die seine bestimmt andersherum kam.
Nachdem ich meiner Hausherrin versprochen hatte, sie auf dem Laufenden zu halten, was meinen angeblichen neuen Fall betraf, und damit auch ihre Mieteinnahmen, machte ich mich ans Auspacken meines kaum athletisch zu bezeichnenden Körpers aus den diversen Bettlaken.
Leider schaffte ich es nicht, Frau Eusebia den anhänglichen Garibaldi aufzuschwatzen, und der Kater wollte sich partout nicht von mir hinaus in die kalte Winterlandschaft befördern lassen.
Wer konnte es ihm verdenken. Draußen klapperten die Nachbarn mit ihren selbstgebauten Schneeräumgeräten. Das war natürlich kein gelungener Ersatz für das Vogelgezwitscher im Sommer, von dem man sich hier zu jener Jahreszeit gerne wecken ließ.
Die Schneemassen waren von solch beträchtlichen Ausmaßen, dass der Nachbar zu meiner Linken gerade zum Äußersten griff. Er nahm seine höllenlaute Schneefräse in Betrieb, so dass meine Ohren dröhnten und die Fenster in ihren Rahmen vibrierten. Dieses mörderische Gerät würde auch vor einer Katze nicht halt machen.
Und bei solchen und ähnlichen Ausnahmegelegenheiten wurmte es mich zutiefst, meinen gewichtigen Polizistenstatus für einen Privatjob aufgegeben zu haben, der letztlich genau so unterbezahlt war wie der eines Kriminalkommissars.
Sonst hätte ich den Ruhestörer längst seines Spielzeugs beraubt und aus dem Verkehr gezogen.
Aber das gab meine Lizenz nicht her.
Es wurde allmählich Zeit für mich. Und es wurde Zeit für Garibaldi.
Wer bitteschön kam auf die grandiose Idee, einer Schmusemieze den Namen eines berühmten Guerillakämpfers zu verpassen? Oder musste man bei Garibaldi am Ende vielleicht sogar mit aggressiven Ausfällen rechnen?
Wo mich Sport und Autos schon nicht sonderlich zu beeindrucken vermochten, bekam ich es nun auch noch mit einem Protagonisten der italienischen Einigungsbewegung von … wie auch immer, bestimmt schon sehr lange her … zu tun.
»So, und du machst dich jetzt vom Acker«, gab ich meinem neuen Freund zu verstehen. »Husch, husch. Ich hab dich mir nicht ausgesucht und außerdem hab ich zu tun. Tu mir einen Gefallen und pass auf die Schneefräse auf!«
Überzeugend war ich offenbar nicht, denn der Kater gähnte bloß gelangweilt.
Sei's drum. Spätestens wenn er Hunger hatte und sein Kistchen vermisste, wäre ich ihn los - dachte ich.
In der Wachskabine des deutschen Biathlon-Kaders, in der die Ski für den Weltcupeinsatz auf der Strecke präpariert wurden, brandete wortgewaltige Kommunikation heran, gleich einer riesigen Lawine, die alles mit sich reißt, was sich ihr in den Weg stellt.
Unter den Athleten wurde heftig diskutiert.
»Er hat sich nicht gemeldet. Seine Freunde wissen auch nicht, wo er abgeblieben ist.«
»Spricht nicht grade für seine Freunde.«
»Spricht nicht grade für unseren Linus.«
Einer von ihnen hatte sich einmal mehr über alle Vorgaben hinweggesetzt, und Ärger war vor einer anspruchsvollen Weltcup-Woche das Allerletzte, was sie gebrauchen konnten.
Karl Müller, ihr Trainer, Mentor und Beschützer, war rot vor Zorn und das war mehr als verständlich. »Jetzt reicht es. Ich bring' ihn um!«, wetterte Müller und seine Faust fuhr durch die saure Kabinenluft.
Die Saison hatte ihnen bislang schon einiges abverlangt und es lagen noch kräftezehrende Wettkämpfe vor ihnen. Die wenigen Urlaubstage waren vorbei und der Sport stand jetzt räumlich und emotional abermals im Vordergrund. Sie alle waren wieder zurück - alle, außer Linus Moritz.
Verlässlichkeit war kein Attribut, das man vor den Namen Linus Moritz setzen konnte; darüber herrschte uneingeschränkte Einigkeit.
Der Trainer hatte ihn bereits einige Male verwarnt; es würde keine neuerliche Warnung mehr geben, nur noch den Rausschmiss oder aber den eben angekündigten vorsätzlichen Mord.
Und nicht wenige waren der Meinung, ihr Sport und das Gefüge innerhalb der Mannschaft wären ohne einen Mann wie Moritz, der an einer bösen Krankheit namens Selbstüberschätzung litt, ohnehin besser aufgestellt.
Alle hatten hart trainiert, um einzeln und im Team auf dem Podium zu stehen. In den vergangenen Jahren hatte sich die deutsche Mannschaft in der Weltspitze so etabliert, dass Medien und Fans in einer Art und Weise erfolgsverwöhnt waren, die kaum Ausrutscher verzieh.
Wer diesen Sprung nicht rechtzeitig schaffte, verschwand entweder wieder von der Bildfläche oder gab irgendwann auf. Soll schon vorgekommen sein.
Auch übertriebener Ehrgeiz konnte jenen wertvollen Teil des Charakters auffressen, der einen zum Teamplayer machte.
Östersund und Hochfilzen waren nicht vergessen, aber abgehakt; Neues im Blick.
Jetzt befanden sie sich in Oberhof; im Mekka des Biathlon. Das war für alle immer etwas Besonderes. Die Strecke gehörte zudem zu den anspruchsvollsten im Weltcup überhaupt. Rasante Abfahrten, wie die schnelle, gefährliche Wolfsschlucht, oder aber schwierige und lang gezogene Anstiege, wie der Birxsteig, verlangten den Athleten alles ab und machten jede Runde zu einer schmerzhaften Erfahrung in Armen und Beinen.
Doch die brodelnde Oberhofer Atmosphäre entschädigte die Sportler für die großen Strapazen. Das tosende Publikum schrie die Athleten die Anstiege regelrecht nach oben und bejubelte jeden Treffer infernalisch, so dass den Sportlern eiskalte Schauer über die verschwitzten Rücken liefen.
Ausgerechnet hier fehlte Linus Moritz.
Müller machte eine letzte wegwerfende Handbewegung und meinte: »Jungs, lasst euch nicht runterziehen. Macht einfach das, was ihr am besten könnt - laufen, schießen, siegen.«
Der Tipp war nicht gerade brandheiß zu nennen, doch in Anbetracht der Umstände … was sollte der Trainer sagen.
Wie Verschwörer nickten sie sich untereinander zu, die Augen angriffslustig funkelnd.
»Alles klar, Trainer«, kam die Rückmeldung.
Müller drehte ihnen den Rücken zu und meinte noch etwas von wegen »zur Stelle sein«, dann schloss sich die Tür hinter ihm.
»Armer, toter Linus!«, bemerkte jemand, wenig mitleidig.
»Wo ist der blöde Sack?« Axel Alt, der sich gerne als Leader der Mannschaft sah, zog eine lange Miene. Er bezahlte für jeden klitzekleinen Job einen eigenen Mann und durfte sich darum auch gebührend aufregen, wenn seine Ski schlecht gewachst waren, was offenbar dann und wann vorkam.
»Scheint aufgegeben zu haben. So was gibt's tatsächlich. Müsstest du doch wissen, Alt«, stichelte ein anderer. Dafür schoss ihm Axel Alt einen giftigen Blick zu und gab ihm in einer bewegten Geste zu verstehen, wo sein Platz war - in jedem Fall irgendwo weit hinter ihm.
»Leute, wir implodieren hier grade, dabei brauchen wir eine Explosion. Eine von der sportlich-überzeugenden Art. Rumballern könnt ihr noch genug. Am Schießstand.« Martin Roth mochte keine langatmigen Diskussionen. Schuldzuweisungen mochte er genau so wenig. Was er sonst noch nicht mochte, würde aber bis auf weiteres sein Geheimnis bleiben.
»Ich hau mich noch ein bisschen aufs Ohr«, kündigte Axel Alt jetzt an.
»Träum was Schönes!«, gab Roth seinem Zimmernachbarn mit einem anzüglichen Zwinkern mit auf den Weg.
Nach dem Stunk und den Querelen versuchte jeder auf seine Weise wieder runterzukommen. Man würde sehen, welche Auswirkung Linus Moritz' Fernbleiben hatte.
»Einen Versuch gebe ich mir noch.« Martin Roth meinte seine wiederkehrenden Anrufe beim verschollenen Teamkollegen.
Einer sollte für den anderen einstehen. So sah er es zumindest, auch wenn der Kamerad diesen Einsatz vielleicht gar nicht zu schätzen wusste.
Linus Moritz hatte erst kürzlich einen Werbevertrag mit einem bekannten Reiseveranstalter unterzeichnet. Seine Leistungen in dieser Saison waren wenig berauschend, tendierten gegen grottenschlecht, dafür aber passte sein Body Mass Index perfekt und die Kamera liebte sein herausforderndes Lächeln, das einem Versprechen gleichkam. Ein Siegertyp, wenn man vom Sport einmal absah.
Gut möglich, dass er sich irgendwo die Sonne auf den Pelz brennen ließ und der heimatliche Schnee sich in Gedanken ruhig schon mal verflüssigen konnte.
Als auch Martin Roth gegangen war, blieben noch drei Athleten in der Kabine zurück, die einen verdammt guten Grund hatten, sich Sorgen zu machen. Linus' Verschwinden bescherte ihnen massives Magendrücken.
»Was ist, wenn er was erzählt?«, brachte es Dennis Paulsen auf den Punkt.
»Was sollte er denn erzählen?« Frank Ringel war nicht dumm, aber gerade bemühte er sich, so zu klingen.
»Alles«, lautete die wenig beruhigende Eröffnung. Paulsens Hände formten einen großen Ball, ein fettes Ganzes, das es zu fürchten galt.
»Klar. Macht echt Sinn. Alles erzählen, alles verlieren«, sagte Niko Vormann und schüttelte die honigblonden Haare.
»Könnte einer von uns … also, ohne Linus sind wir nur noch drei. Wir waren fünf, bevor …« Frank Ringel verschluckte sich und musste husten.
»Halt die Klappe!«, ordnete Paulsen an und verbarrikadierte sich hinter seinen verschränkten Armen. Die Unterhaltung, wenn es denn eine gewesen war, ebbte ab.
Jeder hing seinen Gedanken und Sorgen nach - wovon einige das pure Leben, wiederum andere aber den Tod zum Hauptdarsteller machten.
Es würde nicht schwer werden, heute Abend im grellen Flutlicht von Oberhof ein passables Rennen zu machen, aber es würde extrem schwer werden, mit dem Herzen dabei zu sein. Wie auch, wenn einem die Angst im Nacken hockte?
Schnee ist kalt, Schnee ist blendend weiß, und Oberhof hatte in diesen Tagen wirklich reichlich davon zu bieten.
Chris Harte und sein Team waren froh, dass die Rennstrecke diesmal ohne Crasheis auskommen würde, denn es war seit Jahren einmal wieder richtig Winter.
Richtig Winter hieß richtig Schnee und nicht wie in den Vorjahren mit LKWs angeliefertes, geschreddertes Eis, das als weißes Band die trostlos aussehende Wettkampfstrecke markierte.
In Oberhof vollzog sich gerade wieder die Wandlung von der beschaulichen Kleinstadt hin zur Biathlonmetropole. Viele Nationalitäten tummelten sich in der Stadt, die Hotels waren überbelegt, in den Straßen tobte das bunte Leben.
Die Menschen feierten euphorisch, sangen und tranken und schafften es, das Häuflein Einheimischer mit ihrer Freude alljährlich zu überrumpeln. Alles war im Biathlonfieber und Chris Hartes Reporter-Stoffwechsel befand sich in angenehmer Wallung, wie immer wenn es Großes zu bewerkstelligen galt.
Er liebäugelte mit einer der schmackhaften Thüringer Bratwürste, nach denen es hier überall duftete. Ein kurzer Blick auf das letzte Loch an seinem Gürtel ließ ihn diese Idee allerdings schnell wieder verwerfen.
Bereits im morgendlichen Halbdunkel war er hungrig herumgeschlichen, hatte in der Kasernenküche nach einem Stückchen irgendwas und einem Getränk Ausschau gehalten und dazu einen dieser Riesenkühlschränke geöffnet … danach klebten nur seine Finger, aber das Kleben war leider kein Indikator für ein prall gefülltes Schlaraffenland. Im Gegenteil.
Beleidigt zog Harte von dannen. Es würde bestimmt wieder auf Schmalkost hinauslaufen, aber er konnte es sich leisten. Reserven hatte er im Laufe der Zeit ja einige angelegt.
Seine Arbeit an der Strecke war fast beendet, nur ein bisschen Denkarbeit war noch nötig, um die Athleten fernsehtechnisch ins Rampenlicht zu rücken.
Alles nicht so einfach, wenn man nach einer Nacht in der Kaserne viel zu früh aufwachte. Leider verstand er sich nicht sonderlich aufs Schlafen in fremden Betten. Oft geübt, aber nie perfektioniert.
Wer Ruhe sucht, findet sie garantiert nicht auf einer Rennstrecke, weil es dort keine dunklen Ecken geben darf. Es werde Licht, lautete hier das Prinzip, und Chris Hartes Zufriedenheit störte da mindestens noch ein Detail.
Er fand, Perfektion, soweit sie ihn und seine Arbeit betraf, war er sich und dieser Megaveranstaltung schuldig.
Und jetzt war mit Ruhe gar nichts mehr - für niemanden. Schließlich gab es einen Weltcup zu bestreiten. Dafür würden sie alle im Licht baden; dem der Öffentlichkeit und dem der Hochleistungsscheinwerfer.
Chris Harte stapfte den Schnee unter seinen Füßen platt. Bärentritte, die die lockeren Flocken tief in den Grund traten. Er war gewichtig und wirkte entsprechend ungelenk.
Hartes Spezialität waren Selbstgespräche, die er in abgerissenen Fragmenten vor sich hin nuschelte. Dazu kam gewohnheitsmäßig seine linke Hand zum Einsatz, die begleitend zum selbstgemachten Kommentar an seinem Lieblingshaarbüschel auf halber Höhe zwischen Ohr und seitlichem Oberkopf herumdröselte.
Die Kameraeinstellung gab nichts her, es schneite wie verrückt und der nasse Kleb haftete an seinen Wimpern und erschwerte ihm die Sicht.
Zudem hatte er für dieses Unterfangen auch noch die falschen Schuhe angezogen. Gefüttert waren sie und warm, aber deshalb noch längst nicht wasserdicht. Er hätte gut daran getan, für seine Fußbekleidung mehr Geld auszugeben. Es war auch nicht das Geld, es ging schlicht um die zeitliche Möglichkeit des Ausgebens.
Chris Harte war nun wirklich kein armer Mann. Er hatte bloß irgendwann in seinem Leben fälschlicherweise geglaubt, dass Zeit sich ausdehnt. In den letzten Jahren erst kam das Begreifen, dass sie sich stattdessen zusammenzieht.
»Setze auf die Liste der Notwendigkeiten: gutes Schuhwerk«, meinte er zu sich selbst, und würde jedem, wirklich jedem empfehlen, das tunlichst im Kopf zu behalten.
»Jeden Winter das Gleiche. Fußwachstum in meinem Alter, und irgendwann schreit jemand Robert Bobroczky.«
»Was, Chef?«, kam da eine menschliche Stimme irgendwo aus dem Schneegestöber.
Harte drehte sich um, und sah sich seinem Kameramann, Felix Weise gegenüber. Ach ja, den hatte er glatt vergessen.
» Bobroczky«, sagte er. »Das ist der große Kerl mit den Riesenfüßen.«
»Den erwarten wir hier aber nicht, oder?«, fragte Weise.
Die Frage war bestimmt rhetorisch gemeint, vermutete Harte. Basketball war eine ganz andere Liga.
Sie gingen gemeinsam noch einmal einen Teil der Strecke ab.
In Gedanken schossen bereits die Sportler auf ihren schmalen 4,5cm-Brettern an ihnen vorüber.
Chris Harte mochte diesen Sport. Am liebsten von jenseits einer Glaswand, im trockenen Innern einer Kommentatorenkabine. Aber er war auch professionell genug, um vor jedem Lauf die Lichtverhältnisse noch mal eingehend unter die Lupe zu nehmen. Und das ging nur im eiskalten Diesseits.
Die Wolfsschlucht bereitete ihm einige Probleme; die Schatten krochen dort eigenwillig und unerbittlich über einen Teil der Loipe und fabrizierten surreale Kunstwerke auf dem Weiß. Die konnte er an der Stelle nicht gebrauchen.
»Stromerzeuger stehen doch auf Licht.« Harte war da eben auf etwas gekommen. »Wir brauchen einen zusätzlichen Scheinwerfer. Genau hier.« Er positionierte sich entsprechend, breitbeinig und grinsend.
»Blöd nur, dass das Spruchband dieses Stromerzeugers schlappe 50 Meter weiter oben steht«, meinte Felix Weise.
»Genau. Und darum hilfst du mir jetzt, das Ding runterzuschaffen. Dort oben sieht das doch kein Mensch.«
Chris Harte würde jetzt sicher keinen Disput lostreten, indem er seinem Gegenüber in Gore-Tex-Stiefeln etwas über nasse Füße erzählte.
»Seit wann kümmern wir uns um Sponsorenwerbung?«, wollte Weise wissen.
»Seit wir uns dafür entschlossen haben, hier einen Scheinwerfer aufzustellen. Ich will keine Schattenrisse, ich will gute Bilder. Die Werbung ist für uns Nebensache, aber wir bekommen die Kurve und den Abhang ausgeleuchtet. Gibst du mir, geb ich dir; das ist unser Motto.«
»Letzte Woche war das Motto noch: Fordere viel von dir selbst und erwarte wenig von den anderen«, erinnerte ihn Weise.
Schon klar, Weise wollte mit seinen schönen Stiefeln nicht in den Tiefschnee abseits der Strecke geraten. Pustekuchen, nichts da!
Harte blieb hart. »Schnelllebig, so eine Woche. Packen wir's an.«
Felix Weise warf einen ausgedehnten Blick in die entsprechende Richtung. Begeisterung sah anders aus.
Drei Stunden später strahlte der geforderte Scheinwerfer an exakt der Stelle, die Chris Harte sich für eine gelungene Ausleuchtung ausbedingt hatte. Seine Füße waren zu Eisbeinen mutiert, er hatte er immer noch nichts Warmes im Magen, und die fleißige Frau Holle bekam immer noch nicht genug vom Ausschütteln ihrer Betten.
Er wollte sich jetzt erst einmal eine ausgiebige Badeeinlage gönnen. Ein bisschen warmes Wasser war er seinen Füßen schuldig. Und nebenbei konnte man noch allerhand tun; essen, lesen, nachdenken. Im letzten Jahr hatte es der Zufall gut mit ihm gemeint und er hatte das einzig-wahre Badezimmer der Kaserne entdeckt. Welch ein Glück.
Chris Harte positionierte seinen Uralt-Wecker auf der Ablage des Wannenrandes und stellte die Uhrzeit ein. Sollte er einnicken, wie auch immer, so würde ihn dieses Monstrum zuverlässig auf die Beine bringen.
Er schnappte sich die belegten Brote, die er dem freundlichen Küchenpersonal abgeschwatzt hatte, griff nach Glen Leborskis neuestem Fall in Romanform - skurril, aber unterhaltsam, weil die Figuren des Autors ebenso schillernd auftraten wie die beschriebenen Kriminalfälle - und ließ sich mit einem lang gezogenen Laut der Zufriedenheit ins schöne Nass gleiten.
Glen Leborski hatte er Casper Brandt zu verdanken.
Sie nannten sich Freunde, und waren es auch. Casper war in seinen Augen ein mittelmäßiger Privatermittler, aber er biss sich durch. Ob man ihm wirklich zutrauen konnte, einen kniffligen Fall zu lösen, stand auf einem anderen Blatt. Eher nicht, meinte Chris Harte, und war dabei nur ehrlich.
Fälle wie im Leben eines Glen Leborski gab es im Leben von Casper Brandt nicht, würde es auch nie geben. Aber wozu sind Freunde da, wenn nicht hin und wieder ein guter Tipp herausspringen würde. Scheidungen waren nicht knifflig, nur blutig und brutal. Die Belegfotos waren es nicht minder.
Chris Harte war um genau diese Erfahrung reicher. Der Knilch, mit dem sich seine Frau verlustierte, wenn sie ihm erzählte, sie würde sich mit Freundinnen treffen, bestand auf den »Tatortfotos« nur aus Bauch und Hintern. Waschbrett zum einen Teil, und das kleine Stückchen tiefer, aufdringlich knackig wie ein frisches Brötchen.
Da konnte Harte nicht mithalten, und nach einer ausgedehnten Schmerzstudie in dieser Richtung, entschied er sich für klare Fronten, nebst getrennten Konten.
Casper Brandt hatte ihn gewarnt; gerade so, als wolle er sich drücken, einen solchen Intimauftrag anzunehmen. Und seine mitleidige Miene, als er ihm die Bilder auf den Tisch legte, die das weitere Schicksal seiner betrügerischen Frau besiegelten, brauchte der Privatermittler nicht mit Worten zu unterlegen. Was er auch nicht tat.
Casper hatte zögerlich den Umschlag mit dem Geld genommen, und das braune Kuvert dabei eine kleine Ewigkeit angestarrt.
Und das war der Augenblick gewesen, als Chris Harte beschlossen hatte, dass ihm der Mensch sympathisch war.
Diese unselige Episode war jedoch längst vorbei und so kalt wie der Schnee auf der Loipe dort draußen.
Zur Kälte auf der Piste fiel ihm jetzt auf, dass auch das Wasser seines Badevergnügens nur mehr lauwarm war, und als das Monstrum auf dem Wannenrand schließlich scheppernd Laut gab, streckte er sich und langte nach dem vorgewärmten Handtuch.
Im Gedanken spulte er noch einmal den Ablauf des Wettkampfes ab, soweit er ihn und seine Mitarbeiter betraf. Man tut, was man kann, und Harte fand, dass er ziemlich gut war, in dem, was er tat.
* * *
Weitere dreißig Minuten später saß Chris Harte auf dem Drehstuhl im Übertragungsraum und beobachtete die Monitore.
An die fünfzehn Leute wuselten dort herum; man rückte sich gehörig auf den sprichwörtlichen Pelz, aber wenigstens war der Kaffee genießbar. Und wenn man wie Chris Harte eine Sitzgelegenheit besetzen konnte, dann stand einem gelungenen Abend fast gar nichts mehr im Wege.
Gespannt wurde der Startschuss zum Sprint der Herren erwartet.
Chris Harte hatte seine Favoriten, wie jeder andere auch. Das ging von gut leiden bis nicht abhaben können. Doch sein Reporterherz schlug auch immer im Takt des Patrioten. Außerdem wusste er harte und gute Arbeit zu würdigen.
Seine Augen suchten und fanden die deutschen Akteure und würden sie verfolgen, beinahe wie ihre Gegner es machten. Nur war seine Position eine weit angenehmere; es gab nichts zu verlieren, außer den Nerven.
Sie alle, die sie da vor den Bildschirmen saßen, waren Voyeure und wollten auch nichts anderes sein.
Zwischen weiß dekoriertem Fichtengrün ackerten sich jetzt die Sportler durch die Schneesuppe. Sieben deutsche Athleten gingen heute ins Rennen, und gerade war Niko Vormann aggressiv gestartet. Man bekam den Eindruck, der Mann hatte sich wesentlich mehr vorgenommen, als sich nur um die Erweiterung seines Weltcuppunktekontos zu kümmern.
Auf den schillernden Star diese Aufgebots - Linus Moritz - mussten die Fans bei diesem Weltcup verzichten. Es gab eben Menschen, die wollten sich gerne ein leichtes Leben noch leichter machen …
Irgendwo klingelte ein Handy und Chris Harte verzog unwillig das Gesicht. Konnten die Kollegen denn nicht einmal an sich halten, und ihren Freundinnen, Frauen und Kindern beibringen, wann eine Störung auch tatsächlich eine war.
Bescheuerter Ton, musste er denken. Wer lud sich denn so was runter?
Hartnäckig klingelte es in den Tiefen irgendeines Hemdes, einer Jacke oder Hosentasche weiter. Niemand sah sich genötigt, das nervige Ding zu beantworten oder auszuschalten. Mann, Mann!
Felix Weise deutete und machte Zeichen in Hartes Richtung.
Was denn?, deutete Chris Harte zurück, und Weise machte die nicht misszuverstehende Telefongeste.
Na, das war nun wirklich nicht zu überhören. Aber jetzt intensivierte Weise seine Bemühungen plötzlich, und fuchtelte wie ein Wilder in der Luft herum. Richtig anstrengend sah das aus.
Mist, verdammter! Chris Harte verzog einmal mehr das Gesicht, aber diesmal tat er es entschuldigend, denn gerade hatte er entdeckt, dass sich das Dauerklingeln in seinem eigenen Sammelbeutel abspielte. Dort lagerte alles. Ein bisschen sah es nach Damenhandtasche aus.
Wer war der Übeltäter, dem er Frank Sinatras »My way« zu verdanken hatte? Wer?
Harte musste seinen Leuten nicht vorkauen, was sie den Zuschauern zu sagen hatten, die Übertragung lief gut ohne seine Stimmbeteiligung, darum erlöste er sie alle und unterbrach den Oldie.
»Wer auch immer da am anderen Ende hängt … hier läuft es grade ganz schön gut. Franky dagegen werde ich bald den Hahn abdrehen.«
»Hallo, Chris. Welchen armen Franky meinst du?«
»Hallo, Casper«, grüßte Harte zurück. »Frank Sinatra«, fügte er erklärend hinzu.
»Wenn ich mich nicht furchtbar täusche, kam da vor dir schon jemand auf den Gedanken, Frank Sinatra den Hahn abzudrehen«, kam es ein wenig verschwommen zurück.
»Du hast keine Ahnung!«, sagte Chris Harte.
»Verrat mir doch was Neues«, setzte Casper Brandt nach, und begann gleich darauf seinem Handygegenüber etwas von einem Artikel in seinem Kleiderschrank zu erzählen.
Casper Brandt hatte Seltenheitswert, aber dass er Zeitungsmeldungen neuerdings im Schrank aufbewahrte, wo Harte ganz sicher wusste, dass er über einen eigenen Schreibtisch verfügte …
Er kratzte sich am Kopf, den er zuvor leicht schief gelegt hatte, auf der Suche nach seinem Lieblingshaarbüschel. »Casper«, begann er, wurde aber schon wieder unterbrochen.
»Frau Eusebia setzt mir die Pistole auf die Brust. Du erinnerst dich, meine Miete. Dann ist da auch noch der italienische Guerillakämpfer; der aalt sich seit dem frühesten Morgen auf meinem Bett.« Ein Stöhnen, das Harte gar nicht näher bestimmen wollte, drang an sein Ohr.
»Deine Frau Eusebia hat sich bewaffnet … Hä?«, machte der Reporter, doch bevor er nachfragen konnte, was da gerade verbal an ihm vorbeigebraust war, bretterte wirklich und wahrhaftig auf einem der Monitore etwas quer zur Bildschirmmitte dahin.
Es sah nach einem Sturz aus - dann tauchte da einer der schwarz-rot-goldenen Biathleten ab - verschwand zwischen schneebedeckten Büschen irgendwo in Höhe der Wolfsschlucht.
Es war die Stelle, an der Harte und Felix Weise am Vormittag als Reklameträger fungiert hatten, um die Voraussetzungen für einen zusätzlichen Scheinwerfer klar zu machen.
Und gerade strahlte das übermächtige Ding blendend hell; kein einziger Schatten hielt sich mehr in der Kurve, nicht einmal der unglückliche Athlet, der die Biegung zu schnell genommen hatte. Niko Vormann, wenn Harte die Startnummer im Schneegebrause richtig erkannt hatte.
Chris Harte bedeutete den Kollegen, dran zu bleiben - da bahnte sich grade was an.
»Wovon ernähren sich solche Ungetüme, hast du eine Ahnung? Die futtern einen doch bestimmt arm. Er will partout nicht nach Hause, wahrscheinlich macht er bloß auf Mitleid und versucht eine zusätzliche Portion rauszuschlagen.« Casper Brandt redete immer noch …
Wen versteckte er da vor seiner Frau Eusebia? Einen Bodybuilder?
»Und weil es sich grade trifft, ich brauche einen Auftrag. Was hast du anzubieten? Wenn es sein muss, mache ich auch ganz bäh Intimfotos.«
Das hatte Chris Harte empfangen. Demnach ging es seinem Privatermittlerfreund wirklich schlecht.
»Casper, schalt deinen Fernseher ein«, rief Harte dazwischen. Pistolenlady, gefräßiger Bodybuilder und bäh Intimfotos hin oder her.
»Meinen Fernseher«, wiederholte der angesprochene irritiert, doch ein leises Schlurfen sagte Harte, dass sich Caspar Brandt auf den Weg gemacht hatte.
»Ich bin drin«, verkündete der kurz darauf, als wäre es das absolut Größte, den Knopf einer Fernbedienung zu drücken. »Was läuft denn? Oh weh, nein … sieht aus, als würde sich mein Herr Philips verabschieden.«
»Keine Bange, es schneit bloß«, sagte Harte.
»Was sag ich denn?«, war nun wieder Casper Brandt zu hören, der offenbar begonnen hatte, mit der Faust auf seinen Fernseher einzuschlagen.
Chris Harte hatte wirklich nicht die geringste Lust, ihm einen Abriss des aktuellen Wetterberichts zu geben. Stattdessen heftete er seine Augen weiter auf das schwarze Loch, das winterliches Buschland hieß, und einen der Athleten geschluckt hatte.
Einige der Streckenposten hatten sich bereits an der Kante oberhalb der Verschwindestelle postiert; sie würden dem Sportler helfend eine oder auch zwei Hände reichen, wenn der sich den kleinen Hang erst wieder hochgekämpft hatte.
Es dauerte und dauerte, bis Niko Vormann - und der war es tatsächlich - mit käsigem Gesicht nach einer der dargebotenen Hände griff.
Harte meinte zu sehen, dass um seinen Mund Dinge hingen, die nichts mit dem Schnee, der Kälte, und dem festgefrorenen Speichel zu tun hatten. Dinge, die einen Reporter neugierig machten …
»Jetzt bewegt sich was«, meinte auch Casper Brandt. »Der sieht aber gar nicht gut aus … hat er grade Scheiße gesagt?«
»Wir haben an der Stelle doch keinen Ton«, informierte ihn Chris Harte.
»Ich kann Lippenlesen. Er hat Scheiße gesagt«, behauptete Casper.
»Das sagen sie öfter. Aber das sieht mir hier nicht nach einem Darmproblem aus.«
»Ich filtere das unschöne Wort »Problem« heraus. Hab ich dir erzählt, was ich über Extremsport denke?«
Chris Harte konnte hören, wie sein Freund gerade Luft holte, um die Einzelheiten seiner Abneigung auf kürzestem Weg durch das Handynetz zu transportieren.
»Unter Extremsportarten fallen Canyoning, Cliff Diving, Extreme Ironing, Cable Scooting oder Sumpf Fußball«, probierte Chris Harte ihm das Unerklärliche zu erläutern.
»Sumpf Fußball habe ich verstanden«, gab ein verdrossener Casper Brandt zurück.
»Du wirst deine Meinung ganz schnell ändern!«, warf Chris Harte dazwischen.
»Worauf bitte stützt sich deine Überzeugung?«, hakte Casper nach.
Der Kerl konnte wirklich stur sein. Das, und begriffsstutzig. Zuviel Glen Leborski Lektüre.
Harte schnippte mit den Fingern, und gab ein Plopp-Geräusch von sich, als wäre ihm diese Idee gerade erst gekommen.
»Du wolltest einen Auftrag, jetzt hast du einen. Beweg deinen Hintern zur Strecke. Sieh zu, dass du nicht auffällst, und Casper … zieh gute Schuhe an!«
»So hab ich das nicht gemeint«, muffelte ich, als ich schicksalsergeben meinen Herrn Philips ausschaltete und im Schrank nach etwas Ausschau hielt, das annähernd nach guten Schuhen aussah.
Garibaldi schob sich unter meinen Arm und beäugte ähnlich kritisch mein Sammelsurium.
Jetzt nur kein Kommentar, Kater!, warnte ihn mein fleischfressender Blick.
Und da fiel es mir wieder auf. Er war immer noch da, immer noch bei mir, obwohl sein Herrchen und Ernährer doch bestimmt schon sehnsüchtig wartete.
Ich würde ihn vor die Tür setzen. Jetzt sofort. Es war zudem eine gute Gelegenheit, um außer dem Guerillakämpfer auch noch einen Blick hinauszuwerfen, welche Kleidung für diese Winterexpedition angeraten war.
»Dann komm mal gut nach Hause und mach einen großen Bogen um die Schneefräse!«, warnte ich meinen neuen Freund, und imitierte das Geräusch dieser Höllenmaschine.
Garibaldi ließ ein unbestimmtes Maunzen hören und tippelte weiter auf der Stelle. Dass Katzen mal müssen, war mir nicht unklar gewesen, aber wenigstens hatte er mich nicht mit einem nassen Fleck an exponierter Stelle überrascht.
Vielleicht würde ich bei meinem nächsten Einkauf für ihn ein Leckerli besorgen. Das war jetzt allerdings ein großes Vielleicht.
Nie hätte ich gedacht, dass dieser Einkaufsgedanke mich noch in derselben Nacht heimsuchen und ein Opfer von mir fordern würde.
* * *
Die Luft dort draußen wirbelte in Flocken herum. Immer, wenn man etwas vorhat, hat gerade auch jemand anderes was vor - in dem Fall Petrus, ein Sportmuffel, wie ich einer war.
»Schweinekalt«, fand ich, und mein ausgestreckter Finger maß weniger die Temperatur, er zeigte vielmehr meine Bedenken an.
Dass solch ein Auftrag nicht meiner Vorstellung entsprach, durfte ich mir gar nicht erst einreden. Würde ich auch nicht, denn da war ja die überfällige Miete.
Man tut hin und wieder Dinge, die so gar nicht mit der eigenen Überzeugung korrespondieren; man tut sie, weil es sein muss.
Geschmacklose Spannerfotos zu schießen, um Menschen in Schwierigkeiten zu bringen, in die sie ohne mich nicht geraten wären, fand ich aber immer schon gemein.
Dieses Räkeln an geheimen Orten, die noch dazu oft schwer erreichbar waren, mutete wiederum sportlich an und hatte ich nicht gesagt, dass … hatte ich, ganz sicher!
Und ich vermutete, damit war ich durchschaubar wie ein Bildband.
Nach einem weiteren Blick hinaus in die Welt des Schnees, machte ich mir klar, was ich zu verlieren hatte - nämlich einen warmen, sicheren Platz - und tröstete mich damit, dass es diesmal wenigstens keine Intimfotos werden sollten.
Stirnrunzelnd erinnerte ich mich an Chris Hartes Worte und kam zu dem Schluss, dass es da offenbar ganz unspektakulär um …
Also, wenn ich das jetzt so rekapitulierte, war ich lediglich Zeuge geworden, wie da ein Sportler, ein Biathlet, einen Hang erklommen hatte; zuvor musste er dort natürlich hinunter geschlittert sein. Wobei »schlittern« nicht passend ist, verzeihen Sie mir meinen eingeschränkten Sport-Schatz-Fundus.
So dramatisch konnte das nicht sein. Ich würde hinfahren, vielleicht ein paar Fotos machen und damit dann Chris' Neugierde befriedigen.
Schulterzuckend, weil mich keine Schuld traf, falls mich dort keine Sensation erwartete. Ich verstand das Ganze nicht wirklich. Musste ich auch nicht zwingend.
Es ging nur um mein Honorar, überlebenswichtig in mehr als einer Hinsicht.
Ich nahm meine Kamera aus dem Schreibtisch. Das Handy durfte ich nicht vergessen … und eine schöne, helle fürchte-dich-nicht Halogentaschenlampe.
Meine Füße schauten mir noch immer nur bestrumpft entgegen, also wanderte ich zum Schrank zurück. Die Schuhe, die mir ins Auge fielen, gehörten mir nicht. Es waren die mächtigen Stapfer eines Riesenbabys, und ich sah passend dazu Frau Eusebia vor mir.
Egal. Lieber zog ich drei Paar Socken übereinander, als dass ich im Schnee einen Engel machte.
Irgendwann einmal mussten die Dinger nass geworden sein, und jemand, nicht ich, hatte Zeitungspapierknäuel in den Schaft gestopft. Kurz war ich versucht, einen Blick auf die Meldungen zu werfen, aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit.
Ich sollte schon längst irgendwo im Wald an der Absturzstelle sein. Im Vorbeigehen griff ich mir meinen Tarnparka. Ein scheußliches Ding, aber warm und mit Kapuze.