DAS X-TEAM
WAS GESCHAH MIT DANIEL MOODY?
Tredition
MARTIN SELLE
ist der einzige Autor für moderne, unterhaltsam-bildende Kinder- und Jugendliteratur, der wirksamste Lese-Motivator im deutschen Sprachraum sowie einer der beliebtesten Schriftsteller bei Kindern und Jugendlichen. Seine Werke basieren auf den zeitgenössischen Literaturwünschen junger Leser von heute, verknüpfen innovativ und originell spannungsreiche Unterhaltungsliteratur mit bildungsorientiertem Sachwissen. Seine Bücher werden auch in Sprachen wie Chinesisch, Vietnamesisch und Ukrainisch übersetzt und gewannen Preise wie den Leserpreis Buchliebling 2007.
„Martin Selle weiß, wie man Hochspannung, Nervenkitzel und Wissenswertes in klare, kraftvolle Prosa für junge Leute verpackt.“
Lesen heute
Deutsche Originalausgabe
Verlag Tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg
1. Auflage 2018
ISBN Hardcover 978-3-7469-3073-2
ISBN Taschenbuch 978-3-7469-3072-5
ISBN eBook 978-3-7469-3074-9
Copyright © by Martin Selle
www.martinselle.com | www.gutejugendbücher.de
Spezifischer Fachteil SCHNELL FIT FÜR IMMER in Zusammenarbeit
mit Mag. Paulus Schwarzacher,
Konditions- und Techniktrainer der österreichischen
Herren-Slalom-Nationalmannschaft
Handbuch WEHR DICH! in Zusammenarbeit mit
Susanne Knauss, Autorin, www.susanneknauss.com
(Lesungen an Volks- und Grundschulen)
Umschlaggestaltung: Katharina Kraft
Satz: Jens Weber, www.jensmariaweber.de
Lektorat: Manfred Spöcklberger (BA), www.textkorrektor.at
In der aktuellen Rechtschreibung
Alle Rechte vorbehalten
DAS X-TEAM
WAS GESCHAH MIT
DANIEL MOODY?
Für O. H.
Du warst, bist und bleibst ein Ass.
„Neueste Studien belegen:
Selbstmotiviert lesende Kinder haben eine bis zu 7-fach höhere Chance auf ein unabhängiges Wohlstandsleben. Ich sehe es als Verantwortung, Kindern zu helfen, sich die Türen zu einem solch erfüllten Leben öffnen zu können. Mein Beitrag dazu sind Bücher, so geschrieben, wie junge Leser von heute sie wollen, die sie vorwärts bringen - Selle-IQ-Bücher.“
Martin Selle
WAS IST DA?
WER IST DA?
1
Die nächsten Minuten würde Daniel Moody nie vergessen.
„Er kommt“, knurrte das Narbengesicht im Toyota in sein iPhone. „Keine Fehler.“
Daniel schwang sich gerade seine Nike-Sporttasche auf den Rücken und stopfte die 450 Dollar, die er soeben behoben hatte, in die Jeanstasche. Dienstag. 6.14 Uhr. Dichter Morgennebel trübte den Weg zur Tiger Tennis Academy in New York. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit. So ungewöhnlich wie das, was gerade geschah.
„Nicht mal eine Spur von ihm bleibt zurück“, grunzte Narbengesicht. „Kapiert?“
„Bin nicht blöd, Mann“, brummte eine raue Stimme am anderen Ende der Verbindung.
Im Toyota erlosch das Display. Das iPhone glitt in die Jackentasche zurück. Sollte der Junge doch etwas merken, würde es zu diesem Zeitpunkt für ihn längst zu spät sein.
Narbengesicht stieg aus dem Wagen und zog sich die Kapuze seiner Lederjacke über den Kopf. Dann schlich er, nur ein Schatten im Nebel, auf die andere Straßenseite hinüber und von dort, durch einen Innenhof als Abkürzung, auf Daniels Schulweg. Augenblicke später traf die hinkende Gestalt neben Narbengesicht ein. Ebenfalls mit Kapuze getarnt und grau gekleidet wie der düstere Nebel.
Eine Woche genaues Beobachten hatte gereicht, um sicherzustellen, dass sie Daniels Weg zur Tiger Tennis Academy in New York genau kannten. In sicherem Abstand lauerten die beiden auf Dan, wie seine Freunde Daniel nannten. Sie durften auf keinen Fall gesehen oder gar erkannt werden. Sie wussten, der kleinste Fehler – und sie selbst würden für immer verschwinden.
„Da kommt er“, grunzte Narbengesicht.
Jetzt sahen sie Dan. Wie jeden Tag schlenderte er gedankenverloren die 44. Straße Ost entlang. Woher auch sollte er etwas ahnen.
„Wir schlagen in der Unterführung zu, erledigen die Sache ein für alle Mal“, knurrte Narbengesicht. „Ziel nicht daneben, er muss auf jeden Fall blind sein und hinfallen, klar?“
Der Hinkende nickte stumm.
Narbengesicht schlüpfte in schwarze Gummihandschuhe, zog die Injektionsspritze aus der linken Jackentasche und schraubte die Silbernadel auf. Dann öffnete er eine Glasampulle, auf deren Etikett ein Totenkopf gedruckt war. Vorsichtig saugte er die gelbe Flüssigkeit in die Spritze. Sie stank grässlich nach faulen Eiern.
Noch schnell eine Kontrolle der Spraydose. Es zischte, kurz, leise. Dann roch es nach Pfeffer.
„Bereit“, flüsterte der Hinkende.
Perfekt! Mehr als das, um genau zu sein. Noch keine Leute unterwegs in dieser Gegend – genial.
Dann das Zeichen. Ein Fingerschnippen.
Narbengesicht schlich nach rechts hinüber in die dunkle Straßenunterführung. Dort wartete er auf den Hinkenden, der mit schlurfenden Schritten folgte.
„Jacob, Irina? Seid ihr das?“, rief Dan noch, als ihn Geräusche irgendwo im Nebel vor ihm aufhorchen ließen.
Keine Antwort.
„Kommt schon. Was soll das?“
Nichts.
„Auf die Art Spaß kann ich verzichten …“
Stille.
Ein Verfolger. Vielleicht ein Entführer. Dan ging schneller, um die Unterführung rasch hinter sich zu bringen. Er wusste aus einem Survival-Kurs im College, dass er im wahren Leben gegen einen Kidnapper auf keinen Fall den coolen Fernsehhelden spielen durfte. Er versuchte, sich an die Sicherheitsratschläge der Polizei zu erinnern. Viel Zeit, das war klar, blieb dazu nicht mehr.
2
Viele Menschen als Schutzschild: Lauf, so schnell du kannst, in eine Menschenmenge und tauche in ihr unter. Da bist du geschützt, nur schwer zu sehen und so kaum zu verfolgen. Bitte jemanden, die Polizei oder deine Eltern anzurufen. Lass dich von ihnen abholen.
Daniel hielt nach Menschen Ausschau. „Mist! Die Geschäfte öffnen erst um neun. Noch keine Leute weit und breit.“
Plan eins schied aus.
Also: das Telefon. Hast du ein Handy, dann alarmiere die Polizei oder deine Eltern. Bleib beim Telefonieren aber nicht stehen und blicke dabei in die Richtung des vermuteten Verfolgers. So kannst du fliehen, falls er unvermutet angreift, um dich, sein Tauschobjekt, zu entführen.
„Verdammt! Kein Mobilnetz in der Unterführung. Und zum Teufel noch mal, wofür soll ich ein Tausch…“ Daniels Herz setzte einen Schlag lang aus, als er verstand … War das möglich? Konnte jemand von Sniper erfahren haben? Unmöglich. Sie hatten Schweigen unter Freunden vereinbart – per Handschlag und …
Ein Geräusch. Schlurfen?
Dan starrte in den dichten Nebel vor ihm. Er konnte nichts erkennen. Zu düster hier unten, kaum Lampen. Plötzlich klirrte es über ihm. Glas rieselte zu Boden. Die Neonröhren an der Decke flackerten kurz – und erloschen.
Dunkel.
Die Flucht-Taktik, um einen Verfolger loszuwerden: Geh langsam weiter, dann unerwartet wieder schnell – und erneut langsam. Wechsle überraschend die Straßenseite: links, rechts, wieder links. Überquere Straßen erst im allerletzten Moment, wenn die Ampel von Grün auf Rot springt. Tut der Verdächtige das ebenfalls, verfolgt er dich tatsächlich.
Wieder Geräusche.
Schlurfende Schritte.
Dan schluckte.
Erwischt dich der Entführer trotz all dieser Maßnahmen, dann treibe ihn durch nerviges Verhalten nicht zu einer Kurzschlussreaktion. Sprich mit dem Entführer, das beruhigt euch beide. Und mach alles, was er von dir verlangt. Vielleicht ergibt sich dadurch, in einem Moment der Unachtsamkeit, die Chance für deine Flucht. Flucht ist das Ziel! Nicht den Kinohelden zu spielen.
Schritte.
Dan zuckte zusammen und biss sich in die Zunge. Er schmeckte Blut auf den Lippen.
Wieder die Schritte. Sie tappten durch den Nebel. Nur wenige Meter vor ihm. Dan lauschte und sprach mit sich selbst vor Angst.
Schütteln all diese Manöver den Verfolger nicht ab, dann muss ich den Kerl selbst überlisten, um Fluchtzeit zu gewinnen. Und zwar indem ich ihn in eine Falle locke, wenn er mich auf meinem Weg verfolgt. Mein Vorteil ist die bessere Wegkenntnis – wo befindet sich was? Ich kann mich viel schneller fortbewegen als er, mich verstecken, ihm auflauern und ihn in einem Überraschungsmoment überrumpeln und fliehen. Und: Such dir zuvor einen spitzen Gegenstand als Waffe. Ein Geodreieck, ein Bleistift ist für das, was jetzt zu tun ist, ausreichend.
„Herrgott noch mal! Wo soll ich am Weg zum Training einen spitzen Gegenstand hernehm…?“ Dans Gedanken stoppten bei der Füllfeder mit der Stahlspitze. Er hatte immer etwas zum Schreiben dabei.
Geräusche. Ganz nah.
„Okay“, sagte er zu sich selbst. „Wenn du mich kriegen willst, dann musst du mich auf jeden Fall packen und dabei direkt in meine Reichweite kommen.“
Dan schlich, so leise er konnte, in einen Seitengang der Unterführung. Dort kroch er hinter eine Wand aus Mülltonnen, Paletten und Pappschachteln. Er spürte, wie sein Herz pochte und seine Handflächen allmählich zu schwitzen begannen.
Dan fragte sich noch schnell: Wann ist der richtige Zeitpunkt, um sich zu verteidigen? Wenn der Entführer mich gerade fassen will oder an mir vorübergeht?
Versuche ich, schneller zu sein als er, durch einen Überraschungsangriff Fluchtzeit zu gewinnen, dann sind seine Beine mein bestes Verteidigungsziel. Seinen Oberschenkel treffe ich mit der Füllfeder – selbst unter Angst. Der Stich tut höllisch weh, stoppt den Angreifer kurz, verletzt ihn aber nicht ernsthaft. Nutze die Sekunden von Schmerz und Verwirrung für die Flucht.
Gut. Es muss einfach irgendwie funktionieren. Dans Augen waren in der Zwischenzeit an die trübe Sicht im Nebel gewöhnt.
Vorsichtig drückte er gegen einen Stapel mit Pappkartons.
Langsam schob sich dieser direkt vor ihm zur Seite.
3
Dan duckte sich hinter eine der Holzpaletten. Seine rechte Hand umklammerte den Füller so fest, er spürte ihn kaum noch zwischen den Fingern. Er schob den Kopf ein Stück vor und spähte hinaus in den trüben Seitengang.
Wie seltsam.
Plötzlich herrschte dort Stille.
Kein Schlurfen. Keine Schritte. Nichts.
Dan beschloss, sich zum Eingang der Unterführung zurückzuschleichen und von dort zur Tankstelle in der Bowery Street zu flüchten.
Noch immer Stille.
Jetzt!
Dan sprang auf, stürmte aus seinem Versteck, da erhob sich ein breiter Schatten vor ihm.
„Wer … Wer …“
Ein Fußtritt. Genau gegen sein Knie. Knallhart. Dan schrie noch im selben Moment auf. Er stürzte. Kopfüber. Direkt hinein in den düsteren Nebel. Seine rechte Hand schlug gegen eine Mülltonne, die polternd umkippte. Sofort spürte Dan, wie der Füller aus seiner Hand rutschte. Er hörte ihn am Steinboden davonschlittern. Dan wollte soeben nachgreifen, aber in derselben Sekunde zischte eine Spraydose.
„Ahhh!“ Dans Gesicht brannte wie Feuer.
Eine spitze Nadel blitzte kurz auf, dann tanzten Tausende Lichtpunkte vor seinen Augen. Plötzlich stank es grässlich nach faulen Eiern.
Hastige Schritte. Murmeln. Worte.
Dan riss beide Arme vors Gesicht. „Wer sind Sie? Was zum Teufel wollen Sie von mir!“, rief er in die dichten Nebelschwaden hinein.
Zwei Hände packten ihn grob am Kragen, rissen und zerrten wild an ihm …
In panischer Verzweiflung krallte sich Dan seine Tennistasche. Als letzten Schutzschild presste er sie an sich und versuchte, sich noch einmal, irgendwie, zu verteidigen …
4
Er konnte nichts sehen.
Er konnte kaum etwas hören.
In der Dunkelheit gefesselt, dachte Dan wieder daran, was er alles dafür geben würde, um jetzt in einer Mathestunde sitzen und eine Schularbeit schreiben zu dürfen: seine neueste Playstation? Mit Freuden. Sein ultraleichtes Rennrad, das aus Carbon um siebentausend Euro? Ohne eine Sekunde nachzudenken. Einen Finger? Hm, brauchte er seinen linken kleinen Finger unbedingt? Oder sogar Sniper? Klar doch. Sofort!
Schlammiger Dreck klebte an seiner Wange, an seiner Kleidung, an seinen Haaren. Er, der sportliche, dunkelhaarige Tennis-Student, lag nur mit seinem T-Shirt und seinen Adidas-Shorts bekleidet auf einem schmutzigen Betonboden an einem nasskalten, sehr engen Ort.
Er konnte nichts sehen.
Er konnte kaum etwas hören.
Ein lästiges Brummen, wie von einem vorbeidonnernden Zug, dröhnte in seinem Kopf. Seine Augen und Ohren waren verbunden, seine Hände an ein Rohr hinter ihm gefesselt. Der Knebel trocknete seinen Mund aus und war am Hinterkopf fest verknotet.
Er konnte nichts sehen.
Er konnte kaum etwas hören.
Die Tiger Tennis Academy war der erste Schritt seines lebenslangen Traumes, Profisportler zu werden. Im Wohnzimmer seines Vaters stand die Ausgabe eines Sportlexikons von 2002, und schon als kleiner Junge hatte Dan es geliebt, darin zu blättern. Stundenlang hatte er das Leben der großen Tennislegenden wie Björn Borg, John McEnroe und Roger Federer studiert – und sich ausgemalt, eines Tages selbst als Star in einem solchen Buch verewigt zu sein.
Dan schluchzte während dieser glücklichen Erinnerung. Kalkstaub landete von der Decke auf seinem Gesicht und rieselte seinen Hals hinab. Das Kitzeln war unerträglich. Die Schulter und seine Hüfte würden sich wundscheuern und entzünden, wenn er nicht aufstehen konnte.
Schmerzen.
Woran er sich noch erinnern konnte, war, dass er am frühen Morgen das Elternhaus verlassen hatte, um ein paar Stunden im Tenniscamp zu trainieren. Beim Bankomat der Bank of America hatte er 450 Dollar abgehoben. Das Viertelfinale stand an.
Der Nebel. Die Unterführung. Plötzlich diese Schritte, diese brennende Flüssigkeit in seinem Gesicht, der Stich und … Ab diesem Zeitpunkt schien ihn sein Gedächtnis verlassen zu haben.
Zum hundertsten Mal versuchte er, sich eine Zukunft zurechtzubasteln, in der sich alles zum Guten wendete. Am besten gefiel ihm die Vorstellung, dass es sich um einen Streich seiner Schulfreunde handelte und die Sache nur aus dem Ruder gelaufen war. Ja, so musste es sein. Es konnte nur so sein.
Er begann zu weinen. Wo waren seine Kleider? Warum hatte man ihm Turnschuhe, Socken und Sweatshirt ausgezogen? In seinem Kopf nahmen schlimme Gedanken Gestalt an: düster, dunkel, abgrundtief schwarz.
„Lieber Gott, hilf mir. Bitte!“, flehte Dan leise.
Er konnte nichts sehen.
Er konnte kaum etwas hören.
ZWEI TAGE SPÄTER.
LÖSEGELD? SCHLIMMER.
VIEL SCHLIMMER!
5
Kein Laut war zu hören. Totenstille herrschte. Nicht ein einziger der 22.500 Zuschauer schien in diesen Sekunden zu atmen.
Ich blickte genauso gespannt wie meine Freunde Dex und Skipper auf den in der Hitze flirrenden Tennisplatz im Arthur-Ashe-Stadion von New York. Die US Open. Nie zuvor hatten wir ein Grand-Slam-Tennisturnier live miterlebt. Und nun gleich der Mittwoch, Viertelfinale, die besten Spieler der Welt – klasse!
Wir wussten nicht, dass eine Woche vor uns lag, die wir ein Leben lang nicht mehr vergessen würden. Es war 15.09 Uhr, als diese Frau von hinten an mich herantrat.
„Luke, Dex, Skipper – das X-Team?“
Ich drehte mich um. Schon wollte ich grüßen, fürchtete aber, dass man lautes Reden am Platz hier in den vornehmen Tenniskreisen von Flushing Meadows als besonders unpassend empfinden könnte. Ich blickte in das Gesicht einer besorgten Frau um die fünfzig.
„Ich muss mit euch sprechen“, flüsterte die Frau. „Es ist dringend.“
Unten am Platz, im Hexenkessel der Tennisfans, schlug Greg Moody ein Ass im dritten Satz. Die Menge schrie begeistert auf, applaudierte heftig.
„15:0“, dröhnte der Schiedsrichter.
„Worum geht es?“, fragte ich.
„Schhht!“, zischte Dex. Dex, selbst eine der Sportskanonen der PRINS, der Private International School, die wir besuchten, hasste es, wenn sich Besucher nicht an die Regeln einer Sportart hielten. Und die oberste Zuschauerregel im Tennis heißt: Mund halten!
Die Frau bewegte den Hals, als wäre der Kragen ihrer Bluse zu eng. „Dein Onkel, Brian Lobec, verdient sein Geld doch als Werbeagent und Marketingcoach für Profisportler?“
„Ja.“
„Sagt euch der Name Greg Moody was?“ Ihr Flüstern klang heiser.
„Natürlich“, antwortete ich. „Hat soeben sein zehntes Ass abgefeuert.“
Jeder, der das Turnier auch nur am Rande verfolgte, wusste, dass Greg Moody in diesen Tagen unerwartet groß aufspielte.
Und dies erregte umso mehr Aufsehen, als er in den letzten vier Jahren auf der ATP-Tour, dem großen Tenniszirkus, kaum mehr als ein Mitläufer gewesen war. Aber nach den ersten neun Turniertagen hier richteten sich alle Augen auf ihn. Überraschend fegte er einen Gegner nach dem anderen praktisch wie ein Orkan vom Platz. Plötzlich galt er sogar als Sieganwärter für die US Open.
„Was ist mit ihm?“, fragte ich kaum hörbar.
„Und Diana Moody?“, fragte die Frau. „Wisst ihr, wer das ist?“ Wieder verrenkte die Frau ihren Hals vor und zur Seite. Nervig.
Diese Frage war überflüssig. „Diana Moody ist Greg Moodys Ehefrau“, sagte ich.
„Und sie ist seit drei Jahren die unangefochtene Nummer eins im Damentennis“, ergänzte Skipper. „Führt die aktuelle Weltrangliste mit überragenden 7470 Punkten an. Im Moment aber verletzt. Spielt die US Open nicht.“
„Die beiden stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten“, flüsterte die Frau. „In großen Schwierigkeiten. Wenn ihr ihnen helft, hat dein Onkel zwei neue Stars als Kunden.“
„Was für Schwierigkeiten?“, fragte Dex.
Die Frau blickte sich um, als hätte sie Angst, beobachtet zu werden. „Bitte“, sagte sie, „hier sind zu viele Leute. Kommt mit.“ Wieder blickte sie sich verstohlen um.
6
Ich blickte Dex und Skipper fragend an. Beide nickten. Wir waren das X-Team von LPE – Lobec Privatermittlungen. Brauchte jemand Hilfe, gab es kein Zögern. Oberstes Gebot bei LPE: Hilf, wem geholfen werden kann!
Mein Vater Jake ist der alleinige Chef von LPE. Mein verstorbener Großvater John Lobec hatte die Agentur 1991 als Einmanndetektei gegründet. Heute hat LPE Niederlassungen in vielen bedeutenden Städten der Welt. Ich bin stolz, den gleichen Namen wie Dad und Großvater zu tragen. Und ich bin stolz, Teil des X-Teams zu sein. X-Team, so nennen wir Einsatzgruppen, die verdeckt ermitteln – undercover. Wir sind die Umsetzung einer genialen Idee meines Vaters. Wer kommt schon auf den Gedanken, ausgerechnet von jungen Leuten ausspioniert werden zu können. Wir sind so etwas wie eine Geheimwaffe von LPE.
„Ich weiß, dass eure Agentur Aufträge von Filmstars, reichen Geschäftsleuten, Spitzensportlern und berühmten Künstlern übernimmt“, sagte die Frau und zuckte mit dem Hals. „Gott segne das Internet.“
„Stimmt“, antwortete ich. „Wir arbeiten auch den Behörden zu, ermitteln im Namen der Bundespolizei und von Geheimdiensten – FBI, CIA, Interpol … Die ganze Palette. Wir kümmern uns auch um die großen Fische.“
„Personenschutz gehört auch zu den Aufgaben von LPE“, ergänzte Skipper. „Jake und Jane Lobec, Lukes Eltern, übernehmen obendrein Undercover-Aufträge für Staatsanwälte.“
„Deshalb bin ich bei euch mit dieser beängstigenden Sache richtig“, sagte die Frau überzeugt.
„Von welcher Sache reden Sie?“, fragte Dex.
„Kommt weiter. Hier könnte man uns beobachten.“
Die schlanke Frau führte uns Richtung US Open Club, einem Restaurant des Flushing-Meadows-Tennis-parks, der im Stadtteil Queens liegt. Hier treffen sich Spieler, Trainer und Fans ebenso wie Sportagenten, Journalisten und Ausrüster, die auf Werbeverträge aus sind.
„Sie haben uns bislang Ihren Namen verschwiegen“, sagte Dex.
„Ella King“, sagte sie und streckte die Hand aus. „Einfach Ella.“
Wir schüttelten ihr die Hand.
„Außerdem bin ich Dianas Schwester“, fügte sie hinzu.
Am Parkplatz A, auf der anderen Seite des Arthur-Ashe-Stadions, stiegen wir in einen silberfarbenen Range Rover. Ella drehte den Schlüssel und fuhr los.
„Wohin fahren wir?“, fragte ich.
„Was wisst ihr über meine Schwester, ihren Mann und ihren Sport?“, überging Ella meine Frage einfach, als hätte ich sie überhaupt nicht gestellt.
„Tennis“, antwortete Skipper. „Eine Sportart, in der es um viel Geld geht, 43 Millionen Dollar Preisgeld alleine hier bei den US Open.“
„Ja, wirklich ein prachtvoller Sport“, sagte Ella.
„Ella, was soll das alles?“, fragte ich.
Ella bog in eine Straße ein, die an den West Side Tennis Club angrenzt und Dartmouth Street heißt. Links und rechts standen beeindruckende Villen. Augenblicke später bog Ella in eine schattige Zufahrt ein. Das Haus war groß und von alten Bäumen umgeben. Ella stoppte und blieb einen Moment lang reglos sitzen.
„Also?“, hakte ich nach.
„Wir stecken in einer schwierigen Lage“, sagte Ella.
„In was für einer Lage?“
„Das soll euch lieber Diana selbst erklären.“
Sie zog den Schlüssel ab – und zitterte dabei.
7
Ella wollte die Autotür öffnen, doch der Schlüssel entglitt ihr und fiel zu Boden.
„Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?“, fragte Skipper.
„Wir haben uns im Internet über LPE informiert. Niemand kann uns in unserer Situation helfen. Nur ihr vielleicht.“
Ella schluckte. Es gelang ihr, sich wieder unter Kontrolle zu kriegen. Sie stieg aus und ging auf die Haustür zu.
Wir folgten wenige Schritte hinter ihr, einen Kiesweg entlang. Ella öffnete die Tür. „Diana?“
Diana Moody stand vor einem Fernsehgerät im Wohnzimmer. 27 Jahre, groß, blonde Haare, die gewellt über ihre straffen Schultern fielen. Diana hatte die muskulöse und absolut durchtrainierte Figur einer Sportlerin, die an der Spitze der Tenniswelt stand. Und mir war sofort klar, warum Diana eine umschwärmte Werbeträgerin war. Sie strahlte pure Selbstsicherheit aus.
Diana verfolgte das Turnier im Fernsehen. Hier im Viertel rund um den West Side Tennis Club konnten sich die Stars unbehelligt von Fans und Journalisten von ihren kraftraubenden Spielen erholen und sich mental auf die nächste Runde vorbereiten. Greg und Diana Moody hatten sich vor drei Jahren hier ein Haus gekauft, um nah am Tennissport, aber doch in abgeschiedener Ruhe wohnen zu können.
„Diana?“
Diana Moody sah uns kurz an und wandte sich dann wieder dem Bildschirm zu. „Keine Besuche, hatte ich ausdrücklich gesagt“, fauchte sie. „Du wolltest Greg nach dem Spiel abholen. Warum bist du schon hier? Er braucht nur noch ein Game zum Sieg.“
„Ich habe jemanden von Lobec Privatermittlungen mitgebracht.“
„Wen?“
„Wir ermitteln verdeckt für die Detektei meines Vaters“, sagte ich. „Unsere Agentur betreibt Niederlassungen auf der ganzen Welt. Unser New Yorker Büro liegt in Manhattan. Riverside Drive, Ecke 104. Straße, um genau zu sein.“
Diana Moody blickte weiterhin auf den Fernseher. „Wer zum Teufel sind die?“
„Unsere einzige Hoffnung, Diana. Ihre Agentur hat Erfahrung mit solchen Dingen“, sagte Ella.
„Ich will sie nicht hier haben“, sagte Diana Moody schroff. „Raus mit ihnen.“
„Diana, bitte. Wir brauchen Hilfe.“
„Nicht von … Schülern.“
„Lobec ist die erfolgreichste Ermittlungsagentur.“
Jetzt wandte Diana Moody sich uns zu. Unsere Blicke trafen sich. „Keine Polizei hieß es. Wir tun genau, was sie verlangen, Ella.“
„Sie sind keine Polizei“, sagte Ella mit Nachdruck.
„Und du solltest niemandem davon erzählen. Du hältst dich nicht an meine Anweisungen, Ella.“
Am Bildschirm hämmerte Greg Moody ein weiteres Ass über das Netz.
„Spiel, Satz und Sieg – Greg Moody“, hörten wir den Schiedsrichter verkünden. „6:2, 6:4, 6:1.“
Greg Moody, mit 32 Jahren der älteste Spieler bei den diesjährigen US Open, stand sensationell im Halbfinale.
„Auf diesen Moment hat er vier Jahre hingearbeitet“, sagte Diana. „Und ausgerechnet jetzt, wo er zurückkommt, muss das passieren.“
Skipper blickte mich verwirrt an. Dex auch.
Diana Moody schaltete den Fernseher aus. „Greg hat noch nie ein Grand-Slam-Turnier gewonnen. Einmal aber war er ganz nah dran. Vor vier Jahren. Ebenfalls bei den US Open.“
„Vielleicht klappt es in diesem Jahr“, sagte Dex. „Er spielt enorm stark.“
„Verstehst du was vom Tennis?“
„Sport wird an unserer Schule großgeschrieben. Mein Ding ist aber eher Eishockey und Fußball. Wir spielen Meisterschaft. Erste Schülerliga, bundesweit.“
„Dann wisst ihr ja, wie Niederlagen schmerzen“, sagte Diana Moody. „Greg führte damals im fünften und entscheidenden Satz im Tiebreak 13:12 und hatte Aufschlag. Eigenen Aufschlag. Das ist, als würdest du unbedrängt den entscheidenden Elfmeter im WM-Finale danebenschießen, weil du einen Flattermann bekommst. Aus der Traum von den Geschichtsbüchern und vom großen Geld. Danach war Greg nie wieder der Alte. Er hat sich nie davon erholt. Seither wartet er auf seine zweite Chance.“
„Und jetzt haben Sie Angst, dass er es wieder verbockt“, sagte ich.
Diana schwieg.
„Wo liegt das Problem?“, hakte Dex nach.
„Mein Bruder“, sagte sie. „Für Greg ist mein Bruder wie sein eigener Sohn … Jemand hat ihn entführt.“
8
„Ich dürfte euch gar nichts darüber erzählen“, sagte Diana Moody. „Sie haben klargestellt, dass ich ihn dann nie wieder sehe.“
„Wer hat das klargestellt?“, fragte Skipper.
Diana Moody seufzte tief. „Heute rief mich jemand an“, erklärte sie. „Dieser Mann sagte, dass er meinen Bruder hat. Er drohte, wenn ich die Polizei rufe, bringt er ihn um.“
„War das alles, was er gesagt hat?“, fragte ich.
„Nur, dass er sich wieder meldet. Er wird mir Anweisungen geben.“
„Sonst nichts?“ Dex blickte uns skeptisch an.
„Sonst nichts.“
„Wann war das?“, fragte Skipper.
„Gegen 13 Uhr.“
Ich ging zum Wohnzimmertisch, auf dem Dianas iPhone lag. Der Bildschirmschoner zeigte das Bild eines Jungen. „Ist das dein Bruder?“
„Ja.“
„Wie alt ist er?“, fragte Dex.
„Fünfzehn. Er heißt Daniel. Alle nennen ihn Dan.“
Wir betrachteten das Foto. Dan lächelte. Er trug eine rote Schirmkappe der US Open. Über dem Schild stand Daniel in Blau gestickt. Stolz hielt er einen Tennisschläger in den Händen.
„Wann habt ihr bemerkt, dass Dan verschwunden ist?“, fragte ich.
Diana warf Ella einen kurzen Blick zu. „Dan ist seit gestern, also seit Dienstag früh, seit genau 37 Stunden verschwunden.“
„Du hast ihn also seit Dienstag nicht mehr gesehen“, sagte Dex. „Wir dürfen doch Du sagen?“
Diana nickte.
„Aber der Entführer hat sich erst heute gemeldet?“, sagte ich.
„Ja.“
„Hast du irgendeine Idee, wo Dan gewesen sein könnte?“, fragte Dex.
„Ich vermute, dass er bei seinem Freund Adam Taylor war“, erwiderte Diana. „Warum?“
„Nur so ein Gedanke“, merkte ich an. „Dan ist zu Beginn der zweiten Turnierwoche verschwunden. In der Woche, in der es allmählich um das wirklich große Geld geht, weil nur mehr die besten Spieler im Rennen sind.“
„Richtig“, sagte Diana. „Das Turnier geht jetzt praktisch erst richtig los. Ist das wichtig?“
„Damit können wir einen Entführungsgrund ausschließen“, sagte Skipper.
„Welchen?“
„Die US Open zu beeinflussen“, sagte ich. „Wäre Dan schon am Sonntag verschwunden, nachdem Greg entgegen allen Erwartungen locker in die Finalwoche eingezogen war, hätte man vermuten können, dass ihm jemand seine Chance rauben möchte, das Turnier eventuell sogar zu gewinnen. Aber nur vier Tage vor Turnierende … Wenig Zeit für eine Erpressung samt Lösegeldforderung.“
„Könnt ihr mir das etwas genauer erklären?“, sagte Diana.
„Zu Turnierbeginn hätte niemand auch nur einen Cent darauf gesetzt, dass Greg das Turnier gewinnen könnte“, erklärte Dex. „Seine Erfolge der letzten Jahre waren mehr als bescheiden.“
Diana nickte wieder.
„Die Wettbüros hätten für seinen Sieg bestimmt eine hohe Summe bezahlt“, merkte Skipper an. „500 zu 1 oder so. Nicht schlecht, für einen gewetteten Dollar fünfhundert zurückzubekommen.“
„Guter Gedanke“, sagte Ella.
„Okay, damit hätten wir eine Möglichkeit – die Erpressung von Lösegeld – ausgeschlossen“, sagte ich. „Probieren wir es mit der nächsten.“
Diana hielt inne und starrte uns an. Ella ebenfalls. Dann blickten sich die beiden gegenseitig an.
„Nein. Das ist nicht wirklich euer Ernst“, murmelte Diana.
9
Ich überlegte, wie ich es Diana schonend rüberbringen konnte. Immerhin ging es um ihren Bruder, den sie offenbar liebte, als wäre er ihr eigener Sohn.
„Könnte Dan selbst dahinterstecken?“, kam mir Dex zuvor.
„Was?“
„Aufgrund der Fakten ist das durchaus eine naheliegende Möglichkeit“, sagte ich.
„Wovon, Herrgott noch mal, redet ihr da! Glaubt ihr etwa, Dan hätte seine Entführung vorgetäuscht?“
„So haben wir das nicht gesagt“, ging Skipper dazwischen. „Es könnte aber durchaus so sein.“
„Haut ab!“
„Dan ist seit 37 Stunden verschwunden“, mischte ich mich ein. „Du hast aber nicht die Polizei gerufen, Diana.“
„Verschwindet einfach!“
„Ist Dan früher schon mal ausgerissen?“, fragte Dex.
„Dan kann auf sich alleine aufpassen, wenn du das meinst. Er trägt Verantwortung, musste rasch erwachsen werden, seit unsere Eltern beim Bergsteigen in den Tod gestürzt waren. Greg und ich sind Proispieler. Wir sind selten zu Hause. Dan hat gelernt, unabhängig zu leben. Er ist für uns Bruder und Sohn gleichermaßen. Verstanden? Wir sind eine funktionierende Familie.“
„Verstanden“, nickte ich.
„Dan ist in Gefahr. Das spüre ich. Da sind eure Gedankenspiele reine Zeitverschwendung. Und Zeit haben wir jetzt nicht.“
„Hast du seinen Freund angerufen, bei dem er gewesen sein könnte?“, fragte Skipper.
„Adam Taylor? Ja.“
„Hatte Adam eine Idee, wo Dan sein könnte?“
„Nein.“
„Sind die beiden eng befreundet?“, wollte ich wissen.
„Sie tun praktisch alles gemeinsam.“
„Hat Adam oft hier angerufen?“, fragte Dex.
„Ja. Oder sie haben sich E-Mails und WhatsApp-Nachrichten geschickt.“
„Wir brauchen Adams Telefonnummer“, sagte Skipper.
„Ich hab doch schon gesagt, dass ich mit Adam gesprochen habe.“
„Wir wollen euch nur helfen“, sagte ich. „Also bitte.“
„Wann hast du Dan das letzte Mal gesehen?“, ging Dex einen Schritt weiter.
„Gestern. Am Tag, an dem er verschwunden ist.“
„Was ist passiert?“
Diana runzelte die Stirn. „Er ist morgens wie jeden Dienstag zur Tiger Tennis Academy gegangen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.“
„Ich zieh mir alle Daten auf einen USB-Stick“, sagte Skipper. „Mal sehen, ob ich darunter was Interessantes finde.“
„Woran denkst du?“, wollte Diana wissen.
„Nichts Bestimmtes. E-Mails, Chateinträge, Beiträge in Foren … Alles, was uns einen Hinweis geben könnte. Eben der Routinekram.“
Diana überlegte einen Augenblick. „Meinetwegen“, sagte sie schließlich.
Und dann stellte ich ihr jene Frage, die uns als X-Team am brennendsten interessierte.