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Vom Fenster im oberen Flur aus sah Greta Mortensen ihrem derzeit einzigen Gast
hinterher. Mit gesenktem Kopf ging die Frau durch den morgendlichen Nebel die
Straße hinunter. Sie schien nicht sonderlich auf den Weg zu achten, denn sie starrte
nur vor sich hin.
Greta empfand Mitleid mit ihr, weil sie so traurig wirkte, aber vielleicht war
sie auch nur in Gedanken versunken. Was wusste sie schon über die Frau, die seit mittlerweile vier Tagen bei ihr wohnte? Sie hieß Marina Menkhoff, war achtundvierzig Jahre und kam aus Husum. Und sie war, das
hatte sie bei ihrer Ankunft erzählt, zum ersten Mal hier auf der Insel.
Das hatte Greta mehr als irritiert. Mit dem Fähranleger fast vor der Haustür gehörte es doch beinahe zum Pflichtprogramm, Deutschlands zweitgrößter Nordseeinsel einen Besuch abzustatten. Greta verstand nicht, dass viele
Menschen kreuz und quer durch die Welt jetteten und abendfüllende Vorträge halten konnten über andere Länder und Sitten, während sie nahezu unempfänglich waren für das, was es direkt vor ihrer Nase zu sehen und zu entdecken gab. Sie selbst
hatte bisher noch nie das Bedürfnis gehabt, viel zu reisen. Sie war mit Leib und Seele ein Inselkind und
konnte sich nicht vorstellen, dass es ihr irgendwo sonst besser gefallen würde als hier.
Sie konnte es deshalb kaum fassen, dass jemand, der weniger als fünfzig Kilometer vom Fähranleger entfernt wohnte, noch nie nach Föhr übergesetzt hatte. Auf Frau Menkhoff traf das aber tatsächlich zu.
Greta wandte sich vom Fenster ab, schnappte sich den Staubsauger und machte sich
auf den Weg ins Erdgeschoss, um dort ihre Arbeit fortzusetzen.
Viel gab es im Moment nicht zu tun, und weil ihr längst alles routiniert und beinahe automatisch von der Hand ging, blieben ihre
Gedanken bei Marina Menkhoff hängen.
Beim Frühstück, heute hatte sie allerdings ganz darauf verzichtet, sah die Frau jeden Morgen
aus, als hätte sie kaum oder gar nicht geschlafen. Zuerst hatte Greta sich nichts dabei
gedacht, die erste Nacht in einem fremden Bett machte ja vielen Menschen zu
schaffen. Aber sollte sie sich nicht inzwischen ein bisschen eingewöhnt haben? Marina Menkhoffs Augen waren allerdings täglich aufs Neue so rot und verquollen, dass sich das nicht mehr nur auf
Schlafmangel schieben ließ.
Greta hätte sich gerne nach dem Grund für die Traurigkeit erkundigt, hatte sich bisher aber nicht getraut. Sie wollte,
dass ihre Gäste sich bei ihr wohlfühlten, und dazu gehörte nun mal, dass sie sich zurückhielt und niemanden bedrängte. Vielleicht ergab sich im Laufe der nächsten Tage die Gelegenheit für ein Gespräch, aber Greta musste vorsichtig und behutsam vorgehen, denn es war nur ein
schmaler Grat zwischen Interesse und Neugier.
Am Nachmittag saß Greta in eine warme Fleecejacke gehüllt auf der verwitterten Gartenbank unter der Eiche direkt vor ihrem Haus. Neben
sich hatte sie den Karton mit den Familienfotos gestellt, der normalerweise
ganz hinten im untersten Fach ihres Kleiderschrankes stand und den sie sehr
selten hervorholte. Nämlich nur, wenn Greta in einer besonders seltsamen Stimmung war. Und das war
heute der Fall.
Früher hatte sie viel gegrübelt, um herauszufinden, woher diese merkwürdige Stimmung kam und was sie heraufbeschwor, aber inzwischen nahm sie sie hin
wie einen plötzlichen Wetterumschwung.
Wie in Zeitlupe holte sie Foto für Foto aus dem Karton und betrachtete es so konzentriert, als hätte sie es nicht schon unzählige Male zuvor gesehen. Sie war so vertieft in ihre Beschäftigung, dass sie Marina Menkhoff erst bemerkte, als diese bereits dicht vor ihr
stand und sie ansprach.
»Guten Abend, Frau Mortensen.«
Greta hob den Blick und sah sofort, dass die Augen ihres Pensionsgastes immer
noch oder schon wieder gerötet und geschwollen waren. »Moin, Frau Menkhoff. Hatten sie einen schönen Tag?«
»Ja, danke«, antwortete Marina knapp. Dann fügte sie hinzu: »Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich heute zum Frühstück nicht habe blicken lassen. Es ging mir nicht gut.«
»Ach, Sie müssen sich nicht entschuldigen. Das bisschen, das ich für einen einzelnen Gast mehr einkaufe, kriege ich spielend alleine aufgegessen.« Sie lächelte Marina an, aber sofort wurde ihre Miene wieder ernst und sie sagte: »Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich sage, dass ich bisher nicht den Eindruck habe, Sie könnten Ihren Urlaub genießen.«
Marina senkte den Blick und starrte auf ihre Schuhe, als sähe sie sie zum ersten Mal. Greta legte den Stapel Fotos, den sie in der Hand
gehalten hatte, zurück in den Karton und stellte ihn unter die Bank. Dann rückte sie ein Stück zur Seite und klopfte mit der Hand einladend auf den Platz neben sich. Marina
zögerte, setzte sich aber doch auf die vorderste Kante der Gartenbank.
Eine Weile saßen die beiden Frauen nur schweigend da und beobachteten eine Katze im
Nachbargarten, die bewegungslos vor einem Mauseloch verharrte, in der Hoffnung
auf ein schmackhaftes Abendessen.
Das Haus nebenan war ebenfalls reetgedeckt, aber winzig klein. Es wirkte düster und gruselig, beinahe wie ein Hexenhaus. Der Unterschied zur Pension »Marina« hätte nicht größer sein können.
Irgendwann hatte Marina das Gefühl, sich sehr unhöflich zu verhalten und irgendetwas sagen zu müssen.
»Diese Insel ist wirklich ein schönes Fleckchen Erde.«
»Das stimmt. Man nennt Föhr nicht umsonst die friesische Karibik«, antwortete Greta Mortensen mit Stolz in der Stimme.
»Haben Sie schon immer hier gelebt?«, fragte Marina, froh über die Unterhaltung.
»Ja, das hier ist mein Elternhaus«, sagte Greta mit einer ausladenden Handbewegung. »Ich bin hier geboren und hoffe, hier auch sterben zu dürfen. Allerdings darf es bis dahin ruhig noch etwas dauern. Wir beide sind übrigens gleich alt.«
Marina zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich? Ich hatte sie viel jünger geschätzt.«
Greta deutete eine Verbeugung an, um sich für das Kompliment zu bedanken. Dann fragte Marina: »Woher wissen Sie denn überhaupt, wie alt … ach ja, vom Anmeldeformular.«
Anstatt zu antworten, zwinkerte Greta ihrem Gast zu.
Nach einer Weile sagte Marina: »Erzählen Sie mir doch etwas über die Insel.« Sie hatte zwar schon viel über Föhr gelesen und sich einiges Insiderwissen angeeignet, aber das behielt sie für sich.
Greta, die es liebte, über ihre Heimat zu sprechen, kam der Bitte gerne nach.
»Erstmalig erwähnt wurde Föhr im Jahr 1362. Damals war unser Land durch die Marschen noch mit dem Festland
verbunden. In der Neujahrsnacht tobte hier eine der verheerendsten Fluten, die
Marcellusflut. Auf Fering, das ist die alte Inselsprache, Mandränke genannt. Das bis dahin zusammenhängende Land, das nur von Wasserläufen und Prielen durchzogen war, wurde auseinandergerissen. Viele tausend
Menschen und Tiere ertranken, unzählige Häuser und ganze Ortschaften wurden zerstört und verwüstet und konnten nicht wieder bewohnbar gemacht werden. Wo heute das Wattenmeer
ist, lebten bis zu dieser schicksalhaften Nacht Menschen.«
»Das ist ja schrecklich«, sagte Marina leise. »Und so entstanden die Nordseeinseln?«
»Natürlich nicht in ihrer heutigen Form, aber ja, so entstanden die Inseln. Die späteren Fluten trugen ihren Teil dazu bei, um sie zu formen. Und auch heute noch
wird die Küste durch das Wasser ständig neu geformt.«
»Gab es danach noch mehr solcher verheerenden Fluten?«
»Ja«, bestätigte Greta, »immer wieder verloren viele Bewohner der umliegenden Halligen ihr ganzes Hab und
Gut und wurden gezwungen, sich in der Siedlung by der Wieck ein neues Leben
aufzubauen.«
»Und aus der Siedlung by der Wieck wurde die heutige Inselhauptstadt Wyk auf Föhr?«
»Ja, gut aufgepasst«, lobte Greta. »Damals wurden diese Halligflüchtlinge von den eingesessenen Bewohnern der Insel als Eindringlinge betrachtet,
man bezeichnete sie als Friesen. Die Föhringer, die weit zurückreichende Familienstammbäume hatten, sahen sich als die einzigen echten Inselbewohner. Menschen, die sich
für was Besseres hielten und sich über andere erheben wollten, gab es schon zu allen Zeiten.«
»Und es wird sie wohl auch immer geben«, ergänzte Marina, »diese Schwäche der Menschen ist so alt wie die Welt.«
»Unser Hauptstädtchen Wyk müssen Sie sich unbedingt ansehen«, kam Greta wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen. »Oder haben Sie das bei Ihrer Ankunft schon getan?«
»Nein, da bin ich von der Fähre aus gleich hierher gefahren, aber ich hole das auf jeden Fall nach.«
Während die beiden Frauen sich unterhielten, war es dunkel und ziemlich kalt
geworden. Die Katze nebenan hatte die Jagd nach ihrem Abendessen aufgegeben und
war nicht mehr zu sehen.
Greta bemerkte, dass Marina Menkhoff fror. Kein Wunder, sie hatte kaum etwas auf
den Rippen, und dazu kam der Schlafmangel, den man ihr deutlich ansehen konnte.
»Möchten Sie noch einen heißen Kakao, bevor Sie in Ihr Zimmer hinaufgehen?«, schlug sie ihrem Gast vor.
»Da würde ich nicht nein sagen, aber nur, wenn es keine Mühe macht.«
Wenige Minuten später saßen die beiden Frauen am Tisch in der großen und gemütlichen Küche des Hauses und wärmten ihre kalten Hände an den Tassen mit dem dampfenden Kakao.
Marina hoffte von Herzen, dass sie in der kommenden Nacht schlafen konnte. Sie
befürchtete allerdings, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllte, denn ihr gingen zu viele Gedanken durch den Kopf. Außerdem genoss sie die angenehme Gesellschaft ihrer Pensionswirtin.
In dem Bestreben, den Abend noch nicht enden zu lassen, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.
»Sind sich, abgesehen von Wyk, die übrigen Ortschaften auf der Insel ähnlich oder gibt es da große Unterschiede?«
Gretas Antwort kam postwendend. »Von allen Dörfern der Insel ist Nieblum das schönste. Und das sage ich nicht nur, weil ich hier lebe. Der Ort hat zahlreiche
Auszeichnungen gewonnen. Man nennt ihn Kapitänsdorf, weil hier früher viele Familien wohnten, die durch den Walfang reich geworden waren. Nach dem
Ende des Walfangs wurde Nieblum allerdings zum armen Arbeiterdorf. Erst der
Tourismus brachte wieder wirtschaftlichen Aufschwung. Übrigens ist auch dieses Haus ein Kapitänshaus.«
»Sie sagten vorhin, es wäre Ihr Elternhaus«, warf Marina ein. »Heißt das, Ihre Vorfahren waren Walfänger?«
»Ja, vor zig Generationen«, antwortete Greta und unterdrückte ein Gähnen. »Aber das erzähle ich Ihnen irgendwann mal. Jetzt gehe ich schlafen. Falls Sie noch einen
Kakao möchten, bedienen Sie sich und schalten Sie nachher nur das Licht aus.«
»Das mache ich. Vielen Dank für alles«, erwiderte Marina. Und spontan fügte sie hinzu: »Ich fühle mich sehr wohl hier.«
Greta lächelte, machte einen Schritt auf Marina zu, legte ihr kurz die Hand auf den Arm
und sagte: »Ich weiß nicht, welche Sorgen Sie mit sich herumtragen, aber manchmal tut es gut, sich
jemandem anzuvertrauen. Am besten jemandem, den man kaum kennt und den man nie
wiedersehen muss, wenn man nicht will. Glauben Sie mir, es hilft, zu reden.
Oder sich zu besaufen. Oder beides gleichzeitig. Egal, wie Sie sich
entscheiden, ich bin da.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und verließ die Küche.
Marina blieb auf der bequemen Eckbank sitzen, stützte den Kopf in die Hände und seufzte. Sie war sicher, dass sie mit Frau Mortensen nicht über ihre Probleme reden würde. Noch nie war sie gut darin gewesen, sich anderen gegenüber zu öffnen und Einblicke in ihre Seele zuzulassen. Dennoch war es nett von Greta
Mortensen, ihr dieses Angebot zu machen.
Marina beschloss, ab jetzt jeden Morgen pünktlich zum Frühstück zu erscheinen und der Pensionswirtin auf die Art zu zeigen, dass sie ihre
freundliche Art zu schätzen wusste.
Oben im Haus stand Greta am Fenster ihres Schlafzimmers und blickte hinaus in
die Dunkelheit.
Sie ahnte, dass Frau Menkhoff sich ihr nicht anvertrauen wollte. Aber sie ahnte
auch, dass es früher oder später trotzdem dazu kommen würde. Wenn sie sich einer Sache sicher sein konnte, war es ihre Menschenkenntnis.
Und die sagte ihr, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihr Gast sich alles
von der Seele redete.