Doris Oetting


Das Haus auf Föhr


Inselroman











Prolibris Verlag





Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.  




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E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-192-1
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-182-2

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Die Autorin
Doris Oetting wurde im Mai 1970 in Lübbecke geboren, lebt und arbeitet inzwischen aber seit vielen Jahren in Minden. Sie ist glücklich verheiratet, kinderlos und hauptberuflich in einer  Werbeagentur tätig. Im März 2016 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem eine Sammlung von Kurzgeschichten folgte. Der Bezug zum Alltag und dem ganz normalen Leben mit seinen Höhen und Tiefen, durch den sich der Leser jederzeit wiedererkennt, ist für Doris Oetting bei allem, was sie schreibt, von Wichtigkeit.

Mehr Informationen über die Autorin unter:
www.doris-oetting.de





Für Rainer






Teil I
März 1968 bis November 1969






Teil II
Oktober bis Dezember 2016
9
Nieblum

Als Marina das Haus zum ersten Mal sah, fühlte sie sich mit ihm verbunden. Warum, hätte sie nicht sagen können. Sie kannte sich in dem Moment ja nicht einmal mit sich selbst aus, hätte nicht auf die Frage antworten können, wie es ihr ging. Nicht, dass sie jemand danach gefragt hätte. Schon lange fragte sie niemand mehr nach ihren Gefühlen. Und irgendwann hatte sie sogar selbst aufgehört, darüber nachzudenken.
Ausgerechnet jetzt, in diesem seltsamen Moment, in dem der Anblick eines alten Hauses sie fesselte, wurde sie sich dessen bewusst. Sie horchte angestrengt in sich hinein. Wie ging es ihr? Fühlte sie sich wohl in ihrer Haut, in ihrem Leben? War sie wenigstens zufrieden, wenn schon nicht glücklich? Sie stellte fest, dass in ihr ein ziemliches Durcheinander aus den verschiedensten Empfindungen tobte. Frust wegen ihrer buchstäblich in die Jahre gekommenen Ehe, in der sie sich von ihrem Mann kaum mehr wahr- und erst recht nicht ernst genommen fühlte. Erleichterung, hier auf der Insel zu sein und sich nur um sich kümmern zu müssen. Und Stolz, weil sie sich diese Freiheit, von der sie oft geträumt und geredet hatte, endlich genommen hatte.
Seit zwei Tagen war sie jetzt auf Föhr. Ihr erster Urlaub allein, obwohl sie bereits achtundvierzig war. Und es fühlte sich toll an. Marina hatte ihrem Mann lang und breit erklärt, dass sie beide eine Ehe-Pause dringend brauchten. Er war absolut nicht ihrer Meinung. Aber wann war er das schon? Sie erinnerte sich an den Streit, den sie mit Mick wegen ihrer Reise gehabt hatte.
»Was ist das bloß für eine Schnapsidee?«, hatte er gefragt und sie angesehen wie ein schwer erziehbares Kleinkind.
»Ich halte es für eine gute Idee. Ich möchte mal raus, und zwar alleine.«
»Es ist Ende Oktober, und du willst nach Föhr. Weißt du, wie kalt der Wind da jetzt ist? Hier frierst du doch sogar im Sommer.«
Da war er wieder, dieser überhebliche Blick, der zu sagen schien: Gib auf, ich habe wie immer die besseren Argumente.
Im selben Moment schaltete er den Fernseher ein, um ihr zu zeigen, dass die Schlacht für ihn geschlagen und der Sieg klar auf seiner Seite war.
Am liebsten hätte Marina geantwortet, dass die Kälte, die sie so oft frösteln ließ, von ihm ausging und nichts mit dem Wetter zu tun hatte. Tränen der Wut und Enttäuschung stiegen in ihr auf, aber die durfte sie ihm auf keinen Fall zeigen. Er würde ein Eingeständnis ihrer Niederlage darin sehen. Sie drehte sich um und verließ den Raum, was er, wenn er es überhaupt bemerkt hatte, bestimmt als Rückzug auf ganzer Linie deutete.
Zumindest bis zu dem Moment, als er sie im Schlafzimmer beim Packen ihres Koffers antraf.
»Und was bitte wird das jetzt? Setzt du tatsächlich diese unsinnige Urlaubsidee in die Tat um?«, fragte er kopfschüttelnd. »Oder hast du vor, mich zu verlassen?«
Als sie sah, mit was für einem überheblichen Grinsen er sie bei der letzten Frage ansah, verstummten in ihr jegliche Zweifel an ihrem Vorhaben. Zu offen zeigte er, dass er die Option, tatsächlich von ihr verlassen zu werden, für absolut undenkbar hielt. Glaubte er etwa, dass sie ihn dafür viel zu sehr liebte? Oder traute er es ihr einfach nicht zu?
Wie auch immer, mit der Tatsache, sich ab morgen seine Mahlzeiten selbst zubereiten zu müssen, musste er sich jetzt wohl oder übel abfinden.
In der folgenden Nacht hatte Marina kaum geschlafen. Lange vor ihrem Mann war sie aufgestanden, hatte ihren Koffer ins Auto gepackt und war zum Fähranleger nach Dagebüll gefahren. Sie hatte eine Notiz auf den Küchentisch gelegt, in der sie versprach, sich telefonisch zu melden. Abends hatte sie ihn dann nicht erreicht, was wohl seine Retourkutsche für ihre wortlose Abreise war.
Und jetzt stand sie hier vor dem verlassenen Haus, von dessen Anblick sie sich nicht losreißen konnte. Die Hände in den Manteltaschen vergraben, schüttelte sie energisch den Kopf, um die unschönen Gedanken an den Streit mit Mick abzuschütteln. Sie hatte sich vorgenommen, auf der Insel nur zu tun, was sie wollte und wozu sie Lust hatte. Ausschlafen, gut essen, lesen und ausgedehnte Spaziergänge unternehmen, um sich und das Leben endlich mal wieder zu spüren.
Dazu hatte sie sich bewusst für den kleinen Ort Nieblum entschieden und nicht für das Insel-Hauptstädtchen Wyk. Dort waren nämlich auch jetzt im Herbst noch einige Touristen, und Marina wollte unbedingt vermeiden, sich zwischen glücklichen Paaren oder Familien aufzuhalten und sich damit die eigene Einsamkeit umso schmerzlicher bewusst zu machen.
Bisher hatte sie bei ihren täglichen Spaziergängen durch Nieblum jeden Tag eine andere Richtung eingeschlagen, vielleicht um sich zu beweisen, dass sie zu Veränderungen fähig war. Wenigstens zu ganz kleinen. In dem beschaulichen Inselort waren die meisten Straßen aus Kopfsteinpflaster, und die liebevoll restaurierten und gepflegten Reetdachhäuser, die entweder aus rotem Backstein oder weiß verputzt waren, gaben einem das Gefühl, in einer anderen Zeit zu sein.
Marina war wie immer in Grübeleien versunken gewesen, als sie wie von einem inneren Drang gezwungen stehen blieb. Leicht irritiert hatte sie aufgesehen und es entdeckt.
Das Haus stand in einem verwilderten Garten und schien sie aus seinen blinden und schmutzigen Fenstern traurig anzusehen. Ein schmaler Kiesweg führte zu einer Treppe mit einem kunstvoll verschnörkelten, wenn auch sehr rostigen Geländer.
Wie ferngesteuert bewegte sie sich direkt auf diese Treppe zu. Über drei Stufen gelangte man zu einer breiten, aber niedrigen Haustür. Das dunkle Holz war matt und glanzlos, alles wirkte verlassen und leblos. Allerdings hatte der Eigentümer einen modernen Schließzylinder einbauen lassen, um ein unbefugtes Betreten zu verhindern. Über der Tür konnte man noch das Jahr lesen, in dem das Haus erbaut worden war. 1810 stand da in brüchigen Ziffern.
Wie prachtvoll es in seinen besten Tagen ausgesehen haben musste. Ein Hauch von vergangenem Stolz und verblasster Schönheit ließ sich noch erahnen. Jetzt aber interessierte sich niemand mehr für den einstigen Glanz, und alles war dem Verfall preisgegeben.
Marina setzte sich auf eine der Stufen und spürte, wie ihr eine Träne über die Wange rollte. Wenn Mick sie sehen könnte, würde er sie auslachen, weil sie hier saß und wegen eines fremden alten Gemäuers heulte. Er würde nicht verstehen, dass sie nicht um das Haus weinte, sondern um sich selbst.
War sie nicht auch irgendwann stolz und schön gewesen mit ihren schulterlangen blonden Haaren, den blauen Augen und der geraden und selbstbewussten Haltung einer Frau, die sich in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter pudelwohl fühlte und ihren Platz auf der Welt genau kannte? Hatte sie nicht ebenfalls gestrahlt und das Leben in seiner ganzen Pracht und Fülle genossen? Und war sie jetzt nicht genauso farblos und uninteressant geworden? Blätterte nicht auch an ihr die Farbe ab? Und zogen sich nicht durch ihre Seele ebenso viele Risse wie durch das Mauerwerk des Hauses? Es wurde Zeit, dass sie ihrem Dasein eine neue Richtung gab. Keinen Tag länger wollte sie so neben Mick her existieren und dabei zusehen, wie ihre besten Jahre an ihr vorbeizogen. Sie war noch nicht mal fünfzig, also viel zu jung, um sich und das Leben aufzugeben.
Sie suchte in den Taschen ihrer Jeans und ihres Mantels nach einem Taschentuch. Als sie endlich eins gefunden hatte, putzte sie sich geräuschvoll die Nase und wischte die Tränen ab. Sie trug keine Armbanduhr und hatte ihr Handy nicht dabei, aber gemessen an der einsetzenden Dunkelheit neigte sich der Nachmittag dem Ende zu. Sie musste sich auf den Rückweg zu ihrer Pension machen.
Nach ihrer Ankunft auf der Insel hatte sie vorgestern sofort die Adresse aufgesucht, die sie sich im Internet rausgesucht und notiert hatte. Die gepflegte kleine Pension lag in ruhiger Lage in der Strandstraße. Wie geschaffen, um ein paar Tage Ruhe und Entspannung zu finden. Und außerdem preisgünstig. Sie wollte Mick keine Chance geben, sich darüber auszulassen, dass sie mit ihrer »Schnapsidee« das gemeinsame Konto belastete. Kurz hatte sie sogar daran gedacht, Geld aus dem Erbe ihrer Mutter von ihrem eigenen Sparbuch abzuheben. Immerhin handelte es sich dabei um eine beachtliche Summe im fünfstelligen Bereich. Aber nach kurzer Überlegung hatte sie dann doch nicht eingesehen, warum Mick jederzeit ihr gemeinsames Geld für sein Auto oder teure Fußballkarten ausgeben durfte, während sie selbst sich selten etwas Persönliches kaufte. Außerdem war es wohl besser, das geerbte Geld zusammenzuhalten. Man konnte ja nie wissen, wozu man es noch brauchte.
Mit einem Seufzer stand sie auf und ging durch den Vorgarten zurück auf den Weg. Unterwegs zu ihrem Urlaubsquartier hoffte sie, dass ihr der Wind die sichtbaren Spuren ihrer Traurigkeit aus dem Gesicht wehte. Sie wollte auf keinen Fall, dass die nette Wirtin sich Sorgen um ihren derzeit einzigen Gast machte.
Die kleine Frühstückspension war wirklich ein Volltreffer, und die Besitzerin eine auffallend gut aussehende Frau, die Marina auf etwa vierzig schätzte. Sie war nicht gerade schlank, aber man sah ihr an, dass sie regelmäßig Sport trieb. Außerdem hatte sie kluge Augen, die einem scheinbar bis auf den Grund der Seele blickten.
Mit einer wohligen Wärme im Bauch erinnerte Marina sich an ihre Ankunft vor zwei Tagen. Sie war von der Pensionsbesitzerin, die Greta Mortensen hieß, auf eine Art und Weise empfangen worden, die ihr das Gefühl vermittelt hatte, als wäre sie schon sehnlichst erwartet worden.
»Natürlich bekommen Sie ein Zimmer, das schönste von allen sogar. Es ist ja keine Ferienzeit, deshalb ist momentan wenig los bei uns. Aber Sie werden sehen, die Insel hat auch jetzt allerhand zu bieten. Wie lange möchten Sie bleiben?«
»Eine Woche, wenn es Ihnen passt.«
»Und wie mir das passt! Nichts passt mir so gut wie nette Gäste. Wenn mir was nicht passt, sind es leere Zimmer.«
Sie lachte laut über ihren eigenen Witz, wobei ihr beachtlicher Busen so stark bebte, dass man sich fragte, wie eine handelsübliche Bluse das aushielt.
»Tragen Sie hier bitte Ihren Namen und Ihre Adresse ein, danach zeige ich Ihnen das Zimmer.«
Nach einem kurzen Blick auf das ausgefüllte Formular rief sie begeistert: »Marina Menkhoff? Sie heißen Marina? Genau wie meine Pension? Na, wo sollte Marina Menkhoff denn wohl sonst wohnen, wenn nicht im Haus Marina? Kommen Sie bitte mit.«
Marina spürte, wie sie sich auch jetzt wieder auf die Rückkehr in die heimelige Atmosphäre ihres Urlaubsquartiers freute, weil sie sich dort immer noch so willkommen fühlte wie am ersten Tag.
Die weiß verputzten Wände, die grünen Fensterrahmen und die wuchtige Haustür mit der kleinen Scheibe darin wirkten wie eine stumme, aber umso herzlichere Einladung. Durch die geöffneten Fensterläden sah man in die beleuchtete Küche. Auch im Aufenthaltsraum für die Gäste brannte Licht, obwohl sich dort niemand aufhielt. Die erleuchteten Fenster strahlten eine das Herz erwärmende Gemütlichkeit aus und das reetgedeckte Dach schien das Haus zu beschützen wie eine Henne ihre Küken.
10
Vom Fenster im oberen Flur aus sah Greta Mortensen ihrem derzeit einzigen Gast hinterher. Mit gesenktem Kopf ging die Frau durch den morgendlichen Nebel die Straße hinunter. Sie schien nicht sonderlich auf den Weg zu achten, denn sie starrte nur vor sich hin.
Greta empfand Mitleid mit ihr, weil sie so traurig wirkte, aber vielleicht war sie auch nur in Gedanken versunken. Was wusste sie schon über die Frau, die seit mittlerweile vier Tagen bei ihr wohnte? Sie hieß Marina Menkhoff, war achtundvierzig Jahre und kam aus Husum. Und sie war, das hatte sie bei ihrer Ankunft erzählt, zum ersten Mal hier auf der Insel.
Das hatte Greta mehr als irritiert. Mit dem Fähranleger fast vor der Haustür gehörte es doch beinahe zum Pflichtprogramm, Deutschlands zweitgrößter Nordseeinsel einen Besuch abzustatten. Greta verstand nicht, dass viele Menschen kreuz und quer durch die Welt jetteten und abendfüllende Vorträge halten konnten über andere Länder und Sitten, während sie nahezu unempfänglich waren für das, was es direkt vor ihrer Nase zu sehen und zu entdecken gab. Sie selbst hatte bisher noch nie das Bedürfnis gehabt, viel zu reisen. Sie war mit Leib und Seele ein Inselkind und konnte sich nicht vorstellen, dass es ihr irgendwo sonst besser gefallen würde als hier.
Sie konnte es deshalb kaum fassen, dass jemand, der weniger als fünfzig Kilometer vom Fähranleger entfernt wohnte, noch nie nach Föhr übergesetzt hatte. Auf Frau Menkhoff traf das aber tatsächlich zu.
Greta wandte sich vom Fenster ab, schnappte sich den Staubsauger und machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss, um dort ihre Arbeit fortzusetzen.
Viel gab es im Moment nicht zu tun, und weil ihr längst alles routiniert und beinahe automatisch von der Hand ging, blieben ihre Gedanken bei Marina Menkhoff hängen.
Beim Frühstück, heute hatte sie allerdings ganz darauf verzichtet, sah die Frau jeden Morgen aus, als hätte sie kaum oder gar nicht geschlafen. Zuerst hatte Greta sich nichts dabei gedacht, die erste Nacht in einem fremden Bett machte ja vielen Menschen zu schaffen. Aber sollte sie sich nicht inzwischen ein bisschen eingewöhnt haben? Marina Menkhoffs Augen waren allerdings täglich aufs Neue so rot und verquollen, dass sich das nicht mehr nur auf Schlafmangel schieben ließ.
Greta hätte sich gerne nach dem Grund für die Traurigkeit erkundigt, hatte sich bisher aber nicht getraut. Sie wollte, dass ihre Gäste sich bei ihr wohlfühlten, und dazu gehörte nun mal, dass sie sich zurückhielt und niemanden bedrängte. Vielleicht ergab sich im Laufe der nächsten Tage die Gelegenheit für ein Gespräch, aber Greta musste vorsichtig und behutsam vorgehen, denn es war nur ein schmaler Grat zwischen Interesse und Neugier.

Am Nachmittag saß Greta in eine warme Fleecejacke gehüllt auf der verwitterten Gartenbank unter der Eiche direkt vor ihrem Haus. Neben sich hatte sie den Karton mit den Familienfotos gestellt, der normalerweise ganz hinten im untersten Fach ihres Kleiderschrankes stand und den sie sehr selten hervorholte. Nämlich nur, wenn Greta in einer besonders seltsamen Stimmung war. Und das war heute der Fall.
Früher hatte sie viel gegrübelt, um herauszufinden, woher diese merkwürdige Stimmung kam und was sie heraufbeschwor, aber inzwischen nahm sie sie hin wie einen plötzlichen Wetterumschwung.
Wie in Zeitlupe holte sie Foto für Foto aus dem Karton und betrachtete es so konzentriert, als hätte sie es nicht schon unzählige Male zuvor gesehen. Sie war so vertieft in ihre Beschäftigung, dass sie Marina Menkhoff erst bemerkte, als diese bereits dicht vor ihr stand und sie ansprach.
»Guten Abend, Frau Mortensen.«
Greta hob den Blick und sah sofort, dass die Augen ihres Pensionsgastes immer noch oder schon wieder gerötet und geschwollen waren. »Moin, Frau Menkhoff. Hatten sie einen schönen Tag?«
»Ja, danke«, antwortete Marina knapp. Dann fügte sie hinzu: »Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich heute zum Frühstück nicht habe blicken lassen. Es ging mir nicht gut.«
»Ach, Sie müssen sich nicht entschuldigen. Das bisschen, das ich für einen einzelnen Gast mehr einkaufe, kriege ich spielend alleine aufgegessen.« Sie lächelte Marina an, aber sofort wurde ihre Miene wieder ernst und sie sagte: »Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich sage, dass ich bisher nicht den Eindruck habe, Sie könnten Ihren Urlaub genießen.«
Marina senkte den Blick und starrte auf ihre Schuhe, als sähe sie sie zum ersten Mal. Greta legte den Stapel Fotos, den sie in der Hand gehalten hatte, zurück in den Karton und stellte ihn unter die Bank. Dann rückte sie ein Stück zur Seite und klopfte mit der Hand einladend auf den Platz neben sich. Marina zögerte, setzte sich aber doch auf die vorderste Kante der Gartenbank.
Eine Weile saßen die beiden Frauen nur schweigend da und beobachteten eine Katze im Nachbargarten, die bewegungslos vor einem Mauseloch verharrte, in der Hoffnung auf ein schmackhaftes Abendessen.
Das Haus nebenan war ebenfalls reetgedeckt, aber winzig klein. Es wirkte düster und gruselig, beinahe wie ein Hexenhaus. Der Unterschied zur Pension »Marina« hätte nicht größer sein können.
Irgendwann hatte Marina das Gefühl, sich sehr unhöflich zu verhalten und irgendetwas sagen zu müssen.
»Diese Insel ist wirklich ein schönes Fleckchen Erde.«
»Das stimmt. Man nennt Föhr nicht umsonst die friesische Karibik«, antwortete Greta Mortensen mit Stolz in der Stimme.
»Haben Sie schon immer hier gelebt?«, fragte Marina, froh über die Unterhaltung.
»Ja, das hier ist mein Elternhaus«, sagte Greta mit einer ausladenden Handbewegung. »Ich bin hier geboren und hoffe, hier auch sterben zu dürfen. Allerdings darf es bis dahin ruhig noch etwas dauern. Wir beide sind übrigens gleich alt.«
Marina zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich? Ich hatte sie viel jünger geschätzt.«
Greta deutete eine Verbeugung an, um sich für das Kompliment zu bedanken. Dann fragte Marina: »Woher wissen Sie denn überhaupt, wie alt … ach ja, vom Anmeldeformular.«
Anstatt zu antworten, zwinkerte Greta ihrem Gast zu.
Nach einer Weile sagte Marina: »Erzählen Sie mir doch etwas über die Insel.« Sie hatte zwar schon viel über Föhr gelesen und sich einiges Insiderwissen angeeignet, aber das behielt sie für sich.
Greta, die es liebte, über ihre Heimat zu sprechen, kam der Bitte gerne nach.
»Erstmalig erwähnt wurde Föhr im Jahr 1362. Damals war unser Land durch die Marschen noch mit dem Festland verbunden. In der Neujahrsnacht tobte hier eine der verheerendsten Fluten, die Marcellusflut. Auf Fering, das ist die alte Inselsprache, Mandränke genannt. Das bis dahin zusammenhängende Land, das nur von Wasserläufen und Prielen durchzogen war, wurde auseinandergerissen. Viele tausend Menschen und Tiere ertranken, unzählige Häuser und ganze Ortschaften wurden zerstört und verwüstet und konnten nicht wieder bewohnbar gemacht werden. Wo heute das Wattenmeer ist, lebten bis zu dieser schicksalhaften Nacht Menschen.«
»Das ist ja schrecklich«, sagte Marina leise. »Und so entstanden die Nordseeinseln?«
»Natürlich nicht in ihrer heutigen Form, aber ja, so entstanden die Inseln. Die späteren Fluten trugen ihren Teil dazu bei, um sie zu formen. Und auch heute noch wird die Küste durch das Wasser ständig neu geformt.«
»Gab es danach noch mehr solcher verheerenden Fluten?«
»Ja«, bestätigte Greta, »immer wieder verloren viele Bewohner der umliegenden Halligen ihr ganzes Hab und Gut und wurden gezwungen, sich in der Siedlung by der Wieck ein neues Leben aufzubauen.«
»Und aus der Siedlung by der Wieck wurde die heutige Inselhauptstadt Wyk auf Föhr?«
»Ja, gut aufgepasst«, lobte Greta. »Damals wurden diese Halligflüchtlinge von den eingesessenen Bewohnern der Insel als Eindringlinge betrachtet, man bezeichnete sie als Friesen. Die Föhringer, die weit zurückreichende Familienstammbäume hatten, sahen sich als die einzigen echten Inselbewohner. Menschen, die sich für was Besseres hielten und sich über andere erheben wollten, gab es schon zu allen Zeiten.«
»Und es wird sie wohl auch immer geben«, ergänzte Marina, »diese Schwäche der Menschen ist so alt wie die Welt.«
»Unser Hauptstädtchen Wyk müssen Sie sich unbedingt ansehen«, kam Greta wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen. »Oder haben Sie das bei Ihrer Ankunft schon getan?«
»Nein, da bin ich von der Fähre aus gleich hierher gefahren, aber ich hole das auf jeden Fall nach.«

Während die beiden Frauen sich unterhielten, war es dunkel und ziemlich kalt geworden. Die Katze nebenan hatte die Jagd nach ihrem Abendessen aufgegeben und war nicht mehr zu sehen.
Greta bemerkte, dass Marina Menkhoff fror. Kein Wunder, sie hatte kaum etwas auf den Rippen, und dazu kam der Schlafmangel, den man ihr deutlich ansehen konnte.
»Möchten Sie noch einen heißen Kakao, bevor Sie in Ihr Zimmer hinaufgehen?«, schlug sie ihrem Gast vor.
»Da würde ich nicht nein sagen, aber nur, wenn es keine Mühe macht.«
Wenige Minuten später saßen die beiden Frauen am Tisch in der großen und gemütlichen Küche des Hauses und wärmten ihre kalten Hände an den Tassen mit dem dampfenden Kakao.
Marina hoffte von Herzen, dass sie in der kommenden Nacht schlafen konnte. Sie befürchtete allerdings, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllte, denn ihr gingen zu viele Gedanken durch den Kopf. Außerdem genoss sie die angenehme Gesellschaft ihrer Pensionswirtin.
In dem Bestreben, den Abend noch nicht enden zu lassen, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.
»Sind sich, abgesehen von Wyk, die übrigen Ortschaften auf der Insel ähnlich oder gibt es da große Unterschiede?«
Gretas Antwort kam postwendend. »Von allen Dörfern der Insel ist Nieblum das schönste. Und das sage ich nicht nur, weil ich hier lebe. Der Ort hat zahlreiche Auszeichnungen gewonnen. Man nennt ihn Kapitänsdorf, weil hier früher viele Familien wohnten, die durch den Walfang reich geworden waren. Nach dem Ende des Walfangs wurde Nieblum allerdings zum armen Arbeiterdorf. Erst der Tourismus brachte wieder wirtschaftlichen Aufschwung. Übrigens ist auch dieses Haus ein Kapitänshaus.«
»Sie sagten vorhin, es wäre Ihr Elternhaus«, warf Marina ein. »Heißt das, Ihre Vorfahren waren Walfänger?«
»Ja, vor zig Generationen«, antwortete Greta und unterdrückte ein Gähnen. »Aber das erzähle ich Ihnen irgendwann mal. Jetzt gehe ich schlafen. Falls Sie noch einen Kakao möchten, bedienen Sie sich und schalten Sie nachher nur das Licht aus.«
»Das mache ich. Vielen Dank für alles«, erwiderte Marina. Und spontan fügte sie hinzu: »Ich fühle mich sehr wohl hier.«
Greta lächelte, machte einen Schritt auf Marina zu, legte ihr kurz die Hand auf den Arm und sagte: »Ich weiß nicht, welche Sorgen Sie mit sich herumtragen, aber manchmal tut es gut, sich jemandem anzuvertrauen. Am besten jemandem, den man kaum kennt und den man nie wiedersehen muss, wenn man nicht will. Glauben Sie mir, es hilft, zu reden. Oder sich zu besaufen. Oder beides gleichzeitig. Egal, wie Sie sich entscheiden, ich bin da.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und verließ die Küche.
Marina blieb auf der bequemen Eckbank sitzen, stützte den Kopf in die Hände und seufzte. Sie war sicher, dass sie mit Frau Mortensen nicht über ihre Probleme reden würde. Noch nie war sie gut darin gewesen, sich anderen gegenüber zu öffnen und Einblicke in ihre Seele zuzulassen. Dennoch war es nett von Greta Mortensen, ihr dieses Angebot zu machen.
Marina beschloss, ab jetzt jeden Morgen pünktlich zum Frühstück zu erscheinen und der Pensionswirtin auf die Art zu zeigen, dass sie ihre freundliche Art zu schätzen wusste.

Oben im Haus stand Greta am Fenster ihres Schlafzimmers und blickte hinaus in die Dunkelheit.
Sie ahnte, dass Frau Menkhoff sich ihr nicht anvertrauen wollte. Aber sie ahnte auch, dass es früher oder später trotzdem dazu kommen würde. Wenn sie sich einer Sache sicher sein konnte, war es ihre Menschenkenntnis. Und die sagte ihr, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihr Gast sich alles von der Seele redete.
11
Oldsum

Gottlieb spürte wie jeden Morgen die Hand seiner Frau liebevoll auf seiner Schulter, während sie mit der anderen Hand Kaffee einschenkte. Und wie jeden Morgen sah er sie an und versuchte, all die Liebe, die er für sie empfand, in diesen Blick zu legen, weil er kein Meister großer Worte war. Und wie jeden Morgen lächelte sie ihn an und zeigte ihm damit, dass sie verstanden hatte.
Er liebte es, mit ihr in der kleinen Küche zu frühstücken und gemeinsam in den Tag zu starten. Heute schien die Herbstsonne durch das Fenster direkt auf den Tisch und tauchte alles in einen goldenen Glanz. Und an dunkleren Tagen brauchte er nur seine Frau anzusehen, damit die Sonne für ihn aufging.
Sie hatte sich wieder viel Mühe gegeben mit dem liebevoll gedeckten Tisch. Neben den Tellern lagen Servietten, und die Brötchen, die sie vom Bäcker gegenüber geholt hatte, dufteten köstlich. Sein Lieblingskäse und ein bisschen Aufschnitt waren appetitlich auf einer Platte angerichtet und mit Gürkchen und Radieschen verziert.
Es war nicht nur ein Frühstück. Es war eine Willkommensfeier für den neuen Tag, und er ermahnte sich regelmäßig, diese Dinge nie als Selbstverständlichkeit anzusehen, sondern immer das Besondere darin zu erkennen. Deshalb las er auch nie beim Frühstück die Zeitung, wie andere Menschen nach vielen gemeinsam verbrachten Jahren. Lieber unterhielt er sich mit ihr. Über das Wetter, die Nachrichten oder die Nachbarn.
Inzwischen hatte sie sich neben ihn gesetzt und bestrich ihr Brötchen mit Butter und Marmelade. Sie war sehr still heute, aber das war kein Grund zur Sorge. Sie war nicht wie die meisten anderen Frauen, die sogar dann dauernd redeten, wenn es eigentlich nichts zu sagen gab. Mit ihr konnte man schweigen, und es lag nie etwas Unangenehmes oder Befremdliches darin.
Spontan griff er nach ihrer Hand und drückte sie kurz. Sie sah ihn an, und ihr Lächeln wärmte sein Herz auch nach all den Jahren. Gleich würden sie besprechen, wie sie den heutigen Tag verbringen wollten. Manchmal gingen sie einkaufen, manchmal machten sie einen Spaziergang ohne besonderes Ziel, und manchmal blieben sie zu Hause und lasen oder spielten Karten.
Für ihn war es sowieso unwichtig, wie sie den Tag verbrachten. Wichtig war für ihn nur, sie bei sich zu haben und jeden Schritt mit ihr zusammen gehen zu können.
Vom ersten Kennenlernen an war es so gewesen. Sie war seine Gefährtin, seine Verbündete, seine Geliebte, sein Ein und Alles. Ihr einziger Sohn hatte ihnen viel Freude gemacht, aber jetzt war er Anfang fünfzig und die Verantwortlichkeiten hatten sich verschoben. Wenn er zu Besuch kam, dann nicht mehr, um sich von seiner Mutter mit seinem Lieblingsessen verwöhnen zu lassen oder mit seinem Vater über Weltpolitik oder andere schwierige Themen zu diskutieren. Nein, jetzt kam er, um zu sehen, ob und wie seine Eltern zurechtkamen und ob sie nicht hier und da Hilfe benötigten. Das war nun mal der Lauf der Dinge. Es nützte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wenigstens besuchte der Junge sie regelmäßig, was man ja nicht von allen erwachsenen Kindern sagen konnte.
Er nahm eine Scheibe von seinem Lieblingskäse. Als er genüsslich in das Käsebrötchen beißen wollte, verschwand es vor seinen Augen und er saß mit leeren Händen da. Erschrocken ließ er den Blick über den Küchentisch schweifen, aber alles, was eben noch dort gestanden hatte, war weg. Er saß an einem ungedeckten Tisch, auf dem nicht einmal mehr die Tischdecke lag.
Gottlieb spürte, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten und ihm die Luft wegblieb. Von Panik ergriffen wandte er sich in Richtung seiner Frau und wollte erneut nach ihrer Hand greifen – aber auch sie war verschwunden. Der Stuhl neben ihm war leer.
Gottlieb wollte nach ihr rufen, wollte schreien, doch aus seiner vor Angst zugeschnürten Kehle kam kein einziger Ton. Er hatte das Gefühl, ersticken zu müssen.
Und dann wachte er auf und war allein. Genau wie in den vergangenen drei Jahren.
12
Nieblum

Am späten Nachmittag kehrte Greta nach Hause zurück. Sie stellte die schweren Einkaufstaschen auf den Küchentisch und wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. Draußen war es heute zwar kalt und ungemütlich, aber Greta war trotzdem ins Schwitzen gekommen. Sie beschloss, die Lebensmittel wegzuräumen und dann unter die Dusche zu gehen. Anschließend wollte sie es sich mit einer Kanne Tee gemütlich machen und sich ausruhen. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.
Sie stellte Butter, Milch und Eier in den Kühlschrank und packte Nudeln, Reis, Zucker und Mehl in den Schrank neben dem Herd. Dann betrat sie die Speisekammer, die an die Küche angrenzte, und verstaute Kartoffeln, Zwiebeln und Konserven. Zufrieden ließ sie den Blick an den Regalen entlangschweifen. Es ging doch nichts über einen gut gefüllten Vorratsraum. Greta aß von Herzen gern. Dass man ihr das auch ansah, hatte sie noch nie gestört.
Als sie die Speisekammer verließ, fuhr sie erschrocken zusammen und legte reflexartig die Hand an die Stelle, an der das Herz saß.
»Himmel noch mal, Astrid, willst du mich umbringen?«, brachte Greta japsend hervor.
In der Tür lehnte ihre alte Nachbarin. Alt einerseits, weil sie schon sechsundachtzig war. Und alt andererseits, weil sie ihr Leben lang im Nachbarhaus gewohnt hatte und weil sie sich Astrid dort einfach nicht wegdenken konnte.
Astrid war das, was man mit Fug und Recht eine Klatschbase nannte. Wiederholt war sie dabei übers Ziel hinausgeschossen und hatte ihre Berichte mit zu viel Fantasie und ausgedachten Details angereichert, aber bisher war ihr, soweit Greta es wusste, niemand ernsthaft böse gewesen.
»Dich umbringen? Nee, warum auch?«, antwortete Astrid jetzt ungerührt. »Die Haustür stand offen, da dachte ich, ich guck mal rein bei dir. Was gibt’s Neues?«
Greta ließ sich auf den erstbesten Küchenstuhl fallen, gab Astrid ein Zeichen, sich ebenfalls zu setzen und meinte: »Als ob ich dir schon jemals was erzählen konnte, was du nicht sowieso schon wusstest.«
Astrid grinste breit, wie immer, wenn sie sich innerlich bereits darauf freute, den neuesten Nieblumer Klatsch und Tratsch loszuwerden. Greta beobachtete amüsiert, wie ihre Nachbarin auf eine Aufforderung wartete. Sie tat ihr den Gefallen. »Na, dann mal los! Ich will ja nicht, dass du an deinen Geschichten erstickst.«
Das ließ Astrid sich nicht zweimal sagen. Sofort schossen die neuesten Gerüchte über das Dorf und seine Bewohner aus ihr heraus wie Konfetti aus einer Konfettikanone.
Schon nach wenigen Minuten war Greta schwindelig vom Zuhören. Sie ertappte sich dabei, wie ihre Gedanken abschweiften. Ob Marina Menkhoff zu Hause war? Der Abend gestern hatte Spaß gemacht. Die Frau aus Husum war eine angenehme Person. Freundlich, bescheiden, liebenswert. Leider wusste der Ehemann das offenbar nicht zu schätzen. Greta hoffte, dass Frau Menkhoff möglichst lange auf Föhr blieb und sie vielleicht noch den ein oder anderen Abend zusammen verbringen konnten.
»Ich gehe jetzt wieder«, verkündete Astrid in diesem Moment mit beleidigtem Gesichtsausdruck. »Du hörst mir ja gar nicht richtig zu.«
»Entschuldige«, antwortete Greta und fühlte sich ertappt, »ich bin ein bisschen müde. Es war schön, dass du vorbeigekommen bist.«
Die alte Astrid machte eine wegwerfende Handbewegung und schlurfte in Richtung Küchentür. »Ach, papperlapapp. Aber sach nachher nicht, ich hätte dir nichts erzählt.«
Greta wusste aus Erfahrung, dass Astrid nicht beleidigt war und höchstwahrscheinlich schon morgen wieder auf der Matte stand.
Draußen traf Astrid auf Gretas derzeit einzigen Hausgast. Warm eingepackt kehrte Marina mit roter Nase und diesmal vom Wind tränenden Augen zurück zur Pension.
»Guten Tag«, grüßte sie freundlich.
Die alte Frau sah sie wortlos mit zusammengekniffenen Augen an und machte dabei zuerst einen Schritt rückwärts und dann zwei nach vorne. Sie sah aus, als ob sie einen besonders interessanten archäologischen Fund begutachtete. Die mausgrauen Haare waren zu einem altmodischen Dutt zusammengebunden und mit der Hand strich sie sich nachdenklich über das runzlige Kinn. Gerade als Marina gehen wollte, um sich dieser seltsamen Situation zu entziehen, wurde ihr Gruß doch noch erwidert. »Moin. Sie sind also die Frau, die Urlaub macht, wenn sonst keiner mehr hier ist?«
Marina wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Die Alte schien aber auch keine Antwort zu erwarten, denn sie hob nur die Hand zum Abschied und ging langsam und gebeugt fort.

Greta wollte gerade nach oben gehen, als sie hörte, wie jemand die Haustür öffnete. Kurz darauf stand Marina in der Küche.
»Hallo, da sind Sie ja«, begrüßte Greta ihren Gast.
»Hatten Sie Besuch?«, fragte Marina. »Ich habe draußen eine ältere Dame getroffen.«
»Eine ältere Dame, haha, das hätte sie hören sollen, haha«, lachte Greta. »Das war die alte Astrid. Sie ist meine Nachbarin, seit ich denken kann.« Sie machte eine flüchtige Handbewegung in die Richtung des Hexenhauses nebenan.
Wie passend, dachte Marina im Stillen.
»Sie ist etwas kauzig«, fuhr Greta fort, »und manchmal ein bisschen übergriffig, aber im Grunde ganz harmlos. Sie werden sie wahrscheinlich öfter hier antreffen, da Sie ja noch ein paar Tage bleiben. Oder haben Sie es sich anders überlegt?«
Marinas Augen verdunkelten sich. »Nein, ich bleibe. Warum auch nicht? Zu Hause werde ich sicher nicht vermisst. Und wenn ich Sie nicht  …«
»Mich stören? Ich freue mich über Ihre Gesellschaft.«
Greta hätte Marina gerne in den Arm genommen, weil sie immer traurig wurde, wenn sie von ihrem Zuhause sprach, aber das erschien ihr dann doch zu vertraut.
13
Am nächsten Morgen erwachte Marina frisch und ausgeruht. Scheinbar kamen ihre Nerven langsam zur Ruhe. Nach dem Frühstück zog es sie sofort hinaus ins Freie.
Es war ein kalter, aber sonniger Herbsttag, der scharfe Wind von gestern hatte sich gelegt. Marina schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und marschierte los, die Strandstraße hinunter. Nach ein paar Hundert Metern stellte sie fest, dass sie, ohne es geplant oder darüber nachgedacht zu haben, zu dem alten Haus unterwegs war, das sie auf unerklärliche Weise anzog wie ein Magnet.
Wie schon bei ihrem ersten Besuch bekam sie auch heute bei seinem Anblick Gänsehaut. Langsam ging sie erneut auf die Haustür zu. Ob sie heute, bei diesem strahlenden Sonnenschein ins Innere sehen und etwas erkennen konnte? Marina beugte sich über das rostige Geländer, um durch das Fenster neben der Tür zu blicken, aber die Scheibe war viel zu schmutzig und ließ keinen Blick hindurch. Mit dem Ellbogen wischte sie ein winziges Guckloch in die Scheibe. Sie sah durch eine offen stehende Tür im Innern, dass gegenüber, auf der Rückseite, ein Fenster zerbrochen war. Da würde sie bestimmt mehr erkennen können. Marina ging um das Haus herum und stellte fest, dass es dort noch einen kleinen, allerdings auch vollkommen überwucherten Garten gab.
Leider war sie zu klein, um durch das kaputte Fenster sehen zu können. Sie sah sich um und entdeckte ein Stück weiter weg eine Holzleiter, die in einem Gebüsch verborgen lag. Zwar hatte sie nur vier Sprossen, aber das genügte bestimmt, um einen Blick ins Haus zu werfen. Marina zog die Leiter hervor und stellte sie unter das Fenster. Hoffentlich waren die Sprossen nicht zu morsch, um ihr Gewicht auszuhalten. Mick würde sich vor Lachen nicht mehr einkriegen, wenn sie mit Gipsverband oder an Krücken zurückkäme. Im Geiste hörte sie schon sein überhebliches »Dich kann man aber auch wirklich nicht alleine lassen.« Ein wenig unvernünftig war ihr Vorhaben ja schon.
Ach was, sie war lange genug vernünftig gewesen, und was hatte es ihr gebracht? Außerdem war sie bereits viel zu neugierig auf das Innere des Hauses. Entschlossen stellte sie die Leiter auf und setzte einen Fuß auf die unterste Sprosse. Versuchsweise wippte sie ein bisschen auf und ab, aber die Leiter zeigte keinerlei Anzeichen von Altersschwäche.
Langsam stieg Marina höher, bis sie das Fenster erreicht hatte. Durch die zerbrochene Scheibe sah sie in einen Raum, der früher eine Art Salon gewesen sein könnte. Der Fußboden war mit einer dicken Staubschicht bedeckt und von den Wänden hingen die Tapeten in Fetzen herunter. In einer Ecke standen mehrere von Laken und Decken verhüllte Gegenstände. Ob das Möbel waren aus der Zeit, als das Haus bewohnt war?
Einem plötzlichen Impuls folgend sah Marina sich kurz nach allen Seiten um, zog sich den Jackenärmel schützend über ihre Hand und schlug den Rest der Fensterscheibe ein. Jetzt konnte sie problemlos hindurchgreifen und das Fenster von innen öffnen. Als sie sich gerade aufs Fensterbrett setzen wollte, um ins Haus einzusteigen, fiel innen laut krachend eine Tür zu und Marina glaubte, eine Frau ganz leise weinen zu hören.
Um Himmels willen! Spukte es hier etwa? Vor Schreck wäre sie beinahe vom Fensterbrett gefallen.
Sofort gab sie ihr Vorhaben auf, sich das Haus von innen anzusehen. Mit zitternden Knien und klopfendem Herzen stieg sie so schnell wie möglich die Leiter wieder hinab und lief zurück auf den Weg, der sie in die sichere Obhut der Pension führte.

Marinas Verwunderung über sich selbst wuchs mit jedem Schritt, den sie sich von dem alten Haus entfernte. Die strahlende Herbstsonne, die frische und klare Luft und die freundlichen Gesichter der Menschen, denen sie begegnete, sorgten dafür, dass sie sich albern vorkam wegen ihrer Angst vor Gespenstern. Was war denn da plötzlich mir ihr los gewesen? An Geister und Spukgeschichten hatte sie noch nie geglaubt. Wahrscheinlich hatte der Luftzug wegen des geöffneten Fensters die Tür im Haus zuschlagen lassen. Und das vermeintliche Weinen hatte bestimmt ebenfalls der Wind erzeugt, der durch das zugige Gemäuer pfiff.
Was sollte es denn auch sonst gewesen sein?
Dass die Situation sie erschreckt hatte, lag einzig und allein an ihrem schlechten Gewissen. Immerhin war sie im Begriff gewesen, sich unerlaubt und unbefugt Zutritt zu einem ihr fremden Haus zu verschaffen, und das nur, um ihre übergroße Neugier zu befriedigen. Da geschah es ihr nur recht, dass ein harmloser Luftzug sie in Angst und Schrecken versetzte. Darüber, dass es heute schon den ganzen Tag lang absolut windstill war, wollte sie jetzt nicht weiter nachdenken.
Nur wenige Meter entfernt trat eine Frau hinter einem Baum hervor. Sie sah Marina hinterher und setzte dann ihren eigenen Weg fort. In der Gewissheit, dass bald der Tag kommen würde, an dem sie die Geschichte erzählen konnte.