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J. S. Fletcher

Der Schatzmeister

Kriminalroman

J. S. Fletcher

Der Schatzmeister

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Hans Barbeck
EV: Peter J. Oestergaard Verlag, 1931 (281 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962815-55-4

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Inhaltsverzeichnis

Zu­sam­men­fas­sung

1. Ka­pi­tel – Er­pres­sung.

2. Ka­pi­tel – Ver­bre­chen und Er­folg.

3. Ka­pi­tel – Mord.

4. Ka­pi­tel – Im Kie­fern­wald.

5. Ka­pi­tel – Der Strick.

6. Ka­pi­tel – Der Bür­ger­meis­ter.

7. Ka­pi­tel – Nächt­li­che Tä­tig­keit.

8. Ka­pi­tel – Mr. Har­bo­rough.

9. Ka­pi­tel – Ki­te­lys Vor­le­ben.

10. Ka­pi­tel – Das Loch im Stroh­dach.

11. Ka­pi­tel – Chri­sto­pher Pett.

12. Ka­pi­tel – Vä­ter­li­che Sor­ge.

13. Ka­pi­tel – Der an­ony­me Brief.

14. Ka­pi­tel – Das Blatt mit den Zah­len.

15. Ka­pi­tel – Eins führt zum an­de­ren.

16. Ka­pi­tel – Die ein­sa­me Hei­de.

17. Ka­pi­tel – Die Ob­duk­ti­on.

18. Ka­pi­tel – Das Buch mit den Zei­tungs­aus­schnit­ten

19. Ka­pi­tel – Ein großer Mann in grau­em An­zug.

20. Ka­pi­tel – Ge­ständ­nis.

21. Ka­pi­tel – Die ge­stör­te Flucht.

22. Ka­pi­tel – Die Hand im Dun­keln.

23. Ka­pi­tel – An­ge­neh­me Ge­fan­gen­schaft.

24. Ka­pi­tel – Rein ge­schäft­li­cher Ver­kehr.

25. Ka­pi­tel – Kein wei­te­res Zeug­nis.

26. Ka­pi­tel – Arg­wohn.

27. Ka­pi­tel – Mr. Wray­thwai­te von Wraye.

28. Ka­pi­tel – Ver­gan­gen­heit.

29. Ka­pi­tel – Ohne Über­le­gung.

30. Ka­pi­tel – Co­ther­sto­ne.

31. Ka­pi­tel – Letz­tes Ka­pi­tel.

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Zusammenfassung

High­mar­ket, ein ru­hi­ger Ort in Yorks­hi­re. Ein Ort, in dem je­der je­den zu ken­nen mag, aber auch je­der sei­ne Ge­heim­nis­se pflegt.

Ein Neu­an­kömm­ling wird er­mor­det auf­ge­fun­den, und ein düs­te­res Ge­heim­nis der Stadt droht, ans Licht zu kom­men.

1. Kapitel

Erpressung.

In der Mit­te der Haupt­stra­ße von High­mar­ket stand eine wuch­ti­ge, mas­si­ve Tor­fahrt, die noch aus dem Mit­tel­al­ter stamm­te. Wenn man hin­durch­ging, kam man auf einen qua­dra­ti­schen Hof, zu des­sen Sei­ten sich alte Stein­häu­ser er­ho­ben. Wel­cher Be­stim­mung die­se Ge­bäu­de frü­her ge­dient hat­ten, war nicht mehr zu er­ken­nen, jetzt wur­de hier ein Bau­ge­schäft be­trie­ben. Gro­ße Sta­pel nor­we­gi­schen Hol­zes türm­ten sich an der Mau­er; Schie­fer­plat­ten aus Wa­les, Mar­mor­stu­fen aus Aber­de­en und Ze­ment von Port­land la­ger­ten hier in Men­gen. Die Räu­me der Ge­bäu­de wa­ren mit al­len mög­li­chen Ma­te­ria­li­en ge­füllt, die zum Haus­bau be­nö­tigt wur­den: Tür- und Fens­ter­be­schlä­ge aus Ei­sen und Bron­ze, Zink, Blei, Dach­zie­gel, Röh­ren und alle Be­darfs­ar­ti­kel, die die mo­der­ne Tech­nik da­für ge­schaf­fen hat­te. Auf ei­ner po­lier­ten Mes­sing­plat­te am Ein­gang konn­te man den Na­men der Fir­ma le­sen: »Mal­la­lieu & Co­ther­sto­ne, Bau­ge­schäft.«

An ei­nem Ok­to­ber­nach­mit­tag stan­den die bei­den In­ha­ber auf dem Hof. Sie wa­ren eben aus dem Büro ge­kom­men, um die neu­en Trans­port­wa­gen zu be­sich­ti­gen, die nach den Zeich­nun­gen Mal­la­lieus ge­baut wor­den wa­ren. Er zeig­te Co­ther­sto­ne, der sich mehr mit der Buch­hal­tung und der Kor­re­spon­denz be­fass­te, stolz ihre Vor­zü­ge.

Mal­la­lieu war ein großer, statt­li­cher Mann zwi­schen fünf­zig und sech­zig Jah­ren. Er sah re­prä­sen­ta­tiv und wür­de­voll aus und hielt viel auf gute Klei­dung. Sei­ne klei­nen Au­gen blitz­ten leb­haft und schie­nen al­les zu be­ob­ach­ten. Er hat­te den Hut ein we­nig in den Na­cken ge­scho­ben und wies eben auf ei­ni­ge Ein­zel­hei­ten der Ent­la­de­vor­rich­tun­gen hin.

»Siehst du, Co­ther­sto­ne, mit ei­nem ein­zi­gen Hand­griff kann man den gan­zen Wa­gen ent­la­den. Man soll­te sich die Idee ei­gent­lich pa­ten­tie­ren las­sen.«

Co­ther­sto­ne trat et­was nä­her. Er war im Ge­gen­satz zu sei­nem Kom­pa­gnon schlank und be­weg­lich. Ob­wohl er jün­ger als Mal­la­lieu war, sah er doch äl­ter aus; an den Schlä­fen war sein dün­nes Haar schon er­graut. Mal­la­lieu mach­te den Ein­druck un­ver­wüst­li­cher Kraft und Ge­sund­heit; in Co­ther­sto­nes un­ru­hi­gem We­sen, in sei­ner Spra­che und in sei­nen Be­we­gun­gen ver­riet sich da­ge­gen eine Ner­vo­si­tät, die fast an Furcht grenz­te. Er ging schnell um den einen Wa­gen her­um und be­trach­te­te ihn von al­len Sei­ten.

»Das stimmt«, er­wi­der­te er. »Es ist eine gute Idee, aber wenn sie pa­ten­tiert wer­den soll, müs­sen wir uns so­fort dar­um küm­mern, ehe die­se Wa­gen in Be­trieb ge­nom­men wer­den.«

»Nun, so ge­fähr­lich ist es nicht! In High­mar­ket ver­steht nie­mand et­was da­von oder ist so schlau, uns das Ge­heim­nis ab­zu­gu­cken«, mein­te Mal­la­lieu in gu­ter Lau­ne. »Vi­el­leicht könn­te man die Sa­che vor­läu­fig als Mus­ter­schutz an­mel­den.«

»Ich will dar­an den­ken. Auf je­den Fall lohnt es sich.«

Mal­la­lieu zog sei­ne große, gol­de­ne Uhr aus der Ta­sche und sah auf das ju­we­len­be­setz­te Zif­fer­blatt.

»Alle Wet­ter!« rief er. »Schon vier Uhr! Ich habe eine Sit­zung im Rat­haus in ei­ner Vier­tel­stun­de – aber be­vor ich nach Hau­se gehe, kom­me ich noch ein­mal her.«

Er eil­te durch das Tor hin­aus. Co­ther­sto­ne be­trach­te­te die Wa­gen noch ein­mal ein­ge­hend, sah ei­ni­ge Pa­pie­re durch, die er in der Hand hielt, und ging dann in das La­ger, um die neu­an­ge­kom­me­nen Sen­dun­gen zu prü­fen. Er war noch da­mit be­schäf­tigt, als ein An­ge­stell­ter zu ihm trat.

»Mr. Ki­te­ly ist ge­kom­men, um sei­ne Mie­te zu be­zah­len. Er möch­te Sie selbst spre­chen.«

»Fün­f­und­zwan­zig, sechs­und­zwan­zig, sie­ben­und­zwan­zig«, zähl­te Co­ther­sto­ne, dem die­se Un­ter­bre­chung sehr un­ge­le­gen kam. »Füh­ren Sie ihn in mein Pri­vat­bü­ro. ich kom­me gleich hin­über.«

Er führ­te die be­gon­ne­ne Ar­beit erst zu Ende, trug den ge­nau­en Be­fund in eine Lis­te ein und wand­te sich dann zu den Bü­ro­räu­men. Kur­ze Zeit spä­ter be­grüß­te er in sei­nem Pri­vat­kon­tor einen äl­te­ren Herrn, der vor kur­z­em an der Stadt­gren­ze ein Haus von ihm ge­mie­tet hat­te.

»Gu­ten Tag, Mr. Ki­te­ly! Ich freue mich, Sie wie­der ein­mal zu se­hen. Leu­te, die ihre Mie­te be­zah­len, sind im­mer will­kom­men. Neh­men Sie bit­te Platz. Hof­fent­lich sind Sie mit der Woh­nung dort zu­frie­den?«

Der Be­su­cher setz­te sich, leg­te die Hän­de auf sei­nen alt­mo­di­schen Spa­zier­stock und sah sei­nen Haus­wirt mit ei­nem merk­wür­di­gen Lä­cheln an. Nach sei­ner schlan­ken, et­was zu ha­ge­ren Ge­stalt, dem ab­ge­tra­ge­nen, schwar­zen An­zug und der Kra­wat­te hät­te man ihn für einen Geist­li­chen hal­ten kön­nen. Er war glatt ra­siert und schon er­graut. Co­ther­sto­ne wuss­te nur, dass die­ser Mann in der Lage war, sei­ne Mie­ten und Steu­ern re­gel­mä­ßig zu zah­len, und hielt ihn für einen pen­sio­nier­ten Kir­chen­die­ner.

»Man soll­te doch den­ken, dass Sie und Mr. Mal­la­lieu kein Geld brau­chen«, sag­te er ru­hig. »Ihr Ge­schäft scheint ja sehr flott zu ge­hen.«

»Ach, es ist al­les nicht so, wie es aus­sieht. Wir ha­ben uns al­ler­dings nicht zu be­kla­gen, Mr. Ki­te­ly.« Er setz­te sich an den Schreib­tisch und schrieb eine Quit­tung aus. »Sie zah­len fünf­und­zwan­zig Pfund im Jahr, das macht 6 Pfund und 5 Schil­ling pro Quar­tal. Darf ich Ih­nen ein Glas Whis­ky ein­schen­ken?«

Ki­te­ly nahm ei­ni­ge Bank­no­ten und Sil­ber­geld her­aus, zähl­te sie auf und nahm die Quit­tung. Aber er sah Co­ther­sto­ne im­mer noch mit dem ei­gen­tüm­li­chen lä­cheln­den Aus­druck an.

»Dan­ke, das neh­me ich gern an.«

Er be­ob­ach­te­te Co­ther­sto­ne, der eine ge­schlif­fe­ne Whis­kyfla­sche und Glä­ser aus dem Schran­ke nahm und von ei­nem Fil­ter in der Ecke fri­sches Was­ser hol­te, um die Ge­trän­ke zu mi­schen. Dann nahm er das Glas mit ei­nem höf­li­chen Ni­cken und trank Co­ther­sto­ne zu.

»Wie ge­fällt es Ih­nen denn in Ihrem Haus, Mr. Ki­te­ly? Ha­ben Sie et­was aus­zu­set­zen?«

»Nein, nicht dass ich wüss­te.«

Es lag eine merk­wür­di­ge Zu­rück­hal­tung in Ki­te­lys We­sen, und Co­ther­sto­ne schau­te ihn et­was ver­wun­dert an.

»Und High­mar­ket ge­fällt Ih­nen auch? Sie woh­nen ja nun schon ei­ni­ge Zeit hier und ha­ben sich si­cher ganz gut ein­ge­lebt.«

»Es ist al­les so, wie ich es er­war­tet hat­te«, ent­geg­ne­te Ki­te­ly. »Schön ru­hig und fried­lich. Und wie geht es Ih­nen hier?«

»Wie es mir hier geht?« frag­te Co­ther­sto­ne er­staunt. »Ich bin doch schon seit fünf­und­zwan­zig Jah­ren hier!« Ki­te­ly nahm einen Schluck aus sei­nem Gla­se, setz­te es dann auf den Tisch und sah Co­ther­sto­ne durch­drin­gend an.

»Ja, Sie ha­ben recht. Vor fünf­und­zwan­zig Jah­ren ka­men Sie mit Ihrem Teil­ha­ber hier­her. Und vor drei­ßig Jah­ren mach­te ich zum ers­ten Mal Ihre Be­kannt­schaft. Aber das ha­ben Sie wahr­schein­lich ver­ges­sen.«

Co­ther­sto­ne rich­te­te sich plötz­lich auf und warf Ki­te­ly einen fra­gen­den Blick zu. Sei­ne schar­fen Züge sa­hen noch an­ge­spann­ter aus als sonst.

»Was sag­ten Sie da eben?« frag­te er un­si­cher.

»Vor drei­ßig Jah­ren lern­te ich Sie und Mr. Mal­la­lieu ken­nen. Ich dach­te mir schon, dass Sie es ver­ges­sen hät­ten – ich aber nicht!«

Co­ther­sto­ne starr­te sei­nen Be­su­cher sprach­los an, dann er­hob er sich lang­sam, ging zur Tür, ver­ge­wis­ser­te sich, ob sie ge­schlos­sen war, und kam dann wie­der zu­rück.

»Was mei­nen Sie denn?«

»Was ich sage!« ent­geg­ne­te Ki­te­ly mit ei­nem tro­ckenen Auf­la­chen. »Es ist drei­ßig Jah­re her, seit­dem ich Sie zu­erst sah.«

»Wo denn?«

Ki­te­ly for­der­te ihn durch eine Hand­be­we­gung auf, sich zu set­zen, und Co­ther­sto­ne ge­horch­te. Er fuhr zu­sam­men, als Ki­te­ly die Hand auf sei­nen Arm leg­te.

»Wol­len Sie wirk­lich wis­sen, wo das war?« frag­te er, in­dem er sich nä­her zu Co­ther­sto­ne neig­te. »Nun, ich will es Ih­nen sa­gen. Sie sa­ßen da­mals bei­de auf der An­kla­ge­bank vor den Ge­schwo­re­nen!«

Co­ther­sto­ne ant­wor­te­te nicht. Er hat­te die Spit­zen sei­ner Fin­ger zu­sam­men­ge­legt und starr­te dau­ernd in Ki­te­lys Ge­sicht, als ob die­ser von den To­ten auf­er­stan­den wäre. Er fühl­te sich ent­setz­lich elend und wil­len­los; es war ihm, als ob er un­ter dem Bann ei­ner Hyp­no­se stän­de. Er konn­te sich we­der be­we­gen noch spre­chen, wäh­rend Ki­te­ly ihn be­rühr­te und ihn un­heil­voll an­sah.

»Ja, das sind nun ein­mal Tat­sa­chen«, fuhr Ki­te­ly fort, »dar­an lässt sich nichts än­dern. Ich kann mich jetzt auf al­les be­sin­nen. Nach und nach ist es mir wie­der ein­ge­fal­len. Sie und Mal­la­lieu ka­men mir gleich be­kannt vor. Da­mals hie­ßen Sie na­tür­lich noch nicht Mal­la­lieu und Co­ther­sto­ne, son­dern Sie wa­ren ganz ein­fach –«

Co­ther­sto­ne schüt­tel­te plötz­lich die Hand des an­de­ren ab. Sein blas­ses Ge­sicht wur­de dun­kel­rot, und die Adern auf sei­ner Stirn tra­ten her­vor.

»Ver­dammt noch ein­mal, wer sind Sie denn ei­gent­lich?« frag­te er lei­se, aber hef­tig.

Ki­te­ly schüt­tel­te den Kopf und lä­chel­te ru­hig.

»Sie brau­chen sich des­we­gen nicht auf­zu­re­gen, ob­wohl das von Ihrem Stand­punkt aus ja er­klär­lich ist. Wer ich bin? Ich trat vor fünf­und­drei­ßig Jah­ren in die Po­li­zei­trup­pe ein und war noch bis vor kur­z­er Zeit dort tä­tig.«

»Also ein De­tek­tiv!« rief Co­ther­sto­ne.

»Das war ich da­mals noch nicht, als ich Sie vor Ge­richt sah. Das kam erst spä­ter. Ich habe mir nach­her noch manch­mal über­legt, was wohl aus Ih­nen ge­wor­den sein könn­te, aber ich habe mir nie­mals träu­men las­sen, dass ich Sie hier tref­fen wür­de. Sie ha­ben sich also nach dem Nor­den ge­wandt, nach­dem Sie Ihre Zeit ab­ge­ses­sen hat­ten, ha­ben Ihren Na­men ge­än­dert, ein neu­es Le­ben be­gon­nen, und nun sit­zen Sie hier. Aus­ge­zeich­net, muss ich sa­gen!«

Co­ther­sto­ne hat­te sich in­zwi­schen ge­fasst. Er war auf­ge­stan­den und lehn­te nun mit dem Rücken ge­gen den Ka­min. Er dach­te nach, und, um Zeit zu ge­win­nen, ließ er sei­nen Be­su­cher ru­hig wei­ter­re­den.

»Das ha­ben Sie fein ge­konnt! Wahr­schein­lich ha­ben Sie einen Teil des Gel­des, das Ih­nen da­mals in die Hän­de fiel, sorg­fäl­tig ver­steckt. Denn um ein sol­ches Ge­schäft an­zu­fan­gen, braucht man doch Geld. Nach­her lie­ßen Sie sich na­tür­lich nichts mehr zu­schul­den kom­men und wur­den dann ganz wohl­ha­ben­de Leu­te. Mr. Mal­la­lieu ist so­gar Bür­ger­meis­ter von High­mar­ket! Zum zwei­ten Mal von der Ge­mein­de ge­wählt! Und Mr. Co­ther­sto­ne ist Stadt­käm­me­rer und ver­sieht die­sen wich­ti­gen Pos­ten schon im sechs­ten Jah­re! Ich muss nur im­mer wie­der­ho­len, dass Ih­nen das au­ßer­or­dent­lich gut ge­glückt ist.«

»Wol­len Sie nicht noch mehr er­zäh­len?« frag­te Co­ther­sto­ne et­was iro­nisch.

Aber Ki­te­ly hat­te an­schei­nend die Ab­sicht, al­les nach sei­nem ei­ge­nen Gut­dün­ken vor­zu­brin­gen, denn er über­hör­te Co­ther­sto­nes Fra­ge voll­kom­men und sprach wei­ter, als ob ihm die Erin­ne­rung an ver­gan­ge­ne Zei­ten Spaß ma­che.

»Ja, Sie müs­sen ein schö­nes An­fangs­ka­pi­tal ge­habt ha­ben. Das war na­tür­lich gut und si­cher ir­gend­wo an­ge­legt, wäh­rend Sie im Kitt­chen sa­ßen. Sie ha­ben doch da­mals eine Bau­ge­nos­sen­schaft be­tro­gen? Mal­la­lieu war der Schatz­meis­ter, und Sie wa­ren der Se­kre­tär, ich weiß es ganz ge­nau. Sie hat­ten zwei­tau­send –«

Co­ther­sto­ne mach­te eine plötz­li­che Be­we­gung, als ob er sich auf den an­de­ren stür­zen wol­le, aber Ki­te­ly hielt ihn zu­rück und sah ihn scharf an.

»Un­ter­las­sen Sie das lie­ber!« sag­te er grin­send und zeig­te sei­ne häss­li­chen, gel­ben Zäh­ne. »Sie kön­nen mich doch nicht gut hier in Ihrem ei­ge­nen Büro tot­schla­gen. Mei­ne Lei­che könn­ten Sie je­den­falls nicht so gut ver­ste­cken wie das Geld, das Sie da­mals un­ter­schla­gen ha­ben. Aber sei­en Sie ru­hig, ich bin ein ver­nünf­ti­ger Mann, der mit sich re­den lässt, und au­ßer­dem bin ich schon alt.«

Co­ther­sto­ne ging im Raum auf und ab, um sei­ner Er­re­gung Herr zu wer­den. »Den­ken Sie ein­mal ru­hig über die Sa­che nach. Au­ßer mir wird wohl nie­mand mehr in Eng­land Ihr und Mal­la­lieus Ge­heim­nis ken­nen. Es war der reins­te Zu­fall, dass ich es über­haupt ent­deckt habe, aber ich weiß es nun ein­mal. Über­le­gen Sie sich ein­mal, was das be­deu­tet, vor al­lem, was Sie ver­lie­ren kön­nen. Mal­la­lieu ge­nießt hier so großes An­se­hen, dass man ihn zum zwei­ten Mal zum Bür­ger­meis­ter ge­wählt hat, und Sie sind nun schon seit sechs Jah­ren Stadt­käm­me­rer. Sie kön­nen es sich nicht leis­ten, dass ich zu den Leu­ten in High­mar­ket gehe und ih­nen sage, man hät­te es bei Ih­nen mit zwei frü­he­ren Ver­bre­chern zu tun. In Ihrem Fall liegt die Sa­che au­ßer­dem noch an­ders, denn Sie ha­ben eine Toch­ter.«

Co­ther­sto­ne stöhn­te. Er konn­te die­se Qual kaum län­ger er­tra­gen, aber Ki­te­ly fuhr er­bar­mungs­los fort.

»Ihre Toch­ter wird den aus­sichts­reichs­ten jun­gen Mann hier in der Stadt hei­ra­ten, er hat noch eine Kar­rie­re vor sich. Mei­nen Sie, der wür­de sie neh­men, wenn er wüss­te, dass sein zu­künf­ti­ger Schwie­ger­va­ter frü­her ein Zucht­häus­ler war – selbst wenn die Ge­schich­te schon drei­ßig Jah­re zu­rück­liegt.«

»Ich habe jetzt ge­nug«, un­ter­brach ihn Co­ther­sto­ne lei­den­schaft­lich. »Ich sehe ja, wor­auf das al­les hin­aus­läuft. Es ist ganz ge­mei­ne Er­pres­sung! Wie viel wol­len Sie ha­ben? Es hat kei­nen Zweck, noch lan­ge dar­um her­um­zu­re­den.«

»Ich nen­ne durch­aus kei­ne Sum­me, bis Sie mit Mal­la­lieu ge­spro­chen ha­ben. Die Sa­che kann in al­ler Ruhe er­le­digt wer­den. Sie kön­nen nicht und ich wer­de nicht da­von­lau­fen. Ich habe Sie in der Hand, sa­gen Sie das nur dem Bür­ger­meis­ter. Dann be­ra­ten Sie und über­le­gen sich, wie viel Ih­nen die Sa­che wert ist. Set­zen Sie mir ein Jah­res­ge­halt aus, das wäre mir ganz an­ge­nehm.«

»Ha­ben Sie schon mit je­mand dar­über ge­spro­chen?« frag­te Co­ther­sto­ne ängst­lich.

»Glau­ben Sie denn, dass ich so ver­rückt bin? Sie wis­sen jetzt al­les. Mor­gen Nach­mit­tag kom­me ich wie­der, und dann ma­chen Sie mir einen Vor­schlag.«

Er trank sein Glas aus und ging fort, ohne sich zu ver­ab­schie­den.

2. Kapitel

Verbrechen und Erfolg.

Co­ther­sto­ne schau­te rat­los ins Lee­re, nach­dem Ki­te­ly ihn ver­las­sen hat­te. Vor drei Mo­na­ten war die­ser Mann zu ihm ins Büro ge­kom­men und hat­te sich für ein klei­nes Haus in­ter­es­siert, das Co­ther­sto­ne zu ver­mie­ten hat­te. Er hat­te sich da­mals nach der Höhe des Miet­prei­ses er­kun­digt und ne­ben­bei er­wähnt, dass er sich an ei­nem ru­hi­gen Ort nie­der­las­sen woll­te und von sei­ner Tä­tig­keit zu­rück­ge­zo­gen hät­te, um den Rest sei­ner Tage zu ver­brin­gen. Er hat­te dann das klei­ne Haus ge­mie­tet und sei­nem Wirt ge­nü­gend gute Re­fe­ren­zen auf­ge­ge­ben. Co­ther­sto­ne hat­te als viel­be­schäf­tig­ter Mann nicht wei­ter dar­über nach­ge­dacht, und er hät­te es sich nie­mals träu­men las­sen, dass ge­ra­de die­ser Frem­de ihn und Mal­la­lieu schon vor drei­ßig Jah­ren ge­kannt hat­te.

Es war Co­ther­sto­nes eif­rigs­tes Be­mü­hen ge­we­sen, die Vor­gän­ge je­ner Zeit zu ver­ges­sen, und es war ihm auch fast ge­lun­gen, sein Ge­dächt­nis ein­zu­schlä­fern. Aber nun hat­te Ki­te­ly wie­der al­les ge­weckt. Sein Ge­sicht wur­de düs­ter, als er über den einen dunklen Punkt in sei­ner Ver­gan­gen­heit nach­dach­te. Er sah sich selbst und Mal­la­lieu wie­der auf der An­kla­ge­bank. Na­tür­lich hie­ßen sie da­mals an­ders. Sei­nen al­ten Na­men hat­te er seit lan­gen Jah­ren nicht mehr aus­ge­spro­chen. Ihr Fall hat­te da­mals großes Auf­se­hen er­regt und das öf­fent­li­che In­ter­es­se auf sich ge­lenkt. Es war eine böse Ge­schich­te ge­we­sen. Als zwei jun­ge, gut­si­tu­ier­te Leu­te stan­den sie da­mals un­ter der An­kla­ge, die Gel­der ei­ner Bau­ge­nos­sen­schaft ver­un­treut zu ha­ben, bei der sie als Schatz­meis­ter und Se­kre­tär an­ge­stellt wa­ren. Die Ge­schwo­re­nen hat­ten die Sa­che sehr streng ge­nom­men und die bei­den Schul­di­gen zu zwei Jah­ren Zucht­haus ver­ur­teilt. In Co­ther­sto­nes Ge­dächt­nis leb­te die­se Zeit als ein fürch­ter­li­cher Traum wei­ter, und doch war es schreck­li­che Wirk­lich­keit ge­we­sen.

Er sah auf sei­ne zit­tern­den Hän­de, nahm rein me­cha­nisch die Whis­kyfla­sche vom Tisch und goss sich ein. Vi­el­leicht be­ru­hig­ten sich sei­ne Ner­ven, wenn er et­was zu sich nahm. Has­tig trank er zwei Glä­ser leer und grü­bel­te dann wei­ter.

Die­ser alte Ki­te­ly war ein schlau­er Fuchs. Er wies so­fort auf den einen Punkt hin, auf den die Leu­te vor drei­ßig Jah­ren nicht ge­kom­men wa­ren. Da­mals sag­te man, die bei­den hät­ten das Geld der Ge­nos­sen­schaft im Spiel und durch Spe­ku­la­tio­nen ver­lo­ren. Aber das stimm­te nicht; der größ­te Teil des Gel­des war gut und sorg­fäl­tig un­ter­ge­bracht, und sie konn­ten so­fort dar­über ver­fü­gen. Nach ih­rer Ent­las­sung aus dem Ge­fäng­nis brauch­ten sie nur das Geld wie­der an sich zu neh­men, um es für ihre ei­ge­nen Zwe­cke ver­wen­den zu kön­nen. Sie hat­ten die Sa­che sehr klug an­ge­fan­gen. Ru­hig und ohne Auf­se­hen zu er­re­gen, wa­ren sie vom Schau­platz ih­rer frü­he­ren Tä­tig­keit in Sü­deng­land ver­schwun­den. Sie hat­ten da­mals das Gerücht ver­brei­tet, dass sie in die Ko­lo­ni­en ge­hen woll­ten, um eine neu­es Le­ben zu be­gin­nen. Sie fuh­ren auch nach Li­ver­pool, um von dort an­geb­lich zu Schiff nach Ame­ri­ka aus­zu­wan­dern. Aber in Li­ver­pool führ­ten sie einen an­de­ren Plan durch. Sie bra­chen mit der Ver­gan­gen­heit, nah­men an­de­re Na­men an, trenn­ten sich und tra­fen sich dann im fer­nen Nor­den Eng­lands in ei­ner wil­den, ein­sa­men Ge­gend wie­der. In Li­ver­pool hat­ten sie zu­fäl­lig in ei­ner Lo­kal­zei­tung ge­le­sen, dass in High­mar­ket ein al­tes, gu­tein­ge­führ­tes Bau­ge­schäft zu ver­kau­fen war. Sie er­war­ben es, und von die­sem Au­gen­blick an wa­ren sie Anthony Mal­la­lieu und Mil­ford Co­ther­sto­ne.

Wäh­rend der letz­ten drei­ßig Jah­re hat­te sie nie­mand und nichts an ihre Ver­gan­gen­heit er­in­nert. Co­ther­sto­ne hat­te zwar oft von an­de­ren die Be­mer­kung ge­hört, dass die­se Welt doch sehr klein sei. Heim­lich hat­te er im­mer dar­über la­chen müs­sen. Für ihn und sei­nen Part­ner war die Welt weit und groß ge­nug ge­we­sen. Sie wohn­ten nun sie­ben­hun­dert Ki­lo­me­ter von dem Schau­platz ih­res frü­he­ren Ver­ge­hens ent­fernt. Wie soll­te ein Mann aus Wil­che­s­ter in die­se nörd­li­che Ge­gend ver­schla­gen wer­den? Und Leu­te von High­mar­ket ka­men nie­mals nach dem Sü­den. We­der er noch Mal­la­lieu mach­ten große Rei­sen; be­son­ders ver­mie­den sie Lon­don, um dort nicht alte Be­kann­te zu tref­fen. Sie wa­ren im­mer hier ge­blie­ben und hat­ten sich jahrein, jahraus um ihr Ge­schäft ge­küm­mert. Man kann­te sie zu­nächst als streb­sa­me, hart ar­bei­ten­de jun­ge Leu­te, dann als er­folg­rei­che Bau­un­ter­neh­mer, und schließ­lich stieg ihr An­se­hen in der Stadt so sehr, dass sie zu ih­ren jet­zi­gen Ehrenäm­tern ka­men. Das Städt­chen war al­ler­dings klein und hat­te kaum mehr als acht­tau­send Ein­woh­ner. Aber auch bei der Ver­wal­tung der öf­fent­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten hat­ten sie Um­sicht und Tat­kraft ge­zeigt, und Mal­la­lieu trug nun zum zwei­ten Mal die große, gol­de­ne Amts­ket­te als Bür­ger­meis­ter, wäh­rend er selbst als Stadt­käm­me­rer seit meh­re­ren Jah­ren die Finan­zen re­gel­te. Co­ther­sto­ne starr­te in die glü­hen­de Asche des Feu­ers und dach­te dar­über nach, dass es wohl kaum zwei Leu­te in der gan­zen Stadt gab, de­nen man mehr trau­te und mehr Ach­tung ent­ge­gen­brach­te als sei­nem Part­ner und ihm.

Aber das war noch nicht al­les. Bei­de hat­ten ein paar Jah­re nach ih­rer Nie­der­las­sung in High­mar­ket ge­hei­ra­tet; ihre Frau­en stamm­ten aus gu­ten Fa­mi­li­en der Nach­bar­schaft. Gut, dass sie schon tot wa­ren, dach­te Co­ther­sto­ne, und dass Mal­la­lieu kei­ne Kin­der hat­te. Aber Co­ther­sto­ne be­saß eine Toch­ter, die er lieb­te und auf die er stolz war; er hat­te sich ab­ge­müht und ab­ge­ar­bei­tet, um sie zu ei­ner rei­chen Frau zu ma­chen. Sie hat­te die bes­te Er­zie­hung ge­nos­sen, und er hat­te so­gar zwei Jah­re auf ihre Ge­sell­schaft ver­zich­tet, da­mit sie sich auf ei­ner aus­wär­ti­gen teu­ren Schu­le wei­ter­bil­den konn­te. Seit sie er­wach­sen war, hat­te er sie mit al­lem Kom­fort um­ge­ben, und nun war sie mit Wind­le Bent ver­lobt, dem aus­sichts­reichs­ten jun­gen Mann in High­mar­ket. Er war ein rei­cher Fa­brik­be­sit­zer, hat­te eine große Fir­ma ge­erbt, saß be­reits im Stadt­rat und hat­te die Ab­sicht, sich spä­ter ins Par­la­ment wäh­len zu las­sen. Je­der­mann wuss­te, dass er eine große Kar­rie­re vor sich hat­te, denn er be­saß die nö­ti­ge Be­ga­bung und Ver­an­la­gung. Es moch­te sein, dass er spä­ter so­gar zur Wür­de ei­nes Barons oder ei­nes Lords ge­lang­te. Das war die rich­ti­ge Par­tie, die Co­ther­sto­ne für Let­tie ge­wünscht hat­te. Es wäre für ihn ein zu großes Glück ge­we­sen, wenn sie spä­ter ge­adelt wor­den wäre, und nun kam die­ser Schlag!

Co­ther­sto­ne über­leg­te und über­leg­te. Die Dun­kel­heit war her­ein­ge­bro­chen, aber er dreh­te den Licht­schal­ter nicht an. Die­se Sa­che muss­te aus der Welt kom­men, moch­te es kos­ten, was es wol­le. Ki­te­lys Schwei­gen muss­te er­kauft wer­den, und wenn er und Mal­la­lieu die Hälf­te ih­res Ver­mö­gens da­für ge­ben soll­ten. Er muss­te so­fort mit Mal­la­lieu spre­chen.

Ein Klop­fen schreck­te ihn auf. Er mach­te Licht, als er »He­rein« rief. Sto­ner, ein An­ge­stell­ter, brach­te eine An­zahl von Brie­fen zur Un­ter­schrift.

»Ich bin doch wahr­haf­tig in der Wär­me hier ein­ge­schla­fen. Was brin­gen Sie denn da? Die Brie­fe?«

»Ja, sie müss­ten un­ter­zeich­net wer­den, auch die­se drei Ver­trä­ge. Au­ßer­dem müss­ten Sie noch die Kos­ten­vor­an­schlä­ge prü­fen.«

»Mr. Mal­la­lieu muss die Ver­trä­ge vor­her noch se­hen«, er­wi­der­te Co­ther­sto­ne. Er stell­te die Whis­kyfla­sche und die Glä­ser bei­sei­te und nahm dann die Un­ter­schrif­ten­map­pe.

»Die Brie­fe wer­de ich un­ter­schrei­ben. Sie kön­nen sie dann auf Ihrem Heim­we­ge zur Post brin­gen. Die an­de­ren Schrift­stücke müs­sen bis mor­gen war­ten.«

Sto­ner stand hin­ter Co­ther­sto­ne, der einen Brief nach dem an­de­ren zeich­ne­te, nach­dem er ihn schnell über­flo­gen hat­te. Er war ein jun­ger Mann mit schnel­ler Beo­b­ach­tungs­ga­be, und er be­trach­te­te sei­nen Chef über­rascht. Vor­her hat­te er schon ent­deckt, dass Co­ther­sto­ne sehr nach­denk­lich war, und als er nun die Whis­kyfla­sche sah, wuss­te er, dass die Be­mer­kung über das Ein­schla­fen eine Not­lü­ge war. Die sechs Pfund­no­ten und die Sil­ber­stücke la­gen noch auf dem Schreib­tisch, und er wun­der­te sich, warum sein Chef wohl so zer­streut war, dass er ver­ges­sen hat­te, die­ses Geld weg­zu­neh­men. Co­ther­sto­ne war sonst in Geld­sa­chen sehr ge­wis­sen­haft und ließ auch nicht die kleins­te Mün­ze her­um­lie­gen.

»So, das wäre er­le­digt«, sag­te Co­ther­sto­ne und reich­te die Map­pe zu­rück. »Sie kön­nen jetzt ge­hen, den­ken Sie aber dar­an, die Brie­fe zur Post zu brin­gen. Ich blei­be noch hier und schlie­ße spä­ter das Büro ab. Las­sen Sie die äu­ße­re Tür of­fen, Mr. Mal­la­lieu kommt noch ein­mal.«

Er ließ die Vor­hän­ge her­un­ter, als Sto­ner ge­gan­gen war, und ging dann im Zim­mer auf und ab, um sei­nen Part­ner zu er­war­ten. Mal­la­lieu kam auch bald in bes­ter Lau­ne zu­rück.

»Ach, du bist noch da?« frag­te er, als er ein­trat. »Aber was ist denn los?«

Er blieb ste­hen und starr­te in das Ge­sicht sei­nes Kom­pa­gnons. Co­ther­sto­ne sah über Mal­la­lieus Schul­ter in den Spie­gel und ent­deck­te sein blei­ches, ein­ge­fal­le­nes Ge­sicht. Er sah um zehn Jah­re äl­ter aus als am Mor­gen.

»Fühlst du dich nicht wohl?« frag­te Mal­la­lieu. »Was fehlt dir denn?«

Co­ther­sto­ne ant­wor­te­te nicht, ging an Mal­la­lieu vor­über und sah in den äu­ße­ren Bü­roraum. Sto­ner war ge­gan­gen, und es brann­te nur noch eine Lam­pe, aber Co­ther­sto­ne schloss die Tür sorg­fäl­tig und sprach ganz lei­se, als er zu Mal­la­lieu zu­rück­kam.

»Schlech­te Neu­ig­kei­ten – eine böse Sa­che!«

»Wo­von sprichst du denn? Ist es pri­vat oder ge­schäft­lich?«

»Die­ser Ki­te­ly, mein neu­er Mie­ter, kennt uns von frü­her!«

Mal­la­lieu wur­de plötz­lich blass und wand­te sich scharf an Co­ther­sto­ne.

»Er kennt uns! Wann – wo –«

»Wil­che­s­ter, vor drei­ßig Jah­ren. Er weiß al­les!«

Mal­la­lieu sank in den nächs­ten Stuhl, als ob er einen Schlag er­hal­ten hät­te. Eben war er noch frisch und mun­ter her­ein­ge­kom­men, aber jetzt sah er eben­so blass aus wie sein Part­ner. Ein ge­quäl­ter Zug lag auf sei­nem Ge­sicht.

»Aber das ist doch nicht wahr!« sag­te er hei­ser.

»Doch. Es ist eine Tat­sa­che. Er weiß al­les. Er war frü­her Po­li­zei­de­tek­tiv und hat wohl amt­lich mit un­se­rem Fall zu tun ge­habt.«

»Hat der Spür­hund uns bis hier­her ver­folgt?«

»Nein, es ist rei­ner Zu­fall. Er hat uns er­kannt, nach­dem er hier­her­kam. Nach all die­sen vie­len Jah­ren!«

Mal­la­lieus Blick fiel auf die Whis­kyfla­sche, und er schenk­te sich ein Glas ein. Co­ther­sto­ne be­ob­ach­te­te, dass sei­ne Hand zit­ter­te.

»Das ist eine har­te Pil­le. Was will er denn? Hat er sich dar­über ge­äu­ßert?«

»Er will uns na­tür­lich er­pres­sen«, ent­geg­ne­te Co­ther­sto­ne mit ei­nem ver­zwei­fel­ten La­chen. »Was soll­te ein sol­cher Kerl sonst wol­len? Den­ke dir, wenn er den Leu­ten in High­mar­ket er­zähl­te –«

»Ja, ja«, un­ter­brach ihn Mal­la­lieu. »Aber neh­men wir ein­mal an, wir stop­fen ihm den Mund, kann man dem Men­schen denn trau­en? Das wird ja eine Schrau­be ohne Ende, er wird im­mer mehr ha­ben wol­len.«

»Er sprach von ei­ner jähr­li­chen Ren­te und sag­te, dass er ein al­ter Mann ge­wor­den sei.«

»Wie alt ist er denn?«

»Zwi­schen sech­zig und sieb­zig. Ich habe den Ein­druck, dass man sein Schwei­gen kau­fen könn­te. Auf je­den Fall müs­sen wir das tun, denn wir dür­fen nicht ris­kie­ren, dass er uns rui­niert. Ich muss an mei­ne Toch­ter den­ken.«

»Glaubst du, dass ich es dazu kom­men las­sen wür­de? Ich über­le­ge nur, ob wir ihn wirk­lich zum Schwei­gen brin­gen kön­nen. Ich habe schon ge­hört, dass Leu­te jah­re­lang Er­pres­sern große Sum­men zahl­ten und schließ­lich doch nichts da­von hat­ten.«

»Er kommt mor­gen Nach­mit­tag wie­der hier­her. Dann wol­len wir zu­sam­men mit ihm spre­chen. Wenn wir ihm meh­re­re hun­dert Pfund jähr­lich an­bie­ten, schweigt er wahr­schein­lich.«

Mal­la­lieu trank sein Glas aus und stieß es bei­sei­te.

»Ich will mir die Sa­che über­le­gen. Jetzt muss ich ge­hen, ich habe noch eine Verab­re­dung. Kommst du mit?«

»Noch nicht, ich muss die­se Schrift­stücke noch durch­se­hen. Wir wol­len es gut be­den­ken – ich glau­be nicht, dass mit dem Mann zu spa­ßen ist.«

Mal­la­lieu ging ohne Gruß fort, und Co­ther­sto­ne war wie­der al­lein.

3. Kapitel

Mord.

Co­ther­sto­ne setz­te sich an den Schreib­tisch und ver­such­te, die Pa­pie­re zu prü­fen, die Sto­ner ge­bracht hat­te. Aber es ge­lang ihm nicht. Er hat­te ge­hofft, durch die Auss­pra­che mit sei­nem Teil­ha­ber Er­leich­te­rung und Be­ru­hi­gung zu lin­den, aber es quäl­te ihn im­mer noch eine un­sag­ba­re Angst. So­lan­ge Ki­te­ly leb­te, wa­ren sie nicht si­cher. Selbst wenn sich der frü­he­re De­tek­tiv an einen Ver­trag hal­ten soll­te, wa­ren sie doch stets von ihm ab­hän­gig. Und die­ser Ge­dan­ke war ent­setz­lich für Co­ther­sto­ne, der seit acht­und­zwan­zig Jah­ren nie­mand über sich ge­habt hat­te. Er wünsch­te, dass Ki­te­ly tot und be­gra­ben sein möch­te, und sein Ge­heim­nis mit ihm. Wa­rum konn­te man ein gif­ti­ges In­sekt oder eine Schlan­ge tö­ten, wenn es ei­nem be­lieb­te, aber nicht einen mensch­li­chen Blut­sau­ger?

Schließ­lich gab er den Ver­such auf, noch zu ar­bei­ten. Die Zah­len tanz­ten vor sei­nen Au­gen, und er konn­te die tech­ni­schen Ein­zel­hei­ten nicht mehr aus­ein­an­der­hal­ten. Im­mer wie­der wan­der­ten sei­ne Ge­dan­ken zu dem einen Punkt zu­rück. Er trom­mel­te auf sei­ne Schreib­un­ter­la­ge und starr­te auf die tie­fen Schat­ten im Zim­mer.

Plötz­lich klin­gel­te das Te­le­fon im äu­ße­ren Büro. Co­ther­sto­ne zuck­te er­schro­cken zu­sam­men und er­hob sich zit­ternd. Schweiß­trop­fen stan­den auf sei­ner Stirn, als er hin­aus­ging.

»Wer ist dort?« frag­te er.

Er hör­te die er­staun­te Stim­me sei­ner Toch­ter.

»Va­ter, was tust du denn noch im Büro? Hast du nicht dar­an ge­dacht, dass wir Wind­le und sei­nen Freund, Mr. Bre­re­ton, um acht Uhr zum Abend­brot ein­ge­la­den ha­ben? Es ist Vier­tel vor acht, komm doch nach Hau­se!«

»Das habe ich wirk­lich ver­ges­sen, ich war so be­schäf­tigt. Ich kom­me gleich, Let­tie!«

Aber als er den Hö­rer wie­der hin­ge­legt hat­te, be­eil­te er sich nicht im min­des­ten. Es dau­er­te noch ei­ni­ge Zeit, bis er das Licht aus­schal­te­te und dann um­ständ­lich das Büro ab­schloss. Es war ihm nichts un­an­ge­neh­mer, als an die­sem Abend Gäs­te un­ter­hal­ten zu müs­sen. Er ging lang­sam über den Markt zu den äu­ße­ren Stadt­vier­teln.

Vor vie­len Jah­ren hat­ten er und Mal­la­lieu sich ei­ge­ne schö­ne Häu­ser an der west­li­chen Gren­ze der Stadt ge­baut. Dort er­hob sich ein lang­ge­streck­ter, nied­ri­ger Hü­gel­zug, den man High­mar­ket-Shawl nann­te. Er be­herrsch­te die gan­ze Stadt und war dicht mit Fich­ten und Tan­nen be­stan­den, zwi­schen de­nen hier und dort große Kalk­fel­sen auf­rag­ten. Am Fuß die­ser Hü­gel hat­ten sie Bau­land ge­kauft, hat­ten dort mas­si­ve Stein­ge­bäu­de er­rich­tet und sie mit al­lem mo­der­nen Lu­xus und Kom­fort aus­ge­stat­tet. Co­ther­sto­ne war im­mer stolz auf sein Heim ge­we­sen, aber heu­te war es ihm zum ers­ten Mal ver­hasst, sei­ne ei­ge­ne Schwel­le zu über­schrei­ten. Die er­leuch­te­ten Fens­ter, die ihm schon von wei­tem zu­wink­ten, und der Duft gu­ter Spei­sen er­freu­ten ihn nicht im min­des­ten. Er muss­te sich über­win­den, um über­haupt hin­ein­zu­ge­hen und die bei­den Gäs­te zu be­grü­ßen, die be­reits auf ihn war­te­ten.

»Ich konn­te lei­der nicht frü­her kom­men«, sag­te er, als Let­tie ihn halb ängst­lich, halb scher­zend schalt. »Wir hat­ten heu­te Nach­mit­tag eine recht un­an­ge­neh­me Sa­che, und ich muss auch nach Tisch noch eine Stun­de fort­ge­hen. Es tut mir leid, dass ich es nicht an­ders ein­rich­ten konn­te. Nun, wie geht es Ih­nen?« wand­te er sich an Bents Freund. »Ich fürch­te nur, es kommt Ih­nen hier sehr kalt vor, nach­dem Sie sich im­mer in Lon­don auf­ge­hal­ten ha­ben.«

Bei Tisch be­trach­te­te er den jun­gen Rechts­an­walt ge­nau­er, der einen sehr ge­wand­ten Ein­druck mach­te. Noch be­gab­ter als Bent, dach­te Co­ther­sto­ne für sich, und das woll­te viel hei­ßen. Bent war ein fä­hi­ger Mensch und ein tüch­ti­ger, ener­gi­scher Ge­schäfts­mann, der un­ge­wöhn­lich klu­ge Ide­en und Plä­ne hat­te. Er dach­te nicht ru­hig und be­son­nen über eine Fra­ge nach, son­dern han­del­te kurz und ent­schlos­sen. Co­ther­sto­ne sah von ei­nem zum an­de­ren und ver­glich sie mit­ein­an­der. Bent war ein großer, schö­ner Mann mit blau­en Au­gen, der ger­ne einen Witz hör­te und lach­te. Bre­re­ton da­ge­gen war von mitt­ler­er Grö­ße, hat­te dunkle Haa­re und Au­gen und auch dunkle Ge­sichts­far­be, so­dass man ihn fast für einen Aus­län­der hät­te hal­ten kön­nen. Er ge­hör­te an­schei­nend zu den Men­schen, die viel dach­ten und we­nig spra­chen.

Co­ther­sto­ne zwang sich zu ei­ner Un­ter­hal­tung; auch woll­te er se­hen, ob Bre­re­ton Let­tie be­wun­der­te. Es war sei­ne größ­te Freu­de, zu be­ob­ach­ten, dass sei­ne schö­ne Toch­ter auf an­de­re Leu­te Ein­druck mach­te. Und auch die­ser jun­ge Mann aus Lon­don schi­en ganz in ih­rem Bann zu ste­hen und die Wahl sei­nes Freun­des zu bil­li­gen.

»Was ha­ben Sie denn mit Ihrem Freun­de an­ge­fan­gen?« sag­te Co­ther­sto­ne zu Bent. »Er ist doch schon seit ges­tern hier. Ha­ben Sie ihm die Stadt ge­zeigt?«

»Ach, ich habe ihn haupt­säch­lich mit Fa­mi­li­en­ge­schich­ten ge­quält«, ent­geg­ne­te der jun­ge Mann und sah la­chend zu sei­ner Braut hin­über. »Sie wis­sen al­ler­dings noch nicht, Mr. Co­ther­sto­ne, dass ich in letz­ter Zeit ver­sucht habe, mög­lichst viel über mei­ne Vor­fah­ren her­aus­zu­brin­gen. Den gan­zen letz­ten Mo­nat habe ich mich schon da­mit be­schäf­tigt. Der alte Ki­te­ly hat mich auf die­se Idee ge­bracht.«

Co­ther­sto­ne be­herrsch­te sich mit Mühe, um nicht zu­sam­men­zu­zu­cken.

»Sie mei­nen doch nicht etwa mei­nen Mie­ter? Was weiß denn der von Fa­mi­li­en­ge­schich­ten? Er ist doch hier in der Ge­gend ganz fremd!«

»O, er weiß viel mehr als ich«, er­wi­der­te Bent. »Er hat nichts zu tun, wie Sie wis­sen, und seit­dem er sich hier nie­der­ge­las­sen hat, bringt er sei­ne gan­ze Zeit da­mit zu, alle mög­li­chen Ak­ten aus­zu­gra­ben und durch­zu­stu­die­ren, die sich auf un­se­re Stadt be­zie­hen. Es ist eine Lieb­ha­be­rei von ihm. Der Stadt­se­kre­tär er­zähl­te mir, dass Ki­te­ly fast das gan­ze alte Stadt­ar­chiv durch­stö­bert hat. Und Ki­te­ly sag­te mir ei­nes Ta­ges, dass er mei­nen Stamm­baum auf­stel­len könn­te, und da ich mich da­für in­ter­es­sier­te, gab ich ihm den Auf­trag, mit der Ar­beit zu be­gin­nen. Er hat schon viel In­ter­essan­tes her­aus­ge­bracht, und zwar ge­ra­de aus dem Stadt­ar­chiv, von dem ich bis­her noch nie et­was ge­hört hat­te.«

Co­ther­sto­ne schau­