Balance
in jeder Beziehung
Aus dem Englischen von Dorothea Sonstenes
Vorwort
1. Aufbruch
2. Ein vollständiger Mensch sein
3. Wie geht es mir?
4. Offenheit
5. Die Dynamik der Zuneigung
6. Freundschaft
7. Das Wunder der Seele
8. Hilfen und Hindernisse
9. Seelenverwandtschaft
10. Einen Bund schließen
11. Freundschaft will erarbeitet sein
12. Fühlen
13. Nicht für mich allein
14. Der Pfad der Liebe
15. Frau sein
16. Mann sein
17. Gegenseitiges Vertrauen
18. Sexualität – eine sehr persönliche Angelegenheit
19. Schöpfungsakt oder Vergnügen?
20. Die Frage nach der Ehe
21. Die Musik der Ehe
22. Schwierigkeiten und Herausforderungen
23. Von Bindung zum Bruch
24. Die Gemeinschaft der Zukunft
Matthew Arnold (1822–1888), The Buried Life
Begrabenes Leben
Es war meine Absicht, Gedanken und Erfahrungen mit Ihnen zu teilen, die, wie ich hoffe, Ihre Beziehungen bereichern und Ihr Verständnis von sich selber in diesen Beziehungen vertiefen werden. Sie sind nicht als endgültige Behauptungen zu verstehen, sondern als Anregung zu persönlicher Forschung.
Gelegentlich berufe ich mich auf Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners, da ich mir bewusst bin, dass ein Bedürfnis nach einem tieferen Verständnis besteht, das uns durch die anthroposophische Literatur zugänglich ist.
Auch habe ich mich hin und wieder auf die Christengemeinschaft bezogen. Dies ist eine weit verbreitete Bewegung, die sich mit der religiösen Erneuerung in unserer Zeit beschäftigt und die sieben Sakramente in neuer Form zelebriert.
Mein Dank gilt zahlreichen Kollegen und Freunden, die dazu beigetragen haben, meine Ideen zu erweitern, und die mich ermutigt haben, diese mitzuteilen. Meinen besonderen Dank aber möchte ich meinen nächsten und wertvollsten menschlichen Beziehungen aussprechen, meiner Frau Renate und unseren Kindern, die inzwischen erwachsen sind. Sie haben mir geholfen, in Zeiten großer Veränderungen mitzuhalten.
Julian Sleigh
Jeder Mensch ist seelisch berührbar. Das Gefühl, das wir für andere Menschen empfinden, kann uns erfüllen, und die anderen spüren das. Zwischen Menschen, die ein warmes Fühlen füreinander entwickeln, geht etwas hin und her. Das Fühlen selbst erfüllt die Seelen und verbindet sie. Und wenn wir für die Macht des Fühlens offen sind, dann kann dieses Berührtsein in jedem von uns lebendig und aktiv sein.
Freundschaft kann nur existieren, wo dieses Berührtsein stattfindet. Freundschaft ist ein Phänomen, das man respektieren und bewundern sollte. Sie ist ein Geschenk, das jeder Einzelne von uns pflegen kann, sie kommt nicht von selbst. Sie ist etwas Kostbares.
Wir werden uns daranwagen, dieses Phänomen zu beleuchten. Wir werden Seelenregungen aufspüren, die zart und nicht leicht in Worte zu fassen sind. Wir werden versuchen, Leitlinien zu finden, die uns helfen, in der Liebe zu wachsen, das Berührtsein zu steigern und über das neu zu entdeckende Fühlen beglückt zu sein. Wir werden uns darum bemühen, unsere Gemeinsamkeit tiefer zu verstehen und einen Weg zu finden, gegenseitige Verbindlichkeit aufzubauen, die zu der Freiheit, auf die jeder moderne Mensch ein volles Recht hat, in keinem Widerspruch steht.
Wir leben in einer Zeit, in der alle Formen des Zusammenlebens neu überdacht werden: die Institution der Ehe, sinnvolles Elternsein, die Rolle sexueller Freiheit sowie Enthaltsamkeit in unserem Alltag. Es ist eine Herausforderung, in diesem Labyrinth Lösungen zu finden, die eindeutig, überzeugend und tragbar sind. Es existiert ein ernsthaftes Bedürfnis, in der Kunst des harmonischen Zusammenlebens die Meisterschaft zu erlangen.
Wer die apokalyptischen Zeichen wahrnimmt und sieht, wie die Freiheit des Menschen als Individuum wächst, kann die Vorzeichen eines künftigen »Krieges aller gegen alle« nicht übersehen. Kämpfe zwischen Volksstämmen, Spannungen zwischen Wirtschaftsblöcken, Rassismus und Konflikte zwischen Nationen stehen für diejenigen, die den Frieden anstreben, weniger im Mittelpunkt. Obwohl viele dieser Konflikte immer noch die politische Szene dominieren, liegt das wesentliche Problem zunehmend mehr im privaten Bereich.
Viele Menschen scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, mit einem Ehepartner, den sie in aller Freiheit gewählt haben, sinnvoll und friedlich zusammenzuleben. Kinder leiden darunter, dass ihre Eltern es nicht schaffen, sie sinnvoll zu erziehen, und verhalten sich gegenüber schwachen Autoritätspersonen ablehnend. Das Vertrauen zwischen Freunden, Bekannten und Kollegen hat in der westlichen Welt deutlich abgenommen. Die Menschen leiden unter einer seelischen Einsamkeit, die immer stärker an ihnen zehrt. Zahlreiche Versuche, neue Formen von Gemeinschaften zu begründen, sind ein Zeichen dafür, wie schwierig es ist, aufrichtig zusammenzuleben und zu arbeiten, ohne dass man seine persönliche Freiheit und seine Sehnsucht danach, als Individuum leben zu können, opfern muss.
Etwas genial Einfaches kann uns zu einem Verständnis dafür führen, wie wir miteinander umgehen, uns gegenseitig verstehen und unterstützen können. Es ist ein Teil von uns, von dir und von mir: unsere beiden Hände. Sieh dir an, wie sie sich zueinander verhalten: auf ganz natürliche und doch perfekte Art und Weise. Wenn die eine anführt, folgt die andere. Sie akzeptieren sich vollkommen und behindern sich niemals gegenseitig. Anmut und Harmonie bestimmen ihr Zusammenspiel, jede für sich hat ihre Stärken und Schwächen, aber sie gleichen einander aus und ergänzen sich. Sie sind für uns ein ständig gegenwärtiges und doch immer wieder wechselndes Bild von Zusammenhalt, Kameradschaft und Freundschaft. Und all das geschieht in solcher Stille, dass wir ihre Kunst des Zusammenwirkens für selbstverständlich halten. Tiefe Weisheit und ein herzerwärmendes Zusammenspiel liegen in dieser Gegenseitigkeit, die in jeden von uns eingeschrieben ist.
Was wünschen oder brauchen wir für ein gesundes Selbstbewusstsein? Wie erlangen wir das Gefühl, erfüllt zu sein? Wie können wir unser alltägliches Selbst ergreifen und – durch dieses hindurch – zu unserem höheren Selbst Zugang finden? Solche Fragen müssen beantwortet werden, bevor wir dauerhafte Beziehungen zu anderen eingehen können. Ein richtiges Verhältnis zu uns selbst muss an erster Stelle stehen.
Erfüllung zu finden, ist nicht einfach. Wir müssen ernsthaft an uns arbeiten, um zu selbstbestimmten, zielgerichteten Menschen zu werden, die in der Lage sind, mit Ereignissen unmittelbar fertig zu werden und Rückschläge in wertvolle Erfahrungen zu verwandeln, die den Horizont für zukünftige Erfolge erweitern. Wer nach Erfüllung strebt, wird realisieren müssen, dass dies einen Entwicklungsprozess erfordert. Dieser Prozess besteht aus fünf wesentlichen Elementen.
Es ist ein Grundbedürfnis, zu wissen, warum wir da sind. Das klingt vielleicht selbstverständlich, aber wie viele von uns können mit Gewissheit sagen, was unsere Lebensaufgabe ist? Allgemeinplätze fallen uns schnell ein, aber sie haben mit unseren wahren Zielen oft wenig zu tun. Sie sind kein Ersatz dafür, an den Sinn unserer individuellen Existenz zu glauben und darauf zu vertrauen, dass wir diesen auch verwirklichen können. Dieses Vertrauen kann sich nur aus der Erkenntnis unseres eigenen Schicksals heraus entwickeln.
Können wir in unserer Biografie die Zeichen lesen, die unsere Aufgabe offenbaren? Der Ort, an dem wir geboren wurden, die Familie, das Klima, die prägenden Ereignisse, so wie sie sich in unserem Leben bis zum heutigen Zeitpunkt abgespielt haben, die Rhythmen und Wiederholungen, die unserer Lebensgeschichte ein Gerüst gegeben haben, die Ereignisse, die unsere Entwicklung behindert oder gefördert haben, unsere Talente und unsere Schwächen, unsere Zweifel und unser Vertrauen, die sich widersprechenden Ziele, auf die sich unser Ehrgeiz richtet: All dies zusammen weist in deutlicher Sprache auf unsere Lebensaufgabe hin.
Wir werden nichts erreichen, wenn wir uns zwar Ziele setzen, aber die Kräfte nicht sammeln und die Fähigkeiten nicht ausbilden, diese auch wirklich zu erreichen. Es ist eine Frage der Selbstbestimmung – und damit der Willenskraft. Der Wille ist eine mysteriöse Kraft in der menschlichen Seele. Nur allzu leicht kann er durch unsere Gewohnheiten und Vorlieben, und nicht zuletzt durch Süchte gebannt und dadurch in großem Maße unfrei sein. Es erfordert echtes Bemühen, ihn von diesen unbewussten Zwängen freizukämpfen, damit er für die leitenden Gedanken und Bilder aus dem höheren Teil seiner Seele aufnahmebereit ist. Fortwährende Motivation und Übung sind notwendig: Nur durch Selbstdisziplin können wir die Meisterschaft des bewussten Strebens über die unbewussten Triebe erringen. Solange wir keine klare Vorstellung von unserer Lebensaufgabe und die Selbstdisziplin errungen haben, mit der wir unsere Seelenenergie lenken, wird der Zugang zur persönlichen Erfüllung für uns verschlossen bleiben.
Der strebende Mensch muss darauf achten, dass seine Entschlüsse nicht von Stimmungsschwankungen untergraben werden. Die Ereignisse des Lebens sollen uns durchaus mit Freude und Begeisterung erfüllen, solange nicht Euphorie das Ruder ergreift. Eine gewisse nachdenkliche Innerlichkeit ist stets wünschenswert, solange dadurch die Initiative nicht geschwächt wird und wir uns in Depressionen hinabziehen lassen.
Damit wir nicht den Halt verlieren, müssen Zufriedenheit und Erfüllung gefühlsmäßig im Gleichgewicht sein. Gleichmut bewahrt den Menschen davor, von seinen Gefühlen mitgerissen zu werden. Wut, Angst und Scham wühlen die Seele nicht nur auf und schränken sie dadurch ein, sie untergraben auch die körperliche Gesundheit und verursachen Stress. Eine ausgeglichene Seelenverfassung verhindert unregelmäßige Atmung und eine Belastung des Herzens, wodurch dieses Organ dem höheren Selbst frei zur Verfügung stehen kann. All dies erfordert ständige Aufmerksamkeit von uns.
Eine vierte Notwendigkeit für einen gut funktionierenden Menschen ist eine positive Lebenseinstellung gegenüber allem, was wir sind und was uns geschieht. Alles hat sein Gutes, und wenn wir richtig damit umgehen, kann sogar etwas abgründig Böses einen Reichtum an Gutem freisetzen. Dasselbe Zauberwort kann Hässlichkeit in Schönheit verwandeln und Unwahrheit in Wahrheit. Das Gute, Wahre und Schöne, diese ewigen Qualitäten, können in allem gefunden werden, das uns im Leben begegnet, so negativ es auch erscheinen mag. Eine positive Erkenntnis kann verborgene Werte enthüllen, mit deren Hilfe das Hässliche, das Falsche und das Abgründige erlöst werden. Ein solches Bemühen um Positivität macht das freie Strömen des Fühlens möglich. Wir erfahren das Leben als gut, wahr und schön, und dies hat eine Wirkung auf alles, zu dem wir in Beziehung treten: Andere fühlen sich zu uns hingezogen, und wir begegnen ihnen mit Empathie.
Die fünfte, grundlegende Qualität, die im Menschen ein Fundament zur Erfüllung legt, ist Offenheit. In der Freundschaft und im Aufbau von Beziehungen ist Offenheit unerlässlich. Und es muss uns bewusst sein, dass wir ständig daran zu arbeiten haben – und in bestimmten Momenten oder Phasen sogar mit besonderem Nachdruck. Dies gilt vor allem dann, wenn es darum geht, einen anderen Menschen in unserem Leben zu akzeptieren. (Auf diesen Aspekt werden wir später noch eingehen.)
Offenheit erfordert jedoch mehr, als nur auf einen anderen Menschen zuzugehen. Sie erfordert die Bereitschaft, von allem zu lernen, auch dort, wo wir dies kaum erwarten. Wenn wir uns neuen Erfahrungen widersetzen, neue Ideen abweisen und alles von uns abprallen lassen, das unserem Denken neuen Inhalt geben könnte, dann verlieren wir den Anschluss an unser höheres Selbst. Und ohne diesen Anschluss schrumpfen und verhärten wir – und verdorren schließlich. Wenn wir aber bereit sind, unsere Verhaltensmuster zu ändern, dann lassen wir den Einfluss unseres höheren Selbstes zu. Dies führt zu einer Bereicherung und Befruchtung unseres gewöhnlichen Selbstes: Wir erkennen, wer wir wirklich sind, und können dies in unserem Alltag zum Ausdruck bringen.
Hier haben wir fünf Organe, die wir auf unserem Weg zur Erfüllung brauchen. Sie sind in fünf der sechs Übungen begründet, mit Hilfe derer der Mensch einen Weg der inneren Entwicklung antreten kann. Das sechste Organ stellt das harmonische Miteinander der anderen fünf dar.
Noch mal zusammengefasst. Die fünf Schritte sind:
1. eine klare Selbstwahrnehmung,
2. selbstbestimmtes Handeln,
3. Ausgeglichenheit,
4. Positivität,
5. die Offenheit, Neuem zu begegnen und neue Erfahrungen zu machen.
Bevor wir mit anderen eine Beziehung eingehen können, ist es unerlässlich, ein gutes Verhältnis zu uns selbst zu haben. Dies ist die Grundlage jeder Beziehung zu anderen. Man kann so weit gehen, zu sagen: Wie stark oder schwach unsere Beziehung zu anderen ist, hängt davon ab, welches Verhältnis wir zu uns selbst haben.
Alleinsein ist im Gegensatz zu Einsamkeit ein schöner Zustand, vor allem dann, wenn er frei gewählt und in wirkliche Stille, Frieden und natürliche Schönheit eingebettet ist. Jeder Mensch ist im tiefsten Inneren ein Einzelgänger, und dieses gesunde Einzeln-Sein verlangt nach dauernder Erneuerung und Pflege. Selbst wenn er in eine Familie eingebettet, von Liebe umgeben und getragen ist, braucht jeder Mensch Zeiten, in denen er »zu sich« kommt: Zeiten des Alleinseins, selbst wenn sich diese wie Einsamkeit anfühlen. Es gibt ein fundamentales Bedürfnis des Menschen, über Zeit zur Besinnung verfügen zu können. Zeit zum Gebet, zum Nachdenken, zum Verarbeiten von Erlebnissen, zum Schreiben und zur Erneuerung unserer Entschlüsse. Auch wenn man liest, zum eigenen Vergnügen, muss man sich von anderen Menschen zurückziehen. Man muss uns dann allein und in Ruhe lassen, unser Bedürfnis nach Alleinsein respektieren. Nur auf diesem Weg können wir unsere seelischen Kräfte erneuern, aus denen heraus wir der Welt etwas zu geben haben.
Es muss für uns möglich werden, die Stille zu hören, und das ist nicht einfach, wenn mechanische Geräusche unsere Umgebung durchdringen – und all unsere energiesparenden Geräte sind letzten Endes immer noch laut! Wir haben uns an die Annehmlichkeiten elektrischer Geräte gewöhnt, die uns viel Mühe und Arbeit ersparen, doch manchmal denken wir nicht an den Preis, den wir dafür zahlen. Sie zehren an unseren Nerven, und sie haben die seltsame Eigenschaft, sich gerade dann aufzudrängen, wenn wir uns nach Stille sehnen. Man denke nur an den Unterschied, den das Geräusch einer Sichel oder Gartenschere im Vergleich zu einem Motorrasenmäher oder einer elektrischen Motorsense verursacht!
Aber selbst wenn Alleinsein und Ruhe gewährleistet sind, ist es oft unmöglich, vollkommen still zu sein. Denn es bleibt der Aufruhr der eigenen Gefühle. Die Sorgen und Ängste, die Sehnsüchte und Enttäuschungen, die Verletzungen durch andere, die Ablehnung und das Gefühl des Versagens: Jedes einzelne dieser Elemente trägt bei zum Missklang in der Seele. Wenn wir unseren täglichen Verrichtungen nachgehen, beachten wir dies vielleicht nicht – es gibt ja jederzeit mehr als genug Möglichkeiten zur Ablenkung. Und wenn diese in den Hintergrund treten, sieht das seelische Stimmengewirr seine Chance gekommen. Wir müssen all das zur Ruhe bringen, bevor das Alleinsein unsere Energien heilen und erneuern kann.
Es ist nicht leicht, Frieden und innere Ruhe in unserer Seele herzustellen. Eine Möglichkeit besteht darin, uns die Fragen, Erinnerungen oder Sorgen, die uns quälen, bewusst zu machen: Indem wir über sie nachdenken, entreißen wir sie den Klauen der Gefühle. Das klare Denken kann durch das Gespräch mit jemandem, der gut zuhört, angeregt werden. Oder wir schreiben auf, was die Gefühle in Aufruhr gebracht hat – egal, wie wir uns äußern: Wir werden kreativ. Wir können uns beispielsweise auch einer Kunstform zuwenden, die den Schöpfer in uns direkt anspricht. Auf diese Weise erheben wir die Angelegenheit in die göttliche Sphäre, von der wir alle umgeben sind. Unser Leben wird bereichert, wenn wir diese andere Sphäre erreichen, die uns dabei helfen kann, an unseren Gefühlen zu arbeiten und sie zu beruhigen. Keiner von uns ist wirklich allein, denn der spirituelle Teil unserer Existenz begleitet uns überall, und wir können ihn jederzeit hereinrufen. Der Zugang findet in den Gedanken statt, sie können uns führen, wenn wir uns ihnen in schweigender Offenheit zuwenden.
Diese Tätigkeit kann uns zu unserer eigenen schöpferischen Quelle zurückführen, dem Ort in unserer Seele, an dem wir uns mit der ewigen Weisheit und der kreativen Energie der geistigen Welt vereinigen. Damit sich dieser Zugang erschließt, müssen wir alle Vorurteile und vorgefassten Meinungen wegräumen, alle festgelegten Haltungen, die unsere Offenheit einschränken. Sie sind Hindernisse, die einem freien Denken im Wege stehen. So beängstigend es ist, Standpunkte aufzugeben, die unsere Auffassung von der Welt untermauern: Wenn wir es schaffen, sie loszulassen, begeben wir uns aus einem stehenden Gewässer in einen lebendigen Strom. Wenn wir diesen Mut nicht aufbringen, können wir zwar so etwas wie Sicherheit empfinden, indem wir eine Position beibehalten, aber man muss sich nur einmal die Erfrischung vorstellen, die in uns einzieht, wenn wir für neue Gedanken und Inspirationen offen sind, die aus dem Fundus unserer eigenen inneren Weisheit entspringen!
Es bedeutet nichts anderes, als den Dichter in uns zu entdecken. Wir dürfen Menschen werden, die alles, das auf sie zukommt, als Ausdruck einer tieferen Weisheit, als Botschaft, als Heilung und als inneres Bild erkennen, an dem wir uns orientieren können. Solche Menschen halten ihre Vorstellungskraft lebendig und wirken heilend auf ihre Umgebung: Aus ihrer reinen Denkkraft heraus können sie ein Gefühl für das Gute entwickeln.
Wer die Regungen moralischer Phantasie in seinem persönlichen, inneren Leben erfährt, wird den Wert des Alleinseins schätzen können. Wenn wir für unsere innere Stimme, die in unserer Seele leise, aber klar zu uns spricht, ein Gehör entwickeln, eine Stimme, die von emotionalem Stress, Schuldgefühlen, Angst oder Scham frei ist, dann verbinden wir uns mit unserem »besseren Teil«, unserem höheren Selbst, unserem ewigen Anteil. Dies hilft uns, das »Durch-Klingen«, das per-sonare, von Weisheit, Heilungskräften und der richtigen Motivation in die irdische, bewusste Seite unseres Wesens zuzulassen. Dadurch werden wir zu vollkommeneren Menschen, die frei sind:
•von der Abhängigkeit von anderen Menschen, Institutionen oder festen Standpunkten;
•von Co-Abhängigkeit, die aus der unbewussten Übernahme von Mustern stammt und die Tendenz hat, unser Verhalten wie eine Sucht zu beherrschen;
•vom bestimmenden Einfluss durch unsere Erziehung, unsere Rasse, unsere Nationalität, durch den Lebensstil unserer Familie, durch politische Propaganda, einschränkende Religion, Gewohnheiten, die aus Unsicherheit heraus entstanden sind, usw.;
•von Schamgefühlen (etwa von Momenten, in denen ein schmerzliches Erlebnis, das wir verdeckt halten wollten, aus unseren Tiefen aufsteigt, aufgestört und ans Tageslicht gezogen wird; etwas, aus dem heraus wir uns selber ablehnen möchten);
•von aufgestautem Stress – und dadurch in der Lage, auf die gegenwärtige Situation angemessen zu reagieren;
•so zu leben, wie wir es wollen.
Ein schwaches Selbstbild weist darauf hin, dass sich der Mensch über sein wahres Selbst, über das alltägliche Selbst hinaus, noch nicht bewusst ist. Er ist mit dem unendlich Guten, Schönen und Wahren noch nicht in Berührung gekommen. Wenn er erkennen kann, wer er ist, kann er auf seinem Weg weiterschreiten. Dann kann er glücklich sein.
Es gibt viele Denker, die das Potenzial, das im menschlichen Wesen liegt, sich über das Alltägliche zu erheben, erkannt haben und es mit Qualitäten versehen, die weitgehend in der Seele schlummern: Ein Potenzial, das darauf wartet, erweckt zu werden, um den Menschen zu immer größeren Höhen seines Wesens zu erheben.
Dies wurde u. a. in der Renaissance erkannt, durch Autoren wie Pico della Mirandola (1463–1494), ein Mitglied der Gruppe von Philosophen um Lorenzo de Medici. Pico schrieb, der Mensch sei in der Lage, unter das Verhalten des Tieres herabzufallen, oder das hohe Wesen eines Engels anzustreben.1
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb Rudolf Steiner (1861–1925), jeder Mensch sei dazu befähigt, die Erkenntnis geistiger Realitäten zu erlangen.2
Und der amerikanische Psychologe Abraham Maslow (1908–1970) entwickelte das Konzept der Selbst-Aktualisierung, um auf die Steigerung der menschlichen Fähigkeiten hinzuweisen, mit denen der Mensch sein volles Potenzial entfalten und einsetzen könnte.3
Eine solche Erweiterung kann nur durch Zeiten des Alleinseins herbeigeführt werden. Und nur, wenn wir bereit sind, Einsichten in unser Leben hereinzulassen, auch wenn diese für die bestehenden Gedankenmuster eine Herausforderung sind. Und auch nur dann, wenn wir demütig genug sind, auf das zu hören, was aus der uns umgebenden Welt auf uns zukommt.
1Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen. Meiner, Hamburg 1990.
2Siehe die ersten Sätze von Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993.
3Frank Goble, Die dritte Kraft: A. H. Maslows Beitrag zu einer Psychologie seelischer Gesundheit. Olten 1979.
Wie können wir einen Weg finden, um gut miteinander auszukommen? Was müssen wir tun, um die Fähigkeiten und Haltungen zu entwickeln, die für Harmonie und Freundschaft förderlich sind? Wie können wir eine Beziehung herstellen, die sinnvoll und wohltuend ist? Wenn wir Antworten auf diese Fragen finden könnten, würden wir der Menschheit helfen, das Zeitalter der Brüderlichkeit zu erreichen – und damit auch unserem eigenen Leben mehr Bedeutung verleihen.
Ein erster Schritt wäre, zu untersuchen, was geschieht, wenn Menschen überhaupt miteinander umgehen, wenn sie inter-agieren. Wir halten nicht oft inne, um darüber nachzudenken, wie wir uns in Beziehungen verhalten. Die Wirkungen treten in unser Bewusstsein, und dann fragen wir uns vielleicht, warum eine Begegnung angenehm oder weniger angenehm war. Wenn wir jede Begegnung beherrschen, wenn wir uns über jeden Schritt und die Reaktion darauf bewusst sein könnten, würde uns dies wahrscheinlich von der eigentlichen Realität der Begegnung mit einem anderen Menschen ablenken. Aber wir haben die Möglichkeit, im Nachhinein eine Begegnung näher anzusehen, wenn die Erinnerung daran noch frisch ist. Versuchen wir zu analysieren, was passiert.
Wir treffen jemanden. Es gibt Augenkontakt, vielleicht auch eine Berührung der Hände, eine Art von Begrüßung, oftmals ganz instinktiv, und dies schlägt augenblicklich den Ton an für die weitere Begegnung. Unsere Fähigkeit des Fühlens reagiert zuerst, es ist geheimnisvoll, wie das geschieht. Wenn sich die Begegnung zu etwas Bedeutungsvollem entwickeln soll, dann wird unser Fühlen zum anderen hin fließen – und ebenso sein Fühlen zu uns. Was dieser Austausch vermittelt, hängt von den Umständen und dem Grund unserer Begegnung ab, und auch davon, wie wir miteinander umgehen. Eine wahre Begegnung durchläuft verschiedene Stufen des Erkennens und Anerkennens des anderen, und der Erfolg unseres Zusammenseins hängt von dem Raum ab, den wir diesem Prozess zugestehen. Wir sehen uns, und Fühlen fließt; wir erkennen uns, wir erkennen die Existenz des anderen an; wir begrüßen uns, verbal oder wortlos; wir haben ein Gespräch.
Unser Gespräch bleibt vielleicht nicht durch die ganze Begegnung hindurch auf der gleichen Ebene, aber höchstwahrscheinlich beginnen wir mit einer von vier möglichen Verhaltensweisen.
Unser Gespräch kann sich auf der Ebene des Denkens bewegen. Dabei kann es objektiv bleiben, es geht um Ideen oder Fakten. Wir begegnen uns »da draußen«, im Bereich der Gedanken. Wie wir diese Gedanken mitteilen, kann entweder zu größerer Nähe führen oder zu kühler Distanz. Im schlimmsten Fall kann der Austausch durch Differenzen blockiert oder gar beendet werden, mit dem Übereinkommen, dass wir verschiedener Meinung sind, oder dass wir uns nicht einigen können und aufgeben. Als Alternative, und weil wir uns um Verständnis bemühen, können sich die Ideen aber auch entwickeln, klarer werden und sich gegenseitig befruchten. Zwei Menschen mit ihrer individuellen Vergangenheit und Gegenwart können sich auf die Gedanken des anderen einstimmen und eine erfreuliche Begegnung haben, wenn sie sich gegenseitig hören, ohne an ihre eigenen Reaktionen gefesselt zu sein. Oft genug hängen wir in Gedanken fest, die spontan in uns aufsteigen, und wir reagieren auf das, was der andere sagt: »Ich glaube, du hörst mir gar nicht zu!« Das ist die oft gehörte Klage. Auf die Gedankenprozesse eines anderen zu hören, ist eine Fähigkeit, die Anstrengung erfordert: eine Selbstlosigkeit, die den Gedanken Raum gibt, die die andere Person formuliert.
Angenommen, der andere macht eine Behauptung und wir vertreten vehement eine andere Meinung. Unsere festgefahrene Einstellung ist bedroht, und wir gehen in die Offensive. Was für ein Unsinn! Wie kann er wagen, so etwas zu behaupten! Es erfordert Mut, von seinem hohen Ross hinabzusteigen, sich auf die gleiche Höhe neben ihn zu stellen und ihn zu bitten, seinen Standpunkt genauer zu erklären. Wenn wir diese Herausforderung annehmen, dann geben wir uns die Chance, unseren Horizont zu erweitern und bei diesem Prozess zu wachsen. Wir mögen bescheidener daraus hervorgehen, aber auch weiser und sicherer in uns selbst.
Das Wort »Verstehen« (im Englischen: under-stand) enthält in sich die Geste des Unterstützens »von unten«. Wenn wir in diesem Sinne verstehen können, wird sich der andere als Person bestätigt fühlen und nicht das Gefühl haben, dass er sich mit seiner Behauptung identifizieren und diese um jeden Preis verteidigen muss. Die Behauptung steht nun zwischen euch als gemeinsame Frage, die euch verbindet. Weil du Interesse gezeigt hast, könnt ihr nun die Sache gemeinsam ansehen, nicht als Gegenspieler. Sein Stolz ist weniger getroffen, und vielleicht kann er sogar neu erwägen, was er vorher als Behauptung aufgestellt hatte. Der weitere Verlauf des Gesprächs wird für dich und dein Gegenüber erhellend sein.
Wie ist es dazu gekommen? Indem du Offenheit gezeigt hast. Du hast bewiesen, dass du offen dafür bist, dazuzulernen. Du fühlst dich durch diesen Austausch weder bedroht oder geschwächt, noch gedrängt, dich verteidigen zu müssen. Und dem anderen geht es genauso. Du hast zugehört – und das kann zur Folge haben, dass dein Gegenüber auch offen und geneigt sein wird, deine Bedenken wegen seiner Behauptung ernst zu nehmen. Eure Beziehung wird an Tiefe und Wärme gewinnen: Antipathie, Opposition und Konflikt werden kein Thema mehr sein.
Bis zu diesem Punkt sind wir auf der Ebene des Denkens geblieben, und die Bedrohung wurde durch Offenheit abgewendet. Eine emotionale Reaktion hätte das Bemühen um die Wahrheit getrübt und eine andere Art des Umgehens miteinander auf den Plan gerufen. Denn wenn Gefühle aufgestört werden, geht die Objektivität verloren. Sie zieht sich in ihren Elfenbeinturm zurück und wartet, bis das Klima günstiger ist.
Was aber können wir tun, wenn die Begegnung von Anfang an emotional gefärbt ist? Der Mensch, der uns anspricht, lässt seinen Gefühlen (im Gegensatz zum »Fühlen«, siehe Kapitel 12) uns gegenüber freien Lauf. Oder er richtet diese gegen eine andere Person, in der Hoffnung, dadurch unsere Sympathie zu erlangen. Im Falle, dass die Emotion auf Wut oder Angst beruht, wird ihn das eine wie das andere nur schwächen. Es mag auch zum Teil ein Hilfeschrei sein, um im aufgewühlten Inneren wieder Ruhe einkehren zu lassen. Wut staut sich oft in der Magengegend, unser Körper fühlt den Stress.
Unsere Offenheit lässt uns hier die Emotion als solche erkennen. Sie lässt uns aber auch den Menschen sehen, der vorübergehend von ihr gefangen ist. Er ist nicht identisch mit der Emotion. Wir können das in aller Ruhe ansehen und uns sagen: »Du bist nicht deine Emotion.« Damit bleiben wir offen für den anderen Menschen, trotz seines emotionalen Zustands, und wir ermutigen ihn damit, alles auszusprechen, was ihn bewegt. Aber es hat keinen Zweck, mit ihm über das, was er in dieser Stimmung sagt, zu streiten, während er in diesem Zustand ist, oder ihm zu sagen: »Nein! Das ist nicht wahr.« Zu diesem Zeitpunkt ist für ihn genau das wahr, was er fühlt, und nicht das, was du behauptest. Seine Gefühle sind für ihn die Realität.
Sobald er damit beginnt, seine Misere zu beschreiben, und du ihn aufforderst, in Details zu gehen oder genau zu erklären, worum es ihm geht, wird sein Verstand aufgerufen, über das, was er sagt oder fühlt, nachzudenken, und nach und nach wird auf diese Weise seine Vernunft die Oberhand gewinnen. Damit hast du seine Würde als Person bestätigt.
Dein Ziel ist es, ihm dabei zu helfen, ein freier, authentischer, selbst-bestimmter, ausgewogener und offener Mensch zu sein. Wenn auch vielleicht nur vage, aber er wird dies spüren und sich dich zum Vorbild nehmen. Wenn du ebenfalls emotional auf seine Emotion reagierst, wirst du ihm nicht gerecht. Und wenn du sein Verhalten kritisierst, fühlt er sich angegriffen – aber nicht verstanden.
Und dann ist da der Bereich des Fühlens, das sich von der eben beschriebenen Emotion unterscheidet. Wenn jemand dir gegenüber ausdrückt, was er oder sie fühlt, dann kannst du diese Offenheit nur allzu leicht mit einer schlauen Bemerkung zerstören, die aus dem kalten, objektiven Bereich des Denkens kommt. Sagen wir, ein Kind zeigt dir im Herbst ein goldenes Laubblatt. Es möchte dir seine Freude an dieser Schönheit mitteilen, und du gibst ihm die Antwort: »Das ist nur ein totes Blatt, es ist wertlos.« Dann entwertest du damit das Kind und tötest etwas in seinem Gefühlsleben, vielleicht für immer. Und für dich selbst verlierst du die Chance, ein Erlebnis zu haben, welches das Kind dir vermitteln wollte.
Wir können die Verletzungen, die wir anderen auf diese Weise zufügen, besser verstehen, wenn wir uns daran erinnern, wie es sich anfühlt, wenn wir selbst betroffen sind. In einem Konzert kann es oft geschehen, dass man sich in dem Augenblick, in dem die Musik nach einem wunderbaren Schlussakkord endet, fühlend dem Nachklang hingibt. Und dann funkt dein Begleiter mit einer kritischen Bemerkung über den Solisten dazwischen, oder fragt ganz naiv: »Und? Wie fandest du’s?« Schlagartig ist Schluss mit der Andacht: Im Gefühlsbereich zu bleiben, wird nicht zugelassen! Oder wenn du erreichen möchtest, dass dich eine Freundin besser versteht und du ihr deine Traurigkeit darüber mitteilst, wie du deine Situation gerade empfindest – und du erhältst als Antwort: »Ach was! Diese Gefühle solltest du gar nicht haben, es ist doch ganz anders, als du sagst.« Auch wenn dies noch als halbwegs freundliche Reaktion durchgehen kann – beinahe noch im Bereich des Fühlens –, holt es dich nicht da ab, wo du gerade bist. Du wirst dich zurückgewiesen fühlen. Und du wirst daraufhin weniger offen sein, weil dir selbst keine Offenheit entgegengebracht worden ist.
Ich war einmal tief betroffen durch etwas, das einem meiner Kinder zugestoßen war, und ein wohlmeinender, weiser Freund sagte zu mir: »Aber siehst du denn nicht? Es ist doch ihr Schicksal, deshalb ist ihr das passiert!« Diese kleine Prise aus dem Schatz der Weisheit half meinem Schmerz überhaupt nicht. Aber ich lernte daraus, niemals Gefühle mit Gedanken zu ersticken. Man sollte nie versuchen, den Schmerz wegzurationalisieren. Es ist ein Privileg des Menschen, verletzlich zu sein, denn damit wird das wahrhaft Menschliche im Menschen zugänglich. Die Voraussetzung hierfür ist allerdings, Verständnis und Behutsamkeit zu entwickeln. Anders gesagt: Offenheit für das Fühlen (siehe Kapitel 12).
Es ist interessant, dass ein Mensch nicht leicht Worte findet, solange er sich im Bereich des Fühlens befindet. Ausgenommen, man fühlt sich auf derselben Wellenlänge wie der Mensch, der einem zuhört – und dies findet nur dann statt, wenn der Mensch, mit dem man zusammen ist, wirklich ein Zuhörer ist. Nicht nur jemand, der auf Worte hört, sondern jemand, der die Gefühle wahrnehmen und unterscheiden kann, die vom Gegenüber kommen, die Schwingung, die weihevolle seelische Geste! Oft ist mit Schweigen das meiste gesagt, mit einer Geste, die vermittelt: »Du musst gar nicht viel sagen, und ich auch nicht; wir befinden uns in einer Kommunion.« Was mehr ist, als in Kommunikation zu sein.
Die tiefste Art und Weise, sich miteinander zu verbinden, ist dennoch die durch Taten. Wir können uns unterhalten und verständigen durch unsere gedankenerfüllten Worte, wir können einander unsere Gefühle auf poetische Weise oder durch Gesten mitteilen. Aber wenn wir gemeinsam an etwas arbeiten und durch unsere Zusammenarbeit Ergebnisse erzielen, dann verbinden wir uns am tiefsten. Wenn wir miteinander arbeiten, dann verbinden wir uns. Es mag Anpassung erfordern, Diskussionen, emotionalen Austausch, aber sobald wir geschafft haben, was wir uns vorgenommen haben, oder wenn wir Schwierigkeiten gemeinsam überwunden haben, entsteht eine unausgesprochene Verbindung zueinander. Wenn Freunde oder Partner den Eindruck haben, dass zwischen ihnen eine Distanz entstanden ist, deren Folge Entfremdung und Misstrauen sein können, dann ist nichts effektiver, als sich gemeinsam auf die Ebene des Willens zu begeben und sich gegenseitig zu helfen, durch gemeinsames Bemühen, etwas zu schaffen, das von Bedeutung ist. Die gemeinsame Anstrengung und das gute Gefühl, das sich einstellt, wenn man etwas geschafft hat, sind wichtig. Es stellt die Offenheit zueinander wieder her.
Offenheit ist nichts Passives. Niemand kann dazu gezwungen werden, offen zu sein. Der Mensch muss sich von sich selbst aus öffnen, alles andere ist Zwang. Aber Offenheit ist meistens unbewusst. Sie bewusst zu gestalten, erfordert ein Erwachen zu den geheimnisvollen Vorgängen, die in Beziehungen walten.
Wir müssen bewusster werden, wenn wir Meister darin werden wollen, wie man mit Beziehungen umgeht, denn nur dann können wir sichergehen, dass wir uns nicht gegenseitig verletzen oder im alltäglichen Umgang miteinander Konflikte auslösen. Wir werden als Individuen nicht mehr durch unsere Familien oder unsere Volkszugehörigkeit im Zaum gehalten, auch nicht durch unseren persönlichen Dämon oder den einer Gruppe, nicht mehr durch die Furien, die früher das menschliche Bewusstsein von außen beherrscht haben, und nicht mehr durch ein kollektives Unbewusstes. Viele von uns haben sich auch von der Strenge der Religionen emanzipiert, die von uns die Beichte unserer Sünden verlangte sowie das fortwährende Bewusstsein dafür, die Grenze zu anderen Menschen nicht zu überschreiten. Und diese Entwicklung ist eingetreten, weil wir uns zu freien Individualitäten entwickeln, was wiederum dazu führt, jedem von uns die Verantwortung dafür zu übergeben, im Umgang miteinander bewusst zu sein.