Iris Muhl
Die Nacht der Versprengten
Heiligabend 1944. Es klopft an einer Berghütte. Draußen stehen drei halberfrorene amerikanische Soldaten. Kurze Zeit später klopft es erneut. Diesmal sind es vier deutsche Soldaten, durchfroren und bis an die Zähne bewaffnet. Was nun passiert, ist dramatisch und bewegend zugleich.
ISBN (Buch): 978-3-03848-059-4
ISBN (EPUB): 978-3-03848-758-6
www.fontis-verlag.com
Iris Muhl
Die Nacht der Vergessenen
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Für Philippe
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© 2018 by Fontis-Verlag Basel
Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns
Foto Umschlag: Belozorova Elena, shutterstock.com
E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel
E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg
ISBN (EPUB) 978-3-03848-504-9
ISBN (MOBI) 978-3-03848-505-6
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Vorwort
Kapitel 1: Schwarze Tauben
Kapitel 2: Das Meer in der Stadt
Kapitel 3: Heimatlos
Kapitel 4: Das Studium
Kapitel 5: Der Enkel
Kapitel 6: Perfektion
Kapitel 7: Avraáms Vater
Kapitel 8: Sonderbare Nacht
Kapitel 9: Ohne Schuld
Anmerkungen
Dieses Werk entstand in Anlehnung an eine wahre Geschichte, die sich vor einigen Jahren in Zürich im Kreis 4 ereignete, ebenso auf Recherchen in Berlin, wo die Autorin vor Jahren für ein ähnliches Buchprojekt Gespräche mit Frauen in der Prostitution führte. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sind die Figuren, ihre Namen und die Dialoge frei erfunden und Ausdruck der künstlerischen Freiheit der Autorin. Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen, Einrichtungen und Orten ist rein zufällig und keine Absicht.
Ein besonderer Dank gilt dem Team Rahab in Zürich und der Organisation Alabaster Jar in Berlin für ihre Offenheit und für ihren Mut, den Kampf für Frauen in der Prostitution nicht aufzugeben.
Well, there ain’t no goin’ back
when your foot of pride come down
Ain’t no goin’ back
Bob Dylan
Nicole legt die Handschuhe auf dem Bett zurecht, die Pomade für die Lippen, die kleinen Gummibärchen, mit denen sie nachts in der Kälte die Müdigkeit zu überwinden sucht, eine Flasche Wasser für Patrick, Verhütungsmittel für die Frauen, ein Meer an Broschüren und viele erlesene Dinge.
Sie fährt sich langsam über die Handgelenke. Wie schmal sie geworden sind in den letzten drei Jahren, in denen sie die Frauen der Straße besucht hat!
Leise Musik gelangt aus dem Wohnzimmer an ihr Ohr, hinter das sie nun mit der linken Hand ihr braunes, frisch geschnittenes Haar streicht. Sie trägt es halblang und reckt den Kopf stets etwas vor, wenn sie mit jemandem spricht, als hätte sie ein schwaches Gehör.
Sie blickt in ihren großen schwarzen Korb, in dem alles wohlgeordnet bereitliegt. Dabei sagt sie sich, das ist nun vielleicht das letzte Mal, dass ich den Korb gefüllt habe, und unterdrückt dabei ihr großes Bedauern.
Langsam geht sie durchs Zimmer und sucht ihren Hut. Er liegt auf der Kommode neben dem Schreibtisch, darüber hängen Fotos von ihrer Familie, von Vater und Mutter in einem Hotel in Italien, wahrscheinlich Mailand, die Schwester auf einer Harley-Davidson etwas blass, mit dunklen Brillengläsern und sehr ernst, dann Nicoles Hochzeitsfoto mit Markus. Sie trägt darauf ein ganz einfaches Samtkleid.
Obwohl Nicole sehr jung ist, gleicht ihr Gang heute Abend dem einer alten Frau, die unschlüssig nach etwas Ausschau hält. Nur zögerlich greift sie nach ihrem Hut und setzt ihn auf.
Jetzt ist sie bereit für die Nacht in der roten Meile.
Sie ist die erste Frau im Rahab-Team, die keinen karitativen Beruf erlernt hat. Weder ist sie Krankenschwester, noch Seelsorgerin, auch keine Sozialarbeiterin. Dennoch führt sie das kleine Rahab-Team mit Besonnenheit und Taktgefühl. Manche würden sie bis anhin sogar als großzügig und kulant beschreiben.
Die Frauen schätzen Nicole – alle nennen sie liebevoll «Niki», seit sie vor drei Jahren das erste Mal in den Bars und Salons auftauchte.
Niki erinnert sich sehr genau an die ersten Abende in der roten Meile. Sie schob sich anfangs erst zögerlich, dann immer forscher durch die dunklen Gassen, an den Menschen vorbei, an Männern, Frauen und Schaulustigen, unerschütterlich, als würde nicht sie ein Ziel verfolgen, sondern jemand verfolge sie.
Nikis Stimme ist stets behutsam, und gleichzeitig sehr direkt, wenn sie mit den Frauen spricht. Manchmal wartet sie lange und überlegt, tritt dann aber doch forsch an sie heran, als habe sie keine Zeit zu verlieren, als wolle sie nicht nur Frauen besuchen, sondern gleichzeitig auch ihr Leben ordnen und vielleicht sogar retten.
Doch das macht den Frauen nichts aus, denn sie mögen Nikis Lachen und ihre warme, manchmal vom vielen Reden heiser gewordene Stimme. Es ist, als stecke ein besonderer Zauber in ihrem Auftreten.
Auch die Freier und Zuhälter bemerken Niki, sie gehen einen Schritt zur Seite, wenn sie mit ihrer Kollegin im Flur oder auf der Treppe eines Salons erscheint, grüßen freundlich und mit gesenktem Kopf, als wollten sie nicht erkannt werden, oder als plage sie ein schlechtes Gewissen.
Es ist drei Minuten nach einundzwanzig Uhr. In Nikis Zimmer brennt nur eine kleine Kerze, sie flackert und tanzt, als sie den Mantel rasch um die Schultern wirft. Sie streift die Handschuhe über ihre langen Finger und geht mit dem vollen Korb durch die Wohnung zur Eingangstür.
Markus fängt sie ab, stellt sich ihr in den Weg mit einer Schüssel Maissalat, den er in der Küche für ein spätes Abendessen vorbereitet hat. Er ist jung, und seine blauen Augen glänzen. Doch jetzt erkennt er in der Dunkelheit ihre Aufmachung, und plötzlich baut sich eine unsichtbare Wand zwischen ihnen auf.
Niki spürt sie und fällt ein klein wenig in sich zusammen, sie schluckt. «Es geht nicht anders, Markus», sagt sie, und ihre Stimme kratzt im Hals, sie schnappt nach Luft, sie weiß nicht, wie sie sich noch weiter erklären soll. Es gibt keine Ausreden, denkt sie, ich habe keine. Nein, es ist, wie es ist. Ich muss jetzt zur roten Meile gehen.
«Wenn du jetzt gehst, bin ich morgen vielleicht nicht mehr da, Nicole», sagt Markus kühl.
Niki wird schwindlig, sie lehnt sich gegen die Tür, sie fürchtet sich vor Szenen wie dieser.
«Ich habe gestern auch noch Anna gefragt. Ich habe alle Freiwilligen angerufen, niemand wollte an diesem Abend arbeiten! Sie haben alle Familie. Soll ich die Frauen denn einfach alleine lassen?», verkündet Niki enttäuscht, und sie spürt ihren Puls im Hals. In ihrem Kopf dreht sich alles, sie weiß nicht mehr, ob sie nun hinausgehen oder bleiben soll. Was, wenn sich heute …
«Wenn sich heute eine Frau für einen Ausstieg entscheidet, was ist dann?», sagt sie mit klarer Stimme zu ihrem Mann, obwohl ihr elend zumute ist.
«Hör auf zu träumen! Was willst du eigentlich? Wovor willst du diese Frauen bewahren? Ich bin auch deine Familie! Mich aber lässt du an Heiligabend allein?», sagt Markus und starrt sie enttäuscht, aber dennoch erwartungsvoll an.
Sie nickt dreimal, als stimme sie ihm zu, erwidert dann lautlos: «Es tut mir leid, Markus», und drückt die Türfalle. Sie öffnet die Tür, und mit gesenktem Blick schlüpft sie eilig hinaus.
Markus will etwas sagen, seine bitteren Worte bleiben ihm jedoch im Halse stecken, und deshalb hebt er wütend die Stimme und ruft: «Wenn du dir den Hut so ins Gesicht ziehst, siehst du aus wie eine Polizistin!»
Niki lächelt ein wenig, gerade weil sie die Unzufriedenheit und die Ironie in seinen Worten spürt. Markus, sagt sie zu sich selbst, in meinem Herzen erkenne ich, dass ich den richtigen Weg gehe. Mach dir keine Sorgen, Markus, ich habe es gut auf der Straße, bei den Frauen. Sie brauchen mich, sie haben mich gern.
Er geht ihr nach, folgt ihr bis zum Treppenabsatz und bleibt dann traurig stehen, die Schüssel mit dem festlichen Salat unter seinen Arm geklemmt.
Ja, du bist Familie, denkt sie, ich liebe dich, aber das hier ist wichtiger.
«Nicole!», ruft er ihr nach, «meinst du wirklich, du musst die Sorgen dieser Frauen auf deinen Schultern tragen? Meinst du, die ganze Welt retten zu müssen?»
Niki kehrt nochmals zurück, ganz sachte bleibt sie vor ihm stehen und sieht ihn schweigend an. «Auch nur ein Leben ist eine Welt», will sie sagen, aber sie bringt kein Wort heraus.
Ohne Kuss geht sie von ihm weg, stürmt die Treppe hinunter, keinen Blick wirft sie zurück.
Die Nacht ist beinahe schwarz, nur ihre Schritte sind zu hören. Sparsam wirft sich ein Laternenschimmer auf den nassen Asphalt. Sie steigt in den geheizten, aber beinahe leeren Bus und betrachtet die Häuser. Eine alte Frau blickt sie neugierig an, nickt ihr freundlich zu.
Niki sieht aus dem Fenster, sie erkennt darin ihren Hut im Gesicht, schiebt ihn sich mit dem Zeigefinger in den Nacken.
Hinter den leuchtenden Fenstern der Häuserfassade öffnen sich Familiengeschichten: gedeckte Tische, aufflackernde Kerzen. Bald würden die Menschen nach der Feier zu Bett gehen, die Stadt würde in Schlaf versinken, und nur ein paar Seelen würden noch durch die Stadt wandern, während ein kalter Wind um die Häuser geht und die alten Stadtbäume schüttelt.
Wie sich die Häuser aneinanderreihen! Wie Soldaten …, denkt Niki.
Sie geht nach vorn, steigt aus dem Bus und wünscht dem Fahrer fröhliche Weihnachten.
Sie kommt an einer Wohnung vorbei, darin sitzt eine schwarze Gestalt vor dem flimmernden Fernseher. Das blaue Blitzgewitter an den Wänden strahlt Leere aus, findet Niki. Gibt es überhaupt ein Mittel gegen Einsamkeit?, fragt sie sich beim Durchqueren der Langstraße. Oder trifft das Alleinsein jeden von uns einmal im Leben? Vielleicht ist Alleinsein eine Entdeckungsreise zu sich selbst; ist das wirklich Gottes Absicht?
Es beginnt zu schneien. Dicke Flocken fallen auf ihren Hut und auf die Schultern, versinken darin. Die Luft hingegen ist leicht und kühl, sie fühlt sich gut an auf der Haut, trotzdem will Niki schnell ins Trockene gelangen. Hoffentlich ist Heidi nicht so früh dran, denkt sie. Ständig bringt sie mich in Schwierigkeiten mit ihrer Pünktlichkeit.
Niki öffnet eine alte Tür und steigt die schmale Treppe hoch.
Jetzt blickt sie auf ihre kleine, teure Uhr, die sie von Markus zum ersten Hochzeitstag erhalten hat: kobaltblaues Zifferblatt, braunes Armband, eine einfache, aber elegante Ausgabe einer Damenuhr.
Schnell nimmt sie die Stufen.
Eine.
Zwei.
Sie stolpert.
Auch ihre Hochzeit hatten sie damals vor vier Jahren bewusst sehr einfach gehalten. Beide wollten weder Schnickschnack noch Geschenke. Sie hatten in Zürich standesamtlich geheiratet und nur die Trauzeugen und die Eltern eingeladen.
Niki und Markus waren damals noch im Studium, und sie konnten sich kein großes Fest leisten, obwohl ihre Eltern die Bezahlung angeboten hatten. Aber Niki verabscheute den Reichtum ihrer Eltern, sie wollte ihr Leben selbst in die Hand nehmen, auch die Hochzeit selber finanzieren.
Während des Studiums hatte sie sich einer linken politischen Gruppierung angeschlossen, demonstrierte gegen Kapitalismus und für höhere Steuern für Reiche.
Überhaupt war Geld für Niki ein eher unwichtiges Übel geworden, deshalb zog sie auch, als sie mit dem Studium der Politikwissenschaften begann, von zu Hause aus und in eine Studenten-WG. Nur die kleinen monatlichen Unterstützungsbeiträge des Vaters akzeptierte sie noch, aber auch nur, um sein Gewissen zu beruhigen und damit auch ihres.
Sie lernte schnell, in der politischen Aktivistenszene der Uni mitzureden, wollte sich für eine gerechtere Welt einsetzen. Für dieses Ziel demonstrierte sie oftmals wütend auf den Straßen. Bis sie eines Tages während eines Protestmarsches beinahe die Nerven verloren hätte.
Sie griff damals gerade nach einem Stein, den sie gegen ein Bankgebäude schmettern wollte. Da ging eine Mutter mit ihren drei Kindern an der Fassade vorbei, in einfacher, fast schäbiger Kleidung und mit einem zusammengeflickten Kinderwagen. Sie schien auf dem Gehsteig einen Zufluchtsort zu suchen vor der wütenden, pulsierenden Menge auf der Straße.
Da ließ Niki ihre Faust sinken, der Stein kugelte aus ihrer Hand auf die Straße. Sie wusste, dass das Wurfgeschoss beinahe die Familie getroffen hätte.
Was tue ich hier eigentlich?, fragte sich Niki damals erschrocken und enttäuscht und verließ nachdenklich die Demonstration, nahm den Zug Richtung Süden und blieb drei Tage in einer Jugendherberge in den Bündner Bergen.
Nur langsam besann sie sich. Das Bild dieser ärmlich gekleideten Frau mit den drei Kindern ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Ich hätte sie schwer am Kopf verletzen können, dachte Niki, als sie gerade über eine Bergkuppe wanderte, die sie noch nie gesehen hatte. Was will ich eigentlich?, fragte sie sich ernsthaft. Mit Gewalt das Gute erzwingen?
Die Uhr tickt leise im Rhythmus der Schritte. In einer halben Stunde wird sie mit Heidi bereits die rote Meile entlanggehen, Salons besuchen, bekannte Gesichter entdecken, die Fühler ausfahren, auf unbekannte Frauen zugehen, die neu sind auf dem Strich in Zürich. Aber erstmal ein Gebet in ihrem kleinen Büro mit Heidi, zur Ruhe kommen und aufhorchen.
Jetzt öffnet Niki die Tür und steht vor Heidi. Diese lächelt sie breit an, umarmt sie.
«Endlich! Ich dachte schon, du bist von einem Bus überfahren worden», sagt Heidi, lacht und packt weiter Dinge in ihren Korb.
Heidi ist eine Dame in den Fünfzigern, graues kurzes Haar, kräftiges Lachen, stämmige Beine. Sonderbar wirft sie ihren Kopf zurück, als müsste sie das lange volle Haar über die Schultern werfen, das sie vor vielen Jahren abgeschnitten hat.
Es duftet nach frischem Kuchen, und der Raum ist wie ein Krämerladen mit kleinen Requisiten gefüllt: Frauen-Hygieneartikel wie Haarshampoo, Handcreme und Körperlotion in Probiergröße, dazu Watte, Nagellack in allen Farben, Nagelfeilen und so weiter.
«Ich hatte eine Auseinandersetzung mit Markus. Er ließ mich heute nicht gerne gehen», sagt Niki und bedauert im gleichen Augenblick bereits ihre Offenheit. Sie will den Abend nicht damit verbringen, über ihre Ehe zu sprechen; es würde sie nur bei der Arbeit behindern.
Niki ist sich sicher, dass Heidi zwischen den Besuchen bei den verschiedenen Frauen immer wieder davon anfangen würde. Das wäre weder hilfreich noch angenehm, wo sie den Frauen doch Gutes tun will an diesem Abend.
«Warum sagst du ihm nicht einfach, dass unser Einsatz heute Abend besonders wichtig ist? An Weihnachten sind viele Frauen sehr einsam. Und wer weiß, vielleicht haben wir sogar eine Frau, die aussteigen will, Niki», sagt Heidi und legt ihr die Hand auf die Schulter.
Heidi ist im Team bekannt dafür, Dinge direkt anzusprechen, das Herz auf der Zunge zu tragen, was auch immer mal unreife Gedanken zutage befördert und im Team leicht zu Auseinandersetzungen führt. Niki fürchtet sich manchmal vor den Einsätzen mit Heidi. Weil sie sprunghaft ist und vor den Frauen, die sie besuchen, mit ihrem Enthusiasmus Probleme direkt beim Namen nennt, ja, sogar die Freier anspricht, sie auf diese Weise dann beschämt und verjagt.
Wenn jemand sie fragte, würde Niki dieses Verhalten Unreife nennen, denn sie selbst ist in der Regel verschwiegen, nachdenklich und vorsichtig mit ihren Worten. Manchmal überlegt sie sich zweimal, was sie zu einer Prostituierten sagen will, damit das Gespräch auch gelingt, beispielsweise durch einen würdevollen Einstieg, damit gegenseitiges Vertrauen wachsen kann.
«Markus versteht mich nicht, ich weiß nicht mehr, was ich ihm noch sagen soll. Immer fühlt er sich vernachlässigt. Du kennst doch seine Geschichte, Heidi. Ich kann ihn nicht ändern. Die Zeit muss das tun. Nicht ich», sagt sie traurig, und Heidi nickt.
Sie schweigen eine Weile, packen Geschenke in den Korb, Handpflege und Gesichtspflege in rotem und transparentem Weihnachtspapier. Es knistert. Sorgfältig fahren sie mit den Fingern über die grünen Schleifen, sprechen über den Abend, die Absichten, ihre Wünsche für Weihnachten, ihren Weg, den sie heute Abend im Schneegestöber, in der kalten Nacht, einschlagen wollen. Dann wird es wieder still im Raum.
«Was sollen denn die Frauen mit dieser Sportunterwäsche?», fragt Niki unvermittelt. Sie hält die dicken Textilien unter die surrende Glühbirne und schüttelt den Kopf.
«Wir können sie ja den Freiern schenken», sagt Heidi und wirft sie zurück in den Karton.
Vor einigen Tagen hat ein bekanntes Schweizer Unternehmen sie geschickt. Bei solchen Spenden handelt es sich meistens um unmodische Ausschussware, aber immerhin ist sie einzeln verpackt in einem blauen glatten Karton.
Der Raum ist voll von Dingen, die die Frauen auf der Straße vielleicht irgendwann brauchen könnten. Seifen, Handschuhe, Seidenstrümpfe, Taschentücher, Nagellack – und seit November gelangen dazu auch immer mehr Weihnachtsgeschenke in den Raum. Manche Dinge sind schön, andere haben keinen besonderen Wert.
Heidi dreht die Sachen in ihren Händen, lacht schon wieder. «Ein Nikolaus aus Watte!», ruft sie.
Alles, was Heidi begegnet, belächelt sie erst mal komplizenhaft – ob es merkwürdige Kosmetikprodukte sind oder die schlechte Laune einer Prostituierten.
Sie ist die Frohnatur in der kleinen Gruppe Helferinnen und lacht seit Jahren alles in die Flucht. Doch bei ernsthaften Konflikten mit Zuhältern weicht sie eilig zurück, stellt sich etwas verschüchtert hinter Niki, jedes Mal ein nervenaufreibendes Prozedere.
Die beiden unterscheiden sich fast in allen Belangen. Heidi ist der Klebstoff, der die Kontakte und Beziehungen zusammenhält, sie unterbricht alle mitten im Satz, unüberlegt und intuitiv. Niki jedoch analysiert, interpretiert und versucht die Umstände, in denen sich die Frauen bewegen, mit scharfer Beobachtungsgabe zu durchschauen. Mittlerweile muss sie sich aber eingestehen, dass sie oftmals an ihren eigenen Vorurteilen und ihrem gefährlichen Eifer, die Frauen unbedingt aus der Situation retten zu wollen, gestrauchelt ist.
Sachte faltet Heidi die Hände, macht sich zum Gebet bereit. Sie weiß, dass diese Nacht schwierig werden wird, denn an Heiligabend sind die Menschen besonders empfindsam in der roten Meile. Es ist dann, als sei alles verwickelt: Hoffnung und Verzweiflung, Freude und Enttäuschung, Glück und Tragik sind nah beieinander, übereinander, ineinander.
«Die Erwartungen an Weihnachten sind derart hoch, dass wir alle daran nur scheitern können», sagt Heidi im Gebet. «Schenke uns deswegen heute Abend die richtigen Worte im dazugehörigen Augenblick.»
In ihrem Bauch spürt Niki die Anspannung. Sie nimmt sich zusammen. Jetzt sitzt ein Knoten unter dem Brustbein, sie findet keine Worte, beginnt zu stottern, hält ein, fragt Gott im Stillen: Du weißt doch, dass ich seit Monaten nichts mehr bewegen konnte, Herr. Und nun mache ich mich hier heute Abend nur lächerlich. Willst du das wirklich?
Niki ringt mit sich.
«Kannst du mich nicht ermutigen, Gott?», sagt sie nun laut. «Versteh doch, du sagst: ‹Bittet, und euch wird gegeben›, aber seit Monaten habe ich keine Antwort bekommen, nicht mal ein kleines Zeichen von dir. So kann ich nicht weitermachen, so geht es nicht mehr!»
In stillem Einverständnis schweigen sie, riechen den Duft der Shampoos, der neuen Unterwäsche, der weißen Seifenpackungen, den dumpfen Geruch von Kartons, die sich neben ihnen stapeln.
Der Raum senkt sich über sie.
Es ist nicht meine Absicht, denkt sie angestrengt, dich anzugreifen, aber sieh doch, es macht keinen Sinn mehr. Keine dieser Frauen will von da weg, ich habe alles versucht, einfach alles.
Für einen Moment steht Niki unsicher da, beugt sich vornüber, der Kopf hängt schwer, sie kippt, hält sich an den Kartonschachteln fest.
Jetzt lässt ihre Konzentration nach, und die Stille im Raum wird unerträglich.
«Amen», sagt Heidi intuitiv, wie aus der Hüfte geschossen zwischen Einkehr und Aufmerksamkeit.
Sie will keine Minute an den Zweifel verlieren. Er ist nicht bestrebt, ihnen jetzt zu helfen. Er schadet nur ihrem Unternehmen – beziehungsweise dem, was einmal Ziel und Absicht ihrer Mission war.
Der Duft von frischem Schnee begleitet sie auf der roten Meile, vermischt mit dem Geruch von gebratenem Fleisch und Kartoffeln. Es ist eine kleine, schmale Querstraße abseits der Langstraße.
Während sie behutsam schlendern, sortiert Niki in der knappen Dunkelheit die wenigen Figuren, die sich auf der Straße bewegen. Die Fenster leuchten rot und orange, manche gelb, und dazwischen schwarze Säulen, die Fassaden. Vor den Häusern wirkt die Straße dunkelblau, und sie schluckt das beschaulich leise Straßenlicht. Die Menschen schimmern darin wie Blumen am Wegrand: rot und blau, weiß und grün, vornübergebeugt oder aufrecht. Sie harren stumm.
Diese Erwartungen, denkt sie.
Heidi hat Recht, die letzten zwei Weihnachtsabende verliefen unruhig, daran erinnert Niki sich gut.
Vor zwei Jahren trösteten sie eine Prostituierte, die von drei jungen Männern angepöbelt worden war. Alle verschwanden eilig, weil sie in ihnen Polizistinnen vermuteten.
Später halfen sie einem Fahrradfahrer, der auf der vom Schnee seifig gewordenen Straße gestürzt war.
Und dann, gegen Morgen, schlichteten sie einen Streit in einem Salon. Es waren schlecht gelüftete, schmutzige Räume gewesen, die in keiner Weise einem Menschen gerecht wurden. Zwei Frauen stritten sich um ein schönes Zimmer, das frei geworden war.
Niki musste dazwischengehen. Aus einem Impuls heraus hatte sie gehofft, helfen zu können. Sie erinnert sich daran, wie die Frauen aufeinander einprügelten, sie rissen sich an den Haaren und schlugen einander ins Gesicht.
Sie wollte die Frauen auseinanderbringen, doch diese fühlten sich durch Nikis Anwesenheit in ihrem Recht bestärkt, und jede versuchte, sie auf ihre jeweilige Seite zu ziehen.
Ich mache meist alles nur noch schlimmer, denkt jetzt Niki mit großem Bedauern. Manchmal muss man den Dingen ihren Lauf lassen, man kann sich nicht überall in den Vordergrund drängen, alles entlarven und richtigstellen. Die Dinge richten sich selbst ein … in vielerlei Hinsicht, sagt sie sich mit einem Anflug von Bitterkeit.
Ihre Nase fühlt sich kalt an. Ein Schneekristall fällt ihr ins Auge. Sie verzieht das Gesicht.
Das alles läuft nicht gut, denkt sie.
Am liebsten möchte sie wieder umkehren. Sie muss an Markus denken, macht sich Vorwürfe.
Ausgerechnet am Weihnachtsabend lasse ich ihn alleine, überlegt sie.
An die erste Begegnung mit ihm in den Bergen erinnert sie sich sehr genau. Die hatte sich wie eine Szene aus einem Filmdrehbuch abgespielt.