Jahre des Jägers

Don Winslow

Jahre des Jägers

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Conny Lösch

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Don Winslow

Don Winslow wurde 1953 in der Nacht zu Halloween in New York geboren. Seine Mutter, eine Bibliothekarin, und sein Vater, ehemaliger Offizier bei der Navy, bestärkten ihn schon früh in dem Wunsch, eines Tages Schriftsteller zu werden, vor allem die Geschichten, die sein Vater von der Marine zu erzählen hatte, beflügelten die Fantasie des Autors.

Das Sujet des Drogenhandels und der Mafia, das in vielen von Don Winslows Romanen eine Rolle spielt, lässt sich ebenso mit seinen Kindheitserfahrungen erklären: Seine Großmutter arbeitete Ende der 60er für den berüchtigten Mafiaboss Carlos Marcello, der den späteren Autor mehrere Male in sein Haus einlud.

Jeden Morgen um fünf setzt er sich an den Schreibtisch. Mittags läuft er sieben Meilen, in Gedanken immer noch bei seinen Figuren, um dann am Nachmittag weiterzuarbeiten. Winslow sagt von sich, dass er bislang nur fünf Tage durchgehalten habe, ohne zu schreiben. Es ist eine Sucht, die bis heute ein Werk hervorgebracht hat, dessen Qualität, Vielseitigkeit und Spannung Don Winslow zu einem der ganz Großen der zeitgenössischen Spannungsliteratur machen.

Don Winslow wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Krimi Preis (International) 2011 für »Tage der Toten«. Für die New York Times zählt Don Winslow zu den ganz großen amerikanischen Krimi-Autoren.

Don Winslow lebt mit seiner Frau und deren Sohn in Kalifornien.

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Border« bei William Morrow, New York.

 

 

 

© 2019 der eBook-Ausgabe Droemer eBook

© 2019 Don Winslow

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Antje Steinhäuser

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Landkarte: Nick Springer, adaptiert von Computerkartographie Carrle

ISBN 978-3-426-43833-6

»Wenn das Volk sich eine Wand baut,
übertünchen sie dieselbe mit Kalk. So sprich zu den Tünchern,
die mit Kalk tünchen: Die Wand wird einfallen!«

Hesekiel 13

 

»Es brauchte nur wenig, so unendlich wenig,
um sich auf der anderen Seite der Grenze wiederzufinden,
hinter der alles seinen Sinn verlor:
Die Liebe, die Überzeugung, der Glaube, die Geschichte.«

Milan Kundera, Das Buch vom Lachen und Vergessen

Prolog

Washington, D.C.
April 2017

Keller sieht den kleinen Jungen und im selben Augenblick das Aufblitzen einer Reflexion im Sucher.

Das Kind hält die Hand seiner Mutter, betrachtet die in den schwarzen Stein eingravierten Namen, und Keller fragt sich, ob es jemanden sucht – einen Großvater oder einen Onkel vielleicht – oder ob Mutter und Sohn einfach so am Ende eines Spaziergangs über die National Mall zum Denkmal der Vietnam-Veteranen gekommen sind.

Die Wand wurde in den Boden des Parks eingelassen, versteckt wie ein mit Schuld behaftetes Geheimnis, eine persönliche Schande. Hier und dort haben Trauernde Blumen abgelegt, Zigaretten oder sogar kleine Schnapsfläschchen. Vietnam war lange her, hatte in einem anderen Leben stattgefunden, aber seither hatte Keller seinen eigenen Krieg gekämpft.

Auf der Wand sind keine Schlachten vermerkt. Kein Khe Sanh, Quang Tri und keine Hamburger Hills. Vielleicht, weil wir jede einzelne Schlacht gewonnen, aber den Krieg verloren haben, denkt Keller. So viele Tote für einen sinnlosen Krieg. Bei früheren Besuchen hier hatte er Männer wie Kinder schluchzen sehen.

Das Gefühl der Trauer ist herzzerreißend und überwältigend.

Heute sind vielleicht vierzig Menschen hier. Einige von ihnen sehen aus wie Veteranen, andere sind Angehörige, die meisten aber wahrscheinlich Touristen. Zwei ältere Männer in den Uniformen und mit den Kappen der Veterans of Foreign Wars helfen den Besuchern, die Namen ihrer Lieben zu finden.

Jetzt befindet Keller sich erneut im Krieg – gegen die Drug Enforcement Agency DEA, den Senat der Vereinigten Staaten, die mexikanischen Drogenkartelle, ja sogar den Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Und sie sind alle dasselbe, dieselbe Einheit.

Jede Grenze, an deren Existenz Keller einst glaubte, wurde überschritten.

Einige wollen ihn zum Schweigen bringen, ins Gefängnis stecken, vernichten; manche vermutlich sogar töten.

Er weiß, dass er polarisiert, zum Inbegriff des Grabens wurde, der sich zu vergrößern und das Land zu spalten droht. Er hat einen Skandal ausgelöst, Ermittlungen von den Schlafmohnfeldern Mexikos bis zur Wall Street und ins Weiße Haus angeschoben.

Es ist ein warmer Frühlingstag, angenehm windig, Kirschblüten schweben durch die Luft. Marisol spürt, was er empfindet, nimmt seine Hand.

Jetzt sieht Keller den Jungen und dann – rechts von ihm, vom Washington Monument her – etwas aufblitzen. Keller stürzt sich auf Mutter und Kind, stößt sie zu Boden.

Dann dreht er sich um, will Mari abschirmen.

Die Kugel lässt Keller wie einen Kreisel herumwirbeln.

Sie streift ihn am Kopf.

Blut fließt ihm in die Augen, und er sieht im wahrsten Sinne des Wortes rot, streckt die Hand aus und zieht Marisol zu sich herunter.

Ihr Gehstock fällt klappernd auf den Weg.

Keller schützt sie mit seinem Körper.

Weitere Kugeln schlagen über ihnen in die Wand.

Er hört Rufe und Schreie. Jemand brüllt: »Es wird geschossen!«

Keller blickt auf, schaut sich um und sieht, dass die Schüsse aus Südosten kommen, circa zehn Uhr – hinter einem kleinen Gebäude, in dem, wie er sich erinnert, Toiletten untergebracht sind. Er tastet nach der Sig Sauer an seiner Hüfte, aber dann fällt ihm wieder ein, dass er unbewaffnet ist.

Der Schütze steigt auf Automatik um.

Kugeln prasseln an den Stein über Keller, Namen platzen ab. Menschen liegen flach auf dem Boden oder kauern an der Wand. Einige wenige krabbeln über die niedrigen äußeren Enden der Mauer und rennen zur Constitution Avenue.

Andere bleiben einfach verdattert stehen.

Keller schreit: »Runter! Es wird geschossen! Runter!«

Aber er merkt, dass das nichts bringt und das Denkmal zur tödlichen Falle geworden ist. Die Wand bildet ein breites V, und entlang des schmalen Wegs gibt es nur zwei Ausgänge. Ein Pärchen mittleren Alters rennt zum Ausgang auf der Ostseite, dem Schützen entgegen und wird sofort getroffen, sie kippen um wie Figuren in einem abscheulichen Videospiel.

»Mari«, sagt Keller, »wir müssen hier weg.«

»Okay.«

»Mach dich bereit.«

Er passt eine Feuerpause ab – der Schütze lädt nach –, dann steht er auf, packt Mari und wirft sie sich über die Schulter. Er trägt sie zum Ausgang auf der Westseite, wo sich die Wand bis auf Hüfthöhe absenkt, schiebt sie hinauf und darüber, setzt sie hinter einen Baum.

»Bleib unten!«, schreit er. »Bleib da!«

»Wo gehst du hin?!«

Es wird wieder geschossen.

Keller springt zurück über die Wand, beginnt, die Menschen Richtung Südwest-Ausgang zu treiben. Er packt eine Frau mit einer Hand am Genick, drückt ihren Kopf hinunter und schiebt sie voran, schreit, »Hier lang! Hier lang!«. Aber dann hört er das schrille Pfeifen einer Kugel und den dumpfen Einschlag, als diese sie trifft. Die Frau taumelt und sackt auf die Knie, umklammert ihren Arm, während ihr das Blut schon zwischen den Fingern hindurchrinnt.

Keller versucht, sie hochzuziehen.

Eine Kugel zischt vorbei an seinem Gesicht.

Ein junger Mann kommt angelaufen, streckt die Arme aus nach der Frau. »Ich bin Sanitäter!« Keller übergibt sie, dreht sich um und treibt weiter Menschen vor sich her, weg von den Schüssen. Wieder sieht er den Jungen, der sich an die Hand seiner Mutter klammert, die Augen vor Angst weit aufgerissen, während die Mutter ihn weiter vor sich herschiebt, ihn mit ihrem Körper abzuschirmen versucht.

Keller legt ihr einen Arm um die Schulter und drückt sie im Weitergehen tiefer hinunter.

Er sagt: »Ich hab Sie. Ich hab Sie. Laufen Sie weiter.« Ganz hinten an der Wand bringt er sie in Sicherheit und geht dann wieder zurück.

Erneut entsteht eine Pause; der Schütze wechselt offenbar den Ladestreifen.

Oh Gott, denkt Keller, wie viele hat er bloß?

Mindestens noch einen, denn jetzt wird erneut geschossen.

Menschen stolpern und fallen.

Sirenen heulen und jaulen, Hubschrauberrotoren pulsieren in einem tiefen vibrierenden Bass.

Keller packt einen Mann, will ihn weiterziehen, aber eine Kugel trifft ihn in den Rücken, und er fällt Keller vor die Füße.

Die meisten haben es jetzt über die Westseite geschafft, andere liegen auf dem Weg, wieder andere im Gras, weil sie hatten fliehen wollen und in die falsche Richtung gerannt waren.

Eine fallen gelassene Wasserflasche läuft gluckernd auf dem Gehweg aus.

Ein Handy mit gesprungenem Display klingelt auf dem Boden neben einem Souvenir – einer kleinen billigen Lincoln-Büste – das Gesicht mit Blut bespritzt.

 

Keller schaut nach Osten und sieht einen Officer der Parkpolizei mit gezogener Pistole, der heldenhaft auf das Toilettenhäuschen zustürmt und, von mehreren Kugeln in die Brust getroffen, zu Boden geht.

Keller lässt sich fallen und kriecht auf dem Bauch zu ihm, tastet am Hals nach seinem Puls. Der Mann ist tot. Keller macht sich so flach wie möglich, während weitere Kugeln in den leblosen Körper schlagen. Er schaut auf und glaubt, den Schützen zu entdecken, der hinter dem Toilettenhäuschen kauert und einen weiteren Ladestreifen einlegt.

Art Keller hat den größten Teil seines Lebens in einem Krieg auf der anderen Seite der Grenze gekämpft, und jetzt ist er zu Hause.

Der Krieg ist mit ihm gekommen.

Keller nimmt die Waffe des Polizisten – eine 9mm Glock – und bewegt sich zwischen den Bäumen auf den Schützen zu.

Buch eins:

Mahnmale

»Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.«

Platon

1. Monster und Geister

»Monster und Geister sind real.
Sie leben in uns, und manchmal gewinnen sie.«

Stephen King

1. November 2012

Art Keller kommt aus dem guatemaltekischen Dschungel wie ein Geflohener.

Er hinterlässt ein Schlachtfeld. In dem kleinen Dorf Dos Erres liegen Leichenberge, einige der Toten sind in den schwelenden Resten eines Feuers verbrannt, andere auf der Lichtung liegen geblieben, wo sie niedergemäht wurden.

Die meisten sind Narcos, Killer im Auftrag eines der Kartelle, die vermeintlich herkamen, um Frieden zu schließen, in Wirklichkeit aber nur, um einander in einen Hinterhalt zu locken und gegenseitig zu vernichten. Sie handelten Frieden aus, ein Abkommen, doch bei der ausschweifenden Versöhnungsfeier zogen die Zetas Schusswaffen, Messer und Macheten und schlachteten die Sinaloaner ab.

Keller geriet buchstäblich durch Zufall dort hinein – der Helikopter, in dem er saß, wurde von einer Rakete getroffen und stürzte schlingernd mitten ins Feuergefecht. Dennoch ist er kaum unschuldig, denn Adán Barrera, der Boss der Sinaloaner, und er hatten geplant, mithilfe eines Söldnertrupps dort einzufallen und die Zetas zu eliminieren.

Barrera wollte seine Feinde in die Falle locken.

Das Problem war nur, dass diese ihm zuvorkamen und ihn zuerst in die Falle lockten.

Aber die beiden Personen, gegen die Kellers Mission sich hauptsächlich richtete, die Anführer der Zetas, sind tot – der eine enthauptet, der andere als lebende Fackel verbrannt. Danach zog Keller, wie sie es im Zuge ihrer unheilvollen Waffenruhe vereinbart hatten, in den Dschungel, um Barrera zu suchen und rauszuholen.

Keller kam es vor, als hätte er sein gesamtes Erwachsenenleben lang Adán Barrera verfolgt.

Nach zwanzig Jahren hatte er Barrera endlich in den Vereinigten Staaten hinter Gitter gebracht, nur um mit ansehen zu müssen, wie dieser in ein mexikanisches Hochsicherheitsgefängnis verlegt wurde, aus dem ihm prompt die »Flucht« gelang, und er anschließend als Pate des Sinaloa-Kartells zu mehr Macht gelangte als je zuvor.

Keller kehrte also nach Mexiko zurück, um Barrera erneut zu suchen, und verbündete sich acht Jahre später mit ihm, um gemeinsam mit ihm die Zetas zu eliminieren.

Das größere von zwei Übeln.

Und es war gelungen.

Aber Barrera war verschwunden.

Und jetzt geht Keller weiter.

Für eine Handvoll Pesos, die er den Grenzbeamten zusteckt, kommt er nach Mexiko und läuft die zehn Meilen bis ins Dorf Campeche, von wo aus sie den Überfall geplant hatten.

Oder besser gesagt, er wankt.

Sein Adrenalinspiegel ist nach der Schießerei inzwischen wieder gesunken, jetzt spürt er die Sonne und die Hitze des nahen Regenwaldes. Seine Beine schmerzen, seine Augen brennen, es riecht nach Rauch, Feuer und Tod.

Den Gestank von verbranntem Fleisch vergisst man nie wieder.

Orduña wartet an der kleinen, in den Wald geschlagenen Landepiste auf ihn. Der Kommandant des FES, einer Sondereinheit der mexikanischen Kriegsmarine, sitzt in einem Black-Hawk-Helikopter. Keller und Admiral Orduña hatten während des Krieges gegen die Zetas ein Zweckbündnis gebildet. Keller hatte Orduña mit amerikanischen Geheimdienstinformationen von allerhöchster Ebene versorgt und dessen Marines-Spezialeinheiten bei Einsätzen in Mexiko begleitet.

Dieser Einsatz aber war anders gewesen – in Guatemala bot sich ihnen die Chance, die gesamte Führung der Zetas auf einen einzigen Schlag auszuschalten, aber dort konnte die mexikanische Kriegsmarine nicht hin. Orduña hatte Kellers Team aber einen Stützpunkt und logistische Unterstützung zugesagt, das Team nach Campeche geflogen, und jetzt wartet er, um zu sehen, ob sein Freund Art Keller überlebt hat.

Orduña grinst breit, als er Keller zwischen den Bäumen hervorkommen sieht, dann greift er in die Kühlbox und reicht ihm ein kaltes Modelo.

»Die anderen aus dem Team?«, fragt Keller.

»Haben wir bereits ausgeflogen«, sagt Orduña. »Inzwischen müssten sie in El Paso sein.«

»Tote und Verletzte?«

»Einer ist gefallen«, sagt Orduña. »Vier Verletzte. Bei Ihnen war ich mir nicht sicher. Wären Sie bis Anbruch der Dunkelheit nicht hier gewesen, a la mierda todo, wären wir los und hätten Sie geholt.«

»Ich hab Barrera gesucht«, sagt Keller und kippt das Bier runter.

»Und?«

»Hab ihn nicht gefunden«, erwidert Keller.

»Was ist mit Ochoa?«

Orduña hasst den Anführer der Zetas mindestens so sehr, wie Keller Adán Barrera hasst. Im Krieg gegen die Drogen geht es oft sehr persönlich zu. Für Orduña spätestens seit einer seiner Leute bei einer Razzia gegen die Zetas getötet wurde und diese anschließend bei seiner Beerdigung dessen Mutter und Schwestern ermordeten. Am Tag danach hatte er die »Matazetas« – die »Zeta-Killer« – gegründet. Und genau das taten sie jetzt, sie töteten Zetas, wo sie nur konnten. Wenn sie Gefangene machten, dann nur, um an Informationen zu gelangen, anschließend wurden auch sie hingerichtet.

Keller hasste die Zetas aus anderen Gründen.

Anderen, aber völlig ausreichenden.

»Ochoa ist tot«, sagte Keller.

»Ist das belegt?«

»Ich hab’s gesehen«, sagt Keller. Er hatte gesehen, wie Eddie Ruiz den verletzten Boss der Zetas mit Benzin übergossen und ein Streichholz angerissen hatte. Sterbend hatte Ochoa geschrien: »Forty auch.«

Forty war Ochoas Nummer zwei. Ein Sadist wie sein Chef.

»Haben Sie seine Leiche gesehen?«, fragt Orduña.

»Seinen Kopf hab ich gesehen«, sagt Keller. »Ein Körper war nicht mehr dran. Genügt das?«

»Muss es wohl«, sagt Orduña lächelnd.

Tatsächlich hat Keller Fortys Kopf gar nicht gesehen. Was er gesehen hat, war Fortys Gesicht, das ihm jemand abgezogen und an einen Fußball genäht hatte.

»Ist Ruiz aufgetaucht?«, fragt Keller.

»Noch nicht«, erwidert Orduña.

»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er gelebt«, sagt Keller.

Und Ochoa zur lodernden Fackel gemacht. Danach hatte er in einem alten Innenhof der Majas gestanden und einem Jungen zugesehen, der einen sehr bizarren Fußball herumkickte.

»Vielleicht ist er einfach abgehauen«, sagt Orduña.

»Kann sein.«

»Wir sollten uns bei Ihren Leuten melden. Die haben ungefähr alle fünfzehn Minuten angerufen.« Orduña gibt eine Nummer in ein Prepaid-Handy ein und sagt: »Taylor? Raten Sie mal, wen ich hier habe.«

Keller nimmt das Handy und hört Tim Taylor, den Leiter des Southwest District der DEA: »Verdammt, wir haben gedacht, du bist tot.«

»Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss.«

 

Sie warten auf ihn im Adobe Inn in Clint, Texas, an einer abgelegenen Schnellstraße ein paar Meilen östlich von El Paso.

Bei dem Zimmer handelt es sich um ein »Studio-Apartment«, wie es in Motels Standard ist, ein großes Wohnzimmer mit Küchenzeile, Mikrowelle, Kaffeemaschine, kleinem Kühlschrank – dazu ein Sofa mit Beistelltisch, ein paar Stühle und ein Fernseher. Ein schlechtes Gemälde von einem Sonnenuntergang hinter einem Kaktus. Links führt eine jetzt geöffnete Tür in ein Schlaf- und ein Badezimmer. Ein guter, unauffälliger Ort für die »Einsatz-Nachbesprechung«.

Im Fernseher läuft leise CNN.

Tim Taylor sitzt auf dem Sofa, schaut auf den Laptop-Bildschirm auf dem Wohnzimmertisch. Ein Satellitentelefon steht neben dem Computer.

John Downey, der militärische Kommandant der Razzia, wartet an der Mikrowelle, bis irgendwas fertig aufgewärmt ist. Keller sieht, dass er seinen Kampfanzug ausgezogen, geduscht und sich rasiert hat, jetzt trägt er ein pflaumenfarbenes Polohemd zu Jeans und Tennisschuhen.

Ein weiterer Mann, einer von der CIA, den Keller als Rollins kennt, sitzt auf einem der Stühle und schaut fern.

Downey blickt auf, als Keller hereinkommt. »Wo zum Teufel hast du gesteckt, Art? Wir haben dich über Satellit gesucht, Helikopter rausgeschickt …«

Keller sollte Barrera herausholen. Das war der Deal. Keller fragt: »Wie geht’s euren Leuten?«

»Vruumm.« Downey gestikuliert wie ein aufgescheuchter Schwarm Wachteln. Keller weiß, dass sich die Sondereinsatzkräfte innerhalb von zwölf Stunden über das gesamte Land, wenn nicht gar die ganze Welt verteilen und frei erfundene Geschichten verbreiten werden, wo sie angeblich waren. »Ruiz ist der Einzige, dessen Schicksal noch ungeklärt ist. Ich hatte gehofft, dass er mit dir raus ist.«

»Ich hab ihn nach dem Feuergefecht noch gesehen«, sagt Keller. »Er ist raus.«

»Heißt das, Ruiz ist verschwunden?«, fragt Rollins.

»Um den müssen Sie sich keine Sorgen machen«, sagt Keller.

»Sie sind für ihn verantwortlich«, entgegnet Rollins.

»Scheiß auf Ruiz«, sagt Taylor. »Was ist mit Barrera?«

»Sag du’s mir.«

»Wir haben nichts von ihm gehört.«

»Dann vermute ich, dass er’s nicht geschafft hat«, sagt Keller.

»Du wolltest nicht in den Hubschrauber steigen.«

»Er musste los«, sagt Keller, »und ich musste Barrera suchen.«

»Aber Sie haben ihn nicht gefunden«, sagt Rollins.

»Kommando-Einsätze sind kein Zimmerservice«, erwidert Keller. »Man bekommt nicht immer das, was man bestellt. Da kann alles Mögliche passieren.«

Und zwar ziemlich schnell.

Sie waren mit dem Hubschrauber in ein bereits begonnenes Feuergefecht geflogen, die Zetas hatten die Sinaloaner abgeschlachtet. Dann wurde der Hubschrauber, in dem Keller saß, von einer Boden-Luft-Rakete getroffen, ein Mann starb, und ein weiterer wurde verletzt. Anstatt sich abzuseilen, war ihnen nichts anderes übrig geblieben als eine »harte Landung« mitten im Kampfgebiet. Später musste das gesamte Team mit dem einzigen verbliebenen Hubschrauber ausgeflogen werden.

Wir hatten Glück, dass wir da überhaupt rausgekommen sind, denkt Keller, an das eigentliche Ziel, die Zeta-Spitze auszuschalten, war nicht mehr zu denken. Und wenn es uns nicht gelungen ist, Barrera rauszuholen, na ja …

»Wichtigstes Einsatzziel, so wie ich es verstanden habe«, sagt Keller, »war doch die Eliminierung der führenden Zetas. Sollte Barrera dabei zum Kollateralschaden geworden sein …«

»Umso besser?«, fragt Rollins.

Alle wissen, dass Keller Barrera hasst.

Dass der Drogenbaron Kellers Partner gefoltert und ermordet hat.

Und dass er ihm dies nie vergessen, geschweige denn verzeihen wird.

»Ich werde keine Krokodilstränen um Adán Barrera weinen«, sagt Keller. Er kennt die Situation in Mexiko besser als alle anderen Anwesenden. Ob es einem gefällt oder nicht, das Sinaloa-Kartell ist Garant der Stabilität in Mexiko. Zerfällt das Kartell ohne Barrera, könnte auch der unsichere Frieden darunter leiden. Auch das wusste Barrera – aufgrund dieser Konstellation hatte er sowohl mit der mexikanischen wie auch der amerikanischen Regierung hart verhandelt, sodass diese ihn in Ruhe ließen und stattdessen gegen seine Feinde vorgingen.

Die Mikrowelle klingelt, und Downey zieht ein Fertiggericht heraus. »Stouffers Lasagne. Der Klassiker.«

»Wir wissen nicht, ob Barrera tot ist«, sagt Keller. »Wurde denn seine Leiche gefunden?«

»Nein«, sagt Taylor.

»Die von der D-2 sind jetzt vor Ort«, sagt Rollins und meint die paramilitärische Geheimdienstagentur Guatemalas. »Sie haben Barrera nicht gefunden. Übrigens auch keine der eigentlichen Zielpersonen.«

»Ich kann persönlich bestätigen, dass beide Zielpersonen ausgeschaltet wurden«, sagt Keller. »Ochoa ist Grillkohle und Forty … na ja, das wollen Sie gar nicht wissen. Ich versichere Ihnen, beide sind Vergangenheit.«

»Hoffen wir lieber, dass das nicht auch für Barrera gilt«, sagt Rollins. »Verliert das Sinaloa-Kartell an Stabilität, wirkt sich das auf ganz Mexiko aus.«

»Das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen«, sagt Keller.

Rollins sagt: »Wir hatten eigens eine Vereinbarung mit der mexikanischen Regierung getroffen, das Leben von Adán Barrera zu schützen. Wir haben ihm Sicherheit garantiert. Das ist hier nicht Vietnam, Keller. Wir sind nicht in Phoenix. Sollten wir herausbekommen, dass Sie gegen die Vereinbarung verstoßen haben, werden wir …«

Keller steht auf. »Sie werden einen Scheiß, weil das eine ungenehmigte, illegale Operation war, die offiziell ›nie stattgefunden‹ hat. Was wollen Sie machen? Mir ein Verfahren anhängen? Mich in den Zeugenstand stellen? Mich unter Eid aussagen lassen, dass wir einen Deal mit dem weltweit größten Drogenhändler eingegangen sind? Dass ich beteiligt war an einem von den Vereinigten Staaten finanzierten Einsatz mit dem Ziel, dessen Konkurrenten auszuschalten? Ich will Ihnen einen Rat geben, und diejenigen von uns, die wir die echte Arbeit machen, beherzigen ihn übrigens längst – ziehen Sie nie Ihre Waffe, wenn Sie nicht auch bereit sind abzudrücken. Sind Sie bereit abzudrücken?«

Keine Antwort.

»Das dachte ich mir«, sagt Keller. »Nur fürs Protokoll, ich wollte Barrera töten, ich wünschte, ich hätte ihn getötet, aber ich habe es nicht getan.«

Er steht auf und geht raus.

Taylor folgt ihm. »Wo gehst du hin?«

»Das geht dich nichts an, Tim.«

»Nach Mexiko?«, fragt Taylor.

»Ich arbeite nicht mehr für die DEA«, sagt Keller. »Ich arbeite nicht für dich. Du kannst mir nicht vorschreiben, wohin ich zu gehen habe.«

»Die werden dich töten, Art«, sagt Taylor. »Wenn nicht die Zetas, dann die Sinaloaner.«

Wahrscheinlich, denkt Keller.

Aber wenn ich nicht gehe, töten sie mich auch.

Er fährt nach El Paso, in sein Apartment in der Nähe von EPIC, dem El Paso Intelligence Centre. Steigt aus den schmutzigen und verschwitzten Klamotten, duscht lange und heiß. Dann geht er ins Schlafzimmer und legt sich hin, plötzlich ist ihm bewusst, dass er fast zwei Tage lang nicht geschlafen hat und völlig erschöpft ist, erledigt.

Aber er ist zu müde zum Schlafen.

Er steht auf, zieht ein weißes Hemd mit Button-down-Kragen an, dazu eine Jeans, und holt die kleine Sig 380 aus dem Waffensafe in seinem Schlafzimmerschrank. Befestigt das Holster an seinem Gürtel, zieht eine marineblaue Windjacke drüber und geht.

Nach Sinaloa.

 

Keller kam zum ersten Mal in den Siebzigerjahren als junger DEA-Agent nach Culiacán, als die Stadt das Epizentrum des mexikanischen Drogenhandels war.

Und jetzt ist sie es wieder, denkt er auf dem Weg durch den Terminal zum Taxistand. Der Kreis hat sich geschlossen.

Adán Barrera war damals nicht mehr als ein junger Rabauke, der es als Manager im Box-Geschäft zu was bringen wollte.

Sein Onkel aber, ein Cop aus Sinaloa, war dort der zweitgrößte Opiumbauer und gab sich alle Mühe, der größte zu werden. Damals brannten wir die Mohnfelder ab, besprühten sie mit Gift, vertrieben die Bauern aus ihren Häusern, und irgendwie geriet Adán in einen dieser Einsätze. Die Federales wollten ihn in der Luft aus dem Flugzeug werfen, aber ich griff ein und rettete ihm das Leben.

Der erste von sehr vielen Fehlern, denkt Keller.

Die Welt wäre eine sehr viel bessere, hätte ich zugesehen, wie sie mit dem jungen Adán Rocky the Flying Squirrel spielen, statt dafür zu sorgen, dass er weiterlebt und zum größten Drogenhändler der Welt aufsteigt.

Damals waren wir sogar Freunde gewesen.

Freunde und Verbündete.

Kaum zu glauben.

Und noch schwerer zu akzeptieren.

Er steigt in ein Taxi und bittet den Fahrer, ihn ins Centro zu bringen, in die Innenstadt.

»Wohin genau?«, fragt der Fahrer, mustert Keller im Rückspiegel.

»Egal«, sagt Keller. »Hauptsache Sie haben Zeit, Ihre Chefs anzurufen und ihnen zu stecken, dass sich ein fremder yanqui in der Stadt aufhält.«

Die Taxifahrer in den mexikanischen Großstädten mit starker Narco-Präsenz sind halcones, »Falken«, Spitzel im Auftrag der Kartelle. Zu ihren Aufgaben gehört die Überwachung der Flughäfen, Bahnhöfe und Straßen, sie informieren die Mächtigen darüber, wer in die Stadt kommt und wer sie verlässt.

»Ich kann Ihnen viel Mühe ersparen«, sagt Keller. »Sagen Sie demjenigen, den Sie anrufen, wer auch immer es ist, dass Art Keller bei Ihnen im Wagen sitzt. Die sagen Ihnen dann schon, wohin Sie mich bringen sollen.«

Der Fahrer hängt sich ans Telefon.

Er braucht mehrere Anrufe, und mit jedem klingt seine Stimme angespannter. Keller kennt das Prozedere – der Fahrer ruft den Leiter seiner Zelle an, der wiederum seinen Vorgesetzten, und so geht das Stufe um Stufe immer weiter, bis der Name »Art Keller« schließlich ganz oben angekommen ist.

Keller schaut aus dem Fenster, während das Taxi über die Route 280 in die Stadt fährt, und sieht die Mahnmale an der Straße für die gefallenen Narcos – größtenteils junge Männer –, umgekommen im Drogenkrieg. Teilweise sind es einfach nur Blumensträuße und Bierflaschen neben billigen Holzkreuzen, oder farbige, zwischen zwei Stangen aufgespannte Transparente mit Fotos des Verstorbenen, während für andere aufwendige Marmorsteine aufgestellt wurden.

Die meisten sind ein Jahr alt oder älter – seit Barrera den Krieg mit dem Sinaloa-Kartell (und deiner Hilfe, denkt Keller) gewonnen und den sogenannten »Pax Sinaloa« herbeigeführt hat, der Mexiko einen relativen Frieden brachte, gab es weniger Morde.

Bald werden wieder neue Mahnmale errichtet, denkt er, wenn die Nachricht über das »Massaker von Dos Erres« die Stadt erreicht. Hundert sinaloanische Sicarios sind mit Barrera nach Guatemala gefahren; und nur wenige werden zurückkommen.

Und auch in den Hochburgen der Zetas, Chihuahua und Tamaulipas im Nordosten des Landes, wird es Mahnmale geben, wenn die eigenen Soldaten nicht zurückkehren.

Die Zetas haben keine Zugkraft mehr, das weiß Keller. Einst drohten sie ernsthaft, die Regierung des Landes zu übernehmen, aber jetzt ist das paramilitärische Kartell aus ehemaligen Sondereinsatzkräften führerlos und lahmgelegt, Orduña hat die besten Leute eliminiert, sie liegen tot in Guatemala.

Jetzt gibt es niemanden, der Sinaloa gefährlich werden kann.

»Ich soll Sie nach Rotarismo bringen«, sagt der Fahrer und klingt nervös dabei.

Rotarismo ist ein Viertel am nördlichen Stadtrand, kurz vor den unbewohnten Bergen und Feldern.

Kein Problem, dort eine Leiche zu verscharren.

»In eine Autolackiererei«, sagt der Fahrer.

Umso besser, denkt Keller.

Dann ist das Werkzeug schon da.

Mit dem sich ein Wagen oder ein Mensch in seine Einzelteile zerlegen lässt.

 

Eine geheime Zusammenkunft hochrangiger Narcos erkennt man immer an der Anzahl der vor dem Haus parkenden SUVs, und das hier scheint ein größeres Treffen zu sein, denkt Keller, als sie vorfahren, denn hier reihen sich ein Dutzend Suburbans und Expeditions vor der Werkstatt auf, Waffen lugen daraus hervor wie die Stacheln eines Stachelschweins.

Die Läufe sind auf das Taxi gerichtet, und Keller fürchtet, der Fahrer könnte sich in die Hose pissen.

»Tranquilo«, sagt Keller.

Einige uniformierte Sicarios patrouillieren zu Fuß vor dem Gebäude. Das ist jetzt in allen Zweigen sämtlicher Kartelle so, weiß Keller – jede Abteilung hat eine eigene bewaffnete Sicherheitseinheit mit eigener Uniform.

Diese hier tragen Kappen von Armani und Westen von Hermès.

Was Keller ein bisschen exzentrisch findet.

Ein Mann kommt aus der Garage auf das Taxi zugeeilt. Er gibt dem Fahrer eine Handvoll Scheine und erklärt ihm, dass er nie hier war. Dann öffnet er die Hintertür auf der Beifahrerseite und blafft Keller an, er möge verdammt noch mal aussteigen.

Keller kennt den Mann. Terry Blanco ist ein ranghoher Polizist aus Sinaloa. Er stand von seinem ersten Tag im Polizeidienst an auf der Gehaltsliste des Kartells, und inzwischen durchziehen silbrige Strähnen sein schwarzes Haar.

Blanco sagt: »Sie haben keine Ahnung, was hier in der Gegend los ist.«

»Deshalb bin ich gekommen«, sagt Keller. »Wer ist da drin?«

»Nuñez«, sagt Blanco.

»Na, dann los.«

»Keller, wenn Sie da reingehen«, sagt Blanco, »kommen Sie vielleicht nicht wieder raus.«

»Ist nichts Neues, Terry, passiert mir ständig«, sagt Keller.

Blanco geht mit ihm durch die Werkstatt, vorbei an den Arbeitsstationen und Hebebühnen, bis in einen großen Raum mit Zementboden, der eher an einen Lagerraum erinnert.

Dieselbe Szene wie im Motel, denkt Keller.

Nur andere Spieler.

Aber derselbe Ablauf – einige telefonieren, andere sitzen an Laptops, versuchen, Informationen zu bekommen, etwas über den Aufenthaltsort von Adán Barrera zu erfahren. Es ist dunkel hier – keine Fenster, aber dicke Mauern –, genau das, was man braucht in diesem Klima, entweder ist es glühend heiß in der Sonne oder eisig kalt im Nordwind. Man will verhindern, dass das Wetter oder neugierige Blicke eindringen. Und sollte jemand hier sterben, schreien, weinen oder flehen, werden die Mauern dafür sorgen, dass alles im Gebäude bleibt.

Keller folgt Blanco zu einer Tür hinten.

Sie öffnet sich in einen kleinen Raum.

Blanco macht Keller Zeichen, einzutreten, und schließt die Tür hinter sich.

Ein Mann, den Keller kennt, sitzt am Schreibtisch und telefoniert. Mit seinem grau melierten Haar, dem gepflegten Ziegenbärtchen, dem Hahnentrittjackett und der Strickkrawatte wirkt er distinguiert und als würde er sich in der öligen Atmosphäre eines Werkstatthinterzimmers ausgesprochen unwohl fühlen.

Ricardo Nuñez.

»El Abogado« – der Anwalt.

Als ehemaliger Staatsanwalt war er zunächst Wärter im Gefängnis Puente Grande und hatte 2004, nur wenige Wochen vor Barreras »Flucht«, seine Stelle gekündigt. Keller hatte ihn vernommen, wobei er seine Unschuld beteuert hatte. Dennoch wurde ihm die Lizenz entzogen, und er arbeitete fortan als Barreras rechte Hand, verdiente angeblich Hunderte von Millionen mit dem Kokainhandel.

Er beendete sein Telefonat und schaute zu Blanco auf. »Lässt du uns einen Augenblick allein, Terry?«

Blanco geht raus.

»Was machen Sie hier?«, fragt Nuñez.

»Ihnen die Mühe ersparen, mich ausfindig zu machen«, sagt Keller. »Sie wissen anscheinend, was in Guatemala los war.«

»Adán hat mich ins Vertrauen gezogen und mir von der Vereinbarung erzählt«, sagt Nuñez. »Was ist da unten passiert?«

Keller wiederholt, was er den Leuten in Texas berichtet hat.

»Sie hätten El Señor rausholen müssen«, sagt Nuñez. »Das war so vereinbart.«

»Die Zetas sind mir zuvorgekommen«, sagt Keller. »Er war leichtsinnig.«

»Sie haben keine Informationen über Adáns Aufenthaltsort?«, fragt Nuñez.

»Nur was ich Ihnen gerade gesagt habe.«

»Die Familie ist krank vor Sorge«, sagt Nuñez. »Es ist absolut nichts durchgesickert, und es wurde keine Leiche gefunden.«

Keller hört Tumulte draußen – Blanco sagt jemandem, dass er nicht reinkommen darf –, dann fliegt die Tür auf, knallt gegen die Wand.

Drei Männer platzen rein.

Der erste ist jung – Ende zwanzig oder Anfang dreißig –, schwarze Lederjacke von Yves St. Laurent, die mindestens dreitausend Dollar gekostet haben muss, Rokker Jeans, Air Jordans. Das lockige schwarze Haar für circa fünfhundert Dollar frisiert, modische Stoppeln zieren sein Kinn.

Er ist aufgebracht.

Wütend, angespannt.

»Wo ist mein Vater?«, will er von Nuñez wissen. »Was ist mit meinem Vater passiert?«

»Das wissen wir noch nicht«, sagt Nuñez.

»Was zum Teufel soll das heißen, du weißt es nicht?!«

»Reg dich nicht auf, Iván«, sagt einer der anderen. Ein weiterer junger Mann, ebenfalls teuer gekleidet, aber schlampiger, unrasiert, die zotteligen schwarzen Haare unter einer Basecap versteckt. Er wirkt angetrunken oder high, oder beides. Keller kennt ihn nicht, aber der Erste muss Iván Esparza sein.

Früher bestand das Sinaloa-Kartell aus drei Flügeln – dem von Barrera, dem von Diego Tapia und dem von Ignacio Esparza. Barrera war der Boss – der erste unter drei gleichberechtigten Partnern, aber »Nacho« Esparza genoss ebenfalls großen Respekt und wurde nicht umsonst Barreras Schwiegervater. Um das Bündnis zu festigen, hatte er seine Tochter Eva mit dem Drogenbaron verheiratet.

Dieser Junge, denkt Keller, muss also Esparzas Sohn und Adáns Schwager sein. Laut Geheimdienstberichten kontrolliert Iván Esparza inzwischen Baja, eine für das Kartell äußerst wichtige Plaza, mit den ganz entscheidenden Grenzübergängen Tijuana und Tecate.

»Ist er tot?!«, brüllt Iván. »Ist mein Vater tot?!«

»Wir wissen nur, dass er mit Adán in Guatemala war«, sagt Nuñez.

»Scheiße!« Iván schlägt mit der Hand auf den Tisch. Er sieht sich nach jemandem um, an dem er seine Wut auslassen kann, und entdeckt Keller. »Wer zum Teufel sind Sie?«

Keller antwortet nicht.

»Ich hab Sie was gefragt«, sagt Iván.

»Ich hab’s gehört.«

»Pinche gringo, scheiße –«

Er will auf Keller losgehen, aber der Dritte stellt sich dazwischen.

Keller kennt ihn von Geheimdienstfotos. Tito Ascensión war Nacho Esparzas Sicherheitschef gewesen, ein Mann, den selbst die Zetas fürchteten; aus gutem Grund, denn er hatte Dutzende von ihnen brutal ermordet. Zur Belohnung hatte er seine eigene Organisation in Jalisco bekommen. Wegen seines massigen Körperbaus, seines großen schiefen Kopfes, seines Kampfhundcharakters und seines Hangs zur Gewalt hatte er den Spitznamen »El Mastín« – der Mastiff.

Er packt Iván am Oberarm und hält ihn fest.

Nuñez schaut den anderen jungen Mann an. »Wo bist du gewesen, Ric? Ich hab überall angerufen.«

Ric zuckt mit der Schulter.

Als wollte er sagen, was macht das für einen Unterschied, wo ich war?

Nuñez legt die Stirn in Falten.

Wie der Vater, so der Sohn, denkt Keller.

»Ich habe gefragt, wer der Kerl ist«, sagt Iván. Er macht sich von Ascención los, versucht aber nicht noch einmal, auf Keller loszugehen.

»Adán hat gewisse – Abmachungen getroffen«, sagt Nuñez. »Der Mann hier war mit ihm in Guatemala.«

»Haben Sie meinen Vater gesehen?«, fragt Iván.

Ich habe jemanden gesehen, der deinem alten Herrn ähnlich sah, denkt Keller. Was von der unteren Hälfte übrig war, lag in der Asche eines schwelenden Feuers. »Ich denke, Sie sollten sich an den Gedanken gewöhnen, dass Ihr Vater wahrscheinlich nicht wieder zurückkommt.«

Iván macht ein Gesicht wie ein Hund, der gerade erfährt, dass er sein geliebtes Herrchen verloren hat.

Verwirrung.

Trauer.

Wut.

»Woher wissen Sie das?«, fragt Iván Keller.

Ric schlingt die Arme um Iván. »Tut mir leid, mano.«

»Dafür wird jemand bezahlen«, sagt Iván.

»Ich hab Elena am Telefon«, sagt Nuñez. Er stellt auf »Lautsprecher«. »Elena, hast du sonst noch was gehört?«

Das muss Elena Sanchez sein, denkt Keller, Adáns Schwester, die Baja den Esparzas übergeben und sich aus den Familiengeschäften zurückgezogen hat.

»Nichts, Ricardo. Du?«

»Uns wurde bestätigt, dass Ignacio nicht mehr am Leben ist.«

»Weiß Eva das schon? War jemand bei ihr?«

»Noch nicht«, sagt Nuñez. »Wir wollten warten, bis wir etwas Definitives wissen.«

»Jemand sollte zu ihr fahren«, sagt Elena. »Sie hat ihren Vater verloren und vielleicht auch ihren Mann. Die armen Jungs …«

Eva hat Zwillinge von Adán, zwei Jungen.

»Ich fahre hin«, sagt Iván. »Ich bringe sie zu meiner Mutter.«

»Die wird auch trauern«, sagt Nuñez.

»Ich fliege runter.«

»Brauchst du jemanden, der dich vom Flughafen abholt und fährt?«, fragt Nuñez.

»Wir haben immer noch Leute dort, Ricardo.«

Die haben völlig vergessen, dass ich da bin, denkt Keller.

Komischerweise fällt es ausgerechnet demjenigen wieder ein, der so stoned wirkt – ist das Ric? »Äh, was machen wir mit dem?«

Wieder Unruhe draußen.

Rufe.

Fausthiebe und klatschende Ohrfeigen.

Stöhnlaute, Schreie.

Jetzt haben sie mit den Verhören begonnen, denkt Keller. Das Kartell treibt Leute zusammen, verdächtige Zetas, mögliche Verräter, guatemaltekische Verbündete – um an Informationen zu gelangen.

Egal, mit welchen Mitteln.

Keller hört, wie Ketten über den Betonboden gezogen werden.

Das Zischen eines Brennschneiders.

Nuñez blickt zu Keller auf und hebt die Augenbrauen.

»Ich bin hier, weil ich Ihnen sagen möchte, dass ich fertig bin«, sagt Keller. »Für mich ist es jetzt vorbei. Ich werde in Mexiko bleiben, aber ich bin raus. Sie werden nichts mehr von mir hören, und ich erwarte auch nicht, etwas von Ihnen zu hören.«

»Sie spazieren einfach davon, und mein Vater bleibt auf der Strecke?«, fragt Iván. Er zieht eine 9mm Glock aus der Jacke und richtet sie auf Kellers Gesicht. »Das glaube ich kaum.«

Der Fehler eines jungen Mannes.

Die Waffe zu dicht an die Person zu halten, die man töten möchte.

Im selben Augenblick, in dem Keller vor dem Lauf zurückweicht, schnellt seine Hand vor, packt den Lauf der Waffe, dreht ihn herum und entreißt sie Iván. Dann rammt er sie diesem dreimal ins Gesicht, hört den Wangenknochen brechen, sieht Iván wie einen abgelegten Morgenrock vor Kellers Füßen auf den Boden gleiten.

Ascención tritt näher, aber Keller legt Ric Nuñez seinen Unterarm um die Kehle und hält ihm seine Waffe an die Schläfe. »Nein.«

El Mastín erstarrt.

»Was zum Teufel hab ich verbrochen?«, fragt Ric.

»Ich erkläre euch, wie das jetzt läuft«, sagt Keller. »Ich gehe hier raus. Ich werde mein Leben leben, ihr lebt eures. Wenn ihr mich verfolgt, bringe ich euch alle um. ¿Entiendes?«

»Verstanden«, sagt Nuñez.

Mit Ric vor sich als Schutzschild, geht Keller rückwärts aus dem Raum.

Er sieht an die Wände gekettete Männer, Blutlachen, es stinkt nach Schweiß und Urin. Niemand rührt sich, alle beobachten ihn, wie er sich aus dem Raum zurückzieht und nach draußen verschwindet.

Für die drinnen Angeketteten kann er nichts tun.

Absolut nichts.

Zwanzig Gewehrläufe sind auf ihn gerichtet, aber niemand will das Risiko eingehen, den Sohn vom Chef zu treffen. Keller greift hinter diesen, öffnet die Beifahrertür des Taxis, dann stößt er Ric zu Boden.

Er drückt den Lauf seiner Waffe an die Rückenlehne des Fahrers. »Ándale.«

Auf der Rückfahrt entdeckt Keller das erste Mahnmal für Adán Barrera am Straßenrand.

Ein Transparent mit der aufgesprühten Aufschrift – Adán viva.

Adán lebt.

Juárez ist eine Geisterstadt.

Das denkt Art Keller bei der Durchfahrt.

Über zehntausend Juarense wurden getötet, als Adán Barrera die Stadt übernahm, die er dem alten Juárez-Kartell abspenstig gemacht hatte, um über einen weiteren Zugang zu den Vereinigten Staaten zu verfügen. Vier Brücken – die Stanton Street Bridge, die Ysleta International Bridge, die Paso del Norte Bridge und die Bridge of the Americas, die sogenannte »Brücke der Träume«.

Zehntausend Menschenleben, damit Barrera diese Brücken bekommt.

Während der fünf Jahre, in denen das Sinaloa- und das Juárez-Kartell Krieg gegeneinander führten, waren über dreihunderttausend Juarense aus der Stadt geflohen, und die Einwohnerzahl sank auf anderthalb Millionen.

Ein Drittel der Bevölkerung leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen.

Keller wundert, dass es nicht viel mehr sind. Zum Höhepunkt der Auseinandersetzungen gewöhnten sich die Bürger von Juárez daran, über die Leichen auf den Gehwegen einfach drüberzusteigen. Die Kartelle instruierten die Fahrer der Rettungswagen, welche Verletzten sie mitnehmen und welche sie sterben lassen mussten. Krankenhäuser wurden angegriffen, ebenso wie Obdachlosenunterkünfte und Einrichtungen der Drogenhilfe.

Das Stadtzentrum war praktisch ausgestorben. Die Hälfte der Restaurants und ein Drittel der Bars in dieser einst für ihr Nachtleben so berühmten, pulsierenden Stadt mussten schließen. Geschäfte gingen pleite. Der Bürgermeister, der Stadtrat und die meisten Polizisten zogen auf die andere Seite der Brücken nach El Paso.

Aber in den letzten Jahren war die Stadt allmählich zurückgekehrt. Erneut ließen sich Unternehmen nieder, Geflohene kehrten nach Hause zurück, und die Mordrate sank – 2012 gab es weniger als achthundert Morde, 2013 lag die Zahl bei unter fünfhundert.

Keller weiß, dass die Gewalt aus einem einzigen Grund zurückgegangen war.

Sinaloa hatte den Krieg gewonnen.

Und den sogenannten »Pax Sinaloa« durchgesetzt.

Also dann, fick dich, Adán, denkt Keller, als er um die Plaza del Periodista mit der Statue des Zeitungsjungen fährt.

Zur Hölle mit deinen Brücken.

Und zur Hölle mit deinem Frieden.

Keller kann niemals die Plaza umrunden, ohne die Überreste seines Freundes Pablo dort verteilt zu sehen.

Pablo Mora war Journalist gewesen und hatte es mit den Zetas aufgenommen, indem er in einem Blog auf die Verbrechen der Narcos hinwies. Sie entführten und folterten ihn zu Tode, zerstückelten seine Leiche und verteilten die einzelnen Körperteile um die Statue des Zeitungsjungen herum.

So viele Journalisten wurden ermordet, denkt Keller, als die Kartelle begriffen, dass sie nicht nur das Geschehen, sondern auch die Berichterstattung darüber kontrollieren mussten.

Größtenteils nahmen die Medien sich einfach keiner Narco-Themen mehr an.

Weshalb Pablo seinen Blog ins Leben rief, eigentlich fast Selbstmord.

Dann war da noch Jimena Abarca, sie war Bäckerin aus einer Kleinstadt im Juárez Valley, hatte sich den Narcos, den Federales, der Armee und der gesamten Regierung entgegengestellt. Sie ging in den Hungerstreik, um die Freilassung unschuldiger Gefangener zu erzwingen. Einer von Barreras Killern schoss ihr auf dem Parkplatz ihres Lieblingsrestaurants in Juárez neun Mal in die Brust.

Oder Giorgio, der Fotojournalist, der enthauptet wurde, weil er sich des Vergehens schuldig gemacht hatte, tote Narcos zu fotografieren.

Erika Valles wurde abgeschlachtet und aufgeschlitzt wie ein Huhn. Die Neunzehnjährige war so tapfer gewesen, als einzige Polizistin in einer Kleinstadt zu arbeiten, in der ihre letzten vier Vorgänger von Narcos getötet worden waren.

Und natürlich Marisol.

Dr. Marisol Cisneros ist Bürgermeisterin von Valverde, der Stadt im Juárez Valley, aus der auch Jimena Abarca stammte.

Sie übernahm das Amt, nachdem drei Bürgermeister vor ihr ermordet worden waren. Als die Zetas drohten, sie zu töten, blieb sie im Amt und räumte ihren Posten auch nicht, als sie sie in ihrem Wagen niederschossen, ihr Kugeln in den Magen, die Brust und die Beine jagten, ihr die Oberschenkelknochen und zwei Rippen brachen, außerdem einen Rückenwirbel verletzten.

Nach Wochen im Krankenhaus und monatelanger Genesung kam Marisol zurück und hielt eine Pressekonferenz. Sie war wunderschön, makellos frisiert und geschminkt und zeigte den Medien ihre Narben – sogar ihren Kolostomiebeutel –, sie sah direkt in die Kamera und erklärte den Narcos: Ich gehe wieder zurück an die Arbeit, und ihr werdet mich nicht aufhalten.

Für so viel Mut fehlten Keller die Worte.

Wenn amerikanische Politiker alle Mexikaner über einen Kamm scheren und ihnen Korrumpierbarkeit unterstellen, macht ihn das wütend. Er denkt an Menschen wie Pablo Mora, Jimena Abarca, Erika Valles und Marisol Cisneros.

Nicht alle Geister sind tot – einige sind noch unterwegs als Schatten derer, die sie hätten sein können.

Du bist selbst ein Geist, sagt er sich.

Ein Geist deiner selbst, du existierst in einer Schattenwelt.

Du bist nach Mexiko zurückgekehrt, weil du dich bei den Toten wohler fühlst als bei den Lebenden.

 

Der Highway, die Carretera Federal 2, verläuft östlich von Juárez parallel zur Grenze. Keller sieht Texas nur wenige Meilen entfernt.

Aber es könnte genauso gut auch eine ganze Welt entfernt sein.

Die mexikanische Bundesregierung hat die Armee geschickt, um den Frieden wiederherzustellen, und die Armee ging mindestens so brutal vor wie die Kartelle, wenn nicht brutaler. Tatsächlich kam es während der Zeit der Militärbesetzung zu einem Anstieg von Tötungsdelikten. Früher befanden sich auf dieser Straße alle paar Meilen Kontrollpunkte der Armee, die die Einheimischen fürchteten, weil es dort zu Erpressungen und willkürlichen Festnahmen kam, häufig endete es mit Prügel, Folter und Internierung in einem hastig errichteten Gefangenenlager weiter oben an der Straße.

Starb man nicht im Kreuzfeuer der Kartelle, wurde man von Soldaten ermordet.

Oder man verschwand.

Genau auf dieser Straße hatten die Zetas Marisol niedergeschossen, inzwischen war das fast vier Jahre her. Sie hatten sie in der Annahme, sie sei tot, blutend am Straßenrand liegen lassen. Der »Herr der Lüfte« hatte versprochen, für ihre Sicherheit zu sorgen, was einer der Gründe war, weshalb Keller sich vorübergehend auf ein Bündnis mit Barrera eingelassen hatte.

Keller schaut in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, aber er weiß, dass sie es nicht nötig haben, ihm zu folgen. Sie wissen längst, wohin er fährt, und werden es erfahren, wenn er ankommt. Das Kartell hat überall halcones. Polizisten, Taxifahrer, Kinder an Straßenecken, alte Frauen an Fenstern, Verkäufer hinter den Verkaufstresen. Heutzutage haben alle ein Handy und zücken es, um sich beim Sinaloa-Kartell anzubiedern.

Wenn sie mich töten wollen, werden sie mich töten.

Oder es zumindest versuchen.