Nervös sah Winter auf seine Uhr, die er für zehn Euro in einem Supermarkt gekauft hatte, und schüttelte genervt den Kopf. Sie war wieder einmal stehen geblieben. Seit einigen Wochen hatte er sich immer wieder vorgenommen, die Batterien ersetzen zu lassen. Doch meistens hatte sie kurz danach wieder funktioniert, als hätte sie gespürt, dass ihr ein operativer Eingriff bevorstehen würde, wenn sie zu lange nicht liefe.
Der Gedanke ließ Richard Winter schmunzeln, und beinahe vergaß er, dass Sabine seit einigen Minuten überfällig war. Als er das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte (und da hatte sie noch funktioniert), war sie bereits fünf Minuten in Verzug gewesen.
Ob sie ihn sitzen ließ?
Winter schüttelte den Kopf. Das konnte er sich nicht vorstellen. Es war schließlich ihr Vorschlag gewesen, sich mit ihm zum Mittagessen zu treffen. Zudem waren sie bereits die Woche zuvor zusammen im Kino gewesen und er hatte den Eindruck gehabt, dass ihr der Abend gefallen hätte. Sie hatten seit Jahren nicht mehr so miteinander gelacht. Nicht seit …
Winter verdrängte den Gedanken und zog sein Smartphone hervor. Er strich den Sperrbildschirm mit dem Zeigefinger weg, doch die Sonne schien so stark, dass er nur sein Spiegelbild in dem Display sah statt der ihm vertrauten Apps auf dem Startbildschirm.
›Toller Spiegel‹, dachte Winter schmunzelnd, als er bemerkte, dass die Spiegelung die grauen Strähnen in seinen kurzen, schwarzen Haaren verschluckte. Auch sein Dreitagebart fiel nicht sonderlich auf. ›Ich sollte meinen Badezimmerspiegel durch so eine Scheibe ersetzen.‹ Er erhöhte die Helligkeit des Bildschirms, bis er endlich die Zeitanzeige erkennen konnte. ›Sechzehn Minuten Verspätung.‹
Er steckte das Telefon zurück in die Tasche seines knielangen, grauen Wollmantels und ließ seinen Blick auf der Suche nach Sabine zum wiederholten Male über den Bremer Marktplatz schweifen, der mit seinen imposanten, historischen Gebäuden seit unzähligen Jahren ein Touristenmagnet war. Auf der anderen Seite des Platzes, direkt ihm gegenüber, ragten die beiden quadratischen Haupttürme des Bremer Doms gut neunzig Meter in die Höhe. Links davon befand sich das über sechshundertjährige Rathaus mit der Renaissancefassade und dem grünen, kupfergedeckten Walmdach und rechts der Schütting, der Sitz der Handelskammer, ein Gebäude, das den Renaissancebauten Flanderns ähnlich sah und aus dem 16. Jahrhundert stammte. Hinter Winter standen eine Handvoll Giebelhäuser, die ebenfalls aus der Renaissancezeit stammten. Vor diesen Giebelhäusern befanden sich zahlreiche Gartenterrassen, die selbst zu dieser Jahreszeit noch gut besetzt waren. Winter musterte die Gäste, um sicherzugehen, dass sich Sabine nicht versehentlich an einen anderen Tisch gesetzt hatte, ohne ihn zu bemerken. Aber sie war nirgendwo zu sehen.
Die Sonne strahlte an diesem Oktobertag intensiv, und Winter genoss es, den Mittag noch einmal im Freien verbringen zu können. Bald würden die warmen Tage der Vergangenheit angehören und von trüben, grauen Regentagen abgelöst werden. Er ließ seinen Blick zum Bremer Dom schweifen, der stolz vor ihm in den Himmel ragte. Sofort kehrte die Erinnerung zurück: der Clown, der versucht hatte, ihn auf ebenjenem Platz umzubringen … Er wischte die unliebsamen Gedanken beiseite, nahm die Getränkekarte des Bistros zur Hand und besah sich zum gefühlten hundertsten Mal ihren Inhalt.
»Hallo Richard.«
Winter drehte sich auf seinem Gartenstuhl um und lächelte. Sabine erschien ihm blendend schön, wie immer: Sie trug die Haare offen. Lange, braune Locken fielen ihr bis über die Schultern und umrahmten ihr schmales, attraktives Gesicht, dessen Schönheit auch ungeschminkt zur Geltung kam. Ihre grünen Augen, die von feinen Lachfältchen eingefasst wurden, strahlten. Er erhob sich und begrüßte sie.
»Tut mir leid wegen der Verspätung«, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber hin, »die Vernehmung hat länger gedauert als gedacht.«
»Was hattest du denn für eine Vernehmung?«
»Ach, nichts Besonderes.« Sabine winkte ab. »Ein Jugendlicher, den wir im Verdacht hatten, als Drogenkurier zu arbeiten. Ist aber vermutlich unschuldig. Was gibt’s bei dir Neues?«
Winter erzählte ihr von der gestrigen Séance und dem vermeintlichen Geist, der Frau Schneider erschienen war, und Sabine konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Du bist also nun so was wie ein Ghostbuster, was?«
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich für Telefonanrufe erhalte. Neulich rief mich jemand an, der der Meinung war, seine Katze wäre besessen. Er fragte mich, ob ich an ihr einen Exorzismus ausüben könne.« Winter schnaubte und Sabine lachte. Es war ein schöner Laut und Winter konnte sich ein Lächeln ebenfalls nicht verkneifen. Sein Handy klingelte, doch er ignorierte es.
»Du glaubst immer noch nicht an diese Dinge, was?«, fragte er stattdessen und sah Sabine gespannt an.
Sabine schüttelte erst den Kopf, dann hielt sie inne und wiegte ihn unentschlossen hin und her.
»Ich weiß nicht so recht. Eigentlich nicht, aber nach dem, was alles passiert ist … weiß ich selbst nicht mehr, was ich glauben soll und was nicht. Ich meine – ich habe die Geister nie gesehen und doch …«
»Und obschon du nicht daran glaubtest, hast du mich da mit reingezogen? Als ›externen Berater und Fachmann für Okkultes‹? Warum?«
»Na ja, einerseits weil ich – auch wenn ich nicht an Geister glaubte – deine Fachkompetenz in diesem Bereich gebrauchen konnte und andererseits …« Sie hielt inne. »Hast du schon bestellt?«
»Und andererseits?«
Sie seufzte.
»Andererseits dachte ich, dass ich dich mit diesem Fall vielleicht aus deiner Lethargie reißen und zurück ins Geschäft bringen kann. Was mir ja auch ganz gut gelungen ist.« Sie lächelte wieder. Es war ein warmes Lächeln.
Winter nickte.
»Und dafür bin ich dir dankbar. Seit dem Harlekin-Fall habe ich auch wieder häufiger normale Aufträge, so dass ich mich mittlerweile ganz gut über Wasser halten kann. Was möchtest du trinken?«
»Willst du da nicht rangehen?« Sie deutete auf seine Manteltasche, in der es erneut zu klingeln begonnen hatte.
Winter schüttelte den Kopf. »Das kann warten. Also?«
»Einen Martini Orange.«
»Gute Wahl.« Winter winkte den Kellner heran und bestellte einen Martini Orange und eine Cola.
Kaum war der Kellner wieder verschwunden, biss sich Sabine auf die Lippen und legte Winter die Hand auf den Arm. »Mist, tut mir leid, Richard, wie unsensibel von mir. Ich habe nicht daran gedacht, dass du keinen Alkohol mehr trinkst. Ist mir erst jetzt wieder eingefallen, als du eine Cola bestellt hast.«
»Das macht doch nichts.«
»Bist du denn mittlerweile ganz trocken? Trinkst du wirklich gar nichts mehr?«
Winter schüttelte den Kopf: »Keinen Tropfen.«
Sabine nahm seine Hand und drückte sie. »Ich bin stolz auf dich.«
Winter wurde rot. Da er nicht wusste, was er sagen sollte, verzog er nur lächelnd das Gesicht und reichte ihr die Mittagskarte.
Er bestellte sich eine asiatische Nudelpfanne mit Hähnchenstreifen und sie Penne mit Spinat und Kirschtomaten in cremiger Käsesoße.
»Wie geht es Sydney?«, wollte sie wissen, nachdem der Kellner ihre Bestellung aufgenommen hatte und wieder gegangen war.
»Sie kommt ganz gut zurecht. Mittlerweile springt und tobt sie schon fast wieder wie früher herum. Es scheint beinahe, als ob sie schon ihr ganzes Leben lang nur drei Pfoten gehabt hätte.«
Wieder klingelte Winters Telefon. Winter nahm es aus der Manteltasche, blickte kurz darauf – eine unbekannte Nummer – und stellte es dann auf lautlos, ehe er es mit einem entschuldigenden Schulterzucken in Richtung Sabine wieder im Mantel verschwinden ließ.
»Und, an was für einen Fall bist du gerade dran – abgesehen von dem vermeintlichen jugendlichen Drogenkurier?«, fragte er und nahm einen Schluck Cola.
»Gestern«, Sabine seufzte, »haben wir eine Diebesbande dingfest gemacht. Fünf junge Männer, keiner älter als achtzehn! Drei sind geständig, die anderen beiden leugnen hartnäckig alles, was wir ihnen vorwerfen, obschon die Beweise gegen sie sprechen. Und das Verrückte ist: Obschon ich weiß, dass sie es getan haben, weil ich Videomaterial habe, das sie belastet, habe ich gestern bei der ersten Befragung für einen kurzen Moment daran gezweifelt. Sie waren so überzeugend! Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich wirklich geglaubt, sie wären unschuldig.«
Winter lächelte. »Du warst schon immer zu gutgläubig.«
»Ach ja?«, schnaubte sie gespielt empört. »Wie war das damals mit der jungen Frau, die Drogen vertickt hat und dir weisgemacht hat, sie seien ihr in die Handtasche geschmuggelt worden?«
Winter grinste. »Die hatte eben zwei überzeugende Argumente.«
Sie hatten gerade fertig gegessen und sich einen Kaffee bestellt, als ein großer, muskulöser Mann, der das Haar kurz und mit einem Seitenscheitel trug, hinter Sabine an ihren Tisch trat. Winter seufzte und machte eine Kopfbewegung zu ihm hin. Sabine drehte sich um und runzelte die Stirn, als sie Brunner, ihren Partner bei der Kriminalpolizei Bremen, erkannte.
»Sabine«, sagte Brunner, »Herr Winter«, nickte er ihm kurz zu.
Winter erwiderte den Gruß stumm.
»Ich muss dich leider entführen. Wir haben einen Notfall.«
»Kann das nicht noch zehn Minuten warten? Wir haben gerade den Kaffee bestellt«, sagte Sabine verärgert, doch ihr Tonfall verriet, dass sie die Antwort bereits kannte.
Brunner schüttelte denn auch nur den Kopf.
»Was denn für ein Notfall?«, erkundigte sich Winter ungeniert, obschon er wusste, dass ihm Brunner wohl kaum Auskunft darüber erteilen würde.
»Das darf ich leider nicht sagen«, bestätigte der Kommissar Winters Vermutung.
»Tut mir leid, Richard«, sagte Sabine, zog ihr Portemonnaie hervor und stand auf. Winter winkte ab.
»Nicht nötig. Du bist eingeladen.«
Sabine hielt inne und sah ihn überrascht an.
»Wirklich? Dann muss deine Detektei ja wirklich gut laufen. Danke! Ich melde mich.«
Kurz nachdem sie gegangen waren, kamen die beiden Kaffees. Winter nahm den ersten in Angriff und schlürfte an dem heißen Getränk. Gedankenverloren zückte er sein Smartphone und wollte die neusten News durchgehen, als er die Meldung über die verpassten Anrufe auf dem Display sah. Er seufzte und rief die Nummer zurück.
»Herr Winter? Vielen Dank, dass Sie zurückrufen! Mein Name ist Felix Krause, ich bin der Bürgermeister von Dorum.«
»Freut mich, Herr Krause.« ›Der Bürgermeister von …?‹ Winter hatte die Ortschaft schon wieder vergessen. Was wollte ein Bürgermeister von ihm?
»Ganz meinerseits. Hören Sie, Herr Winter, laut meinen Informationen sind Sie Privatdetektiv, ist das richtig?«
»Das stimmt, ja.«
»Und Sie sind der Richard Winter, der kürzlich den Spieluhr-Serienmordfall gelöst hat?«
»Ja …?«
»Ich würde gerne Ihre Dienste in Anspruch nehmen, Herr Winter. Sind Sie zurzeit frei oder arbeiten Sie an einem Fall?«
»Ich … Nein, zurzeit bin ich frei.«
»Gut, dann kommen Sie doch morgen gegen vierzehn Uhr zum Rathaus an der Westerbüttel dreizehn in Dorum, ja?«
»Moment … Worum geht’s denn überhaupt?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht am Telefon sagen, Herr Winter. Nur so viel: Ich suche jemanden mit genau Ihren Fähigkeiten und ich bezahle gut. Sind Sie interessiert?«
»Definieren Sie gut.«
Krause lachte verhalten.
»Nun … ehrlich gesagt, habe ich mir noch keine Gedanken über konkrete Zahlen gemacht. Aber ich bin mir sicher, wir werden uns einig.«
»Und von welchen Fähigkeiten haben Sie zuvor gesprochen?«
»Nun, die Mischung aus Ihren kriminalistischen sowie Ihren paranormalen Erfahrungen.«
Winter schluckte und überlegte. Das Ganze versprach, interessant zu werden, und was hatte er schon zu verlieren?
»Ich werde morgen vorbeikommen und mir anhören, worum’s geht, Herr Krause.«
»Wunderbar. Vielen Dank und bis morgen, Herr Winter!«
Winter nahm das Telefon vom Ohr und legte es vor sich auf den Tisch. Dann nahm er einen tiefen Schluck vom Kaffee und lehnte sich entspannt zurück.
Ich bezahle gut.
So ließ sich’s leben.