Isabelle Eberhardt (1877–1904), geboren und aufgewachsen in Genf, war die fille illégitime einer russischen Adligen und des anarchistischen Hauslehrers der Familie. 1897 reiste sie mit ihrer Mutter nach Algerien, wo sie zum Islam übertrat. Nach dem Tod der Mutter 1898 kauft sie sich ein Pferd und reitet der Sahara entgegen. Sieben Jahre dauert ihr Wanderleben durch die Wüsten von Tunesien, Algerien und Marokko. Mit siebenundzwanzig stirbt sie in einer Sturzflut, mitten in der Wüste. Ihre Tagebücher, Briefe und Erzählungen geben Zeugnis von ihrem ekstatischen, zerrissenen Leben – und sind zugleich eine Liebeserklärung an eine faszinierende Landschaft.
Julia Schoch wurde 1974 in Bad Saarow geboren. Sie studierte Literatur und lebt als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Sie übersetzte u. a. Fred Vargas, Georges Hyvernaud, Saint-Exupéry, Daniel Anselme und Eugène Dabit. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2005 und den André-Gide-Preis 2010. Zuletzt erschien ihr Roman Schöne Seelen und Komplizen (2018) bei Piper.
Susanne Gretter studierte Anglistik, Romanistik und Politische Wissenschaft in Tübingen und Berlin. Sie lebt und arbeitet als Verlagslektorin in Berlin. Sie ist Herausgeberin der Reihe DIE KÜHNE REISENDE.
Meine algerischen Tagebücher
1900–1903
Aus dem Französischen und mit einem
Vorwort von Julia Schoch
»Lauf! Geh!
Nur zum Platzen hält die Wolke inne,
und nur zum Weinen bleibt der Abenteurer stehn!«
Jean Richepin
VORWORT
ERSTES TAGEBUCH
ZWEITES TAGEBUCH
DRITTES TAGEBUCH
VIERTES TAGEBUCH
EDITORISCHE NOTIZ
GLOSSAR
NAMEN
LATEINISCHE AUSSPRÜCHE
LITERARISCHES
Wäre Isabelle Eberhardt eine Zeitgenossin von uns, könnte man sie dem Club 27 zurechnen: Ein Legende, von vielen gekannt, aber ein zutiefst einsamer Mensch, der mit 27 Jahren unter spektakulären Umständen nach einem intensiven, durchaus exzentrischen Leben stirbt. Und als wäre sie eine Vorgängerin der medialen Stars unserer Gegenwart gewesen, gibt es ein Bild von ihrem Tod! Ein für die damalige Zeit recht außergewöhnlicher Zufall. Noch dazu in Aïn Sefra, einer Wüstenstadt im Südwesten Algeriens, wo Isabelle Eberhardt am 21. Oktober 1904 ums Leben kam.
Nur wenige Stunden zuvor hatte sie sich gegen den Rat des Arztes selbst aus dem Krankenhaus entlassen und war, noch in geschwächtem Zustand, in die Hütte zurückgekehrt, die sie am Ufer eines ausgetrockneten Flussbettes gemietet hatte. Dann geschah wie aus dem Nichts eine Naturkatastrophe. Bei schönstem Wetter kam plötzlich mit tsunamiartiger Geschwindigkeit Wasser durch das Wadi getost und riss eine Brücke, viele Häuser und Menschen mit sich. Auf dem Foto, das damals gemacht wurde, tragen Einheimische ihren Leichnam auf einer Bahre aus den Schuttmassen. Was auf ebenso wundersame Weise geborgen werden konnte, waren ihre Manuskripte – Erzählungen, Reisetexte, ihre Tagebücher. Sie wurden wenige Jahre nach ihrem Tod in Paris herausgebracht. Isabelle Eberhardt selbst wurde dort, in Aïn Sefra, nach islamischem Ritual beerdigt, vor allem aber: in der Wüste, wie es immer ihr Wunsch gewesen war.
Wenn es so etwas wie Heimat für eine Ruhelose wie Isabelle Eberhardt gegeben hat, war es eine landschaftliche Form: die der Sahara. Der konturlose, unendliche Raum der Wüste zog sie magisch an.
Was bereitet jemanden auf ein Nomadenleben vor?
Isabelle Eberhardt war die Tochter von Nathalie de Moerder, einer durch Geburt und Heirat adligen Russin, die 1871 zusammen mit dem Hauslehrer ihrer drei Kinder Russland verließ und sich am Genfer See niederließ. Dieser Hauslehrer mit Namen Trofimowski, ein ehemaliger russisch-orthodoxer Priester armenischer Abstammung mit anarchistischen Ideen, offenbar eine Mischung aus Gelehrtem und Guru, wurde später der Vater eines weiteren Kindes und von Isabelle, die 1877 in einem Landhaus in der Nähe von Genf, der Villa Neuve, geboren wurde. Das Haus findet in Isabelles Tagebüchern oft Erwähnung. Wenn sie von ›dort‹, dem ›Norden‹ oder von ›jenseits des Meeres‹ spricht, ist immer jene Familien-Enklave gemeint, eine Art huis clos, in der sie aufwuchs.
Vielleicht kam ihr Fernweh, auf jeden Fall aber ihre Neugier daher, dass sie als Kinder das Grundstück nicht verlassen durften. So verfügte es der Vater, in ihren Tagebüchern ›Wawa‹, ›der Denkergreis‹ oder auch ›der alte Mann‹ genannt. Aus Angst vor der Ansteckung mit der Krankheit Zivilisation versuchte er, auf dem Grundstück die Utopie einer Selbstversorger-Kommune zu verwirklichen. Die Kinder waren frei und sich selbst überlassen, wurden gleichzeitig aber auch zur Garten- und Landarbeit herangezogen. Zur Schule ging Isabelle nie, Trofimowski unterrichtete sie. Besonders viel lag ihm an Botanik und Naturkunde, Philosophie und den Sprachen, darunter Arabisch, Russisch, Latein, Griechisch und Deutsch. Bereits als junges Mädchen soll Isabelle Arabisch gesprochen und geschrieben haben. Über Bücher und Brieffreundschaften macht sie Bekanntschaft mit der orientalischen Welt, die für die Franzosen der damaligen Zeit auch Nordafrika mit einschloss und speziell auf Schriftsteller und Maler eine große Faszination ausübte.
Antiautoritäre Erziehung und Strenge, soziale Abgeschottetheit bei gleichzeitigem Studium der Sprachen der Welt, ein grundsätzlich privilegiertes Leben, in dem aber das Glück der Besitzlosigkeit gepredigt und gelebt wurde (die Villa war äußerst spartanisch eingerichtet) … Es ist diese Ambivalenz, die Isabelles ganzes Leben durchziehen wird.
Ihr beständiges Schwanken zwischen Gefühlen, aber auch zwischen Orten und Menschen ist das, was beim Lesen ihrer Tagebücher am stärksten auffällt. Schon auf den ersten Seiten unterzieht sie sich einer Selbstanalyse, in der sie das Hohelied auf die Einsamkeit singt und diese gleichzeitig verdammt. Und genauso liegen ihre ruhelosen Reisen sowohl in einer Neugier begründet als auch in einer Ausweglosigkeit. Der Mut zur Unabhängigkeit, ihre Einsamkeit, aus der sie Kraft bezog, rühren auch von diesen frühen Erfahrungen.
Fakt ist: Isabelle musste unterwegs sein. Dabei haben wir es nicht etwa mit einer reichen, »emanzipierten« Touristin zu tun, die einer Modewelle folgend »den Orient« bereiste. Ihr Mut ist oft der Mut der Verzweiflung. Der Hintergrund all ihres Tuns ist auch die Erfahrung von Entbehrung, Leid und Tod.
Zusammen mit ihrer Mutter schifft sie sich 1897 nach Bône (Annaba) in Algerien ein, wo die beiden sich von der Kolonialgesellschaft weitestgehend fernhalten und zum Islam konvertieren. Doch kaum ein halbes Jahr später stirbt Nathalie de Moerder dort. Isabelle, die sie nach ihrem Tod zärtlich »Weißer Geist« nennt, beerdigt sie auf dem muslimischen Friedhof. Auf sich allein gestellt, beginnt sie zu reisen. Verkleidet als arabischer Student oder Gelehrter und oft unter einem Pseudonym zieht sie mit Soldaten, Fremdenlegionären und Nomaden durch das Land. Nachdem ihr Bruder Wladimir sich 1898 das Leben genommen hat und Trofimowski erkrankt, kehrt sie nach Genf zurück. Dort pflegt sie ihren Vater bis zu dessen Tode 1899. Nur zu Augustin, ihrem älteren Bruder, der nach Jahren bei der Fremdenlegion in Marseille lebt, hat sie danach noch eine (innere) Verbindung.
Allein und mittellos, da die Erbschaftsangelegenheiten sich schwierig gestalten, bricht sie erneut Richtung Afrika auf – um nie wieder zurückzukehren. Durchaus im Sinne ihrer Erziehung drückt Eberhardt in ihren Texten an verschiedenen Stellen ihre Abneigung gegenüber ihrer Heimat, der Bourgeoisie sowie gegenüber der Zivilisation im Allgemeinen aus, während sie Afrika in ihren Tagebüchern immer wieder als »Wahlheimat« oder »Adoptivland« bezeichnet.
Ende des 19. Jahrhunderts ist in Westeuropa noch kein Platz für allzu unkonventionelle Lebensformen. Nur ganz vereinzelt flüchten – mutige – Europäer nach (Nord-)Afrika, aus Liebeskummer, auf der Suche nach einem »ursprünglicheren« Leben, auch Todessehnsüchtige, Menschen jedenfalls, die kaum etwas zu verlieren haben. Im Grunde sucht auch Isabelle Eberhardt als ein Hippie avant la lettre etwas in der »Fremde«, was Europa ihr zu jener Zeit, da es dort noch keine wirklichen Alternativkulturen gibt und mit verschiedenen Naturbewegungen sich erst zaghaft ein paar Enklaven herauszukristallisieren beginnen, nicht bieten kann.
Wie magisch angezogen, zieht sie sich in die leeren Weiten der Sahara zurück. Die Wüste wird ihr zur Seelenlandschaft, eine Projektionsfläche für ihre Selbstvergewisserung, die in ihren Schriften bezeugt ist. Denn darin liegt die Kraft der Journaliers von Isabelle Eberhardt: Es sind auch Selbstüberzeugungs- und Selbstermächtigungsschriften einer ewig einsamen, zuweilen überforderten jungen Frau. Auf den ersten Blick berichten sie über das Glücklichsein in bestimmten Landschaftsräumen, sprechen sie vom Ankommen im »richtigen« Raum. Das Seltsame dabei ist: Die Wüste befreit sie nicht von ihrem Zustand der inneren Zerrissenheit, im Gegenteil, sie verstärkt ihn oft sogar. Das Fernweh ist nichts, was irgendwann aufhört. Es macht aus den Tagebüchern zugleich das Panorama einer Krankengeschichte, die Geschichte einer ewig Rastlosen, auf der Suche nach einem Ort, der, sobald sie ankommt, schon wieder aufgegeben wird. Der Fernblick, die sich immer wieder entziehende Landschaft, ist ihr bevorzugtes Sehmodell. Deshalb sind es auch so oft Erinnerungen, sowohl vergangene wie auch zukünftige, die im Mittelpunkt ihres Schreibens stehen. »Wiederfinden« – ein Wort, das eine große Rolle in den Texten von Isabelle Eberhardt spielt, ohne dass man sagen könnte, was genau und wo genau es wiedergefunden werden könnte.
Viele Jahrzehnte nach Isabelle Eberhardt hat eine andere große Unruhige und Tiefblickende der Literatur, Ingeborg Bachmann, erstaunlich ähnliche Landschafts- bzw. Seelenerfahrungen in ihren Briefen formuliert: »Immer denke ich an die Wüste … ein paar Tage lang habe ich dort gelebt, so wie ich leben möchte. (…) Dort war alles wahr, alles richtig, alles tödlich, alles gesund. Dort hat man keine Neurosen, immer denke ich an die Tage, wie die paar letzten Europäer zusammengebrochen sind (sehr gesunde, junge), und ich habe es ausgehalten, ich war plötzlich gesund. (…) Ich will etwas unendlich Schönes und etwas unendlich Herrliches haben, und das habe ich in der Wüste gehabt.«
Die Suche nach einer utopischen Fluchtgegend mündet bei beiden Schriftstellerinnen in Ernüchterung. Beide müssen sie feststellen: Die Wüste heilt nicht, schon gar nicht auf ewig, sie bringt einem den eigenen Zustand nur klarer zu Bewusstsein.
Für eine Schriftstellerin nicht die schlechteste Erkenntnis.
Denn nichts anderes wollte Isabelle Eberhardt sein. Sie war keineswegs eine schreibende Reisende. Sie verstand sich als literarische Autorin. Schon als Jugendliche schickte sie ihre Geschichten an verschiedene Zeitschriften, die diese auch abdruckten. An ihrer Legitimation als Schriftstellerin arbeitete sie verbissen bis zu ihrem Tod. Es ist der Wunsch, das Geschriebene auch zu veröffentlichen, der sie die Verbindung zur europäischen Welt halten lässt. Wenn sie nach Paris, Genf oder Algier reist, dann immer wieder auch, um Kontakte für ihre schriftstellerische Tätigkeit zu knüpfen. So trifft sie Victor Barrucand, der zunächst Chefredakteur der algerischen Tageszeitung Les Nouvelles und dann der Wochenzeitung L’Akhbar ist und für den sie ab 1902 Reportagen über das Landesinnere schreibt. Er wird nach ihrem Tod ihre Schriften (ein Konvolut von ca. 2000 Seiten) in dem Pariser Verlag Eugène Fasquelle herausgeben.
In ihren Texten, insbesondere den Tagebüchern, verbietet sich Isabelle Eberhardt ein explizit weibliches Bewusstsein. Sie spricht von sich unterschiedslos in der weiblichen und männlichen (grammatikalischen) Form, sicherlich auch, weil es zum damaligen Zeitpunkt so wenige schreibende/reisende Frauen gab, die ihr als Vorbild hätten dienen können. Zudem scheint für sie das Spiel mit den verschiedenen Identitäten selbstverständlicher als für ihre Umwelt gewesen zu sein, die sie immer wieder daran »erinnert«, dass ihr Auftritt ganz und gar ungewöhnlich ist. Ihre Verkleidungen hat sie nie kokett oder snobistisch zur Schau getragen. Sie verhalfen ihr zu einer Freiheit, die auch ganz konkret zu nehmen ist: Beim Reiten und Reisen ist die typisch arabische männliche Kleidung einfach bequem, wie sie immer wieder betont. Natürlich nehmen viele an einem solchen Selbstverständnis Anstoß. In den Tagebüchern klagt sie häufig über die Indiskretion, den Tratsch und die Verleumdungen, denen sie sich ausgesetzt fühlt. Dabei sind es oft gar nicht die Männer, sondern die einheimischen Frauen, die sie nicht bloß als unterdrückt wahrnimmt, sondern als perfide Weibsbilder, die ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft spielen und mit ihrer Lust an Gerüchten und der Ausgrenzung an Isabelles Vertreibung mitgewirkt haben, wo immer sie sich gerade befand.
Vor allem nimmt man Anstoß an der »wilden Ehe« mit ihrem Geliebten Slimène Ehnni, einem Unteroffizier, den sie 1900 in El Oued kennenlernt. Er ist ein sogenannter Spahi, ein Einheimischer mit französischer Staatsbürgerschaft, der der französischen Armee in den Kolonialgebieten angehört. Isabelle folgt ihm nach Batna, wo er stationiert ist. Zusammen versuchen sie ein anderes Beziehungsmodell als das damals herrschende zu leben. Unterwerfen kann bzw. will sich Isabelle Eberhardt einem Ehemann nicht, wie sie selbst schreibt, und er hat es von ihr auch nicht verlangt, wie es scheint.
Auch wenn sie später, sechzig, siebzig Jahre nach ihrem Tod, zu einer Gewährsfrau der Feministinnen wurde, hat sie sich selbst nicht als eine solche verstanden. »Feministin« – das war damals ein Schimpfwort. Die arabischen Frauen bemitleidet sie, sie findet sie schlicht langweilig, das freie Leben der Nomaden hingegen zieht sie an, da warten die Abenteuer.
Im selben Jahr, 1900, wird sie in die Bruderschaft der Qadiriyya aufgenommen, die eigentlich nur Männern vorbehalten ist. Dieser ganz und gar außergewöhnliche Vorgang beweist, wie tief Isabelle Eberhardt sich mit den Einheimischen und ihrer Kultur verbunden fühlte, wie genau ihre Kenntnis und ihr Verständnis von Religion und Sufismus waren, es war nicht der »exotische Blick«, den sie auf die dortige Welt warf.
Isabelle Eberhardt war sich bewusst, dass diese Zugehörigkeit ein Privileg war, eine Freiheit, die sie immer zu schützen versucht hat. Der Preis dafür ist Einsamkeit. Und ein Leben unter Extrembedingungen, denen sie sich immer wieder bewusst aussetzt. In bitterster Armut lebend, vom Kifrauchen und von einer oft mangelhaften Ernährung ausgezehrt, hält sie doch an ihrem Leben in der Wüste fest. Sie lebt schwankend zwischen den Polen: Einerseits wird sie verfolgt und gemaßregelt von einer moralisch disziplinierenden Welt und muss sich mit Gängelungen und Einschränkungen auseinandersetzen. Andererseits lebt sie, wenn auch arm, aber doch in einer vollkommen frei verfügbaren Zeit, ist niemandem untergeordnet und kann mit dem Pferd zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Dünen reiten. Sie ist zu Gast in Moscheen genauso wie in Bordellen, kennt die Armenviertel der Städte ebenso gut wie die Nomadenlager in der Wüste. Isabelle Eberhardt lebt in einer beständigen Widersprüchlichkeit, deren unmittelbarer Zeuge der Leser ihrer Tagebücher wird. Dabei kommen ihre Stimmungen, Selbstaufmunterungen und Gemütsumschwünge stets aus dem Nichts und können ebenso schnell wieder verschwinden. Angesichts der Pracht der Wüste gerät sie nicht nur ins Schwärmen, sondern jedes Mal auch in Schwermut, sie will den Geliebten sehen, strebt aber auch immer wieder von ihm weg, um allein im Galopp über die Dünen zu jagen. Ihrem Unabhängigkeitsdrang steht immer wieder der Wunsch nach einem Rhythmus gegenüber, einem Rahmen, der ihr das Arbeiten erleichtern würde. Beständig sehnt sie sich nach einem festen Heim, einem Zuhause, das ihr Antrieb geben würde, während sie schon ihre nächste Reise plant …
Die Entbehrungen des Wüstenlebens nimmt sie auch deshalb in Kauf, weil sie ihr immer noch besser erscheinen als ein Dasein in Europa, das sie als verdorben und auf eine falsche Weise zivilisiert wahrnimmt. Doch 1901 ist sie gezwungen zurückzukehren. Am 29. Januar kommt es zu einem Mordanschlag auf Isabelle, dessen Hintergründe bis heute nicht ganz geklärt sind. In dem Dorf Behima, wo Isabelle Eberhardt sich mit mehreren Reisenden aufhält, stürmt ein Mann mit einem Säbel in das Haus, in dem sie gerade mit der Übersetzung eines Geschäftsbriefes für einen Freund befasst ist. Eine zufällig dort hängende Wäscheleine fängt die Wucht des Hiebs ab. Trotzdem wird sie schwer an Kopf und Arm verletzt, doch sie überlebt. In dem späteren Prozess wird der Attentäter zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Durch Isabelles Fürsprache wird das Strafmaß auf zehn Jahre herabgesetzt. Als Unruhestifterin und vermeintliche Spionin wird Isabelle nach diesem Vorkommnis des Landes verwiesen. Wieder muss sie ins verhasste Europa zurück, das sie in den Tagebüchern oft als »Land der Verbannung« beschreibt. Sie geht nach Marseille, wo sie für einige Monate bei ihrem Bruder Augustin und dessen Frau unterkommt. Der »Höllenaufenthalt« dort lässt ihre Sehnsucht nach Afrika nur noch größer werden. Nach ihrer Heirat mit Slimène Ehnni am 17. Oktober 1901 (der einzigen Gelegenheit, bei der sie Frauenkleider getragen haben soll) und der Aufhebung des Ausweisungsbefehls wendet sie sich endgültig von Augustin und damit auch der Alten Welt Europa ab. Im Januar 1902 kehren beide in ihr »Gelobtes Land« zurück, zunächst nach Bône, später lässt sich das junge Paar in der Casbah von Algier nieder, von wo aus Isabelle erneut zu verschiedenen Reisen Richtung Süden aufbricht, nach Bou Saada, El Hamel, Kenadsa und Aïn-Sefra.
Isabelle Eberhardt hat das Attentat auf sie als göttliches Zeichen interpretiert, ihr religiöser Eifer und ihre mystischen Neigungen scheinen sich danach noch zu vertiefen. In der konkreten Entbehrung sieht man deutlich die Funktion der Religion für diese Hungerkünstlerin: Mittellosigkeit, Krankheit und Ausgezehrtheit lassen die entsprechenden Tagebuch-Passagen wie die Visionen einer Mystikerin erscheinen. Dann ist sie nur noch in Landschaftseindrücken aufgelöster Gedanke. Bei all ihrer religiösen Überzeugung verfolgt sie allerdings nie missionarische Absichten. Ihre persönlichen Erfahrungen bleiben auf sie selbst bezogen.
Bedingungslose Liebe und Kompromisslosigkeit kennzeichnen das Wesen von Isabelle Eberhardt, wie es in ihrem Seelenspiegel, den Tagebüchern, aufscheint. Es ist eine Erwartungshaltung, die immer wieder in Enttäuschungen münden muss. Sie bleibt ein zutiefst einsamer Mensch, der die Frage, wie man mit wem und wo leben soll, nur mit sich selbst klären kann. Sie weiß um ihre Unfähigkeit zur Zweisamkeit, sie ist sich bewusst, dass sie vor allem den Ausblick der Freiheit braucht. Dabei scheint der Plan zum Aufbruch oft noch wichtiger als der Aufbruch selbst. Gegenüber ihrem Geliebten und Ehemann wirkt sie seltsam reif und erwachsen. Man könnte sie eine Moderne in der Liebe nennen, wenn sie das enttäuschte Gefühl schon vorwegnimmt, indem sie ironisch Slimènes Naivität kommentiert, was die Dauer einer Liebe angeht. Ein solches Antizipieren der Enttäuschungen, ein Vorausdenken des Scheiterns in Liebesdingen ist laut Eva Illouz eigentlich ein Zeichen des 21. Jahrhundert. Es sind Versuche zur Selbstrettung. In einem Brief an ihren Mann schreibt Isabelle einmal, ihre Liebe sei in Wahrheit immer nur ein »heftiges Leiden« gewesen. Die Beziehung zwischen den beiden scheint sich abzukühlen, Isabelles Abwesenheit und Unabhängigkeitsbestrebungen lassen sie auseinanderdriften, und offenbar hat Slimène auch eine neue Freundin, jedenfalls hat sie nichts dagegen, sich geografisch wie innerlich immer weiter von ihren bisherigen Lebensmenschen zu entfernen.
1902 bricht sie Richtung Süden auf, in die Nähe der – nicht eindeutig festgelegten – Grenze zum Sultanat Marokko, um für die Zeitschrift L’Akhbar über den französischen Vorstoß in dieses Gebiet zu berichten, wo es immer wieder zu blutigen Zusammenstößen zwischen den dortigen Stämmen und den französischen Kolonialtruppen kam. Isabelle Eberhardt dürfte somit die erste Kriegsreporterin gewesen sein. Ihre Texte über die Einheimischen sind dabei aber nie mit dem Blick einer Fremden, eines Besatzers oder Kolonisten geschrieben, sondern berichten stets aus dem Innern dieser Welt. Damit stößt sie das koloniale Klischee von Zivilisation gegen Barbarei um, ein für die damalige Zeit extrem ungewöhnlicher politischer Weitblick. Im Frühjahr 1904 wird sie mit einer geheimen Mission beauftragt, um in der marokkanischen Festungsstadt Kenadsa erste Verhandlungen mit dem religiösen Anführer aufständischer Nomaden zu führen. In ihrer Verkleidung als islamischer Gelehrter begibt sie sich für mehrere Monate in den heiligen Bezirk der Stadt, den bis dahin noch kein Europäer betreten haben soll.
Geschwächt von Malariaanfällen, sucht sie im Herbst desselben Jahres schließlich das Militärspital von Aïn-Sefra auf.
Es gehört zum Wesen von Legenden, dass sie die Phantasie der Nachwelt beflügeln.
Ob Isabelle Eberhardt ihren Tod bewusst gewählt hat, bleibt Spekulation. Fest steht: Ihr Mann, den sie in ihren Tagebüchern mit vielen Kosenamen belegt (Zuizou, Rouh, Ouiha), und der nach monatelanger Trennung gerade erst in Aïn-Sefra eingetroffen war, konnte sich rechtzeitig vor den Schlammlawinen aus der Hütte retten und reiste – offenbar von Schuldgefühlen geplagt – noch vor ihrer Beerdigung ab. Möglicherweise haben sie sich gegenseitig Vorwürfe gemacht und wollten ihre endgültige Trennung besiegeln.
Hinzu kam, dass Isabelle Eberhardt körperlich verbraucht und müde war. Eine Reihe von wiederkehrenden Krankheiten sowie permanente psychische Überreiztheit hatten sie über die Jahre hinweg an ihre Grenzen gebracht. Dass die Autorin sich mit dem Tod Tag für Tag auseinandergesetzt hat, ja dass sie bereit war zu sterben, geht aus jeder Seite ihrer Tagebücher hervor.
Als hätte ihre Dauerflucht vor allem Europäischen dessen Auslöschung zur Folge gehabt, steht die Villa Neuve nicht mehr, wie seltsamerweise sämtliche weiteren Fixpunkte aus Isabelles früher Kindheit bzw. ihrer Jugend nicht mehr existieren. In einer Stadt wie Genf kommt es nur sehr selten vor, dass sämtliche Orte eines Menschen, der vor hundert Jahren gelebt hat, verschwunden sind. Erst seit 1988 trägt eine kurze Sackgasse ohne Ausblick im Genfer Stadtteil Les Grottes den Namen Isabelle Eberhardt.
Julia Schoch
März 2018
Cagliari, den 1. Januar 1900
Ich bin allein, vor mir die unermessliche Weite des murmelnden grauen Meeres … Ich bin allein … wie ich es immer gewesen bin, überall, wie ich es immer sein werde im großen, verlockenden und ernüchternden Universum … allein, hinter mir eine Welt aus enttäuschten Hoffnungen, erloschenen Illusionen und Erinnerungen, die mit jedem Tag ferner scheinen, fast sind sie unwirklich geworden.
Ich bin allein, und ich träume …
Und obwohl mein Herz von tiefer Traurigkeit erfüllt ist, sind meine Träumereien weder trostlos noch verzweifelt. Nach den vergangenen sechs Monaten, die so aufreibend und zerfasert waren, fühle ich, dass mein Herz nun auf ewig gestärkt und für alle Zeit unbezwingbar ist, dass es niemals brechen wird, nicht mal im wildesten Sturm, so mächtig Zerstörung und Trauer auch sein mögen. Dank der tiefgreifenden Lebenserfahrung und der feinsinnigen Kenntnis der menschlichen Seele, die ich mir angeeignet habe (aber um den Preis welcher Leiden, mein Gott!), sehe ich dem seltsam traurigen Zauber der zwei Monate, die ich hier noch verbringen werde, getrost entgegen, hier, wo ich zufällig gestrandet bin, größtenteils durch meine grenzenlose Unbekümmertheit gegenüber allem auf dieser Welt, jedenfalls allem, was nicht zur Welt der Gedanken, Gefühle und Träume gehört, die mein wirkliches ICH darstellt und die den neugierigen Blicken aller, ausnahmslos aller, auf immer verschlossen ist.
Nach außen trage ich die Maske des Zynikers, des Verruchten und Gleichgültigen zur Schau … Noch nie ist es jemandem gelungen, hinter diese Maske zu blicken und meine wahre Seele zu sehen, jene sensible und reine Seele, die hoch über der Welt aus Gemeinheiten und Erniedrigung schwebt, durch die mir beliebt, mein physisches Wesen, aus Verachtung gegenüber den Konventionen und aus einem seltsamen Leidensbedürfnis heraus, zu schleppen …
Ja, niemand hat je erkannt, dass in dieser Brust, die scheinbar nur von Sinnlichkeit beseelt wird, ein edles Herz schlägt, das einst vor Liebe und Zärtlichkeit überfloss und jetzt noch immer von unendlichem Mitgefühl für alles ungerecht Leidende erfüllt ist, für alles Schwache und Unterdrückte … ein stolzes, unbeugsames Herz, das sich aus freien Stücken einer geliebten Sache ganz und gar verschrieben hat … der Sache des Islam, für die ich eines Tages leidenschaftlich gern das heiße Blut vergießen will, das in meinen Adern kocht.
Niemand hat all das je verstanden und mich entsprechend behandelt, und es wird auch nie jemand verstehen – leider!
Ich werde also weiterhin beharrlich den Trunkenbold geben, das verkommene Subjekt, den Rüpel, der im letzten Sommer seinen wilden, verwirrten Geist an der betörenden Weite der Wüste und später im Herbst in den Olivenhainen des tunesischen Sahel berauscht hat.
Wer gibt mir die stillen Nächte zurück, die gemächlichen Ritte durch die salzigen Ebenen des Oued Ghir und den weißen Sand des Oued Souf …? Wer gibt mir das seltsam traurige Glücksgefühl zurück, das mein einsames Herz erfüllte, wenn ich mein chaotisches Lager zwischen Spahis und Nomaden aufschlug, Zufallsbekanntschaften, von denen kein einziger in mir jenes verhasste und verleugnete Wesen vermutete, mit dem ich zu meinem Unglück geschlagen bin?
Wer bringt mir die wilden Ritte im Herbstwind durch die Berge und Täler des Sahel zurück, berauschende Ritte, bei denen ich in herrlicher Trunkenheit jeden Bezug zur Wirklichkeit verlor!
In diesem Augenblick, wie übrigens zu jeder Sekunde meines Lebens, habe ich nur einen Wunsch: mich möglichst bald wieder in die geliebte Person verwandeln, die in Wirklichkeit die wahre ist, und dorthin zurückkehren, nach Afrika, um wieder jenes Leben zu führen … Schlafen, in der kühlen und unendlichen Stille, unter dem schwindelerregenden Sturzflug der Sterne, als Dach den unendlichen Himmel über mir und als Bett unter mir die noch warme Erde … wegdämmern in dem traurigsüßen Gefühl meiner absoluten Einsamkeit und der Gewissheit, dass nirgendwo auf dieser Welt ein Herz für meines schlägt, dass an keinem Flecken dieser Erde ein menschliches Wesen um mich weint oder auf mich wartet. Dieses Wissen, frei zu sein und ohne Ketten, nur auf mich allein gestellt im Leben, jener großen Wüste, in der ich immer nur ein Fremder sein werde, ein Eindringling … Das ist in seiner absoluten Bitterkeit das einzige Glück, das mir das Mektoub je zugestehen wird, mir, dem das wahre Glück auf ewig verwehrt ist, jenes Glück, dem die ganze Menschheit hinterherhechelt …
Weg mit euch, Illusionen und Bedauern!
Was für Illusionen könnte ich noch haben, wo doch die weiße Taube, die die ganze Süße und das Licht meines Lebens war, seit zwei Jahren dort unten in der Erde ruht, auf dem stillen Friedhof der Gläubigen von Annaba!
… Wo auch Wawa wieder zu Staub geworden ist und nichts mehr steht von dem, was doch unendlich beständig schien – nachdem alles zusammengestürzt und für immer und bis in alle Ewigkeit vernichtet ist! … Und da das Schicksal mich merkwürdigerweise und unerklärlicherweise von dem einzigen Wesen getrennt hat, das meiner wahren Seele nahe genug gekommen ist, um wenigstens einen blassen Widerschein von ihr zu entdecken – Augustin …
Und nachdem … Ach, nein! Lassen wir diese erst kürzlich geschehenen Dinge für immer ruhen.
Von jetzt an werde ich mich von den unbeständigen Wellen des Lebens tragen lassen … Ich will mich an sämtlichen Quellen der Trunkenheit berauschen und nicht klagen, sollten sie schließlich versiegen … Schluss mit den Kämpfen und Siegen, den Niederlagen, die mich jedes Mal mit wundem, blutendem Herzen zurückgelassen haben … Schluss mit den Torheiten der frühen Jugend!
Ich bin hierhergekommen, um den Trümmern einer langen, dreijährigen Vergangenheit zu entfliehen, die zusammengestürzt ist, bevor sie, ach, in einem unendlich tiefen Morast versank … Ich bin auch aus Freundschaft zu dem Mann hierhergekommen, dem ich zufällig begegnet bin und den das Schicksal mir genau in dem Moment über den Weg geschickt hat, als ich in einer Krise war – der letzten, so Gott will –, an der ich zwar nicht gestorben bin, die aber gefährlich zu werden drohte …
Merkwürdig: Die heutigen Feststellungen und die daraus resultierende grenzenlose Traurigkeit haben bewirkt, dass sich meine Gefühle für … grundlegend geändert haben.
Meine Freundschaft zu ihm ist dadurch nur gewachsen … Umso besser! Doch keine Illusionen – vom ersten Tag, von der ersten Stunde an nicht!
Ich stelle fest, dass ich mich wieder einmal im Unsagbaren zu verlieren beginne, in Dingen, die ich fühle und auch klar verstehe, die ich aber nie auszudrücken imstande war.
Wie dem auch sei, selbst wenn mein ganzes Leben nur ein Gewebe aus Leid und Traurigkeit gewesen ist, werde ich dieses klägliche Leben und das traurige Universum niemals verfluchen … wo Liebe und Tod so nah beieinander liegen und alles flüchtig und vergänglich ist.
Denn beide haben mich gleichermaßen trunken gemacht, mich verzückt und mir unendlich viele Träume und Gedanken beschert.
Ich bedaure nichts mehr, und ich begehre nichts mehr … Ich warte.
So werde ich, Nomade und mit keiner anderen Heimat als dem Islam, ohne Familie oder Vertraute, allein, für immer allein in der stolzen und schwersüßen Einsamkeit meiner Seele meinen Weg durchs Leben fortsetzen, bis die Stunde der großen, ewigen Grabesruhe schlägt …
Mahmoud ESSADI
Und wieder stellt sich die ewige, geheimnisvolle, bange Frage: Wo, auf welchem Boden und unter welchem Himmel werde ich in einem Jahr zu dieser Stunde sein? … Vermutlich weit weg von dieser kleinen sardischen Stadt … Aber wo? Und werde ich dann noch unter den Lebenden weilen? …
Cagliari, den 9. Januar
Impressionen, 1900
Im Stadtpark, gegen 17 Uhr
Zerklüftete Landschaft, schroffe Hügel, rötlich oder grau, tiefe Senken, von grauen und düsteren Strandkiefern und Feigenkakteen bestanden. Üppiges, für die Winterzeit fast verwirrendes Grün. Salzige Lagunen mit bleigrauer Oberfläche, unbeweglich und tot wie die Chotts in der Wüste.
Dann, weit oben, die Umrisse einer Stadt, die sich an den steilen, ausgewaschenen Hang schmiegt … Alte Festungsmauern, ein alter quadratischer Turm mit Schießscharten, die geometrischen Umrisse terrassenförmiger Dächer, das Ganze in einheitlich versengtem Weiß, das sich von dem indigoblauen Himmel abhebt.
Knapp darunter noch und noch Grün, Bäume mit ewig gleichem Blattwerk. Kasernen, die aussehen wie die algerischen, lang und niedrig, mit roten Ziegeln gedeckt, die Mauern blatternarbig und bröckelnd, auch sie golden wie alles Übrige.
Grellrosa oder blutrot getünchte Mauern, zuweilen auch himmelblau wie die arabischen Häuser … Dunkle, alte Kirchen voller Skulpturen und Marmormosaiken, verschwenderisch prächtig in diesem Land erbärmlichsten Elends. Tunnelartige Durchgänge, in denen jeder Schritt laut widerhallt und schallende Echos erzeugt. Verwinkelte Gassen, die hinauf und hinunter führen und zuweilen in graue Steintreppen münden, und zwischen den kleinen, spitzen Pflastersteinen der Oberstadt, wo man nur zu Fuß unterwegs sein kann, sprießt kümmerlich gelblichgrünes Gras. Türen, die zu großen, tiefergelegenen Kellern führen, in denen Elendsfamilien in jahrhundertealtem Dunkel und in Feuchtigkeit hausen. Andere Türen führen zu gewölbten Hausfluren und zu fliesengeschmückten Treppen.
Läden mit kleinen, grellbunten Auslagen, enge und verräucherte orientalische Kramläden, aus denen näselnd schleppende Stimmen dringen …
Hier und da ein junger Bursche, der sich, gegen eine Mauer gelehnt, durch Zeichen mit einem Mädchen unterhält, das sich von einem Balkon herunterbeugt …
Bauern, mit langen, bis zum Rücken reichenden Kopfbedeckungen, in schwarzer, zerschlissener Joppe, die feingefältelt über die weiße Leinenhose fällt. Bärtige, sonnengegerbte Gesichter, tiefliegende, misstrauisch und grimmig blickende Augen unter buschigen Brauen, Gestalten mit eigentümlichen Gesichtszügen, die sowohl von den griechischen Bergbewohnern als auch von den Kabylen abzustammen scheinen.
Die Frauen, arabische Schönheiten, große, tiefschwarze Augen, die sehnsuchtsvoll und nachdenklich dreinblicken … Der ergebene und traurige Ausdruck armer, furchtsamer Tiere.
Bettler, die in weinerlich kriecherischem Ton den Fremden bedrängen, ihm folgen und ihn überall belästigen … Unendlich traurige Lieder oder Melodien, die auf seltsam beängstigende Weise für immer im Gedächtnis bleiben, Gesänge, die denen Afrikas zum Verwechseln ähnlich sind, des fernen Afrikas, an das alles hier auf Schritt und Tritt erinnert und heftige Sehnsucht schürt.
Cagliari, Donnerstag den 18. Januar,
abends, um halb sechs
Seit ich hier bin, in der einschläfernden Ruhe dieses Lebens, das der Zufall, oder vielmehr das Schicksal, mir jäh auf meinem abenteuerlichen Weg beschert hat, verfolgen mich die Erinnerungen an die Villa Neuve seltsamerweise mehr und mehr, … die guten wie die schlechten … Ich sage »die guten«, denn jetzt, wo dort alles für immer vorbei und tot ist, darf ich gegenüber der alten Familienhütte nicht ungerecht sein … Ich darf nicht vergessen, dass Mamas Güte und Sanftmut dort wohnten und Wawas gute, wenn auch nie verwirklichte Absichten … und vor allem die ganze chaotische Welt meiner eigenen Träume. Nein, kein Fluch über das Leben von einst. Wie viele gesegnete Stunden habe ich dort erlebt, trotz allem, trotz Gefangenschaft, Kummer und Ungerechtigkeiten! Seit ich dieses Haus verlassen habe, wo alles erloschen ist, wo alles bereits tot war, bevor es endgültig in Trümmer zerfiel, ist mein Leben nur noch ein rasender, flüchtiger Traum, durch unterschiedliche Länder, unter wechselnden Namen und mit wechselndem Äußeren.
Ich weiß sehr wohl, dass der geruhsame Winter, den ich hier verbringe, nur eine kurze Verschnaufpause in jenem Dasein ist, das mir bis zum Ende beschieden sein wird.
Danach, in ein paar Tagen schon, wird das wahre Leben, das rastlose, zerfaserte, wieder beginnen. Wo? Wie? Das weiß allein Gott! Ich wage es nicht mehr, Mutmaßungen oder Spekulationen darüber anzustellen. Schließlich bin ich genau in dem Moment, als ich den Entschluss fasste, noch ein paar weitere Monate in Paris zu bleiben, in Cagliari gelandet, an diesem entlegenen Winkel der Erde, den ich nie in Betracht gezogen habe, jedenfalls nicht mehr als irgendeinen anderen, wenn ich meinen zerstreuten Blick über die Karte der bewohnten Welt wandern ließ.
Seither ist Schluss mit den Mutmaßungen und Spekulationen.
Etwas jedoch freut mich: Je weiter ich mich von der Vergangenheit entferne, desto stärker formt und festigt sich mein Charakter, wie ich es mir immer gewünscht habe. Was sich in mir herausbildet, ist Eigensinn sowie absolute Unbezwingbarkeit und Geradlinigkeit des Herzens, zwei Eigenschaften, die ich über alles schätze und die bei einer Frau leider so selten sind.
Damit und mit den vier Monaten Wüstenlebens, die in diesem Frühjahr höchstwahrscheinlich anstehen, bin ich sicher, jemand zu werden … und dadurch früher oder später das heilige Ziel meines Lebens zu erreichen: Rache! Wawa hat stets gemahnt, das Vermächtnis zu wahren, das Maman uns hinterlassen hat, ihm, Augustin und mir … Wawa ist tot; Augustin ist dafür nicht geschaffen, und außerdem hat er sich auf ewig dem gewöhnlichen Leben verschrieben … Nur ich bleibe noch.
Glücklicherweise hat mein ganzes früheres Leben, meine ganze Jugendzeit mich erkennen lassen, dass das geruhsame Glück nichts für mich ist, dass ich, einsam inmitten der Menschen, dazu bestimmt bin, erbittert gegen sie zu kämpfen, dass ich sozusagen der Sündenbock bin für all die Unbill und sämtliches Unglück, das die drei Menschen, Mama, Wladimir und Wawa, in den Untergang gestürzt hat.
Ich habe meine Rolle angenommen. Ich liebe sie mehr als jedes eigennützige Glück, und ich werde ihr alles opfern, was mir lieb ist. Dieses Ziel wird auf ewig mein Wegweiser durchs Leben sein.
Ich habe darauf verzichtet, in dieser Welt ein Heim nur für mich allein zu haben, ein home, ein Zuhause, Frieden und Wohlstand. Ich habe mir die oft schwere Kutte des rastlosen Wanderers und Heimatlosen übergeworfen. Ich habe auf das Glück verzichtet, nach Hause kommen zu können, wo geliebte Menschen, Ruhe und Sicherheit auf einen warten.
Im Augenblick, in diesem provisorischen Heim in Cagliari, gebe ich mich von einem zärtlichen Gefühl durchströmt der Illusion hin, einen Menschen bei mir zu haben, den ich wirklich mag und dessen Gegenwart unmerklich zu einer Bedingung für mein Wohlbefinden geworden ist … Doch auch dieser Traum wird nur von kurzer Dauer sein: Für die mühsamen und gefährlichen Reisen muss ich mich wieder in einen Einzelgänger verwandeln und die träge Ruhe des Lebens zu zweit aufgeben.
Das aber muss sein, und es wird sein. Wenigstens wird es in der Nacht eines solchen Lebens tröstlich sein zu wissen, dass mich, wenn auch erst bei meiner Rückkehr, vielleicht noch ein Freund, ein menschliches Wesen erwartet, das glücklich ist, mich wiederzusehen … oder zumindest froh … Nur eines ist schrecklich: das ziemlich lange Getrenntsein lässt Bekanntschaften entstehen … Vielleicht werde ich meinen Platz eines Tages besetzt finden. In Anbetracht seiner Ansichten über Frauen und die Ehe ist das sogar mehr als wahrscheinlich. Es wäre erstaunlich, träfe er nie die Gefährtin, die sie teilt, diese Ansichten, mit denen ich so gar nichts anfangen kann. Oh, ich weiß sehr wohl, dass er diese Gefährtin nicht finden wird, solange er ein Herumirrender und Heimatloser ist, es sei denn, er begnügt sich mit der Gewissheit, dass irgendwo auf der Welt eine Ehefrau sitzt, die, sofern sie ihn liebt, in den Stunden der Gefahr von Ferne und in wohliger Geborgenheit um ihn bangt.
Die aber, die wie ich gerade in den schlimmsten Stunden da ist und sich durch nichts aufhalten lässt, die wird er nicht finden.
Später jedoch, wenn diese Übergangszeit erst einmal vorbei ist, wird ihn genau wie Augustin, wie alle Welt die Sehnsucht nach Ruhe und einem gemütlichen Zuhause packen.
An dem Tag werde ich weiter durch die Welt ziehen können, in der traurigen Gewissheit, das Hotelzimmer, die Hütte oder das Zelt, die mir in meinem Nomadendasein vorübergehend als Obdach dienen, jedes Mal unweigerlich leer vorzufinden. Mektoub!
Genießen wir also den kurzen Augenblick, den Rausch, der bald schon verflogen sein wird … Dieselbe Blüte blüht nie zweimal, und dasselbe Wasser fließt nicht zweimal durch dasselbe Bachbett.
Warum diesem Freund nicht vertrauen? Warum ihn verurteilen, bevor ich ihn überhaupt am Werk gesehen habe, vor allem aber: Warum ihm Meinungen über die Ehe und die häusliche Ruhe andichten, die er gar nicht hat?
Sein Leben wird immer ein Kampf für die edelsten Ziele sein, auf jeden Fall wird er immer der Heiligen Sache des Islam dienen, stets aufrecht, ein Fels inmitten der Hinfälligkeit seiner dekadenten Landsleute.
Nein, heiraten wird er nie. Dennoch wird sein Glück immer darin bestehen, sein heimatloses Haupt an der Brust einer wirklichen Freundin auszuruhen.
Sein Glück wird darin bestehen zu wissen, dass ein anders Herz im Takt mit seinem schlägt, dass er sich verlassen kann auf die Zuneigung einer zärtlichen Seele, der er seinen Kummer und seine Freuden anvertrauen kann. Diese Freundin, dieses Herz, diese Seele, das alles glaubt er in dir gefunden zu haben. Warum also zweifeln?
Warum endet das menschliche Leben nicht wie der Herbst in Afrika, unter einem klaren Himmel im lauen Wind, ganz ohne Gebrechlichkeit und ohne Vorahnung? (Eugène Fromentin, Une année dans le Sahel)
Notiert in Cagliari, am 1. Januar 1900, in einem Augenblick unendlicher Traurigkeit ohne wirklichen Grund.
Cagliari, den 29. Januar 1900
Perchè affrettar l’arrivo
Della giornata negra?
…………………
Ne’ Baci miei t’allegra,
e brevemente vivo !
Der kurze Traum einer ruhigen Besinnung hier in der alten sardischen Stadt, unter dem leicht nachdenklichen, milden Himmel und in dieser durch und durch afrikanischen Landschaft – er ist zu Ende.
Morgen um diese Zeit bin ich schon weit weg von den Felsen Cagliaris, dort hinten, auf dem grauen Meer, das seit Tagen tost und brandet …
Gestern Nacht tönten die Echos von Cagliari im grollenden Donner wider … Heute bietet das Meer einen überaus trostlosen Anblick; es schimmert wie Glas, oder Blei … Alles hier ist vorbei, morgen breche ich wieder auf zu meinem trostlosen Kampf, dem erbitterten Kampf, der sich auf einem seit acht langen Monaten zugeschütteten Grab abspielt, über einem erloschenen Leben, das zum geheimnisvollen Ursprung zurückgekehrt ist …
Heute Abend in der grauen Dämmerung, in unserer geliebten, verwüsteten Hütte, im Durcheinander des Aufbruchs, empfinde ich wieder die tiefe Traurigkeit, die jede Veränderung meines Daseins begleitet, die fortlaufenden kleinen Vernichtungsschläge, die uns unmerklich zur letzten großen Vernichtung führen.
Was wird dieser neue Lebensabschnitt bringen?
Am 30., nachmittags um halb fünf. – Das Schicksal hat meine Abfahrt um ein paar Stunden verzögert. Doch auch der Horizont hat sich verfinstert.
Genf, der 27. Mai* 1900, abends, halb zehn (Sonntag)
Wieder einmal schreibe ich in das traurige Tagebuch den Namen dieser verhexten Stadt, in der ich so gelitten habe, ja, wo ich fast zugrunde gegangen wäre.
Ich bin noch nicht mal eine Woche hier und spüre doch schon die krankhafte Beklemmung von einst, die ich für immer loswerden will.
Unter einem niedrigen, bedeckten Himmel habe ich die unglückselige Bleibe wiedergesehen, verschlossen und stumm, von Unkraut überwachsen, wie versunken in einem verdrießlichen Trauertraum.
Ich habe die Straße wiedergesehen, die weiße Straße, weiß wie ein mattsilbriger Fluss, der zwischen den hohen Samtbäumen pfeilgerade in Richtung des großen melancholischen Jura verläuft.
Ich habe die beiden Gräber wiedergesehen, in der unvergleichlichen Umgebung dieses Friedhofs der Ungläubigen, auf dem Boden der Verbannung, weit weg von jenem anderen, heiligen Hügel der ewigen Ruhe und beständigen Stille …
Ich fühle mich für immer absolut fremd auf diesem Boden, den ich morgen verlasse, in der Hoffnung, niemals zurückzukehren.
Heute Abend unergründliche, unaussprechliche Traurigkeit und eine wachsende Gelassenheit angesichts des unabwendbaren Schicksals …
Welche Träume, welchen Zauber und welche Räusche hält die Zukunft noch für mich bereit?
Welche Freuden … noch ungewiss, und welches nur allzu gewisse Leid?
Und wann wird schließlich die Stunde der Erlösung schlagen, die Stunde der ewigen Ruhe?
Paris, April 1900