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DIE VOLLENDUNG

 

MAURUS FEDERSPIEL

DIE VOLLENDUNG

Erzählungen

 

INHALT

Phantome

Die Ahnengalerie

Die Kanzlei

Der Imitator

Der Wachsame

Der Käufer

Die Vollendung

 

Danksagung

PHANTOME

Es war der einzige freie Platz im Waggon. Ein Zufall also. Oder vielleicht auch kein Zufall: Den Mann umgab eine fast physisch spürbare Aura, eine Hülle der Unnahbarkeit.

Er trug trotz der Wärme im Zug einen etwas abgewetzten Kamelhaarmantel, Lackschuhe mit polierten Schnallen, eine weiße Krawatte. Das Auffälligste an ihm war aber sein Bart: Breite Koteletten, die abrupt in ein schmales, behaartes Band übergingen, das wiederum entlang dem Kiefer zu einem dichten, dunklen, quaderartigen Gewebe führte. Für den Mund war eine schmale Klinse herausgeschnitten, die Lippen sahen aus, als wären sie sorgfältig aufgeklebt worden.

Ich war verblüfft.

„Ist hier frei?“, fragte ich.

Der Mann hatte die Beine übereinandergeschlagen und war dabei, etwas auf einen kleinen Zeichenblock zu kritzeln, und die Hand mit dem Fallminenstift schien sich auf dem Blatt wie ferngesteuert einfach weiterzubewegen, als er zu mir aufsah, mich kurz musterte und „Bitte“ sagte.

Eine tiefe, kehlige Stimme, etwas metallisch. Er zeichnete weiter.

Die Krawatte war, genau besehen, schwarzweiß, aber über dem dunkelblauen Hemd stach vor allem ein senkrechter weißer Streifen vor seiner Brust heraus, wie eine leuchtende Öffnung zu seinem Innersten. Keine, die man berühren wollte, eher eine Schramme, vor deren Empfindlichkeit man zurückschreckte.

Ich setzte mich, meine Zeitschrift in der Hand, neben ihn in das Viererabteil des offenen Waggons. Zwei ältere Damen saßen uns gegenüber und unterhielten sich halblaut. Die Skizze auf seinem Zeichenblock zeigte keine von beiden.

Der Zug fuhr an, es ratterte und holperte etwas, die Bleistiftspitze hielt inne, um dann vom gleichen Punkt aus weitergeführt zu werden, als der Zug die Bahnhofshalle verließ und beschleunigte.

Ich sah mich um, machte die Frau mit den tiefen Augenringen und der weißen Mütze dann im übernächsten Abteil auf der anderen Seite des Mittelgangs aus.

„Gut getroffen“, sagte ich.

Ihre Nase, die Mütze, die abfallende Falte neben dem Mund, der müde Blick der Frau waren sehr genau erfasst, aber er hatte die einzelnen Elemente neu zusammengesetzt; diskret, nicht wie es Picasso mit seinen Geliebten gemacht hatte, deren er überdrüssig geworden war, sondern wohlwollend, so kam es mir vor, das Gesichtsoval war etwas vergrößert, die Augen ein klein wenig gegeneinander versetzt, das Haar schien unter dem Mützenrand zu schweben. Insgesamt schien es, als würde der Frau in der Zeichnung durch die ungezwungene Umsetzung eine Heiterkeit geschenkt, die in ihrem realen Vorbild schlummerte.

Ich erwartete eine abwehrende Reaktion – dass er den Block zuklappen würde vielleicht, weil er es nicht mochte, dass man ihm über die Schulter schaute, oder dass er mich mit kühler Bescheidenheit auf Distanz hielte. Stattdessen sagte er einfach: „Danke“ und neigte die Zeichnung kurz zu mir her, um mich einen genaueren Blick darauf werfen zu lassen.

Mit einer raschen Linie fügte er den Umriss des Sitzes hinzu, wie einen Rahmen, der vom Pompon ihrer Mütze durchbrochen wurde, dann schlug er das Blatt um. Im oberen Drittel der nächsten Seite setzte er einen einzelnen Punkt, dann hielt die Hand mit dem Stift inne.

„Beruf oder Hobby?“, fragte ich.

Er warf mir einen Blick zu, ohne mich anzusehen, drückte auf den Knopf am Stiftende und ließ die Spitze der Mine verschwinden.

„Zeichnen ist mein Beruf“, sagte er. „Seltsam, dass ich bei der Antwort auf diese Frage stocke. Vielleicht weil sie mir missverständlich vorkommt. Die Antwort, meine ich.“

„Inwiefern?“

„Woran denken Sie denn, wenn Ihnen jemand als Zeichner vorgestellt wird?“

Ich rollte meine Zeitschrift zusammen, überlegte. „An Werbegraphik vielleicht. Oder an Hochbauzeichnung. Comics. Natürlich an die Pastellkreidehausierer, die vor einer Kathedrale Touristen verewigen.“

Er warf einen Blick aus dem Fenster auf die Vororte, in denen sich die Stadt hinter uns rasch auflöste, nickte. „Die Zeichnung hat oft etwas Kaltes, Unzweideutiges. Auch Lumpen können zeichnen.“

„Viele Maler waren Lumpen.“

„Das ist eine andere Sorte Lump. Anders als die Malerei hat die Zeichnung gerade wegen ihrer Unzweideutigkeit aber auch etwas Zweckdienliches. Ich bin ein zweckdienlicher Zeichner.“

Die Luft im Waggon war feucht von den regennassen Kleidern der Passagiere. Ich roch Seife, war aber nicht sicher, von wem der Duft stammte.

„Sie sprechen in Rätseln“, sagte ich.

„Sie haben recht. Dabei gehört es eigentlich zu meiner Aufgabe, Rätsel zu lösen.“ Er nahm einen tiefen Atemzug, schien zu überlegen, ob er mir Genaueres mitteilen wollte; aber natürlich konnte er jetzt nicht mehr zurück, ohne sich über Gebühr wichtig zu machen. „Ich bin Phantomzeichner.“

„Bei der Polizei? Interessant.“

„Bei der Polizei“, bestätigte er zögerlich und nickte dabei tief, als würde er sich unter etwas hindurchducken.

„Sie zeichnen also schlimme Menschen.“

„Richtig, schlimme Menschen.“

„Dann wird sich Ihr Zeichenstift bestimmt freuen, wenn er hin und wieder unschuldige und sympathische Zugpassagiere zeichnen darf.“

Er lachte und betrachtete den Fallminenstift, den er zwischen den Fingern hielt. „Vielleicht braucht mein Arbeitsinstrument tatsächlich dann und wann eine kleine Aufheiterung, um bei Laune zu bleiben.“ Er sah mich von der Seite an. „Glauben Sie an das Leben der Dinge?“

„Warum nicht. Ich handle mit Antiquitäten. Und da kommt es mir manchmal vor, als hafte an einem Gegenstand seine Geschichte noch als Erinnerung. An einer Schatulle etwa oder an einem Tisch, an dem Leute zusammensaßen, von denen ich nichts weiß, oder an einem Ring. Man setzt sich an den Tisch oder steckt sich den Ring mit dem Mondstein an den Finger, und schon wehen Stimmungen heran, wie Erinnerungen an andere Orte, andere Menschen. In Ihrem Beruf spielt die Erinnerung auch eine bedeutende Rolle, nicht wahr?“

Er nickte. „Einer Dame wird die Handtasche geraubt. Es dämmert schon, eigentlich spürt sie nur den groben Ruck an ihrem Arm, sie erschrickt, wird herumgerissen, und bevor sie stürzt, erhascht sie einen einzigen Blick auf das Gesicht des Räubers. Dieses Gesicht soll sie mir dann beschreiben. Oder der Mann, der am Rand des Spielplatzes steht und nur aus der Ferne von zwei Müttern bemerkt wurde. Überhaupt, der Fall, wenn ein Täter von mehreren Zeugen gesehen wurde und jeder von ihnen dann seine Kennzeichnung liefert!“ Er schüttelte den Kopf.

„Die Beschreibungen weichen voneinander ab?“, fragte ich.

Die beiden alten Damen uns gegenüber waren verstummt und blickten den Phantomzeichner an. Sie mussten etwas von unserer Unterhaltung mitangehört haben.

Er nickte ihnen freundlich zu, und sie wandten sich wieder einander zu.

„Die Unterschiede in den Beschreibungen sind oft haarsträubend“, bestätigte er. „Und wenn man den Kerl dann erwischt, muss man feststellen, dass drei von drei Zeugen falsch lagen. Natürlich nicht immer. Ich übertreibe. Manchmal ist auch ein guter Beobachter dabei.“

„Das bedeutet natürlich, dass auch ein einzelner Zeuge komplett danebenliegen kann.“

„Sicher.“ Er klang irgendwie zufrieden.

„Aber stellt das nicht die Aufgabe des Phantomzeichners überhaupt in Frage?“

„Tja.“ Er berührte mit dem Ende des Stiftes seine Nasenspitze, merkte wohl, dass er dabei komisch aussehen musste, zeigte mit dem Stift dann ins Ungefähre der lautlos vorbeiziehenden Landschaft, als läge da draußen eine Antwort auf den Einwand. „Da kommt dann das besondere Talent des Zeichners ins Spiel. Haben Sie das Magazin abonniert?“ Er wies auf die Zeitschrift in meiner Hand.

Ich schüttelte den Kopf, entrollte sie und strich sie glatt, um ihm das Titelbild zu zeigen, etwas enttäuscht darüber, dass er so abrupt das Thema wechselte. „Am Kiosk gekauft. Hier.“ Ich reichte ihm das Heft.

Aber er wehrte ab. „Ich lese keine Zeitungen“, sagte er. „Beschreiben Sie mir den Verkäufer.“

„Den Mann am Kiosk?“ Ich rollte die Zeitschrift wieder zusammen, klopfte mit dem Papierrohr in die offene Hand, überlegte. „Schwierig. Hager war er.“ Ich kniff die Augen zusammen, um mir das Gesicht in Erinnerung zu rufen, aber das Wenige, das sich mir zeigte, vermischte sich sogleich mit den Gestalten anderer Leute. „Irgendwie gefällig aussehend, falls das etwas zu sagen hat.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls ist das ein Eindruck, der zurückblieb. Dunkles Haar. Ich glaube, die Lider hingen etwas herunter. Vielleicht waren die Augen blau. Sein Blick ging leer durch mich hindurch, geschäftsmäßig halt.“

Er hatte schon angefangen zu zeichnen. „Glattes oder krauses Haar?“

„Nicht glatt. Nicht glatt.“ Ich war nicht sicher. „Hatte er ein Grübchen im Kinn?“, fragte ich mich selber. „Ich glaube schon.“

„Die Brauen?“

„Nichts Besonderes, würde ich sagen. Nicht sehr buschig, nicht besonders gewölbt oder dergleichen. An seine Hand kann ich mich erinnern, als er mir das Wechselgeld reichte. Aber das nützt nichts, oder?“

„Was war es denn für eine Hand?“ Die Skizze schien sich sehr rasch zu formen.

„Knotig, sehr schmal, mit krummen Fingern.“

„Aha.“ Ich war nicht sicher, ob er sich über mich lustig machte. Er zeichnete einfach weiter. „Hervortretende Wangenknochen?“, fragte er. „Das muss man bei einer hageren Figur annehmen, nicht wahr?“

„Ja. Ja, bestimmt.“

„Ich will Ihnen nichts in den Mund legen. Lassen Sie sich von mir nicht beeinflussen.“ Das klang eingelernt.

Er stellte mir noch zwei oder drei Fragen, und ich versuchte, so genau wie möglich darauf zu antworten, aber ich war nicht sicher, ob er mir richtig zuhörte. Er schien ganz auf seine Arbeit konzentriert zu sein.

Ich fügte an: „Die Lippen waren ziemlich breit, fällt mir gerade ein. Ja, da bin ich mir ziemlich sicher.“

„Mhm.“ Er schraffierte, strichelte, zog da und dort eine Linie doppelt nach, wirkte gedankenverloren. Plötzlich hielt er inne, besah die Zeichnung, indem er sie ein Stück weit von sich weghielt, und streckte sie mir dann hin. „So?“

Das Männergesicht auf der Zeichnung hatte kein Kinngrübchen, und die Lippen waren eher schmal. Andererseits hatte der Phantomzeichner ihm Züge gegeben, die ich bestimmt nicht erwähnt hatte – weil sie mir gar nicht in Erinnerung gewesen waren: Die Augen standen etwas schräg, und die Stirn war übermäßig hoch, die Kopfform ziemlich spitz. Aber genau so hatte der Kioskverkäufer ausgesehen.

„Das ist … erstaunlich“, sagte ich.

Der Phantomzeichner lächelte zufrieden.

„Aber woher wussten Sie, dass …“ Ich wusste nicht, wie ich fragen sollte.

„Man muss sich manchmal über die Aussagen der Zeugen hinwegsetzen. Jedenfalls darf man sich nicht immer auf den Nennwert des Gesagten verlassen. Es gilt, zwischen die Worte hindurchzuspähen auf das eigentliche Bild, das im Gedächtnis haften blieb.“

„Aber wie geht das?“, fragte ich.

Er neigte seinen Kopf hin und her, sagte: „Berufserfahrung.“ Und dann: „Vielleicht gelingt es mir manchmal, einen Blick zu erhaschen auf den Projektionsvorgang im Inneren des Denkapparates oder so.“ Er schlug das Blatt mit der neuen Zeichnung um und steckte den Block und den Stift dann in die Ledermappe, die an sein Bein gelehnt auf dem Boden gestanden war. „Erzählen Sie mir etwas von sich. Sie sind also Antiquitätenhändler?“

„Antiquitätenhändler klingt groß. Es ist nur ein erfreuliches Hobby, das mir gelegentlich etwas Geld einbringt. Aber das ist reine Glückssache.“

„Das klingt sehr bescheiden.“

„Es stimmt. Wenn ich etwas ankaufe, dann nicht mit dem Kalkül, es gewinnbringend weiterzuverkaufen. Ich habe auch keinen bestimmten Käufer im Sinn oder dergleichen. Ich kaufe, was mir gefällt. Ich reise viel. Eigentlich sind es eher Streifzüge, die ich unternehme. Und hier und da treffe ich in einem Trödelladen eben auf ein Fundstück, das mich begeistert. Es ist seltsam, meistens weiß ich schon vorher, dass mich etwas erwartet. Ich fühle ein Kribbeln, wie ein dünner elektrischer Kriechstrom, und dann weiß ich schon: Jetzt verliebe ich mich gleich. In einen Beistelltisch mit eingelegtem Bandelwerk. Oder in ein Paar Kaminböcke. Oder in eine lächerliche kleine Jardinière mit schwarzen Tauben und Kränzen auf senfgelbem Grund, Sie wissen schon, einen Blumenbehälter.“ Wirklich ergriff mich sogar, während ich jetzt davon sprach, wieder die heitere Erregung, die ich verspürt hatte, als ich die Schale in einem Kellerlager entdeckte.

„Gerade in französischen Altwarenstuben finden sich nach wie vor bisweilen vergessene und verstaubte kleine Schätze. Und dann hat es sich eben oft so ergeben, dass ich für die jeweilige Trouvaille auch einen interessierten Käufer fand. Günstige Zufälle eben. Meine Exfrau ist zu Besuch und sagt, ah, die Kommode würde wunderbar ins Haus ihrer Cousine passen oder so. Und so kommt es zum Geschäft.“

„Verstehe“, sagte der Phantomzeichner. „Sie scheinen vom Glück begünstigt zu sein.“

„Nicht in jeder Hinsicht.“

„Gescheiterte Ehe?“

„Zweimal.“ Ich räusperte mich.

„Kinder?“

„Zwei Töchter. Von jeder Frau eine.“

„Das ist Glück.“ Er sah aus dem Fenster. „Wir konnten keine Kinder haben.“ Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder; fragte nicht nach.

Er wandte sich wieder mir zu. Mir fiel auf, dass seine Nasenflügel ungleich groß waren; die krumme Linie der Nase glich aber diese Disharmonie aus. „Verstehen Sie sich gut mit den Müttern?“, fragte er.

„Ja, selbst wenn ich nicht weiß weshalb. Auch die beiden Frauen waren Trouvaillen. Aber ich war zu unstet. Vielleicht bin ich es noch. Wissen Sie, da ich es mit einem Phantomzeichner zu tun habe – vielleicht bin ich selbst eine Art Phantom. Verraten Sie mir übrigens Ihren Namen?“ Ich rückte etwas zurück, um ihm meine Hand anbieten zu können.

Er zögerte, betrachtete meine Hand irgendwie erstaunt, dann ergriff er sie. „Freiling heiße ich.“

Ich nannte ihm meinen Namen.

Er sah mich prüfend an, dann nickte er. „Sie sagten, Sie hätten das Gefühl, selber ein Phantom zu sein?“

Ich zuckte mit den Schultern. „So könnte ich mir vorkommen, wenn ich mich aus der Perspektive meiner beiden Exfrauen betrachte. Ich tauchte auf, zog weiter. Sie blieben.“

„Und bekamen ein Kind.“

„Das ist natürlich sehr verkürzt ausgedrückt. Aber ich entstammte nicht dem gleichen Milieu wie die beiden, wir hatten keine gemeinsamen Bekannten.“

„Milieus können sich ja berühren. Oder verschmelzen“, wandte Freiling ein.

„Ich befürchte, mein Milieu besteht nur aus mir allein. Irgendwie bin ich aus allen Zusammenhängen herausgeglitten. Sehr sanft übrigens. Aber ich scheine zeitweilig unsichtbar geworden zu sein. Ich fiel aus dem Krankenversicherungssystem heraus. Während zweier Jahre bekam ich keine Steuererklärung zugestellt, das Amt hat auch nicht nachgefragt.“

„Das ist ein Wunder.“ Freiling lächelte.

„Manchmal öffnen sich Schiebetüren vor mir nicht. Als würde die Fotozelle mich nicht wahrnehmen. Und im Verkehr muss ich höllisch aufpassen. Oft wird mir die Vorfahrt verweigert.“

„Es sind auch viele schlechte Autofahrer unterwegs.“

„Sie haben recht. Womöglich bilde ich mir da auch etwas ein. Jedenfalls fahre ich lieber mit der Bahn, da fühle ich mich sicherer.“

„Ein Phantom also.“ Er strich sich das Barthaar an seinem Kinn glatt. „Vielleicht vertraut man sich einem Unsichtbaren ja leichter an. Und ich lasse mich dazu hinreißen, eine Zeichnung anzufertigen … Ich wundere mich über mich selber.“ Er schüttelte den Kopf.

Eine Zeit lang sagten wir beide nichts, sahen nur aus dem Fenster.

Der Schaffner trat heran, prüfte die Fahrkarten der beiden Damen gegenüber, wartete, bis Freiling etwas umständlich seine Brieftasche hervorgezogen hatte. Mich beachtete er nicht.

Als er sich den Passagieren auf der anderen Seite des Mittelgangs zuwandte, flüsterte ich Freiling zu: „Sehen Sie?“

Er stutzte, grinste dann, während er seine Brieftasche verlangsamt wieder einsteckte, sagte: „Tatsächlich.“

Der Schaffner rückte weiter vor.

„Sie hätten also gern Kinder gehabt“, sagte ich.

Freiling schien die Frage sogar erwartet zu haben. „Manchmal stelle ich mir vor, wie sie wohl ausgesehen hätten.“ Er schloss die Augen, öffnete sie wieder. „Einmal zeichnete ich sie mir sogar. Ein Junge und ein Mädchen. Sobald ich ihre Namen wusste, waren auch die Gesichter da.“

„Sahen sie Ihnen ähnlich? In der Zeichnung?“

Er wirkte überrascht. „Ich glaube, ja.“ Die Hände im Schoß zog er die Schultern hoch in einer überraschend kindlichen Schutzhaltung. Er war mir sympathisch, stellte ich fest. „Da bin ich meiner Eigenblindheit ausgeliefert. Sie verstehen, dass ich die Zeichnung meiner Frau nicht gezeigt habe.“

„Gewiss.“

Er ließ die Schultern wieder sinken. Etwas Unsichtbares berührte uns beide, ging wieder.

Die Dame mir gegenüber stand auf und ging zur Toilette. Wir schwiegen, bis sie zurückkam und ihre Begleiterin zu einem Kaffee in den Speisewagen einlud. Sie nahmen ihre Mäntel, nickten uns zu und verschwanden.

Freiling sah ihnen nach, dann rutschte er in seinem Sessel etwas zur Seite, um mir einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Er pochte mit dem Daumennagel ein paarmal hell gegen seine Schneidezähne.

„Was machen Sie denn in der Stadt?“, fragte er und zeigte in die Richtung hinter uns, wo unser Zielbahnhof lag; wir saßen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung.

„Ich besuche einen Bekannten, der einen Haufen altes Zeug von seiner Großmutter geerbt hat. So hat er es ausgedrückt, ein Haufen altes Zeug. Beschrieben hat er mir am Telefon eine hölzerne Madonna. Spätgotisch, würde ich vermuten. Das Kind halte einen goldenen Apfel in der Hand.“ Ich fasste mich kurz; es war nicht, worum es Freiling ging.

Er nickte. Schließlich sagte er mit gedämpfter Stimme: „Darf ich Ihnen etwas erzählen? Sie wissen ja, der Trost von Fremden …“

Ich machte eine aufmunternde Geste.

„Sehen Sie, die Zeichnungen, die ich … Es ist mir gelungen … Stellen Sie sich doch einmal vor, dass …“ Er setzte noch einmal neu an. „Der Reihe nach.“ Er schloss die Augen, öffnete sie wieder. „Es war so: Vor einiger Zeit kam mein Schwager zu uns zu Besuch. Der Bruder meiner Frau also. Er ist Musiker. Klarinettist. Ein etwas sperriger Mann. Fein im Gehör, aber vielleicht gerade deshalb leicht auffahrend. Einige Jahre älter als meine Frau. Älter auch als ich selber. Wir saßen bei Tisch, er musste schon einige Gläser getrunken haben, ohnehin neigt er dazu, vor sich hin zu stieren und zu reden, ohne viel Rücksicht zu nehmen auf seine Zuhörer. Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag ihn. Aber vielleicht mag ich ihn nicht, wie man einen Freund mag, dem man auf gleicher Ebene begegnet, sondern wie ein Mitgeschöpf, jemanden, den man wegen seiner Eigentümlichkeiten schätzt, seiner Kanten, seiner Besonderheiten wegen, die manchmal auch kurios sein mögen. Und genau darum ging es bei seiner Rede, um Freundschaft. Er erzählte uns nämlich in ungewohnter Offenheit, dass ihm ein Freund fehle. Er wollte nicht zugeben, dass er einsam sei, und vielleicht ist er es auch nicht, denn an Bekannten fehlt es ihm durch seine Arbeit im Orchester nicht, auch hat er, soviel mir bekannt ist, zwei gute Freunde. Den einen kenne ich, es ist ein ehemaliger Schulkamerad von ihm, heute Apotheker. Vom anderen weiß ich nur aus Anekdoten. Trotzdem meinte er, dass ihm ein Freund fehle, ein dritter Freund. Er sagte, er spüre die Lücke, in die dieser Unbekannte hineinpassen würde. Ich hakte nach. Meistens lasse ich ihn einfach reden und hüte mich, ihn durch Fragen weiter anzuregen, aber in diesem Fall wollte ich mehr wissen.“

„Ihre Arbeit.“

„Richtig. Ich fragte ihn also, wie diese Lücke denn beschaffen sei. Ob er Genaueres dazu zu sagen wisse. Wie sich das Fehlen denn anfühle. Und mein Schwager begann, die Lücke zu beschreiben. Er hätte gern jemanden, mit dem er am Montagnachmittag Schach spielen könnte. So spezifisch fing er an. Etwas unreif vielleicht, aber warum nicht. Und dann: Manchmal spüre er, dass Dinge in ihm gesagt werden wollten, aber keiner stelle ihm die entsprechenden Fragen, und deshalb wisse er gar nicht, was da in ihm schlummere, ohne Frager könnte er nicht antworten. Er erinnerte sich an einen Freund aus Kindertagen, einen Jungen, der ihn um einen halben Kopf überragte und der ihm allein deshalb eine Empfindung von Sicherheit vermittelte. Manchmal sei ihm danach, spätnachts noch jemanden anzurufen, ohne besonderen Anlass, also nicht im Notfall. Seine beiden anderen Freunde würden ihm das nicht übel nehmen, aber es seien eben keine spätnächtlichen Freunde. Ich war übrigens durchaus erstaunt über die Feinfühligkeit seiner Beschreibung. Jedenfalls ging es so weiter. Einige der Elemente waren ganz klar und konkret, andere nur vage angedeutet, imaginiert. Es war, als bilde sich eine Art Kontur heraus, die Lichtung einer menschlichen Gestalt, die genau in die beschriebene Lücke passen musste. Ich glaube, mein Schwager bemerkte gar nicht, dass ich anfing zu zeichnen, wir saßen nebeneinander am Tisch, aber sein Blick ging unbestimmt in die Ferne. Ich hatte ohne besondere Absicht angefangen, die ersten Striche blieben unbestimmt und ziellos. Tatsächlich war ich mit der Aufmerksamkeit beim Bericht meines Schwagers, der fehlende Freund faszinierte mich. Aber ehe ich es mich versah, fing sich unter meiner Hand etwas zu formen an. Und je länger er erzählte, umso deutlicher ging es voran. Ein Gesicht. Keine Abstraktion, sondern ein ganz bestimmtes Gesicht. Schließlich ertappte ich mich dabei, dass ich meinem Schwager nicht mehr zuhörte, ich wusste genug, es ging nur noch darum, die Person auf dem Papier fertig zu zeichnen, die Augen, klein, das schüttere Haar, die Lachfalten neben dem Mund. So.“ Freiling zeichnete schwungvoll in die Luft, um mir die Klarheit zu illustrieren, die er an dem besagten Abend verspürt hatte. „Und dann hatte ich da diesen Jemand.“ Er betrachtete die imaginäre Zeichnung vor sich, schüttelte leise den Kopf.

„Ein bestimmter Jemand“, sagte ich.

„Das Konterfei eines Mannes. Niemand, den ich kannte. Niemand, den ich je gesehen hatte. Einfach jemand.“ Er rieb sich die Hände. „Der Abend ging bald zu Ende. Meine Frau war müde, ich hatte mich aus dem Gespräch zurückgezogen. Mein Schwager trank bald aus und stand auf. Aus irgendeinem Grund fragte er mich, was ich denn da gezeichnet hätte. Ich sagte spontan: ‚Deinen Freund‘, und drückte ihm die Zeichnung in die Hand. Er betrachtete den fremden Mann, lächelte schief, faltete das Blatt zusammen und steckte es ein. Das war’s.“

„Das war’s?“

„Ich vergaß den Abend. Bis …“ Freiling atmete durch, hob die Schultern, wie um etwas zu entschuldigen, das er noch gar nicht gesagt hatte. „Bis er mich ein paar Wochen später anrief. Er war ganz außer sich und sagte: ‚Ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gesehen.‘ Zuerst dachte ich, er meine den flüchtigen Verbrecher, von dem ich ein paar Tage zuvor eine Skizze angefertigt hatte. Das wäre ja Zufall genug gewesen. Aber dann erzählte er mir, dass er auf dem Weg zur Orchesterprobe war, als ihn auf der Straße jemand um Feuer bat. Er ist Nichtraucher, konnte nicht aushelfen. Der Mann ging weiter, mein Schwager blieb verdutzt stehen, zuerst wusste er nicht, wo er ihn schon einmal gesehen hatte, er meinte, vielleicht sei es ein berühmter Schauspieler oder dergleichen, jemand, den er aus der Zeitung kenne. Und dann dämmerte es ihm.“

„Der fehlende Freund aus Ihrer Zeichnung“, sagte ich.

„Der … Freund. Genau. Es war der Mann aus meiner Zeichnung. Das behauptete mein Schwager zumindest. Sie können mir glauben, dass ich skeptisch blieb. Ich vermutete eine zufällige Ähnlichkeit. Das sagte ich auch, als sich seine Aufregung allmählich legte. Aber er blieb ganz entschieden. Fast wütend. Ich müsse das selber sehen, sagte er, dann würde ich staunen. Mein Schwager hatte kurz gezögert, dann war er dem Mann gefolgt, obwohl er befürchten musste, zu spät zur Probe zu kommen. Er verlor ihn in der Menge, ging wohl ein Stück auf der falschen Straßenseite, erblickte ihn dann auf der gegenüberliegenden Ecke einer Kreuzung, rauchend, durchquerte den Verkehr, holte seinen Rückstand fast auf – das erzählte er mir alles sehr detailliert –, und sah gerade noch zu, wie der Mann seine Zigarette austrat und in einem Haus verschwand. In der Nähe dieses Hauses befindet sich ein Straßencafé, dorthin bestellte mich mein Schwager für den nächsten Tag. Um die Uhrzeit der Begegnung am Vortag saßen wir zwei Stunden lang dort und beobachteten den Hauseingang. Der Mann erschien nicht, ich zog wieder ab. Das war im vergangenen Frühjahr. Es war noch frisch, und ich holte mir prompt eine Erkältung. Mein Schwager setzte sich auch an den zwei nächsten Tagen wieder in das Café, ohne Erfolg. In dem nämlichen Haus befanden sich eine große Anwaltskanzlei und eine Zahnarztpraxis. Vielleicht war der Mann nur wegen einer losen Füllung da gewesen.“

Ich setzte an, etwas anzumerken, aber Freiling hob abwehrend die Hand und fuhr fort: „Warten Sie. Die Geschichte geht weiter. Kennen Sie diese neu gestaltete Parkanlage am See? In der Nähe dieser riesigen Skulptur, auf der die jungen Sportler herumturnen?“

„Ich war noch nicht da, aber ich weiß, wo sie ist.“

„Da stehen jetzt auch ein paar kleine Betontische mit eingelegten Schachbrettern. Im Sommer war mein Schwager offenbar ein paarmal da, um zu spielen. Und da traf er ihn wieder.“

„Ein Schachspieler?“

Freiling nickte, scheinbar selber noch immer halb ungläubig. „Der Mann ist Schachspieler. Mein Schwager muss ziemlich aufgeregt gewesen sein, als er ihn plötzlich so nah vor sich sah. Jedenfalls verlor er die ersten drei Spiele gegen ihn ruckzuck. Aber ich mache es jetzt kurz. Er entschuldigte sich, rief mich an, wollte mir sogar das Taxi bezahlen, und tatsächlich kam ich gerade noch rechtzeitig an, um den Mann zu sehen, bevor er sich verabschiedete. Ein seltsamer Moment, das kann ich Ihnen versichern – jemanden im Fleisch zu erblicken, den man, nun, aus der Fantasie gezeichnet hat. Es war nämlich keine bloße Ähnlichkeit, keine äußerliche Verwandtschaft in diesem oder jenem Detail: Der Mann sah exakt so aus, wie ich ihn gezeichnet hatte. Exakt.“

Ich nickte. „Und wie ging die Geschichte weiter?“

„Nun, die beiden haben sich tatsächlich angefreundet. Genau wie mein Schwager begeistert sich der Mann ebenfalls für Palestrina. Und er ist sehr groß gewachsen. Die beiden treffen sich alle ein, zwei Wochen einmal, spielen Schach, diskutieren über Politik, was weiß ich. Er hat zwei Kinder, für die sich mein Schwager aufrichtig zu interessieren scheint, das ist ungewohnt, man entdeckt da eine ganz neue Seite an ihm.“

Ich schwieg, sah Freiling von der Seite an. Er erwiderte meinen Blick nicht.

„Sie sind nicht glücklich mit dem Ausgang?“, fragte ich.

„Ich bin nicht glücklich mit dem Fortgang. Mein Schwager fing an, die Sache weiterzuerzählen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Anfragen bei mir eintrafen. Anfragen von Fremden also, die ebenfalls glaubten, dass ihnen ein Freund oder eine Freundin fehlte. Man bot mir Geld dafür an, dass ich die Fehlenden zeichnete, ziemlich viel Geld sogar. Warum also nicht? Ich war ja selber neugierig. Und wie Sie sagten, möchte der Stift ja nicht immer Schurken zeichnen. Ich besprach die Angelegenheit mit meiner Frau, sie hatte keine Einwände. Schon bald standen die ersten privaten Kunden in unserer Wohnung. Die Atmosphäre ist eine ganz andere als bei der Verbrecherjagd, aber hier gilt es noch mehr, einen umsichtigen Umgang zu pflegen mit dem Klienten.“

Ich sagte: „Man macht sich schwach, wenn man diese Lücke preisgibt, wo einem jemand fehlt. Die Sehnsucht nach einem Freund ist so intim. In Fragen der Freundschaft sind wir vielleicht noch ungeschickter als in Fragen der Liebe. Oder ungebildeter.“

„Ich weiß nicht, wie geschickt ich darin war, diesen Suchern den passenden Raum zur Verfügung zu stellen. Seelisch gesprochen. Ich zweifle daran, dass sie sich bei mir wirklich aufgehoben fühlten. Oder verstanden, angenommen.“

„Sie verwenden die Vergangenheitsform nicht zufällig, oder?“

Freiling schüttelte den Kopf. „Die Sache ist vorbei. Ich hatte fünf Klienten, denen ich ihre fehlenden Freunde zeichnete. Es funktionierte kein einziges Mal mehr.“

„Es funktionierte nicht mehr? Lag es an den Zeichnungen? Oder ließ sich das Gegenstück zur Zeichnung nicht aufspüren?“

„Weder noch. Ich habe mit einer Gewissheit gezeichnet, die ich bei der Arbeit als Phantomzeichner so nicht kannte. Und das Resultat war einwandfrei. In aller Bescheidenheit.“ Er strich sich die Krawatte auf der Brust glatt. „Und es gelang sogar, die Fehlenden aufzuspüren. Obwohl das in keinem der Fälle so einfach war wie bei meinem Schwager. Einer meiner Klienten reichte eine Kopie der Zeichnung an all seine Bekannten weiter mit der Bitte, ihm bei der Suche behilflich zu sein. Und eine Dame gab sogar eine Annonce in der Zeitung auf mit dem Bild der gesuchten Freundin in spe. Ohne meine Einwilligung, wohlgemerkt.“

„Und?“