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Hagar Peeters

Malva

Aus dem Niederländischen
von Arne Braun

 

 

 

 

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Diese Publikation wurde gefördert durch den
Nederlands letterenfonds / Dutch Foundation for Literature

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Originalausgabe: © 2015 Hagar Peeters.

Ursprünglich erschienen bei De Bezige Bij, Amsterdam

 

Bibliografische Information

der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2018

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Stine Wiemann

ISBN (Print)978-3-8353-3341-3

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4293-4

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4294-1

INHALT

Malva

Dankwort

Anmerkung der Übersetzerin

Verflucht, mein Vater war immer der Erste,

wenn es um Unrecht ging.

Er war Weggenosse, Mitbeweger

auf den Wellen der Geschichte, beschrieb sie

mit sicherer Hand, kugellos standhaft

wagte er sich in nebelhafte Städte in der Ferne,

ferner als das Hemd und als der Rock,

den meine Mutter hochzog,

um mich zu gebären.

 

Verdammt, mein Vater, auf den ich so stolz war,

dass ich ihm nachfolgen wollte,

ein Fellowkindlein klein;

selbst auf seinem Knie reiste ich hopsasa

auf einem Kamel durch die Wüste mit der Karawane,

weit fort von ihr, die noch jahrelang

barmend in ihrem Schlafzimmer lag,

wo kein Auge zu, kein Tageslicht hinein durfte,

keine Außenluft, kein Ausland

und kein Vatergesicht, um stärker zu verblühen

als durch meine Geburt.

 

Doch mein Vater, ay ay compañero, fand in Chile,

Nicaragua, auf einem Dampfer über den Ozean,

im Knast in Bolivien mit Bart, Messer und Hut,

die Welt sei zu klein für ihn,

und sie zog allein ein ganz neues Leben groß.

 

Meine Fußspuren schmelzen im Schnee.

Sie verwandeln sich in die eines unbeabsichtigten Tiers

und verschwinden plötzlich auf halbem Wege.

1

Mein Name ist Malva Marina Trinidad del Carmen Reyes, für meine Freunde hier Malfje; Malva für alle anderen. Zu meiner Rechtfertigung kann ich vorbringen, dass ich mir diesen Namen natürlich nicht selbst ausgedacht habe. Das hat mein Vater getan. Du kennst ihn, den großen Dichter. So wie er seinen Gedichten und Gedichtbänden Titel gab, so gab er mir einen Namen. Aber nie hat er ihn in der Öffentlichkeit genannt. Mein ewiges Leben begann nach meinem Tod 1943 in Gouda. Bei meiner Beerdigung war nur eine Handvoll Menschen zugegen. Ganz anders als bei der Beerdigung meines Vaters, dreißig Jahre später in Santiago de Chile.

Auf eine Weise, von der sich Sokrates noch eine Scheibe hätte abschneiden können, entschlief mein Vater im Santa-Maria-Krankenhaus in Santiago, nachdem die Hysterie gedämpft worden war, die ihn nach dem Hören von so viel menschenunwürdigem Unrecht ergriffen hatte, dass er, der immer freundlich und ruhig gewesen war und selbst unter den grausigsten Umständen einen kühlen Kopf bewahrt hatte, in Tiraden und verzweifeltes Geschrei ausgebrochen war, kurzum: getobt hatte wie ein Besessener, aber da war schon der Doktor im weißen Kittel gewesen, der ihn mit einer Beruhigungsspritze sediert hatte, und der süße Schlaf, in den er daraufhin geglitten war, machte einen ellenlangen Schlenker und wurde zu einer Rutschbahn, die kein Ende nahm, und so spürte mein Vater in seinem Bauch, wie die herrliche Abfahrt begann, während er in Wirklichkeit in die Regionen des Jenseits aufstieg, wo ich ihn noch lange nicht treffen werde, wo er sich aber sehr wohl befinden muss, denn das Jenseits ist groß, und außerdem war er mausetot, was die Ärzte am nächsten Tag übereinstimmend feststellten anhand des fehlenden Pulsschlags und in Anbetracht der unverkennbaren Tatsache, dass auch seine Augen geschlossen blieben und sich nichts, aber auch gar nichts mehr an ihm bewegte; kein Windhauch ging mehr durch diese Glieder, die stocksteif blieben, als wären Sonnenfinsternis und tiefster Winter im selben Moment schlagartig eingebrochen.

Ich habe diesen Satz absichtlich in die Länge gezogen, um während seines Verstreichens meinem Vater Zeit zu geben, in aller Ruhe das Leben zu verlassen und in den Tod einzutreten.

Den Verlust hatte seine Witwe Matilde Urrutia zu beklagen. Sie verneigte sich vor dem Toten, küsste seine Hände, tastete auf dem Boden neben dem Bett nach dem aus seiner Hand geglittenen Füllfederhalter, fand ihn schließlich, als sie schon auf Knien saß und die Arme unter das Bett streckte, woraufhin sie die Krankenschwester anknurrte, ihr einen Besen zu bringen, damit sie das Ding zu sich heranziehen konnte, sie steckte sich den Füller hinters rechte Ohr unter eine lässig fallende Haarlocke, schelmische, unverbesserliche Patoja, und nahm sich vor, später seine Erinnerungen damit abzuschreiben und danach auch die eigenen an ihr gemeinsames Leben.

Auf halbem Wege seiner langwierigen Reise ins Totenreich beschloss ich, meinen starrsteifen Vater zu begleiten. Ich ergriff die Hand, mit der er nahezu sein ganzes Leben lang geschrieben hatte, und so schwebten wir ein Stück zusammen hinauf über den Dächern eines schwelenden Santiago. Der Präsidentenpalast, der Park, das Stadion, die Elendsviertel mit den Arbeitern und der Fluss Mapocho waren alle weit unter uns. Mein Vater sah nicht nur, wie seine Freunde zu Tode gefoltert wurden, sondern auch, wie sich in der Tiefe unter ihm der Trauerzug fortbewegte, der ihn zu seiner steinernen Ruhestätte begleitete und der nun wie ein lebendiger menschlicher Nebenarm des Mapocho durch die Straßen strömte, während im Fluss selbst zahllose Leichen trieben.

Von weit her hörten wir aus dieser Richtung Parolen, die Internationale, den Schlachtruf der kommunistischen Jugend und halb verweht, aber gerade noch erkennbar: »¡Camarada Pablo Neruda! ¡Presente! ¡Ahora y siempre!«

Und überall sahen wir Schatten aus den Gebäuden und dem Stadion und von den Feldern und dem Hafen aufsteigen, die sich wie wir in die leeren Lüfte erhoben.

Ich glaube übrigens nicht, dass mein Vater mich an seiner Seite bemerkte, obwohl ich die ganze Zeit seine Hand festhielt. Er blickte unverwandt nach unten, als versuchte er, sich die menschliche Tragödie einzuprägen, die dort in all ihren Akten aufgeführt wurde. Jetzt und immer. Der Wind, Zustand seines Fiebertraums, schien mehr Gewalt über ihn zu haben als über mich; er stieg schneller auf. Da ließ ich ihn los, ihm noch eine Weile nachstarrend, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden war.

Nirgends sah ich Federico, weder Salvador, noch Miguel, noch Víctor. Niemanden von der ausgelassenen, stetig anwachsenden, sich nie lichtenden, nach und nach ganze Weltteile umfassenden, ja, schließlich sogar die ganze Erde umspannenden Clique, die ihn immer und überall umgeben hatte, nicht einmal ein einziger seiner ergebensten Leser war posthum erschienen, um dem Übergang meines Vaters ins Jenseits beizuwohnen. Ich fragte mich die ganze Zeit, warum gerade ich von allen Toten, die ihn gekannt hatten, ihm das Geleit geben durfte.

Jetzt verstehe ich, dass es so war, damit ich dir davon erzählen kann.

Ich staunte noch über diese unaufhaltsame Menschenmenge, die sich am 25. September 1973 in Santiago de Chile aus allen Ecken und Winkeln dem Trauerzug meines Vaters anschloss, als ich plötzlich deinen Vater in der Tiefe unter mir erblickte. Du glaubst mir vielleicht nicht, aber wirklich, Hagar: Da war er, der großgewachsene Niederländer, mitten in dieser anschwellenden Menge von Lebenden, die anfangs ein paar Hundert Menschen zählte, schließlich jedoch auf Tausende Seelen anwuchs. Was dachtest du denn sonst, warum ich dich ausgewählt habe, um dir meine Geschichte zu erzählen? Er war wachsam. Den Schreibblock hatte er geöffnet, mit seinem Stift notierte er alles, blieb aber dabei auf der Hut, dass er nicht von einem der alles mit Argusaugen observierenden carabineros herausgegriffen würde.

Was er damals aufschrieb, ist erhalten geblieben, in der rührenden selbsterfundenen Geheimsprache, die er verwendete, um sich aus der Schlinge ziehen zu können, falls er doch verhaftet werden würde, wie es ihm in Bolivien schon einmal ergangen war. Unter Diktator Ovando hatte er einige Jahre zuvor wegen angeblicher Kontakte zu Guerilleros drei Wochen lang in den Gefängnissen von La Paz und Oruro geschmachtet. Aus meinen himmlischen Höhen beugte ich mich über die Hieroglyphen, die dein Vater nun dort in Chile dem Papier anvertraute und deren Bedeutung sich mir sofort erschloss.

Nachdem ich seine Worte in mich aufgenommen hatte, ließ ich auch deinen Vater gehen und schwebte allein weiter, dem Trauerzug unter mir folgend wie ein Kondor einer Kolonne Kaninchen. Ich sah wieder Matilde, la Patoja, auf ihren krummen Beinchen laufen: mutig, entschlossen und kurz davor, in einer tiefen Trauer zu versinken, die Tropfen für Tropfen in ihre Seele einzusickern begann, so wie der ewige südliche Regen durch das Leck im Zinkdach ihres ärmlichen Elternhauses in Chillán eingedrungen war.

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Nun war la Patoja, wie mein Vater diese letzte seiner drei Ehefrauen liebevoll nannte und was im chilenischen Spanisch »die Krummbeinige« bedeutet, auch wenn er genauso gern »Lockenköpfchen« oder »Wirrköpfchen« sagte, ganz und gar nicht auf den Kopf gefallen! Das »wirr« von »Wirrköpfchen« bezog sich bei ihr ausschließlich auf die Frisur, nicht auf den Kopf wie bei mir. Da der Zustand des Haars veränderlich ist, unabhängig vom Kopf selbst, war dessen Unordnung kein Mangel, sondern weckte zärtliche Gefühle in ihm. Morgens beim Aufwachen (ich befand mich schattenhaft in einer Nische, Voyeurin ihres Glücks), wenn er sie fragte: »Faule Patoja, wie lange schläfst du noch?«, glichen diese kupfernen Strähnen Strohhalmen und Zweigen, mit denen er ihr Liebesnest bereitete. Er war so damit beschäftigt, die Locken dieser Person zu streicheln, um den Finger zu wickeln, in ausgefallene Formen zu drapieren und zu liebkosen, dass es einem mittelalterlichen Mönch die Worte entlockt haben würde: »Alle Vögel haben ihre Nester begonnen, außer ich und du. Worauf warten wir noch?« Das Warten half übrigens nichts, mein Vater und Matilde haben nie gemeinsame Kinder bekommen. Ich bin die einzige Nachfahrin, die mein Vater jemals hervorgebracht hat.

Dass mein Vater la Patoja so geliebt hat, lag natürlich daran, dass ihr Haar die Farbe von Kupfer hatte und Kupfer eines der nationalen Produkte Chiles ist und mein Vater vernarrt war in Chile. Er hegte eine Hassliebe zu diesem Metall, weil es sich in den Händen der Anaconda Copper Mining Company befand, die jeden Cent, den sie mit dem Verkauf dieses Edelmetalls einstrich, in die eigene amerikanische Tasche fließen ließ. Dadurch wurde der arme Chilene um keinen ebenso kupferfarbenen Cent reicher, sein Leben blieb karg wie die Erde der nördlichen Wüste. Die Nationalisierung dieser von großen ausländischen Unternehmen einkassierten urchilenischen Produkte, mit der gerade unter einer neuen Regierung so tatkräftig begonnen worden war, hatte zum Staatsstreich geführt. Die multinationalen Konzerne, unterstützt von den Vereinigten Staaten, die ein zweites Kuba fürchteten, halfen dem niederträchtigen General in den Sattel, und die Junta zwang den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende daraufhin, sich das Leben zu nehmen – was, ob direkt oder indirekt sei dahingestellt, zum Tode meines Vaters führte. Die Hassliebe zu dem Edelmetall tat der reinen Liebe meines Vaters zu Matilde jedenfalls keinen Abbruch.

Seine erste Ehefrau – meine Mutter – war noch eine exotische Ausländerin gewesen, eine Niederländerin aus Batavia; seine zweite, die wagemutige Delia, war für meinen Vater schon weniger fremdartig gewesen, denn sie kam aus Argentinien; und schließlich hatte er sich also diese letzte Gefährtin geangelt, wobei zu ihren Gunsten sprach, dass sie ebenso wie er mit der Kälte und der Armut und dem unaufhörlichen Regen des ländlichen Südens von Chile vertraut war.

Offenbar gefiel sie ihm mit all ihrem Nestgeruch und ihrer kupfernen Glut, denn er hatte sie an seinem Haken gelassen, bis der Tod seinen eigenen schwarzen Nagel stattdessen einschlug. Und nun fürchtete sie, dass der Tod, in den der Schlaf meines Vaters nahtlos übergegangen war, kein natürlicher gewesen war. Nein, es hatte nicht den geringsten Blutspritzer gegeben, kein Tröpfchen war zu sehen gewesen! Dieser Tod war so perfekt, so clean; er hinterließ keine Schmutzstreifen, sorgte dafür, dass seine Finger hinterher blitzsauber waren, so dass es keinerlei Beweis für Absicht gab. Die Beruhigungsspritze, die meinem Vater von einem Doktor im weißen Kittel so professionell verabreicht worden war, hatte vielleicht Gift enthalten, und darum ist ein Vergleich des Todes meines Vaters mit dem des Philosophen Sokrates, der den Schierlingsbecher gereicht bekam, weil er die Jugend mit seinen frechen, aber allzu glaubwürdigen Reden gegen die Regierung aufgehetzt haben soll, weniger weit hergeholt, als man auf den ersten Blick denken mag. Auch mein Vater war vielleicht ermordet worden, weil man fand, dass er die Jugend, und übrigens auch die Erwachsenen, gegen die Regierung aufhetzte.

Selbst wenn es kein echtes Gift war, wie Ausgräber und Untersucher des Leichnams meines Vaters in einem anderen Zeitalter meinen feststellen zu können, so war es doch das Gift der Zeit und der Ereignisse, das ihn, den an Prostatakrebs leidenden Dichterriesen, unerwartet fällte.

Dies geschah unter der Junta von General Augusto Pinochet, der in den siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine Schreckensherrschaft über Chile führte, die einen Teil der Bevölkerung zu Mördern und den anderen zu Märtyrern machte, so mühelos, wie ein Kupferschmied oder ein Gott seine Figuren im Feuer des Kampfes zu verschiedenen Formen schmiedet.

La Patoja, jämmerlich allein auf Erden nun, die Witwe meines Vaters, unermüdliche Hüterin seiner Träume und seines Ansehens, wird sich nach seinem Tod als Schutzheilige seines Erbes betrachten. Sie wird die Früchte seines literarischen Schaffens an die Ewigkeit weitergeben. Ehemalige intellektuelle Freunde überlassen ihr diese Aufgabe umso ruhigeren Gewissens, weil sie sich unter dem neuen Regime plötzlich von diesem Kommunisten Neruda distanzieren wollen, während ich – die wahre Frucht aus Fleisch und Blut, wenn auch inzwischen in einen Schatten verwandelt – bekümmert mitansehe, wie sie ihr Zepter über seine Seiten zu schwingen beginnt und ihnen einen Stempel aus rotem Nagellack und widerlich süßem Parfüm aufdrückt; wie sie Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen in meines Vaters Leidenschaft verschweigt oder schlechtmacht, zwischendurch hinter ihrem Rücken betriebene und jetzt ans Licht gekommene Affären unter den Teppich kehrt und die große Liebe zwischen ihr und meinem Vater in astrale Höhen hochhimmelt.

Sogar noch höher hinauf als die Toten gelangen können, himmelt sie diese Liebe zwischen ihr und meinem Vater. Das weiß ich jetzt als Tote und schreibe es als Tochter, der Vaterliebe versagt geblieben ist. Als Allwissende werde ich natürlich vermelden, dass Matilde Urrutia ihre Aufgabe als heimliche Herausgeberin der Memoiren meines Vaters versiert erledigen wird, obwohl ich darin mit keiner Silbe erwähnt werde. Du musst mir diese beiden Seiten in mir verzeihen; es bleibt verwirrend, eine vergessene Verstorbene und zugleich eine allwissende Weiterlebende zu sein.

Ich beschreibe dir dies übrigens alles mit dem Füllfederhalter meines Vaters. Wie es dazu gekommen ist, erzähle ich dir später.

 

2

Die Malve ist eine Blume, eine schöne Blume, und die Meeresmalve ist eine besondere Blume, weil sie in Chile am Meer wächst, dem Ort, den mein Vater am meisten geliebt hat. Darum wählte er diesen Namen für mich und natürlich auch, weil seine Mutter Rosa hieß, denn so war ein Blumenname für seine Tochter gewissermaßen auch eine Ehrerweisung an seine Mutter. Er hatte sie nie gekannt, weil sie bereits zwei Monate nach seiner Geburt starb, zu geschwächt vom Wochenbett, um der Tuberkulose gewachsen zu sein. Die Stiefmutter, die für ihn sorgte, von ihm liebevoll mamadre genannt, hieß Trinidad Candia Marverde. Er liebte sie so sehr, dass er auch sie mit meinem Namen ehren wollte; Malva klingt entfernt auch ein wenig wie Marverde, und mein dritter Name ist Trinidad.

Manche meinen, dass mein Vater für sein Gefühl immer eine Halbwaise geblieben ist und dass ihn dies daran hinderte, ein ganzer Vater zu sein. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Aber nach der Malve benannt war ich jedenfalls. So schön diese Blume ist, so hässlich war ich.

Weißt du, warum die Malve in den Niederlanden auch »Käsekraut« heißt? Die Früchte dieser einjährigen Pflanze haben die Form von kleinen Käselaiben! Sie sind rund und an den Seiten abgeplattet wie bei einem echten Gouda. Der Zufall will es zudem, dass ich, 1943 schon, in Gouda begraben worden bin, und mein Kopf hat genau die Form der Frucht, die an der Malve hängt. Das kann mein Vater, der große Poet, doch nicht vorhergesehen haben, als er diesen Namen für mich wählte, um mich damit zu schmücken? Im Großen Pflanzenbuch steht, dass die Malve aussieht, als ob sie zwar großartig gedacht gewesen, aber irgendwo auf der Strecke jämmerlich gescheitert sei, und damit trifft das Große Pflanzenbuch den Nagel auf den Kopf. Womöglich habe ich mich ja unbewusst diesem Namen entsprechend verhalten und er ist Wirklichkeit geworden wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Noch ein wenig besser hätte vielleicht sogar Malva neglecta gepasst; die unansehnliche Stiefschwester der gewöhnlichen Malve, eine Art Aschenputtel unter den Blumen. »Kleines Käsekraut« ist der wunderbare niederländische Name für die Malva neglecta; im Englischen nicht weniger prächtig: Ignored mallow.

So wie die Malva neglecta weiße Blütenblätter hat, so trug ich während meines kurzen Daseins auf Erden hauchfeine weiße Kleidchen und ein weißes Strickmützchen. So glich ich selbst einer Blume und mein Kopf dem überdimensionalen Kelch, der sich hinter den Blättern verbarg. Gibt es ein treffenderes Bild für ein Mädchen, das mit acht Jahren an einem Wasserkopf starb, das zu Lebzeiten von seinem chilenischen Vater, einem Dichter, verstoßen wurde und das in Gouda begraben ist?

Die Blütezeit der Malve ist kurz. Oft wächst sie am Wegrand, wie Unkraut. Es ist eine bekannte Eigenschaft von Unkraut, dass es unausrottbar ist und darum das ewige Leben hat.

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Ich bin, trotz der Durchsichtigkeit meiner Schattengestalt, beim Erzählen rot geworden, das spüre ich. Du, die das alles für mich aufschreibt, kannst es nicht sehen, aber ich merke, wie meine Wangen glühen vor lauter Eifer. Ich fühle mich schon fast wieder lebendig werden, denn mir wird bewusst, wie sehr die Macht der Feder uns ins Schlepptau nimmt, und immer mehr gebe ich mich der Beseelung ihrer Schnörkel und Schwünge hin, die den Spuren von Eiskunstläufern auf dem Eis gleichen. Ich lasse mich mitreißen von einer herrlichen Geschwollenheit, die in mir aufwallt. So sehr schwillt meine Brust an, dass es scheint, als ob sie sich wieder voll Sauerstoff saugen würde und mich fast doch noch zu meinem Vater tragen könnte. Ich muss aufpassen, dass ich nicht über meine Worte stolpere. So viel habe ich zu erzählen über die Zeit, in der ich auf Erden war und keine Sprache zur Verfügung hatte, und über diesen Moment, in dem ich alles mitteilen will, was ich auf dem Herzen habe.

Ich! Erzähler! Allwissend! Haha! Wenn mein Vater das hören würde, würde er ausrufen: »Dass ich nicht lache!« Er würde doch noch wissen, wie ich auf Erden aussah? In den ersten Jahren nach meiner Geburt kannte er mich noch. Er nannte mich in Briefen, nicht zur Veröffentlichung bestimmt, einen »Vampir von drei Kilo«, eine »Blutsaugerin«, »ein Ungeheuer«, »das Monster«, »un ser perfectamente ridículo« – »ein vollkommen lächerliches Wesen«, dank meines unansehnlichen Körpers und meines riesigen Kopfes. Er – der Sprachfürst – nannte mich ein »Semikolon«!

Heute weiß ich natürlich, dass er das alles nicht wirklich so gemeint hat, dass er es nicht wirklich boshaft schrieb, sondern der schönen Blonden, der er diese Worte quasi lakonisch mitteilte, die ironische Distanz vorspielte, die von Frauen eines gewissen Alters und einer gewissen Schönheit an bestimmten Männern so geschätzt wird.

Auf jeden Fall erwies er mir einen Dienst damit, und das behaupte ich jetzt ohne Ironie. Für diese letzte Charakterisierung bin ich ihm dankbar; das Semikolon ist schließlich mein Lieblingssatzzeichen; oben Punkt und unten Komma ist es von allen Satzzeichen das zwiespältigste und daher passendste, das es gibt.

Aus meines Vaters Beschreibung von mir als »vollkommen lächerlichem Wesen« spricht große Zwiespältigkeit, denn vollkommene Lächerlichkeit ist ein Paradox; die Lächerlichkeit ist per definitionem unvollkommen, aber ich war so lächerlich, dass ich in dieser Lächerlichkeit schon wieder vollkommen wurde.

Das Semikolon ist das Symbol der Ambivalenz schlechthin – einerseits das Definitive des Punkts und andererseits das Komma der Fortsetzung – und wird mit dieser Doppelherzigkeit der Doppelherzigkeit des Lebens selbst ebenso gerecht wie meinem Gefühl gegenüber meinen Erzeugern; in mir kommen ihre beiden Versionen zusammen, die einander ausschließen, jedoch nichtsdestotrotz beide gültig sind, weil es sie nun einmal beide gegeben hat, und denen ich daher beiden gerecht werden muss.

Der Tod ist ein Punkt, o gewiss, aber ein Komma zeigt, dass noch mehr kommt, es relativiert den Punkt; während der Punkt das Freischwebende des Kommas bremst, es stabilisiert.

Wenn es nach dem Komma ginge, käme nie ein Ende; nach einem Komma folgte noch eins und so weiter bis ins Unendliche. Und der Punkt würde mit allem zu schnell kurzen Prozess machen. Der Punkt wäre zu sehr überzeugt, absolut im Recht zu sein, wenn er ganz allein stünde. Das Semikolon ist wie Yin und Yang, wie die Gegenpole, die in ein und demselben Symbol verbunden sind, und das Schwarz enthält immer ein Pünktchen Weiß, so wie das Weiß eine Spur Schwarz enthält, weil nichts definitiv, nichts absolut ist.

In Worten lässt sich das Semikolon durch »kurzum« ersetzen, und darin steckt ein Verweis auf das Messen. Kurzum; ein besseres Zeichen ist mir unbekannt, die ich an so viele Gesetze von Zahl und Maß gebunden bin, ihnen zugleich unterworfen wie ihrer enthoben, so dass dieses Zeichen mir wirklich auf den Leib geschrieben ist. Wegen all dessen betrachte ich es als einen Segen, dass, wie mein Vater behauptete, das Semikolon charakteristisch ist für die Gestalt, die ich auf Erden war, mit meinem kleinen Körper wie ein Komma, ein krummer Strich, ein gewundener Wurm, und mit meinem immer mehr anschwellenden Schädel wie ein grotesker Punkt, der sich selbst entstieg und dem Himmel entgegenwuchs; jenem einen großen, mich nun doch beherbergenden Jenseitshimmel.

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Das Semikolon ist vom Aussterben bedroht, da heute fast niemand mehr weiß, wo er es setzen muss, und daher ist es gegenüber den anderen Satzzeichen im Nachteil, genau wie ich als Mensch gegenüber meinen Mitmenschen benachteiligt war.

Außerdem ist es die Aufgabe des Semikolons, an einer Stelle im Satz zu stehen, der sowohl Text vorangeht als auch folgt. Das Semikolon ist ein Tor, ein Trichter gleichsam; was davor steht, wird danach noch einmal knapper, aber prägnanter formuliert. Oder umgekehrt: Was davor in ein paar Worten abgetan wird, wird danach ausgewalzt, ausgearbeitet und ausführlich erläutert. Eigentlich ist der Teil nach dem Semikolon die Zusammenfassung dessen, was davor so weitschweifig behauptet wurde. Oder es ist die illustrierte Version des dort so sparsam Aufgezeichneten.

Genau das ist auch meine Funktion hier! Wie der Kondor, der nach der Mythologie der Andenbewohner auf Erden fauliges Aas frisst und danach aufsteigt zu den Bergen, wo die Götter und allwissenden Geister hausen – wie ein Botschafter zwischen diesen Göttern und der Erde –, so markiere ich das Tor zwischen dem tristen Leben, das meinem Tod vorherging, und der glänzenden Geschichte, die ich nach meinem Tod daraus gemacht habe; als kurze, aber prägnante Zusammenfassung oder als ausführliche, aber immer relevante Randbemerkung. Und ich tue es speziell für meinen Vater, der mich im Leben verleugnete. Damit er es weiß. Oder wenigstens die Welt.

Plötzlich überfällt mich ein Gefühl der Scham. Ich muss daran denken, was ein Freund hier mal zu mir gesagt hat: dass ich mich abmühe, mich posthum noch bei meinem Vater einzuschmeicheln, und dass das ein lächerliches, fruchtloses Streben sei. Daniel sagte das, du wirst ihn noch kennenlernen. Er fand, ich würde mich schon die ganze Zeit selbst zum Narren halten. Es sei alles vergeblich. Die Liebe meines Vaters würde ich damit seiner Meinung nach doch nicht zurückgewinnen. Es wecke nur falsche Hoffnungen, dieses Bewusstsein im Jenseits; es sei ein einziger großer Aufschub, um nicht akzeptieren zu müssen, dass Geschehenes sich nicht ungeschehen machen lässt, dass ich im Leben meines Vaters keine Rolle gespielt habe. Ich würde ihm nie näherkommen können, nie. Auch jetzt nicht, nach dem Tod. Die ewige Erkenntnis, die mir hier zugefallen sei, verlängere meine Selbsttäuschung nur, und daher werde es Zeit, definitiv von meinem Vater Abschied zu nehmen, so wie es seine frischgebackene Witwe notgedrungen getan habe. Okay, okay, das mache ich.

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Aber zuerst erzähle ich noch ein bisschen weiter. Da ich ›die Feder‹ nun einmal in die Finger bekommen habe, gebe ich sie so schnell nicht wieder her.

Ich zog den Vergleich zwischen meinem Vater und Sokrates noch aus einem anderen Grund. So schwer man verstehen kann, dass dieser Philosoph in der ersten Demokratie der Welt, nur weil er seine Meinung äußerte, den Schierlingsbecher gereicht bekam, so schwer ist es auch zu begreifen, dass der Dichter, der sich mit seiner Sympathie für die Benachteiligten brüstete, seine eigene Tochter wegen ihrer Missbildung verstieß und verschwieg.

Der Titel der Memoiren meines Vaters, die seine Witwe nach seinem Tod veröffentlichte, lautete: Ich bekenne, ich habe gelebt.

Er schon.

Der ihrer eigenen: Mein Leben mit Pablo Neruda.

Ihres schon! Ihres schon! Ach, das mit dem Nagellack und den widerlich süßen Parfüms ist übrigens nicht wahr; sie war vor allem eine Frau von Rosenduft und Mondenschein, wie ich nun weiß.

Hör zu. Da war der Abend, nicht lange vor seinem Tod, an dem la Patoja und mein Vater vereinbarten, dass ich nicht erwähnt werden sollte.

Es spielte sich so ab: Sie sitzt auf dem Rand seines Krankenbetts. Sie flüstert mit neutraler Stimme, als zeigte sie ihm nur eine Blume für einen von ihnen zusammenzustellenden Strauß: »Malva?«

Ein paar Sekunden schaut er sie an und alles Mögliche spukt ihm durch den Kopf, aber dann schlägt er die Augen nieder. Da war mein Vater, einst Brot und Erde für meine Hände und meine Füße, er, der alles gewesen war, das es zwischen mir und dem Horizont gegeben hatte, alles, wonach ich aus meiner Wiege gegriffen hatte, zu jemandem geworden, dem der Horizont nur noch dazu diente, den Kopf in dessen Richtung zu schütteln (ich sah seine Wangen in einem visuellen Echo entgegen der Bewegung schwingen), als man ihm die Frage stellte, ob er die Existenz der eigenen Tochter in seinen Memoiren erwähnen werde. In alle Richtungen, in die er an diesem Abend den Kopf bewegte, war er gegangen. Er hatte den ganzen Horizont gehabt, und mehr.

 

3

Meine Eltern heirateten am 6. Dezember 1930 in Batavia. Meine Mutter glich einem Albatros in ihrem weißen Plisseerock, weit über ihre Hüften fallend, und mit ihrem breiten weißen Schlapphut. Meinem Vater, der Albatrosse sehr liebte, entging diese Ähnlichkeit auch nicht. Er dachte an den Albatros von Baudelaire und nahm an, dass diese große, linkische Frau, von den Flügeln der Leidenschaft ergriffen, rank und graziös durch den Himmel der Zukunft fliegen werde, mit ihm an ihrer Seite. Und später, viel später, bei ihrem Aufbruch aus Batavia und der langen Seereise, die damit einherging (das graubraune Kielwasser des Schiffes wie die ranzige Schleppe eines Brautkleids, Möwen, die ihnen hinterherjohlten), kam ihm das Bild vom Albatros wieder in den Sinn. Jetzt war sie nicht mehr der Albatros von Baudelaire, sondern der des alten Seemanns von Coleridge, das gelehrige Tier, das der Seemann erschoss, weil ihm die ewig kreisenden Bewegungen und das ständige Herumgeflattere vor seiner Nase auf die Nerven gingen.

Aber von diesem Albatros war noch keine Spur am Himmel zu entdecken an diesem Nachmittag des 6. Dezembers, als die Sonne ihnen ihre Schatten zu Füßen legte. Da waren sie noch abgelenkt durch die kleinen irdischen Bekümmernisse, wie das Aufnehmen des Hochzeitsfotos (ach, hätte dieser erwartungsvolle Moment nur genauso lange gewährt wie die Verewigung ihres Bildnisses). Einen Viertel Kopf größer als mein ohnehin schon fast einen Meter achtzig messender Vater, musste meine Mutter ein wenig in die Knie gehen. Vielleicht hält sie ihn deshalb so krampfhaft fest.

Diese Umarmung wurde sowohl später von voreingenommenen Biographen als auch damals von tratschenden Zeitgenossen als besitzergreifend beschrieben: »Als ob sie sie endlich unter Dach und Fach habe, ihre fette Beute, den Konsul!« So tratschten die bösen Zungen des batavischen Bürgertums schon seit vielen Jahrhunderten.

Meine Mutter konnte es kaum erwarten, diese erstickende Umgebung so schnell wie möglich hinter sich zu lassen, und zwar zusammen mit ihrem funkelnagelneuen Ehemann, in den sie so vernarrt war. Überall trug sie sein Foto mit sich herum. Überall krähte sie jedem zu, der nur in der Nähe war: »Er ist ein Konsul! Ein echter Konsul!«

Mein Vater war seinem eigenen Vater, dem launischen Lokführer eines Schotterzugs, noch nie so ähnlich gewesen wie in diesem Moment; als wäre die ganze Hochzeit veranstaltet worden, um meinen Großvater in Temuco günstig zu stimmen. Fügsam stand er am Arm seiner Ehefrau, sein Gesicht ebenso unergründlich wie eine javanische Maske.

Mein Großvater selbst stammte aus Belén, Kurzform von Bethlehem, einem unansehnlichen und auf keiner einzigen Karte verzeichneten Nest im äußersten Süden Chiles. Mitten im Wald, eingeklemmt zwischen Ozean und undurchdringlichen Bergketten, war es die Wiege des Geschlechts Reyes – dessen Sprösslinge auf groteske Namen wie Amós, Oseas, Joel und Abadías hörten – und als solche der Inbegriff des Archaischen; so rückständig, bäurisch und unwissend waren sie alle aus Schande und verhohlenen Tabus hervorgegangen, dass der Wald eher Zuflucht und Mutter war als Erholungsgebiet.

Was dachtest du, warum mein Großvater so viel Wert auf die Solidität meines Vaters legte? Weil er diese selbst nicht hatte aufbringen können, natürlich! Der eine Bruder meines Vaters war der Sohn meines Opas und der Frau, die später die Stiefmutter meines Vaters wurde, den er aber mit dieser zukünftigen Stiefmutter gezeugt hatte, noch ehe seine Frau meinen Vater zur Welt gebracht hatte; und um die Geschichte noch komplizierter zu machen, war die Schwester meines Vaters wiederum die Tochter derselben Stiefmutter, aber von einem anderen Mann. Sofern es überhaupt erklärt werden konnte, so durfte doch mit keinem Wort darüber gesprochen werden.

Sich vor all diesen unaufgeklärten und tabuisierten Fehltritten verkriechend, die ihn zu Hause wie auf Eiern gehen ließen, um die Bombe, die sein Vater war, nur nicht zum Platzen zu bringen, flüchtete mein Vater in den Wald. Hier bestaunte er Käfer und Blumen, geheime Kleinode im Staublicht und dem einfallenden Sonnenlicht, das durch den dichten Bewuchs drang, um ihm einen Platz zu verschaffen, wo er in Gedanken versinken konnte und sich seinen Träumereien hingab.

Dort war es, wo der erste Vers seiner Brust entblühte und sein Herz zu melancholischer Größe anschwoll.

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Ich sehe ihn als kleinen Jungen in diesem riesigen Wald sitzen. Er hat gerade durch einen Sonnenstrahl, der auf seine Hand gefallen ist, die Poesie entdeckt. Er merkt, wie in ihm widerhallt, was da draußen ist. Wie war es möglich, dass er, dieser Schöpfer, der so mit allem um ihn herum verbunden war, eine Missgestalt hervorbringen würde?

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So groß wie das Tabu um den Bruder und die Schwester meines Vaters, so groß war später das um mich, seine Tochter. Es war sogar so wenig über mich bekannt, dass die Who’s Who’s der Weltliteratur, wenn ich schon vorkam in den eintönigen Lemmata, die meinen Vater behandelten, höchstens hier und da einen Griff ins Blaue taten; die meisten nannten mich überhaupt nicht; manche behaupteten fälschlicherweise, ich hätte das Downsyndrom gehabt, andere zu Unrecht, ich sei bei einem Bombenangriff während des Zweiten Weltkriegs in Europa ums Leben gekommen, und in den wenigen Fällen, da sie meine Mutter erwähnten, schrieben sie ihren Namen aus vollkommener Gleichgültigkeit falsch: Antonieta María Aagenar Vogelzanz statt Maria Antoinette Hagenaar (oder kurz: Marietje; und das, was als Vogelzang gelten sollte, war der Familienname meiner Großmutter, und der Familienname der Mutter der Mutter wird im Niederländischen nicht genannt).

Alles Übrige in Bezug auf meinen Vater ist bekannt. Darüber ist schon mehr als genug geschrieben worden, so dass ich mir die Mühe spare, diese Schilderungen zu wiederholen. Ich werde dir stattdessen etwas über die Familie meiner Mutter erzählen, über die noch nichts bekannt ist (mein aus Loyalität gedrilltes Gefühl für Gleichberechtigung will ich bis in jede Faser eines jeden Buchstabens pumpen, hinab bis auf die Ebene des Kommas und hinauf bis zu den Gipfeln der Anden).

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Einmal gewann meine Mutter in Niederländisch-Indien bei einem Schulwettbewerb eine Laterna magica. In den Wochen danach saß sie zusammen mit ihren Brüdern gebannt vor der Wand, an die die Märchenbilder gezaubert wurden wie moderne, westliche Wayang-Vorstellungen. Ich habe noch versucht, in der Zeit zurückgehend, zu dieser Schattenwelt durchzudringen, um sie vor den Gefahren zu warnen, die auf sie lauerten, aber jedes Mal, wenn sie ängstlich zu weinen begann wegen der Schlagschatten, die ich auf ihren Lebensweg warf, kam meine Großmutter herein, um ihr zu sagen, dass sie keine Angst haben müsse, dass es nur ein Kinderspielzeug sei.

Die Familie meiner Mutter hatte sich dort zweihundert Jahre zuvor niedergelassen. Es begann mit unserem Stammvater, dem späteren Generalgouverneur von NiederländischIndien, Jeremias van Riemsdijk (Utrecht, 1712 – Batavia, 1777), der am 25. Februar 1735 von Delft aus mit dem Schiff »Proostwijk« den Ozean nach Niederländisch-Indien überquerte, um innerhalb der VOC blitzschnell Karriere zu machen. Er sorgte dafür, dass sein neunjähriger Sohn, der Ururgroßvater meines Opas, zum Glück ohne dass das Kerlchen dafür irgendeine Gegenleistung erbringen musste, auf der Lohnliste der VOC landete, setzte damit einen neuen Trend fort und sicherte das Familienkapital für die künftigen Generationen.