Deutsche Erstausgabe (ePub) September 2018
Für die Originalausgabe:
© 2017 by Heidi Cullinan
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Shelter the Sea«
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 by Cursed Verlag
Inh. Julia Schwenk
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit
Genehmigung des Verlages.
Bildrechte Umschlagillustration
vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock
Satz & Layout: Cursed Verlag
Covergestaltung: Hannelore Nistor
ISBN-13: 978-3-95823-716-2
Besuchen Sie uns im Internet:
www.cursed-verlag.de
Aus dem Englischen von Anne Sommerfeld
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Klappentext:
Emmet und Jeremey sind ein glückliches Paar – trotz der Probleme, die ihre Einschränkungen im Alltag mit sich bringen. Doch Emmets Autismus und die Verschlimmerung von Jeremeys Depressionen sind nicht das Einzige, womit sie zu kämpfen haben: Die staatlichen Behörden sind im Begriff, ihnen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zu nehmen. Emmet, Jeremey und ihre Freunde müssen nun alles daran setzen, für ihr Zuhause und ihre Freiheit zu kämpfen, denn für sie steht alles auf dem Spielt: ihre Zukunft.
Widmung
Für alle, die auf See verloren sind.
Mögt ihr bald auf den Wellen tanzen.
Danke an
Rebecca Lee für die Hilfe bei den Assistenzhunden und dass du eine meiner besten Freundinnen bist, Nikki Hastings fürs Beta-Lesen und dass du eine meiner liebsten Social-Media-Inspirationen bist, Dan Cullinan, weil du der beste Assistent bist, den ich je hatte, Anna Cullinan, weil du die hauseigene Cheerleaderin dieses Buchs warst und mich bis zur Ziellinie getrieben hast, Stephen Blackmoore und Kari für ihren Kurzauftritt und dass ihr Emmet und Jeremey zum Strand gefahren habt (kauft Stephens Bücher!) und all meine Follower bei Patreon, vor allem regencyfan93, Kelly Marilly Gonzalez, Sadie B, Katie M, Jennifer Harvey, Erin Sharpe, Sarah M, Sarah Plunkett, Ashley Dugan, Rosie M, Karin Wollina und Pamela Bartual.
Alle Flüsse fließen ins Meer, aber das Meer wird nicht voll.
– König Salomon
Emmet
Mein Freund Jeremey denkt, dass der Mond wie eine Wassermelone aussieht.
Er hat es an dem Abend gesagt, als wir meine Tante zu Weihnachten besucht haben. Meine Tante, die in Minneapolis wohnt, nicht die aus Ames, obwohl Althea an diesem Abend auch da war. Tante Stacy hat ein Teleskop, das ich benutzen durfte, um Jeremey den Mond aus der Nähe zu zeigen. Ich zählte gerade die Namen der Meere und Krater auf, als er sagte, woran ihn der Mond erinnerte.
»Er sieht aus wie eine Wassermelone.«
Ich versuchte zu verstehen, wie der Mond einer Wassermelone ähneln konnte, aber es gelang mir nicht. »Jeremey, er ist nicht mal grün.«
»Aber er hat diese Linien wie bei einer Wassermelone, die alle am selben Punkt beginnen, diesem Stummel, wo der Strunk sein würde, und dann ziehen sie sich über die ganze Frucht. Siehst du? Die Stelle dort. Die helle dort unten.«
Er überließ mir das Teleskop. Trotzdem konnte ich keine Wassermelone erkennen. »Das ist Tycho. Es ist ein Krater.«
»Wie der Spielzeughersteller?«
»Nein. Den Spielzeughersteller schreibt man T-y-c-o. Den Krater schreibt man T-y-c-h-o, wie den niederländischen Astronomen. Es besteht eine siebzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass er durch den Asteroiden 298 Baptistina entstanden ist, den man auch für das Aussterben der Dinosaurier verantwortlich machte. Jetzt haben sie aber herausgefunden, dass er es nicht war.«
»Für mich wird er jetzt immer eine Wassermelone sein. Aber ich werde daran denken, dass der Strunk Tycho heißt.« Jeremey lehnte sich an meine Schulter und betrachtete den Mond ohne das Teleskop. »Ich wusste gar nicht, dass es auf dem Mond so viele Meere gibt. Ich dachte immer, dass es da oben überhaupt kein Wasser gibt.«
»Nicht auf der Oberfläche. Die Sonnenstrahlen haben alles Wasser verdunsten lassen, aber es wurde vermutet, dass es sich noch im Mondgestein befindet. Kürzlich hat man jedoch Eis auf der Oberfläche gefunden.«
»Warum suchen Wissenschaftler auf dem Mond und anderen Planeten immer Wasser?«
»Weil es das grundlegende Element ist, um menschliche Besiedlung möglich zu machen. Unglücklicherweise sieht es für die Besiedlung des Mondes nicht so gut aus.«
»Aber es gibt doch diese ganzen Meere auf dem Mond. Heißt das, dass es dort mal Wasser gegeben hat?«
»Nein. Das sind die sogenannten Maria des Mondes, Basaltebenen. Die ersten Astronomen glaubten, dass es sich um uralte Meere handelte, aber in Wirklichkeit sind sie durch uralte Vulkanausbrüche entstanden.«
Jeremey legte seinen Kopf fester auf meine Schulter und hörte zu, also sprach ich weiter. Ich erzählte ihm vom Mondstaub, der die gesamte Oberfläche des Mondes bedeckte und dadurch entstand, dass Kometen auf die Oberfläche trafen. Fünf Tonnen Staub hoben und senkten sich jeden Tag und es dauerte zehn Minuten, bis sich der Staub wieder gelegt hatte.
Jeremey schüttelte den Kopf. »Was meinst du damit, dass er zehn Minuten braucht, um sich zu legen? So lange dauert es, bis er auf dem Boden aufkommt?«
»Nein. Er schlägt auf und hebt sich wieder, aber da die Schwerkraft so gering ist, braucht der Staub fünf Minuten, um aufzusteigen und fünf Minuten, um sich wieder zu legen. Das bedeutet, dass auf dem Mond ununterbrochen im Durchschnitt etwa einhundertzwanzig Kilogramm Staub hundert Kilometer über der Mondoberfläche aufsteigen.«
»Wow. Du weißt wirklich viel über den Mond.«
Ich wusste noch viel mehr, als ich bis jetzt erzählt hatte und als ich ihm das sagte, bat er mich, ihm auch den Rest zu erzählen. Wir blieben eine weitere Stunde sitzen, in der ich ihm alles erzählte, was ich wusste, bis meine Stimme ganz rau war und ich etwas zu trinken brauchte. Jeremey ging nach drinnen und holte mir ein Glas Wasser und dann redete er, während ich trank.
»Es ist so komisch, dass der Mond all diese Meere und doch kein Wasser hat. Die Namen sind so hübsch. Ich finde die lateinischen fast am schönsten, weil sie so geheimnisvoll klingen. Mare Nubium. Obwohl Wolkenmeer auch hübsch klingt.« Er schlang die Arme um seinen Oberkörper. »Gibt es auf der Erde Orte, die man Meer oder Ozean nennt und in denen es kein Wasser gibt?«
»Manchmal nennt man die Wüste ein Sandmeer.«
»Das klingt irgendwie traurig.«
Er wiegte sich vor und zurück und ich wippte und summte mit ihm, weil ich so zufrieden war. Dann sprach er erneut und seine Stimme war leise. »Ich hab deine Mom drinnen reden gehört. Über das The Roosevelt. Bob macht sich Sorgen ums Geld.«
Ich hörte auf zu wippen, doch in meinem Inneren fühlte sich alles durcheinander an. Das tat es immer, wenn dieses Thema aufkam. Das The Roosevelt war der Ort, an dem Jeremey und ich lebten, und Bob war der Eigentümer des Gebäudes. Bobs Sohn David war einer unserer besten Freunde. »David würde es uns sagen, wenn etwas nicht in Ordnung wäre. Bob hat eine Spendensammlung für Silvester organisiert.«
»Deine Mom macht sich Sorgen, dass es nicht reichen wird. Nicht mit den Kürzungen, die der Staat vorsieht, und der Art, wie das System für psychische Krankheiten umstrukturiert wird.« Jeremey schlang die Arme fester um sich selbst. »Ich will das The Roosevelt nicht verlieren.«
Ich wollte das The Roosevelt auch nicht verlieren. Ich glaubte allerdings nicht, dass es eine gute Idee war, sich Sorgen zu machen. »Warum warten wir nicht, bis wir mit David gesprochen haben? Es gibt nicht viel, was wir von hier aus tun können. Wir sollten den Mond genießen und daran denken, wie langsam sich der Staub hebt und senkt.«
Und genau das taten wir und ich bemerkte, dass Jeremey sich entspannte. Als er das nächste Mal etwas sagte, ging es um den Mond und nicht um die Angst, unser Zuhause zu verlieren. »Manchmal sagen wir, dass Menschen ein Meer aus Gefühlen haben. Was heißt Meer aus Gefühlen auf Latein?«
»Mare Adfectus. Und Sandmeer würde Mare Harenam heißen.«
»Mir gefällt Sandmeer auf Latein besser. Aber am meisten gefällt es mir, dir zuzuhören, wie du mir alles über die Mondmeere erzählst. Selbst wenn sie aus Salz bestehen.«
»Basalt ist kein Salz. Es ist ein Siliziumoxid.«
»Kannst du mir alles über Basalt und Siliziumoxide erzählen?«
Ich konnte es und ich tat es.
Die meisten Menschen wollten nicht zuhören, wenn ich über die Dinge sprach, die ich wusste, aber die meisten Menschen waren nicht Jeremey. Es macht ihm nichts aus, dass ich autistisch bin. Er sagt, dass es eine seiner Lieblingseigenschaften an mir ist. Er sagt, dass mein Autismus manchmal die beste Medizin für seine Depressionen und Angstzustände ist, was der Grund war, warum wir überhaupt erst zum Teleskop aufs Dach gegangen waren. Jeremey wurde im Haus meiner Tante nervös und er hatte mir erzählt, dass er seit ein paar Tagen depressiv war. Seit ein paar Monaten war er mehr als die Hälfte der Zeit depressiv und um ehrlich zu sein, war es egal, wie sie seine Medikamente einstellten oder wie oft er seinen Therapeuten Dr. North sah. Depressionen und manchmal auch Angstzustände überwältigten ihn einfach. Ich fragte mich, ob es daran lag, dass er sich Sorgen um die Gerüchte machte, die wir über die Schwierigkeiten des The Roosevelt zu hören bekamen, aber bei Depressionen war das schwer zu sagen. Es konnte genauso gut keinen Grund haben, außer, dass Depression die Freude auffraß.
Aber während wir zusammen im Mondschein saßen und ich ihm alles über den Mond und Basalt erzählte, sagte er mir, dass er sich besser fühlte.
Jeremey und ich waren jetzt schon seit über zwei Jahren zusammen. Die meiste Zeit hatten wir im The Roosevelt zusammengelebt. Keiner von uns kann allein draußen in der Welt zurechtkommen, aber zusammen und mit der Hilfe unserer Freunde und Familie und den Angestellten im The Roosevelt konnten wir unabhängig und glücklich sein.
Allerdings entschied ich in dieser Nacht, als Jeremey in der Decke eingewickelt in meinen Armen lag, dass ich nicht mehr so ganz unabhängig sein wollte. Ich wollte Jeremey bei mir haben, mich um ihn kümmern und zulassen, dass er sich um mich kümmerte. Ich wollte von ihm abhängig sein. Ich wollte, dass er hier war, um mir zu sagen, dass der Mond wie eine Wassermelone aussah und mir dann eine Stunde lang Fragen über Basalt stellte. Ich wollte alles mit Jeremey tun, für immer. Es war etwas Besonderes zwischen festen Freunden, wenn man so etwas fühlte. Es bedeutete, dass ich Jeremey heiraten wollte.
Bei Durchschnittsmenschen wäre es einfach, zu so einer Erkenntnis zu kommen. Ich hätte einen Ring gekauft, ihn gefragt und wir hätten geheiratet. Aber ich bin kein Durchschnittsmensch und Jeremey auch nicht. Und als ich die Entscheidung getroffen hatte, Jeremey zu heiraten, war es gerade mal Dezember. Es würden so viele Veränderungen kommen, Erdbeben sozusagen, denn die Welt war nicht einverstanden damit, Menschen wie Jeremey und mir zu erlauben, einfach den nächsten Schritt unseres gemeinsamen Weges zu genießen. Nicht ohne viele Komplikationen.
Diese Geschichte erzählt davon, wie wir diese Komplikationen überwunden und uns trotz allem ein glückliches Ende erkämpft haben.
***
Jeremey zu bitten, mich zu heiraten, war eine bedeutende Frage und sie bedurfte großer Überlegung und Vorbereitung. Ich wusste, dass heiraten in jedem Fall kompliziert war, aber ich wusste nicht, welche Art von Entgegenkommen mein Autismus und seine Depression von einem praktischen Standpunkt aus brauchte. Ich war nervös, aber nicht, weil ich dachte, dass es ein Fehler war, ihn zu fragen. Jeremey zu heiraten war ein logischer Schritt und ich war mir unserer Beziehung sicher. Über Jeremeys Antwort machte ich mir auch keine Gedanken. Die Wahrscheinlichkeit, dass er Nein sagte, war gering.
Aber ich wusste, dass sich unsere Familien Sorgen machen würden. Vor allem Jeremeys. Es gefiel ihnen nicht, dass ich autistisch war. Jeremey meinte, dass sie den Teil mit dem Autismus mehr hassten als den mit dem Schwulsein. Es würde sie aufregen, wenn wir uns verlobten und das würde Jeremey aufregen, was seine Depression nur schlimmer machen würde.
Jeremeys Depression war oft eine Herausforderung für mich. Es fiel mir schwer zu verstehen, wie ich als sein Partner damit leben konnte. Seine Angstzustände waren in Ordnung. Er hatte die ZEBRAS-Technik, um damit klarzukommen und ich kannte alle Schritte, sodass ich ihm helfen konnte, daran zu denken. Aber Depressionen waren knifflig. Die Angstzustände konnte ich äußerlich sehen, aber die Depression fand im Inneren statt. Es machte mir Angst. Er hatte schon einmal versucht, sich umzubringen und ich wollte nicht, dass es jemals wieder passierte. Ich wusste, dass ich es nicht zwangsläufig verhindern konnte, aber ich kannte die Faktoren, die die Wahrscheinlichkeiten beeinflussten.
Meine Mutter würde das Haarspalterei nennen. Ich werde weder diese Metapher verstehen, noch wie irgendjemand ein Haar mit einem Messer oder einer Axt oder irgendeinem scharfen Gegenstand spalten könnte.
Es gab auch noch andere Dinge, die zu berücksichtigen waren, wenn ich Jeremey einen Antrag machen wollte. Ich bekam wegen meines Arbeitgebers keine Erwerbsunfähigkeitsleistungen mehr, aber Jeremey schon. Er arbeitete als nicht lizenzierter Helfer für unseren Freund David, aber es war nur eine Teilzeitstelle. Für kurze Zeit war er auf ein Community-College gegangen, um ein lizenzierter Pfleger zu werden, aber es war zu aufreibend für ihn. Er hatte ein paar Online-Seminare belegt, aber es fiel ihm schwer. Schließlich hatte er sich entschieden, weiter die Sozialleistungen zu beantragen und es vielleicht später noch einmal mit den Seminaren zu versuchen. Als Davids Pfleger bekam er ein kleines Gehalt, aber es war eigentlich nur ein Rabatt für die Kosten, die entstanden, weil er im The Roosevelt wohnte.
Im Moment bekommt er seine Versicherung von Medicaid, was ziemlich kompliziert und durcheinander ist, seit der Staat Iowa beschlossen hat, es zu privatisieren. Meine Mutter, eine Ärztin, hat eine Menge dazu zu sagen und das Meiste davon sind Flüche. Ich weiß nur, dass Jeremey eine von drei Versicherungsgesellschaften auswählen musste, als er in die private Versicherung gerutscht war. Nun musste er für die Hälfte seiner Termine jedes Mal nach Des Moines fahren, da die meisten Einrichtungen, die er genutzt hatte, seine Versicherung durch die Privatisierung nicht mehr annahmen. Einige der Ärzte, die er aufsucht, akzeptieren zwar eine, aber nicht alle, also musste er sich entscheiden, zu wem er gehen wollte. Er hat regelmäßig Panikattacken, wenn er sich mit seiner Krankenversorgung beschäftigen muss, und das, obwohl ich, meine Eltern und die Mitarbeiter im The Roosevelt ihm helfen. Meine Mutter sagt, dass Menschen ohne Unterstützung tief in der Scheiße sitzen. Scheiße ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für Fäkalien. Sie hat mich beruhigt und gesagt, dass man nicht wirklich bis zum Hals in Fäkalien sitzen muss, aber es genauso gut so sein könnte, weil es weniger schlimm wäre, als sich durch unser Gesundheitssystem zu kämpfen.
Ich war noch nie auf Medicaid angewiesen. Selbst wenn, wäre es egal gewesen, da wir immer noch die Familienversicherung hatten, was bedeutete, dass wir andere Entscheidungen treffen konnten. Theoretisch könnte Jeremey die Versicherung seiner Familie nutzen, bis er sechsundzwanzig ist, aber dann hätte er mit seinen Eltern verhandeln müssen, die wirklich eine Herausforderung sind, also hat er sich lieber dazu entschieden, sich allein mit dem chaotischen Staatssystem auseinanderzusetzen. Ich nutze meine Familienversicherung auch nicht mehr, da ich jetzt Vollzeit bei Workiva arbeite. Als ich noch auf dem College war, habe ich in Teilzeit für sie gearbeitet, weil sie glauben, dass ich ein Genie bin. Das liegt daran, dass ich ein Genie bin.
Workiva zahlt mir ein großzügiges Gehalt und ein großes Paket an Zusatzleistungen, das auch eine Versicherung enthält. Ich dachte, wenn ich Jeremey heirate, könnte er über mich versichert werden, aber ich wusste nicht, ob sich die Zahlungen aus Jeremeys Versicherung ändern würden, wenn er mein Ehemann war. Jeremeys Job bei David und seine Leistungen decken seinen Teil der Rechnung für unsere Wohnung und die Gebühren im The Roosevelt ab und am Ende bleibt ein winziges bisschen Geld übrig, das er ausgeben kann. Die Wahrheit ist, dass er es sich nicht leisten könnte, im The Roosevelt zu wohnen, wenn er nicht mit mir zusammenleben würde. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie er überhaupt leben würde.
Ich hoffte, dass es die Dinge einfacher machen würde, wenn er mich heiratete, aber ich sollte es noch einmal überprüfen, um sicherzugehen, dass es nicht alles noch komplizierter machte. Das Problem war, dass ich nicht wusste, mit wem ich über meinen Plan sprechen sollte. Ich dachte daran, es David zu erzählen, der ebenso mein Freund wie Jeremeys war, aber er war nicht meine erste Wahl. David war behindert, aber er war nicht im Spektrum. Ich hatte das Gefühl, dass es hier um Spektrum-Probleme ging und so entschied ich mich, zu einem Freund zu gehen, der ebenfalls im Spektrum war. Darren.
Eines Tages traf ich auf dem Nachhauseweg die Entscheidung, Darren zu kontaktieren. Als ich also im The Roosevelt ankam, war ich ganz gespannt darauf, nach oben zu gehen und die Unterhaltung zu beginnen. Zuerst musste ich jedoch im Aufenthaltsraum Jeremey und meine Freunde begrüßen. Ich wollte nicht, weil ich so auf die mögliche Unterhaltung mit Darren konzentriert war, aber es wäre unhöflich gewesen, einfach an ihnen vorbeizugehen. Da das Ziel der ganzen Sache war, einen Weg zu finden, wie ich Jeremey heiraten konnte, war es nur logisch, mir die Zeit zu nehmen, zuerst an seine Gefühle zu denken.
Ich war schon ein guter Ehemann, bevor ich ihm überhaupt einen Antrag gemacht hatte.
Als mich das Auto von Workiva am The Roosevelt absetzte, summte ich und fühlte mich glücklich. Es gefiel mir, dass wir Schnee hatten. Alles fühlte sich ruhiger an, wenn es schneite. Gestern hatte es einen Schneesturm gegeben und wir hatten Schneemänner im Garten gebaut. Sie lächelten mich an, als ich an ihnen vorbeiging, und ich lächelte zurück.
Als ich den Aufenthaltsraum betrat, zählte ich sieben Menschen im Zimmer, acht, da ich jetzt auch anwesend war. David und Jeremey waren da und Sally und Tammy, die Mitarbeiterinnen im Haus. Paul hatte ihnen den Rücken zugewandt, während er an der Xbox spielte, aber er trug keine Kopfhörer und der Ton am Fernseher war ausgeschaltet, also wusste ich, dass er den Unterhaltungen lauschte. Cameron saß mit Sally am Tisch und spielte mit seinem Spirographen, während er redete. Das bedeutete, dass er sich konzentrierte.
Stuart saß neben ihm, beobachtete die Kreise und Muster und gab hin und wieder einen leisen Schrei von sich, um Cameron wissen zu lassen, dass er die Zeichnungen genoss und sich freute, in die Unterhaltung miteinbezogen zu werden. Die meisten Menschen würden Zeichnen nicht als Unterhaltung ansehen, aber für Cameron und Stuart war es das.
Stuart war ein komischer Kerl. Er war auch im Spektrum – hier im Haus waren das viele –, aber etwas an ihm sorgte dafür, dass ich mit den Händen wedeln möchte. Eigentlich heißt Wedeln im Fachjargon Selbststimulation, aber ich hatte es immer als Wedeln angesehen, also nannte ich es auch so. Durch Stuart fühlte ich mich wedelig. Er benutzte seine Kameraaugen, um mich zu beobachten, genauso, wie ich es bei ihm tat. Wie die meisten Menschen mit Autismus muss er jemanden oder etwas nicht direkt ansehen, um es zu sehen. Nichtsdestotrotz habe ich das Gefühl, als würde er mich beobachten, wann immer ich im Aufenthaltsraum bin. Tammy sagt, dass es an dem erfolgreichen Video liegt, das ich letztes Jahr mit David und Jeremey gemacht habe. Wir haben uns als Blues Brothers verkleidet und sind zu Stuarts Lieblingslied Happy von seinem Lieblingssänger Pharrell Williams durch die Gänge von Target getanzt. Dadurch wurden wir für ein paar Tage zu YouTube-Stars. Dazu sage ich allerdings: Warum beobachtet er dann nicht Jeremey oder David?
Tammy sagt, dass es daran liegt, dass sie nicht wie Elwood Blues tanzen oder so wie er Autismus haben. Allerdings ist unser Autismus nicht gleich, aber Tammy versteht das nicht. Sie meint es gut, aber Autismus ist keine Einheitsgröße. Stuart und ich sind der lebende Beweis.
Neben Stuart saß David in seinem Rollstuhl und neben ihm saß Jeremey. Ich begrüßte ihn mit der besonderen Geste, die ich nur bei ihm benutzte, und dann wedelte ich, um die anderen im Raum wissen zu lassen, dass ich mich auch freute, sie zu sehen.
Sally winkte mich zu sich. »Wir planen die Party, Emmet. Eine Silvesterparty. Komm zu uns.«
Ich ignorierte sie eine Minute, denn jedes Mal, wenn ich Jeremey nach der Arbeit sah, berührte ich ihn. Jeremey liebte Berührungen und Umarmungen so sehr, wie sie mir das Gefühl gaben, als würde mir jemand die Haut umkrempeln. Manchmal umarme ich ihn nach der Arbeit und manchmal nicht, aber jedes Mal bekommt er irgendeine Art von Körperkontakt.
Ich legte eine Hand auf seine Schulter und sein Körper entspannte sich, als er seine Wange an meine Hand schmiegte. Obwohl Körperkontakt prinzipiell nicht zu meinen Lieblingsdingen gehört, ist es etwas anderes, wenn ich Jeremey berühre. Wie immer, wenn ich meine Hand auf seine Schulter legte, wollte ich ihm auch heute gestikulieren, mit mir nach oben zu gehen und Sex zu haben. Aber es wäre unhöflich, die Partyplanung zu verlassen, da ich gerade erst gekommen war, und außerdem musste ich mich noch mit Darren unterhalten. Also suchte ich mir einen Stuhl mit gerader Lehne und stellte ihn neben David und Jeremey.
David hatte mit seiner Begrüßung gewartet, weil er wusste, dass Jeremey zuerst kam, aber als ich saß, streckte er seine Faust aus, um sie gegen meine zu stoßen. Unsere Fauststöße sind unangenehm, da ich es zu fest mache und er seine Faust nicht ganz schließen oder gut zielen kann, um meine zu treffen, aber es ist okay.
Vor Tammy lag eine Liste mit zwei Spalten, die mit Aktivitäten und Snacks beschriftet waren. Karaoke und Tanzen standen in der Aktivitäten-Spalte. Sie gehörten nicht zu meinen Lieblingsaktivitäten. Aber Mexican Train Domino stand auch auf der Liste und dieses Spiel gefiel mir sehr. Ich weiß nicht, was daran mexikanisch ist und ich habe nachgefragt, aber Sally sagt, dass es einfach nur ein Name ist. Ich hatte noch keine Forschungsberichte gefunden, die erklärten, warum es so hieß, aber ich mochte das Spiel sehr.
Ich las die Spalte mit den Snacks und wedelte aufgeregt, als ich sah, was sie aufgeschrieben hatte. Tammy machte immer Parmesan-Popcorn, wenn sie besonders fröhlich war oder einen Bewohner belohnen wollte. Es stand zweimal auf der Liste – einmal stand einfach daneben und neben dem anderen, dass M&Ms darin sein würden. Das liegt daran, dass einige Bewohner die Mischung aus süß und salzig in derselben Schüssel mögen, während andere in eine Ecke gehen und summen müssten, wenn das Essen so durcheinander wäre.
Ich sagte nicht viel, während die anderen weiter planten. Zu viele Leute redeten gleichzeitig und die Arbeit und die Überlegungen, wie ich Jeremey einen Antrag machen sollte, hatten mich ausgelaugt. Wenn ich also eine Idee hatte, schickte ich Jeremey eine Nachricht und er las sie den anderen vor. Dann kam mir jedoch eine Idee, die so groß war, dass ich sie selbst aussprechen wollte. Ich tippte auf den Tisch und als Sally mich ansprach, sagte ich: »Können wir Darren einladen?«
»Das hört sich wunderbar an. Ich rede mit seinen Betreuern und organisiere es, dass er herkommen kann.«
Ich war genervt, weil ich Darren selbst einladen wollte. Wenn ich schnell in die Wohnung ging, könnte ich ihn vielleicht zuerst einladen, aber bevor ich mich entschuldigen konnte, tippte Jeremey zweimal auf mein Bein, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Als ich mich ihm zuwandte, sagte er nichts, sondern nutzte die Zeichensprache.
Einer meiner Lehrer hatte mir und meiner Familie vor langer Zeit die amerikanische Zeichensprache beigebracht, damit wir miteinander kommunizieren konnten, wenn es für mich zu überwältigend war, laut zu sprechen. Jetzt spreche ich oft laut, aber manchmal nutze ich die Zeichensprache noch, weil sie praktisch ist. Meine Familie, Freunde und mein Freund nutzen sie auch, vor allem, wenn wir uns unterhalten wollen, ohne dass jemand mithört. Als ich sah, was Jeremey mir zu sagen hatte, verstand ich, warum er die Zeichensprache nutzte, anstatt laut zu sprechen.
Ich hab gehört, wie Sally und Tammy im Belegschaftsraum geflüstert haben, als sie dachten, dass ich zu weit weg wäre, um sie zu hören.
Jeremey machte sich schon wieder Sorgen, dass das The Roosevelt geschlossen wurde. Vielleicht lag er mit seiner Sorge aber nicht falsch, wenn Sally und Tammy darüber flüsterten. Ich antwortete ihm. Wir müssen mit David sprechen, anstatt zu lauschen.
Jeremey nickte. Ich dachte, dass wir uns jetzt mit ihm treffen, bevor wir nach oben gehen und Abendessen machen. Aber das würde bedeuten, dass wir das Abendessen und die Wäsche später machen.
Das funktionierte perfekt. Ich muss sowieso mit Darren über etwas sprechen. Wir können unseren Zeitplan problemlos um eine halbe oder sogar dreiviertel Stunde verschieben.
Jeremey lächelte mich an und in meiner Brust wurde es warm und eng. Ich liebe dich, Emmet.
Ich liebe dich auch, Jeremey.
Ich küsste meine Handfläche und drückte sie schließlich gegen Jeremeys. Seine Augen strahlten, als er den Kuss mit der Faust umschloss und seine Handfläche schließlich an seinen Lippen öffnete.
Ich konnte nicht aufhören zu lächeln. Ich liebte ihn so sehr.
»Ich seh dich beim Abendessen«, sagte ich, ehe ich aufstand, um mir einen Rat zu holen, wie ich ihn am besten heiraten konnte.
Jeremey
Emmet ist der Mann, den ich liebe, der einzige Mensch, mit dem ich mir vorstellen könnte, den Rest meines Lebens zu verbringen. David Loris hingegen ist mein bester Freund.
David, Emmet und ich sind eigentlich zusammen beste Freunde. In der Stadt nennt man uns die Blues Brothers, eine Art Insider-Witz, nachdem unser Video so hohe Wellen schlug. Allerdings hat es Emmet eine Weile gestört, weil es nur zwei Blues Brothers im Film und den Sketchen bei Saturday Night Life gab. Ganz ehrlich, wenn es nach mir ginge, würde ich sagen, dass die beiden John Belushi und Dan Aykroyd sein könnten – David als Belushi und Emmet als Aykroyd – und ich würde der Typ mit der Kamera sein oder so was. Sie sind die ganze Zeit über lustig und entschlossen, diejenigen, die die Pläne machen. Ich… nicht. David würde sagen, dass ich der Ruhige war, der versteckte Blues Brother, vor dem man sich in Acht nehmen musste oder irgendetwas anderes Schlaues.
David hat eine inkomplette C4-Tetraplegie. Das bedeutet, dass seine Wirbelsäule am C4-Halswirbel verletzt, aber nicht vollkommen durchtrennt ist. Das ist wichtig, um zu verstehen, wie seine Lähmung funktioniert. Wenn er eine vollständige Verletzung hätte, würde er überhaupt keine Nervenfunktionen unterhalb dieses Wirbels mehr haben und es würde keine Hoffnung geben, das mit den derzeitigen medizinischen Möglichkeiten zu reparieren.
Mit einer unvollständigen Verletzung unterscheidet sich die Lähmung jedoch bei jedem Patienten gewaltig, ebenso wie ihr Heilungsprozess. David kann seinen linken Arm bis zu einem gewissen Grad benutzen, seinen rechten hingegen nicht und er kann seine Beine auf beiden Seiten teilweise spüren, obwohl er keins davon bewegen kann. Hin und wieder hatte ich gesehen, wie er mit dem Zeh gewackelt hat, aber er sagt, dass er das nicht mit Absicht tut. Die Bewegung ist nur eine Reaktion seiner Nerven. Seine Nerven tun seltsame Dinge, zucken und bewegen sich ruckartig, ohne dass David Kontrolle darüber hat. Außerdem muss er von Hand in seinem Rollstuhl bewegt werden, denn ohne diese Nervenbahnen kann sein Gehirn die kleinen Signale zum Zucken und Hin-und-her-Rutschen nicht senden, die verhindern, dass er wund wird. Körperlich gesunde Menschen tun diese Dinge wortwörtlich, ohne daran zu denken.
Ein Teil dieser Betreuung ist mein Job. Ich wollte aufs College gehen, um ein ausgebildeter Pfleger zu werden, damit ich David besser helfen konnte, aber das College war zu viel für mich und meine Angstzustände und ich musste abbrechen. David sagt, dass es keine große Sache sei, aber ich habe trotzdem das Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben. Ich helfe ihm bei seinen täglichen Arbeiten, aber meine Hauptaufgabe besteht eigentlich darin, ihm Gesellschaft zu leisten. Er sagt, dass das mehr wert sei, als ich mir zubillige.
Er musste glauben, dass ich wieder einen Moment geringer Selbstachtung hatte, als ich ihn zu seinem Zimmer begleitete, denn als er meinen beunruhigten Gesichtsausdruck sah, schenkte er mir eines seiner typischen Grinsen und stieß mein Bein mit seiner Schulter an, während ich nach der Türklinke griff. »Hey. Verbring deine Zeit nicht mit mir, wenn dein Mann oben auf dich wartet. Ich kann meine Türen schon aufmachen.«
»Eigentlich wollte ich etwas mit dir besprechen. Darf ich kurz reinkommen?«
»Klar.« Er wirkte überrascht und ein wenig nervös und als wir ins Zimmer kamen, drehte er seinen Rollstuhl, sodass er mich ansehen konnte. »Was ist los, J? Hab ich wieder was Dummes zu Train Man gesagt? Muss ich mich entschuldigen?«
Train Man war Davids Spitzname für Emmet. »Nein – du hast nichts gemacht. Ich wollte dich etwas über das The Roosevelt fragen.« Ich biss mir auf die Unterlippe und fühlte mich schuldig, obwohl ich mir nicht sicher war, warum. »Steckt es… steckt es in Schwierigkeiten? Finanziellen Schwierigkeiten?«
Ich erkannte die Antwort in der Art, wie David versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Schließlich gab er auf und seufzte. »Ich darf eigentlich nichts sagen, also erzähl es niemandem. Aber… ja.«
Ich muss es Emmet sagen, wollte ich klarstellen, aber ich hatte das Gefühl, dass David das bereits annahm. Mein Magen drehte sich und meine Kehle wurde eng und trocken. »Wird es… wird es geschlossen?«
David schüttelte den Kopf in einer abgehackten, ungeschickten Bewegung, weil er müde war und seine Muskeln schwach wurden. »Er wird nicht zulassen, dass es geschlossen wird. Aber er muss neue Sponsoren finden. Wir sind ein Privatbetrieb, aber alle hier bekommen Geld aus staatlichen oder bundesweiten Programmen, also ist es im Endeffekt so, als würden wir sowieso vom Staat finanziert. Außerdem haben wir für die ersten Jahre Subventionen bekommen, aber die laufen jetzt aus. Und die ganzen Krankenhäuser, die geschlossen wurden, haben es für uns nur schlimmer gemacht.«
Ich hatte von Emmets Mutter Marietta von den Schließungen erfahren. »Du meinst die Einrichtungen für psychiatrische Betreuung? Die Krankenhäuser und Langzeiteinrichtungen, die zugunsten von Gruppenheimen geschlossen wurden?«
»Ja, dieser Schwachsinn. Der Staat hat alle schließen lassen. Also, alle. Es gibt in einigen Krankenhäusern noch Stationen, aber das war's dann. Dann gibt es noch die Gruppenheime und uns. Also könnte man denken, dass die Geschäfte für das The Roosevelt gut laufen müssten, oder? Nö. Sie haben die Auslegung des Gesetzes geändert und jetzt muss es eine bestimmte Art von Gruppenheim mit einem ganz bestimmten Zertifikat und einem ganz bestimmten Vertrag mit dem Staat sein. Dad ist kurz davor, an die Decke zu gehen. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass die psychiatrische Versorgung an Firmen verkauft wird, die sich einen Scheiß für geistige Gesundheit interessieren und nur aufs Geschäft aus sind.«
Jetzt verstand ich, warum Marietta so wütend war. »Wie können sie das machen?«
»Der Gouverneur ist ein Arschloch, darum. Außerdem haben die Leute bei der letzten Wahl auf ein paar religiöse Irre und Fanatiker gehört, sodass wir jetzt eine konservative Mehrheit haben, die sich – Überraschung – nur für ihre Geschäftsabsichten interessiert. Und da mein Dad keines von diesen Firmenarschlöchern ist, die sich fürs Nichtstun bezahlen lassen, sind wir am Arsch. Wir haben keine Zuschüsse, keine von diesen Verträgen, die in irgendwelchen Hinterzimmern geschlossen werden, und immer weniger Bewohner. Es gibt im Moment keine Warteliste und am ersten Januar zieht jemand aus. Wovon ich dir noch nichts erzählt habe, aber, damit du es jetzt weißt – es wird passieren.«
Der Knoten in meinem Bauch zog sich fester zusammen. »Aber du bist sicher, dass das The Roosevelt nicht schließen wird?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Dad eher meine ganze Familie hier einquartiert, bevor er das zulässt, aber ja, das Geld ist knapp. Und es wird knapper. Soweit ich weiß, versucht er gerade, bessere Sponsoren zu finden. Eine bessere Umgehung dieser bescheuerten Beschränkungen und Scheißgesetze, die der Gouverneur für seine Schwachkopffreunde, denen diese Managed-care-Firmen gehören, geschrieben hat. Mein Dad will die lokalen Gesetzgeber beeinflussen und so. Aber es wird schwer für ihn, seinen normalen Job zu machen und gleichzeitig das The Roosevelt am Laufen zu halten.«
»Gibt es irgendetwas, das wir tun können? Du und ich oder irgendjemand im The Roosevelt?«
David zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber ich bezweifle es. Ich meine, ich hab darüber nachgedacht, meinen Dad zu fragen, ob ich häufiger mit ihm zu Spendensammlungen gehen kann, aber ich hasse es, der Vorzeigekrüppel zu sein, weißt du?«
»Ja.« Ich hatte David zu einigen dieser Spendenveranstaltungen begleitet und sie waren wirklich sehr unangenehm. David landete meistens neben seinem Dad auf der Bühne und setzte ein gezwungenes Lächeln auf, während Bob mit Tränen in den Augen von Davids Heilungsprozess sprach. Manchmal erzählte David seine eigene Geschichte, aber es fühlte sich an wie einstudiert. Als wären alle da, um einen Film zu sehen, von Davids Problemen und Erschwernissen gerührt zu sein, eine Spende zu tätigen und wieder nach Hause zu fahren. Aber es war Davids Leben.
David verzog das Gesicht. »Ich hasse diesen Scheiß, aber wenn ich jemandem Honig ums Maul schmieren muss, damit das The Roosevelt nicht geschlossen wird, werde ich es tun.«
Ich würde nicht zulassen, dass er dieses Opfer allein brachte. »Ich helfe dir.«
Meine Stimme zitterte jedoch und David sah mich wissend an. »Du wirst nichts dergleichen tun. Du willst deine rührselige Geschichte auf einer Bühne vor einer Gruppe fremder Menschen auskotzen, damit sie sich auf deinen Schmerz einen runterholen können, obwohl du noch nicht mal deinem Freund gesagt hast, wie schlimm deine Situation eigentlich ist?«
Meine Wangen glühten und ich wandte den Blick ab. »Wie… woher weißt du, dass ich es ihm noch nicht gesagt habe?«
»Weil er sich noch nicht in einen hektischen Wirbelsturm verwandelt hat, um dir zu helfen.« David beugte sich so weit er konnte aus dem Rollstuhl vor und stieß mich mit seiner Hand an. »Du musst es ihm sagen. Ich weiß, dass er durchdrehen wird, aber du musst ihm sagen, wie schlimm deine Depression geworden ist. Bald wird er es selbst merken und dann wird er sich Sorgen machen und verletzt sein. Er wird sich schon darüber aufregen, dass er der Letzte ist, der es erfährt.«
Ich wusste das alles und ironischerweise machte das meine Depression nur noch schlimmer. Fest schlang ich die Arme um meinen Oberkörper und wiegte mich, eine Angewohnheit, die ich von Emmet übernommen hatte – Wiegen, um sich selbst zu beruhigen. Ich wünschte, dass ich es ihm schon vor langer Zeit gesagt hätte. Eine einzelne Träne lief über meine Wange und ich biss mir auf die Lippe. »Denkst du… dass es zu spät ist?«
»Was, glaubst du, dass er deswegen mit dir Schluss macht? Nein. Das redet dir nur deine Depression ein. Ja, er könnte wütend werden, aber ich glaube eher, dass er verärgert sein wird. Sag ihm, warum du dich zurückgehalten hast. Und dann halt dich nicht mehr zurück. Und ein kleiner Tipp, Bro: Sag es ihm jetzt. Verschwinde von hier und geh nach oben. Ich muss sowieso ein Nickerchen machen.«
Ich wischte mir über die Augen und stand auf, ehe ich zu David ging und ihn umarmte. »Danke.«
Er umarmte mich ebenfalls, indem er kurz, aber fest mit seinem funktionierenden Arm auf meine Schulter klopfte. »Gern geschehen. Jetzt geh. Mach dir über das The Roosevelt keine Sorgen und auch nicht um Emmet. Alles wird gut.«
Ich ging, machte mir aber trotzdem Sorgen. Über Emmets Reaktion und über die Zukunft des The Roosevelt.
Ich hatte das Gefühl, dass ich mir über die Zukunft des The Roosevelt sehr viele Sorgen machen würde.