Januar 1774: Kaum haben die beiden Freunde Martyn Dancer und Richard Bolitho ihr Leutnantsexamenen mit Bravour bestanden, hält das Leben eine grausame Überraschung für sie bereit. Während der Überführung des Schoners Hotspur nach Guernsey entdecken sie eine Schmugglerbande, die offenbar vor nichts zurückschrekct und soeben erst die Besatzung eines Zollkutters überfallen hat. Ohne jedwedes Zögern nehmen sie die Verfolgung auf ...
Richard Bolitho in schweren Wassern
Aus dem Englischen
von
Uwe D. Minge
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der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2018 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
© der deutschen Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2005
© 2005 by Bolitho Maritime Productions (Heinemann, London)
Titel der englischen Originalausgabe: Band of Brothers
Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin
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ISBN 978-3-96048-103-4
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»Die Flügel einer glücklichen Gelegenheit sind mit den Federn des Todes besteckt.«
Sir Francis Drake
Für Dich, Boo, in Liebe
Midshipman Richard Bolitho hob eine Hand, um seine Augen zu beschatten, der harte, reflektierende Glanz des Wassers neben dem Schiff hatte ihn überrascht. Er blieb abwartend stehen, während zwei Seeleute an ihm vorbeischlurften, die einige sperrige, in Segeltuch verpackte Gegenstände schleppten. Halb trugen sie sie, halb zogen sie sie in Richtung des freien Decks und des grellen Sonnenscheins. Nach dem Halbdunkel im Zwischendeck der Gorgon erschien Bolitho diese Szene sehr unwirklich.
Er versuchte sich zu beruhigen: Es war ein ganz gewöhnlicher Tag. Jedenfalls für die meisten Menschen. Dann blickte er an seiner Uniform herunter, es war seine beste, und versuchte zu lächeln. Jedenfalls war es die einzige, die einer strengen Musterung standhalten konnte, ohne daß es zu Beanstandungen kam. Er zupfte ein paar Fasern Werg ab, die auf dem Weg von der Unterkunft der Midshipmen an ihm hängengeblieben waren, seinem Zuhause auf der Gorgon während der letzten anderthalb Jahre.
War das wirklich alles, was das Schiff für ihn bedeutete? Er atmete wieder tief ein und war bereit: Es würde kein Tag wie jeder andere werden.
Er ging weiter zum Hauptdeck und versuchte sich an den Lärm und das scheinbare Durcheinander zu gewöhnen, das wohl zwangsläufig auf einem Schiff herrschte, welches sich den unwürdigen Demütigungen unterzog, die eine dringend notwendige Überholung leider stets mit sich brachte. Überall waren Meißel und Handsägen zu hören, dazu das stetige Klopfen von Hammerschlägen aus den Tiefen des Rumpfes, während sich hoch über dem Deck Männer wie die Affen tummelten, um die vielen Meter des stehenden und laufenden Gutes zu reparieren, die einem Kriegsschiff erst Leben verleihen, ebenso wie den Segeln, die es bewegen. Das meiste war fast fertig, und der Gestank nach Teer und Farbe, die Haufen aus weggeworfenem Tauwerk und Holzresten würden bald nur noch eine schlechte Erinnerung sein. Bis zum nächsten Mal.
Richard Bolitho blickte zu den Achtzehnpfündern in seiner Nähe hinüber, schwarze Mündungen, die innerhalb der Bordwandklappen sicher ruhten. Sie allein erweckten noch einen gepflegten Eindruck, straften die Unordnung Lügen, die um sie herum herrschte. Und dahinter war das Land zu sehen, hart und scharf zeichneten sich Konturen im Morgenlicht ab: die Dächer und die Türme des alten Plymouth, gelegentlich glitzerte eine Glasscheibe in der Sonne. Weit entfernt erstreckten sich die wohlgerundeten Hügel, die zu dieser frühen Stunde eher blau als grün aussahen.
Er bemühte sich, seinen Schritt nicht zu beschleunigen, die Dinge vor dem Hintergrund des besonderen Tages nicht anders zu sehen als sonst. Das neue Jahr 1774 war erst wenige Tage alt.
Aber es war anders.
Ein paar Seeleute, die mit dem Aufschießen von Tauwerk beschäftigt waren, schauten ihn an, als er vorüberging. Er kannte sie gut, trotzdem kamen sie ihm heute wie Fremde vor. Dann erreichte er die Eingangspforte, wo der Kapitän stets mit zwitschernden Bootsmannspfeifen empfangen und verabschiedet wurde, wenn er an Bord kam oder an Land ging, und wo wichtige Besucher mit dem ganzen offiziellen Zeremoniell eines Schiffs des Königs begrüßt wurden. Auch bestallten Offizieren war hier der Zugang gestattet, aber keinem Midshipman, es sei denn, er hatte sich hier während des Dienstes aufzuhalten. Richard Bolitho war noch keine achtzehn Jahre alt, und plötzlich überkam ihn ein unbändiger Drang, hell aufzulachen, laut loszubrüllen, seine Gefühle jemandem mitzuteilen, der frei von Selbstzweifeln und Neid war.
Aus völlig heiterem Himmel und mit nur wenigen Tagen Vorwarnung war die Nachricht eingetroffen, eine Vorladung, von der jeder Midshipman wußte, daß sie unvermeidlich war. Sie mochte willkommen sein oder nicht, ja vielleicht sogar mit Angst erwartet worden sein, jeder der Kameraden reagierte anders. Offiziere, die er vielleicht nicht einmal kannte, entschieden nun über sein Schicksal. Sie würden ihn examinieren, und er würde sich ihrer Entscheidung beugen müssen. Falls er aber erfolgreich war, bekam er das Königliche Offizierspatent und konnte dann den gewaltigen Schritt vom Midshipman zum Leutnant hinter sich bringen.
Er beobachtete einen Schoner, der in ungefähr einer halben Kabellänge querab passierte. Seine Segel standen bretthart am Wind. Obwohl auf der Wasserfläche des Plymouth Sound noch keine weißen Schaumkronen zu sehen waren, hob eine hohe Dünung das schlanke Schiffchen an, als ob es ein Spielzeug wäre.
»Ah, hier sind Sie, Mister Bolitho.« Es war Verling, der Erste Leutnant.
Vermutlich wartete er selbst darauf, in ein Boot zu steigen, weil ihn der Kapitän mit einem Auftrag betraut hatte, denn es war sehr unwahrscheinlich, daß er aus einem anderen Grund unter den gegebenen Umständen das Schiff verließ, sein Schiff. Von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang war er auf dem Posten, überwachte die Arbeitstrupps, kontrollierte täglich, ja stündlich die Fortschritte, die auf und unter Deck gemacht wurden. Nichts entging ihm. Er war der Erste Leutnant, und niemand durfte sich erlauben, das jemals zu vergessen.
Bolitho berührte seinen Hut, »Aye, Sir«, er war zu früh dran, aber Verling würde das nicht anders erwarten. Der Erste war groß und schlank, mit einer mächtigen Hakennase, und seine mitleidlosen Augen schienen sich stets wie magisch auf den kleinsten Makel oder das winzigste Vergehen in der ihn umgebenden Welt auszurichten. In seiner Welt.
Doch sein Auftauchen hier war unerwartet und fast ein wenig beunruhigend.
Verling hatte der üblichen Handvoll Wachgänger, die sich immer in der Nähe der Eingangspforte aufhielt – also den Wachposten der Seesoldaten in ihren scharlachroten Röcken mit den weißen, gekreuzten Gurten und dem Bootsmannsmaaten, der seine silberne Pfeife bereithielt, um sie zwitschern zu lassen oder jeden Befehl weiterzugeben, wenn die Order dazu kam –, den Rücken zugewandt. Dazu traten die Decksjungen für das Spalier in ihren flotten karierten Hemden an, kleine Kerlchen, die flink genug hinunterspringen und den Booten assistieren mußten, die längsseits kommen wollten. Und natürlich gab es da noch den wachhabenden Offizier, der vorgab, intensiv das Logbuch am Fallreep zu studieren. Dabei legte er scheinbar konzentriert die Stirn in nachdenkliche Falten, zweifellos um Verling zu beeindrucken.
Bolitho wußte, daß es unfair war, aber er konnte nichts dagegen tun. Dieser Leutnant war neu auf dem Schiff und auch noch recht frisch in seinem Rang. Erst vor wenigen Monaten war er selbst noch ein Midshipman gewesen, auch wenn er sich bemühte, das rasch vergessen zu lassen. Er hieß Egmont und hatte sich bereits überall herzlich unbeliebt gemacht.
»Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe. Es handelt sich weder um einen Wettkampf noch um eine offizielle Bestätigung Ihrer allgemeinen Fähigkeiten. Dieser Teil ist mit dem Bericht des Kapitäns erledigt. Hier und heute geht alles viel mehr in die Tiefe – viel tiefer.« Seine Augen huschten kurz über Bolithos Gesicht, dabei schien er ihn gleichzeitig von Kopf bis Fuß zu mustern. »Die Kommission wird entscheiden, und diese Entscheidung ist endgültig.« Hatte er mit den Schultern gezuckt? »Jedenfalls für dieses Mal.« Er schaute sich um, zupfte an der Kette seiner Taschenuhr, die aus einem Täschchen seiner Kniebundhose heraushing, blickte aber nicht auf das Zifferblatt. Er hatte schon mit der Geste gepunktet. »Also haben Sie es doch nicht vergessen, Mister Dancer. Da bin ich aber froh, Sir«, brummte er einen eilig herbeigelaufenen Jungen an.
Wie um seine Worte zu unterstreichen, erklangen vom Glockenstuhl auf dem Vorschiff acht Glasen herüber.
»Oberdeck! Aaachtung! Front nach achtern! Stillgestanden!«
Pfeifen schrillten, und über das Wasser klang das Schmettern eines Horns herüber. Diese Zeremonie war ein Teil des täglichen Lebens an Bord. Die Flagge stieg achtern langsam in die Höhe, und eine ganze Reihe von Ferngläsern würden von Land und vom Flaggschiff aus beobachten, daß kein Mann und besonders kein Schiff diesen Moment verpaßte.
Midshipman Martyn Dancer stieß langsam die Luft aus und nickte seinem Freund zu.
»Ich mußte nochmals zurück in die Messe, Dick. Ich hatte meinen Talisman vergessen – und das ausgerechnet heute!«
Es handelte sich um eine kleine, merkwürdige Schnitzerei, die eher einem Dämonen als einem Glücksbringer ähnelte, die Dancer immer bei sich trug. Bolitho hatte sie zum ersten Mal nach einem Zusammenstoß mit Schmugglern gesehen. Bei Dancer konnte man noch immer die blauen Flecken bewundern, die er sich eingefangen hatte, aber er bestand darauf, daß ihn sein Talisman vor weitaus Schlimmerem bewahrt hätte.
Verling fuhr fort: »Ich wünsche Ihnen alles Gute. Das tun wir alle. Und denken Sie daran, alle beide, Sie sprechen zwar nur für sich, aber heute repräsentieren Sie auch dieses Schiff.« Er gönnte sich ein sparsames Lächeln. »Dann mal ran!«
»Boot ist längsseits, Sir!«
Bolitho grinste seinen Freund an. Es war nur gerecht, daß sie den heutigen Tag zusammen durchstanden, nachdem, was sie gemeinsam erlebt hatten.
Leutnant Montagu Verling sah den beiden zu, wie sie in die Barkasse hinunterkletterten, die sich an der »Treppe« unterhalb der Pforte eingehakt hatte. War er früher auch mal so gewesen, fragte er sich dabei.
»Klar zum Ablegen! Setzt ab, vorne!«
Das Boot wurde vom Gezeitenstrom erfaßt, drehte von der Bordwand des großen Zweideckers weg, die Riemen in zwei parallelen Reihen nach oben aufgerichtet. Der Bootssteurer packte die Pinne und schätzte den richtigen Zeitpunkt ab.
Noch immer blickte ihnen Verling hinterher, und er war selbst ein wenig erstaunt darüber. Der Zimmermann und der Bootsmann warteten sicherlich schon wieder mit immer neuen Listen. Wichtige Arbeiten waren zu erledigen, Ausrüstung oder Tauwerk war bis jetzt noch nicht eingetroffen oder, falls doch, dann war es von der falschen Art. Er war der Erste Leutnant! Ganz achtern, unter der großen Kriegsflagge, die in der beständigen Südwestbrise flatterte, saß der Kapitän in seiner Kabine in der ruhigen Gewißheit, daß diese Überholung rechtzeitig abgeschlossen sein würde. Das würde den Admiral erfreuen, und das setzte sich dann immer weiter fort – über die ganze lange Befehlskette nach oben.
Verling sah, wie sich die Riemen an den Seiten der Barkasse fast wie Vogelschwingen entfalteten, dann legten sich die Männer mit ganzer Kraft in die Schläge. Vielleicht kam bald der Tag, an dem auch er …
»Ruder an überall!«
Er drehte sich um und bemerkte, daß der neue Leutnant versuchte, mit ihm Augenkontakt aufzunehmen. Natürlich war es unangebracht, persönliche Abneigungen in der eigenen Offiziersmesse zu pflegen, aber … wieder drehte er sich abrupt um und starrte über das haiblaue Wasser, aber die Barkasse war bereits außer Sicht, verschwunden zwischen den ankernden Schiffen. Plötzlich war er froh, daß er sich die Zeit genommen hatte, zur Stelle zu sein, als die Midshipmen von Bord gegangen waren – wie auch immer deren Prüfung heute enden würde.
Er setzte wieder die strenge dienstliche Miene auf und trat zu einer Arbeitsgruppe, die sich mit einer weiteren Hieve mit Hölzern herumquälte. »Nehmen Sie einen Törn da rum, ja, Sie da, Perkins! Etwas flott, wenn ich bitten darf!«
Trotz der hohen Dünung nahm die Barkasse der Gorgon gute Fahrt auf, sobald sie von der Bordwand des Zweideckers frei war. Vierzehn Riemen – jeweils zwei Männer saßen auf jeder Ducht – bewegten sie mit einem kräftigen, aber nicht überhasteten Schlag vorwärts, trugen sie mit scheinbarer Leichtigkeit an den ankernden Kriegsschiffen vorbei. Der Bootssteurer, ein harter und erfahrener Seemann, war davon unbeeindruckt. Das Schiff lag auf Grund der Reparaturarbeiten nun schon so lange vor Anker, daß er sich bereits an den Anblick der meisten Schiffe gewöhnt hatte, ebenso an das Kommen und Gehen ihrer Boote während der niemals endenden Botengänge im Dienst der Flotte und für den Mann, dessen Flagge über dem mächtigen Dreidecker wehte, den er jetzt noch ganz klein zwischen den Schultern seiner beiden Bugleute ausmachen konnte. Das Flaggschiff! Wie die meisten seiner Kameraden hatte der Bootssteurer noch nie mit eigenen Augen einen leibhaftigen Admiral gesehen. Aber der Mann war da, war auf dem Schiff anwesend, und das war beeindruckend genug.
Bolitho zog seinen Dreispitz tiefer in die Stirn. Ihn fröstelte, und er klammerte sich mit den Fingern an der Ducht fest, die feucht und hart gegen seine Pobacken drückte. Doch es hatte nichts mit der Kälte oder dem Spritzwasser zu tun, das gelegentlich wie eine Wolke spitzer Nadeln vom Bug nach achtern wehte.
Dancer und er hatten die Ereignisse natürlich immer wieder durchgekaut. Die Prüfung hatte allerdings bis jetzt in weiter Zukunft gelegen, war also fast irreal. Was hatte die beiden Jungen tatsächlich zusammengeführt? Und was würde morgen sein? Würden sie sich nach bestandener Prüfung jemals Wiedersehen? In der Royal Navy war es wie in einer Familie, sagten viele, doch für eine echte Freundschaft war dieser Tag jedenfalls eine schwere Belastungsprobe.
Die Freunde waren gleichaltrig, nur ein einziger Monat trennte sie, und sie waren doch sehr verschieden. Gleichzeitig waren sie auf die Gorgon gekommen, Martyn Dancer war vor ungefähr sechzehn Monaten von einem anderen Schiff versetzt worden, das für eine vollständige Grundüberholung für sechs Monate ins Dock gegangen war. Davor hatte er erst drei Monate und zwei Tage lang im Dienst Seiner Britannischen Majestät gestanden, wie er berichtete.
Bolitho ließ seine eigene Dienstzeit vor seinem inneren Auge Revue passieren. Er war im zarten Alter von zwölf Jahren als Midshipman in die Royal Navy eingetreten und dachte an Falmouth und all diese vielen Porträts, die zu Hause auf der Treppe oder im Arbeitszimmer auf ihn hinuntergeblickt hatten: Die Geschichte der Bolithos war so etwas wie ein personifiziertes Abbild der Geschichte der Royal Navy.
Er dachte auch an seinen Bruder Hugh, der zeitweilig das Kommando auf dem Zollkutter Avenger gehabt hatte. Das war vor weniger als zwei Monaten gewesen, und Martyn und er hatten den Befehl erhalten, sich bei ihm zu melden. Noch eine unerwartete Erfahrung, denn Hugh, sein einziger Bruder, war der Fremde in ihrem Kreis gewesen.
Richard Bolitho drehte sich um, um nach dem Flaggschiff Poseidon zu schauen, das schon näher gekommen war. Seine aufgetuchten Mars- und Bramsegel schimmerten im hellen Licht fast weiß, die Flagge des Vizeadmirals wehte blutigrot unter dem Flaggenknopf des Fockmasts, und es war Martyns letztes Schiff gewesen, sein einziges Schiff, drei Monate und zwei Tage lang. Aber heute waren sie alle hier, um geprüft zu werden. Richard Bolitho hatte fünf Jahre gedient. Viele Kameraden würden heute ebenfalls anwesend sein, sich angespannt vorbereiten, über das mögliche Ergebnis nachsinnen. Schauten auch so ausgefuchste, erfahrene Offiziere wie Verling jemals zurück und gestatteten sie sich Zweifel, fragte er sich.
Er starrte nach oben in die hoch aufragenden Masten, zu dem Spinnennetzgewirr des schwarzen Tauwerks und der Wanten. Aus der Nähe betrachtet, war das Schiff sogar noch beeindruckender. Es handelte sich um ein Linienschiff der Zweiten Klasse mit neunzig Kanonen und einer Besatzung von über achthundert Offizieren, Seeleuten und Marineinfanteristen. Eine Welt für sich. Bolithos erstes Schiff war auch ein großer Dreidecker gewesen, und sogar nach über vier Jahren Dienst in diesem überfüllten, stets geschäftigen Schiffsbauch war er immer noch auf Gesichter getroffen, die er kein zweites Mal gesehen hatte.
Der Rumpf ragte einschüchternd weit über ihnen auf, der lange Bugspriet mit dem Klüverbaum stach wie eine Lanze heraus. Poseidon, die Galionsfigur, der römische Gott der Meere, glänzte in frischer Goldfarbe, die allein eine Monatsheuer gekostet haben mußte. Das war der Zuckerguß auf dem Pfefferkuchen, wie es die Seeleute auszudrücken pflegten.
Der Bootssteurer rief: »Achtung! Bug!«
Die beiden Bugmänner erhoben sich und schlugen ihre Blätter aneinander, um der Mannschaft zu signalisieren, daß sie bereit waren. Ein Schiff wird nach seinen Booten beurteilt …
sehen,
Diese Bemerkung war kein Zeichen von Arroganz oder Überheblichkeit, nur Ausdruck einer Art stiller Selbstsicherheit, die er auch schon in dem hektischen Getriebe und Durcheinander der Messe bewiesen hatte und ebenso im Angesicht der realen, tödlichen Gefahr. Das war noch nicht lange her, und dennoch fühlten sie sich wie Brüder.
Der Rumpf prallte gegen Fender, und der Bootssteurer stand jetzt wieder neben der Pinne, den Hut in einer Hand. Er sah die beiden Midshipmen an. Eines Tages würden sie wie dieser verdammte Leutnant dort oben an den Finknetzen sein, der mit den Armen herumfuchtelte.
Ab jetzt waren sie ganz auf sich gestellt. Der Wachoffizier verglich ihre Namen mit einer schon ziemlich abgegriffenen Liste und betrachtete dann die Neuankömmlinge mit einem kalten, musternden Blick, als müsse er sich erst vergewissern, ob sie vorzeigbar genug waren, um sie passieren zu lassen.
Bolitho fragte: »Sind viele Kandidaten zur Prüfung angetreten, Sir?«
Dancer überlegte gelassen: »Ich hoffe, daß wir etwas zu essen bekommen, während wir warten.«
Sie folgten dem Melder, und das Schiff nahm sie in seine Arme und verschlang sie. Sie stolperten in eine überbordende, mit Menschen vollgepackte Welt, die nur durch die unsichtbaren Schranken des Status und des Rangs voneinander getrennt wurden. Früher war es Bolitho so vorgekommen, als würde er auf dem Kamm einer Welle reiten und ständig Knüffen und Stößen, physischer und psychischer Natur, ausgesetzt sein. Allein die unterschiedlichen Typen, die guten und die bösen, diejenigen, denen man auf den ersten Blick hin vertraute, und die anderen, denen man niemals den Rücken kehren konnte, ohne ein Risiko einzugehen! Und diese immerwährende Geschäftigkeit, in dem einen Augenblick noch feierlich, im nächsten Kriegsgericht. Und der fortwährende nagende Hunger!
Er wartete ab, bis sich die beiden Midshipmen auf eine Bank gesetzt hatten, die zur Hälfte mit Dokumenten belegt war, welche sauber mit blauen Bändern zusammengebunden waren. Alles wirkte chaotisch, aber Bolitho hatte den Eindruck, daß Colchester es sofort bemerken würde, falls ein Zettelchen auf dem falschen Platz zu liegen kam.
Drei Kapitäne. Dancer hatte ihn informiert, was sie erwarten würde, und ihn gleich morgens vorgewarnt, noch während sie versucht hatten, sich anzuziehen und sich in dem herrschenden Lärm und Aufruhr der Unterkunft der Midshipmen mental vorzubereiten. Das Chaos schien an diesem Morgen noch schlimmer als üblich zu sein, und der Platz in der Messe war durch Ausrüstungsgegenstände und Bettzeug aus dem benachbarten Lazarett noch weiter eingeengt gewesen.
Gorgon
Es machte keinen Sinn, sich den Kopf über das Warum zu zerbrechen. Ein plötzlicher Bedarf mit großer Dringlichkeit? Unwahrscheinlich. Es gab bei weitem zu viele Offiziere im Wartestand, die meisten ohne jede Aussicht auf Beförderung. Nur ein Krieg würde die Nachfrage steigern und den Weg auf der Rangliste freiräumen.
Bolitho sah zu Dancer hinüber, der anscheinend friedlich in sich ruhte.
Dancer sah ihm nach, dann sagte er: »Falls ich heute durchkommen sollte, Dick, dann werde ich für immer in deiner Schuld stehen!«