Worldwide Alliance of Renegades
(Band 1)
Ein Roman von Bianca Nias
© dead soft verlag, Mettingen 2018
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© the author
Cover: Irene Repp
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Bildrechte:
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© Tashatuvango – 123rf.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-247-2
ISBN 978-3-96089-248-9 (epub)
Ein traumatisierter Veteran, ein fluchender Spanier, ein versoffener Cowboy und ein dunkelhäutiger Riese, der mit Bibelversen um sich wirft …
Was wie der Anfang eines Witzes klingt, ist alles, was einschließlich ihm selbst von Captain Sam Cromwells ehemaliger Einheit Desert Zero übriggeblieben ist, nachdem sie in Afghanistan in einen Hinterhalt gerieten und beschossen worden waren. Fünf Jahre sind seitdem vergangen, in denen Sam keinen Kontakt zu seinen Kameraden hatte, nicht einmal zu Thiago Cruz, mit dem ihn eine leidenschaftliche Affäre verband.
Doch welche Kiste soll sich damals an Bord ihrer Fahrzeuge befunden haben, die nach dem Zwischenfall spurlos verschwunden ist? Die geheime Fracht muss ungeheuer w ertvoll gewesen sein, denn Sams sechzehnjährige Tochter wird entführt und festgehalten, um ihn zu erpressen.
Die Überlebenden seines Teams stehen Sam zur Seite, trotzdem findet er sich plötzlich nicht nur zwischen den Fronten verschiedener Mächte wieder, die allesamt hinter der ominösen Kiste her sind, sondern auch im Konflikt mit seinen Gefühlen für Cruz, mit denen er erneut konfrontiert wird.
»Josy, Frühstück!«
Sam wendete die Pancakes in allerletzter Sekunde, bevor sie anbrannten. Zumindest, ehe sie richtig verkohlten. Die Ränder waren bereits schwarz, der Rest ging gerade noch als knusprig durch. Missmutig biss Sam die Zähne zusammen und unterdrückte einen derben Fluch. Heute Morgen ging aber auch alles schief. Angefangen mit seinem Wecker, der nicht pünktlich angesprungen war. Anscheinend hatte es mitten in der Nacht einen Stromausfall gegeben, aber dafür war Palmdale, ihre Heimatgemeinde in Kalifornien, bekannt. Gerade jetzt im Sommer, wenn alle Klimaanlagen der Stadt gleichzeitig auf Hochtouren liefen, war der Strom öfter mal weg. Warum aber sein zuverlässigster Wecker, ihr Kater Sir Lancelot, ihn dieses Mal in Ruhe gelassen und nicht um Punkt sechs Uhr morgens wie üblich laut schnurrend geweckt oder ihn so lange angestarrt hatte, bis er von selbst aufwachte – das wusste der Himmel. Wahrscheinlich war er noch unterwegs auf Mäusejagd.
»Josephine!«
Sein erneuter Ruf verhallte offenbar im Nirwana, jedenfalls vernahm er keine Reaktion seiner Tochter. Für was brauchte ein Teenager fast eine Stunde im Badezimmer? Sein Blick fiel automatisch auf die Uhr an der Wand. Verdammt, wenn sich Josy jetzt nicht beeilte, würde sie den Schulbus verpassen und er müsste sie selbst zur Highschool fahren. Was gleichzeitig bedeuten würde, dass er zu spät zu seinem Termin bei Doktor Sniders käme, der ungern auf seine Patienten wartete.
»Ich will kein Frühstück«, ertönte die gereizte Stimme seiner Tochter hinter seinem Rücken.
»Oh doch, kleines Fräulein«, knurrte Sam ungehalten und drehte sich zu Josy um, die zu seinem Leidwesen einen mürrischen Gesichtsausdruck auf ihrem hübschen Gesicht zur Schau trug. »Du wirst dich jetzt an den Tisch setzen und essen. Aber beeil dich, der Bus kommt in fünf Minuten.«
Josy schnaubte lediglich genervt, strich sich eine Strähne ihrer langen, dunkelblonden Haare hinter das Ohr zurück und starrte ihn finster an. Na super, der Tag begann ja wieder einmal echt klasse. Mit einer übellaunigen und hormongesteuerten Sechzehnjährigen umzugehen, war zu keiner Tageszeit ein Zuckerschlecken, aber in letzter Zeit war dies morgens schlicht die Hölle. Im Vergleich zu seiner Dienstzeit bei der Army kam ihm der derzeitige Alltag fast gefährlicher vor als jedes Minenfeld in Bagdad.
»Ich trinke bloß einen Kaffee«, verkündete sie gereizt, ohne Anstalten zu machen, sich an den gedeckten Frühstückstisch zu setzen.
»Kaffee? Nein, kommt nicht infrage«, wehrte er sofort ab und schnaufte, um ein frustriertes Stöhnen zu kaschieren. Jeden Morgen dieselben Diskussionen. »Der ist schädlich für dich.«
»Ach ja? Aber der Industriezucker soll besser sein? Weißt du denn nicht, was der in meinem Körper anrichtet? Oder der genmanipulierte Buchweizen, der in den Backmischungen verwendet wird?«, hielt Josy sofort dagegen und deutete auf die Pfanne mit seinen missglückten Pancakes.
»Hinsetzen. Essen«, befahl er ungerührt und lud zwei Pfannkuchen auf den bereitstehenden Teller. Weder war ihm danach, jetzt eine Debatte über den Nährwert von Pancakes anzufangen noch hatten sie die Zeit dafür. Zum Glück hatte Josy ihren Versuch, vegetarisch zu leben, relativ schnell wieder abgebrochen, nachdem sie gemerkt hatte, dass sie damit beim Barbecue auf ein saftiges Steak hätte verzichten müssen. Während dieser drei Wochen war sie echt unausstehlich gewesen.
Jetzt warf sie ihm noch einen bitterbösen Blick zu, setzte sich aber wenigstens an den Tisch und goss sich ein Glas Orangensaft ein. Machten denn alle Teenager diese nervtötenden Phasen durch oder war nur seine Tochter ständig auf Konfrontation mit ihm aus?
Im Stillen verfluchte Sam zum sicherlich tausendsten Mal seine Exfrau, die ihn und Josy vor gut fünf Jahren sitzengelassen hatte und quasi über Nacht nach Europa abgehauen war. Die ihn und seine unzähligen Probleme, die er nach der Rückkehr aus Afghanistan mit sich herumschleppte, gegen einen zwanzig Jahre älteren, blassen und schmächtigen Mittfünfziger eingetauscht hatte. Okay, der Kerl war ein stinkreicher Schönheitschirurg und passte damit offenbar besser in Catherines Lebensplanung als ein depressiver Veteran, der genug mit sich selbst und seinen Verletzungen zu tun hatte. Dafür hatte er sogar Verständnis aufbringen können, zumal es auch schon vor seiner Verwundung in ihrer Ehe gekriselt hatte. Was er seiner Ex nicht verzeihen konnte, war die Tatsache, dass sie nach einiger Zeit auch den Kontakt zu Josy abbrach. Als hätte ihre Tochter keinen Platz in ihrem neuen Schickimicki-Leben. Josy hatte das unerwartet gut weggesteckt, aber in letzter Zeit fragte sich Sam immer öfter, ob ihr der Einfluss der Mutter nicht doch fehlte. Gerade jetzt, wo sie erwachsen wurde und eine Menge Fragen haben musste, mit denen sie jedoch nicht zu ihm kam. Wahrscheinlich, weil er sie sowieso nicht beantworten konnte.
Sollte er vielleicht Hannah, die Mutter ihrer besten Freundin Sandy, bitten, mal ein Gespräch von Frau zu Frau mit ihr zu führen? Oh nein, besser nicht. Josy würde sofort den Braten riechen und an die Decke gehen, weil andere Leute sich in ihr Leben einmischten.
Er warf erneut einen Blick auf die Uhr.
»Beeil dich, der Bus kommt gleich«, mahnte er. »Du hast noch zwei Minuten.«
Zu seiner Überraschung schüttelte Josy den Kopf.
»Ich fahre nicht mit dem Bus. Ich werde abgeholt.«
»Von wem?«, hakte Sam sofort alarmiert nach.
»Ist doch egal.« Josy kaute ungerührt weiter.
»Das kommt überhaupt nicht infrage! Du fährst mit dem Bus und nicht mit irgendwelchen Leuten, die ich nicht kenne!«, entgegnete er sofort.
»Der Bus ist jetzt sowieso schon weg. Kyle nimmt mich mit«, erklärte Josy stur. »Den kennst du übrigens«, fügte sie triumphierend hinzu.
»Ach ja?« Sam sah seine Argumentation den Bach runtergehen, gleichzeitig zermarterte er sich den Kopf, wer zur Hölle dieser Kyle sein mochte.
»Klar kennst du ihn. Ist Glorias Bruder.«
»Gloria Kolkowskis Bruder?« Endlich dämmerte Sam, wer gemeint war. Die Familie wohnte ein paar Straßen weiter. »Der Kerl ist neunzehn!«
»Und?« Herausfordernd schaute sie zu ihm hoch.
»Er ist neunzehn!«, wiederholte Sam nachdrücklich, um sie auf das Offensichtliche hinzuweisen. Ungehalten rang er die Hände. Mein Gott, nicht einmal in einem Feuergefecht während eines Einsatzes hatte er sich dermaßen hilflos gefühlt! Wusste sie denn nicht, auf was Jungs in dem Alter aus waren?
»Was du nicht sagst«, erwiderte sie trocken und zog dabei eine Augenbraue in die Höhe. »Du wirst lachen, das weiß ich.«
»Josy …«, mahnte er erneut, aber in diesem Augenblick hupte draußen ein Auto. Sofort sprang seine Tochter vom Frühstückstisch auf, griff nach ihrem Rucksack, stopfte das vorbereitete Lunchpaket hinein und war verschwunden, bevor er sie davon abhalten konnte.
»Tschüss, Sam!«, rief sie noch, dann schlug die Eingangstür krachend ins Schloss.
»Für dich immer noch Dad!«, brüllte er ihr wütend hinterher, obwohl er wusste, dass sie seinen Protest auch beim hundertsten Mal mit einem Schulterzucken abtun würde. Verhalten grummelte er einen Fluch vor sich hin. Seit einigen Wochen weigerte sie sich, Dad zu ihm zu sagen, weil es doch viel cooler wäre, ihn beim Vornamen zu nennen.
Wo war nur sein kleines Mädchen, Daddys Liebling und sein ganzer Stolz, so plötzlich abgeblieben? Dieses langhaarige Wesen, das stundenlang das Bad blockierte oder mit der gleichen Ausdauer mit irgendwelchen Freundinnen telefonierte, schien nicht mehr viel mit dem Kind gemeinsam zu haben, für das er Räuberhöhlen unterm Esstisch gebaut oder dem er abends eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hatte.
Sam erlaubte sich einen tiefen Seufzer, dann räumte er den Frühstückstisch ab und ließ das Geschirr in der Spülmaschine verschwinden. Dabei fiel sein Blick auf Sir Lancelots Napf. Hm, merkwürdig, der Kater hatte auch das Trockenfutter, das er gestern Abend aufgefüllt hatte, nicht angerührt. Verdammt, er musste wohl oder übel bei der Fahrt zum Zentrum Ausschau halten, ob er den schwarz-weißen Kater durch einen der anderen Vorgärten stromern sah. Hoffentlich lag er nicht irgendwo überfahren im Straßengraben, das würde Josy das Herz brechen.
Die fortgeschrittene Uhrzeit mahnte ihn zur Eile, daher griff er nach den Schlüsseln und verließ das Haus. Noch während er die Tür hinter sich zuzog, schaute er sich gewohnheitsmäßig um und scannte die Umgebung. In der nächsten Sekunde schalt er sich selbst für die übertriebene Wachsamkeit, die er einfach nicht ablegen konnte.
Doktor Winfield, sein Psychiater, hatte ihm lang und breit erklärt, dass er diesen Kontrollzwang besiegen müsse, um endlich innere Ruhe finden zu können. Frustriert kniff Sam die Augen einen Moment zusammen, blinzelte und atmete tief durch, so wie es ihm geraten worden war. Dieser Reflex, die Umwelt nach Bedrohungen abzusuchen, war ein Überbleibsel aus seiner Zeit im Nahen Osten, wo jeder Müllsack am Straßenrand eine potenzielle Gefahr durch einen getarnten Sprengsatz bedeutete. Selbst mehr als fünf Jahre später hatte dieser ihn noch immer fest im Griff.
Trotz der frühen Morgenstunde flimmerte bereits Hitze über dem Asphalt, das kurzgemähte Gras in den Vorgärten war gelb-braun, knochentrocken und von der Sonne verbrannt. Wegen der Wasserknappheit war es untersagt, die Rasenflächen zu sprengen, und die Stadtverwaltung achtete darauf, dass wirklich niemand mit einem einwandfrei grünen Rasen vor seinem Haus protzte. Nicht einmal den Wagen hatte er am Samstag waschen können. Die Siedlung wirkte ruhig und nahezu verlassen, die meisten Leute waren schon auf dem Weg zur Arbeit. Lediglich seine Nachbarin von gegenüber, die alte Mrs. Farmer, holte gerade die Tageszeitung ins Haus und er nickte ihr freundlich zu.
Langsamer als ihm lieb war, stieg er in seinen Chrysler. Verdammt, sein Bein war wieder schlimmer geworden, die Schmerzen zogen sich von der Hüfte abwärts bis in die Fußspitzen. Jede unbedachte Bewegung erinnerte ihn daran, dass er nicht nur seelisch, sondern auch körperlich ein Krüppel war.
Die Fahrt zum Veteranen-Zentrum war kurz und er parkte seinen Wagen direkt vor dem Gebäudeteil, in dem die Physiotherapie untergebracht war. Anfangs war er täglich hier gewesen, mittlerweile reichten zwei Behandlungen pro Woche. Das Bein würde nicht besser werden und vielleicht sollte er sich damit zufriedengeben, dass er wieder einigermaßen und vor allem ohne Krücken laufen konnte.
»Immerhin haben Sie noch beide Beine, Captain«, hatte ihm irgendwann einmal einer der unzähligen Therapeuten, die ihn behandelt hatten, um die Ohren gehauen. Noch jetzt stieg Wut in Sam hoch, wenn er bloß an diesen blöden Spruch dachte. Der Typ konnte von Glück sagen, dass er in dem Moment zu perplex gewesen war, um zu reagieren, sonst hätte er jetzt wahrscheinlich ein paar Zähne in der Kauleiste weniger.
Gut, ihm war bewusst, dass es Soldaten gab, die es wesentlich schlimmer getroffen hatte als ihn. Das Therapiezentrum war voll von Menschen, die Arme oder Beine verloren hatten und sich nun mit Prothesen herumquälen mussten. Trotzdem war die allgemein bestehende Ansicht, er hätte noch Glück im Unglück gehabt, nicht nur vollkommen daneben, sondern weit von der Wirklichkeit entfernt.
Einige der Patienten nickten ihm freundlich zu, während er den langen Gang zu Doc Sniders Behandlungsräumen hinunter ging. Automatisch erwiderte er den Gruß auf dieselbe Weise. Die Gesichter der Soldaten waren ihm bekannt, aber weder wusste er ihre Namen noch suchte er irgendwelchen Kontakt zu ihnen. Zwar hatte ihm der Psycho-Doc empfohlen, sich mit Schicksalsgenossen, wie er es nannte, anzufreunden und auszutauschen – aber wozu sollte das gut sein? Jeder von ihnen hatte doch dieselbe Scheiße hinter sich und versuchte irgendwie zu vergessen. Da war es unter Garantie nicht sonderlich hilfreich, das Erlebte in Gesprächen permanent wieder aufzuwärmen.
»Guten Morgen, Captain Cromwell!« Der grauhaarige Mediziner mit der Nickelbrille schaute von dem Schriftstück auf, das er gerade studiert hatte, und begrüßte ihn gutgelaunt, mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Höflicherweise quetschte Sam ein »Hallo, Doc« zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, obwohl er sich unwillkürlich fragte, was an diesem Morgen überhaupt gut sein sollte. Auf dem Schreibtisch des Arztes lag seine dicke Krankenakte, wie er mit einem Blick feststellte. Von Digitalisierung schien diese Klinik noch meilenweit entfernt zu sein, wahrscheinlich reichten die knappen Haushaltsmittel nicht für ein modernes Computersystem.
»Im kommenden Monat ist Ihre Rückkehr aus Afghanistan fünf Jahre her«, begann Sniders in einem Tonfall, der Sam sofort aufhorchen ließ. Mit einer einladenden Geste deutete der Arzt nun auf einen der Besucherstühle vor seinem Schreibtisch, aber Sam zog es intuitiv vor, stehenzubleiben.
»Korrekt«, bestätigte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum? Spielt das eine Rolle?«
»Ihr Behandlungszeitraum im Veteranen-Zentrum läuft damit aus«, erklärte Sniders sachlich. »Ihre Verletzung ist zudem austherapiert. Hier können wir Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Und das bedeutet?«, fragte Sam kühl.
»Das bedeutet, dass Sie sich innerhalb der nächsten beiden Wochen einen behandelnden Hausarzt und auch einen Physiotherapeuten suchen sollten. Von Mrs. Stewart am Empfang können Sie sich eine Liste mit Adressen der hier ansässigen Ärzte geben lassen.«
»War’s das?« Sams Stimme klang selbst in seinen Ohren gepresst, da er Mühe hatte, nicht wütend hochzufahren, und stattdessen so flach wie möglich Luft holte, um sich einigermaßen zu beruhigen.
Dieses beschissene System! Als Soldat wurde man in diesem Land als Held gefeiert, wenn man aus einem Krisengebiet am anderen Ende der Welt zurückkehrte. Wenn es jedoch um die Versorgung der Verwundeten ging, tat sich der Staat seit jeher schwer, die nötigen Gelder dafür bereitzustellen. Was machte es denn für einen Unterschied, ob er hier oder an anderer Stelle behandelt wurde? Das Veteranen-Zentrum bot schließlich viel mehr, als eine normale Arztpraxis oder ein Physiotherapeut leisten konnten.
Sniders nickte nun lediglich, dann kritzelte er irgendetwas auf einen Rezeptblock, riss den Zettel ab und reichte ihm das Stück Papier.
»Ihre Medikamente für die kommenden zwei Wochen«, erklärte er lapidar. Obwohl die Worte etwas anderes aussagten, klangen sie eher wie ein Rauswurf.
Wortlos nahm Sam ihm das Rezept ab und verließ ohne Abschiedsgruß das Zimmer.
Kurz überlegte er, ob er die Physio und auch die anschließende Sitzung beim Seelenklempner ausfallen lassen sollte, entschloss sich dann aber, diese wahrzunehmen. Nach Sniders Ankündigung hatte er zwar überhaupt keine Lust mehr dazu, aber er würde den Teufel tun, jetzt auch nur eine Anwendung zu versäumen, die ohnehin von der Army bezahlt wurde.
Heather, die junge, blonde Physiotherapeutin, die sich in letzter Zeit aufopferungsvoll um ihn gekümmert hatte, empfing ihn gleich darauf in einem der Massageräume. Kritisch betrachtete sie das geschwollene und gerötete Narbengeflecht, das sich von seiner Hüfte abwärts über den linken Oberschenkel bis zu seinem Knie zog, nachdem er sich seiner Hose entledigt und auf der Liege Platz genommen hatte.
»Sie haben wieder einmal die Ruhepausen nicht eingehalten, die ich Ihnen verordnet habe«, stellte sie auch sogleich ohne Umschweife fest.
Sam brummte anstelle einer Antwort missmutig. Heather war höchstens Anfang zwanzig, sie hatte bestimmt keinen Teenager zuhause, um den sie sich kümmern musste und der bergeweise Dreckwäsche fabrizierte. Er vermied es, ihrem Blick zu folgen und an sich hinabzuschauen, schließlich wusste er genau, wie er aussah. Die Muskelstränge seines Oberschenkels waren derart zerfetzt worden, dass sie sich nicht komplett regeneriert hatten, auch das zuletzt intensiv betriebene Krafttraining hatte nicht geholfen. Zudem hatte die Wundheilung der Brandverletzung ewig gedauert, auch heute war die Haut an diesen Stellen noch papierdünn und empfindlich.
Das war jedoch nichts im Vergleich zu seinem Knie, das nahezu vollständig zertrümmert worden war und künstlich wieder aufgebaut werden musste.
»Macht das Knie wieder Probleme, hm?«, mutmaßte Heather nun auch folgerichtig.
»Wie immer.« Sam unterdrückte ein frustriertes Schnauben. Das Gelenk machte ihm die meisten Schwierigkeiten, oft schwoll es an und sandte merkwürdig brennende Schmerzsignale durch seinen gesamten Körper.
»Das kann jetzt wehtun«, warnte Heather ihn, tropfte etwas Massageöl auf ihre Handflächen und rieb sie aneinander, um sie anzuwärmen.
Vertrauensvoll ließ sich Sam auf die Liege zurücksinken und schaltete gedanklich ab. Der sanfte Druck von Heathers Fingern nahm zu, als sie begann, die gestaute Lymphflüssigkeit mit gezielten, festen Handgriffen wieder zum Fließen zu bringen. Es ziepte, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was ihn vor allem nachts plagte. Immer dann, wenn er versuchte, zur Ruhe zu kommen, marterten ihn Schmerzen, die ihn die halbe Nacht wachhielten. Als würden ihn diese Narben auf seinem Körper auf immer und ewig daran erinnern wollen, was geschehen war.
Was damals genau passierte, interessierte Sam weitaus weniger als Doktor Winfield, seinen Psychiater, der ihn nun gleich im Anschluss an Heathers wohltuende Behandlung erwartete. Winfields Therapieräume lagen im selben Gebäudeteil wie die der Physiotherapie, aber das war auch das Einzige, was Sam daran gut fand. Die Annehmlichkeiten kurzer Wege lernte man erst dann zu schätzen, wenn man bei jedem Schritt Schmerzen verspürte. Das stumpfsinnige Gelaber würde er sich allerdings gerne ersparen, nur gehörte dieser Teil der Behandlung untrennbar zu den anderen dazu.
Kaum hatte sich Sam jedoch auf dem breiten Sessel gegenüber von Doktor Winfield niedergelassen, fühlte er sich unwohl. Das mochte etwas mit dem prüfenden Blick des Psycho-Heinis zu tun haben, dem er sich jedes Mal bei diesen Sitzungen aussetzen musste. Auch jetzt schob Winfield die Brille auf seiner Nase hoch, hob eine Augenbraue und ließ effektvoll etliche Sekunden verstreichen, bevor er die Therapiesitzung begann.
»Wo waren wir zuletzt stehengeblieben, Captain?«
»Bei meiner Unfähigkeit?«, schoss Sam sarkastisch zurück. Dies wurde ihm jedenfalls von Winfield ständig vorgeworfen. Seine Unfähigkeit, sich zu öffnen. Die Dinge beim Namen zu nennen, die ihn beschäftigten und die eine Rückkehr in einen, wie auch immer gearteten, Alltag erschwerten.
»Ich habe es nicht Unfähigkeit genannt, sondern Verschlossenheit«, mahnte Winfield sogleich. »Wenn Sie Ihr Trauma aufarbeiten wollen, können Sie das nur, indem Sie darüber sprechen, was Sie erlebt haben.«
»Wenn Sie wissen wollen, was passiert ist, brauchen Sie lediglich in meine Akte zu schauen«, knurrte Sam angefressen. Verdammt, diese Therapie, zu der er verdonnert worden war, machte doch überhaupt keinen Sinn! Außer sie diente dazu, irgendwelche Details aus ihm herauszuquetschen, die ihn noch im Nachhinein belasten würden.
Dabei hatte er das meiste des Vorfalls und auch der darauf folgenden behördlichen Untersuchung verpasst, weil er genau achtzehn Tage im künstlichen Koma gelegen hatte. Selbst nachdem er das Bewusstsein wiedererlangte, konnte er nicht viel zur Aufklärung beitragen.
»Natürlich weiß ich, was in Ihrer Akte steht. Sie haben bei dem Zwischenfall nahe Kabul neun ihrer zwölf Kameraden verloren, Captain«, erinnerte Winfield ihn sanft. Als ob er diesbezüglich eine Erinnerung brauchen würde. »Wenn Sie nicht darüber sprechen, kann ich nicht den richtigen Ansatz für eine Therapie finden. Ich will Ihnen doch bloß helfen, das Erlebte zu verarbeiten, und das kann ich nur dann, wenn ich weiß, was geschehen und wie es überhaupt dazu gekommen ist!«
Sam schwieg beharrlich. Er selbst und die anderen Überlebenden seines Teams Desert Zero waren anschließend ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, weil im Gefecht angeblich unschuldige Zivilisten umgekommen sein sollten. Wobei Sam der Einzige zu sein schien, der das bezweifelte. Unschuldige Zivilisten hatte er in Afghanistan selten angetroffen. Vor allem nicht solche, die mit Panzerwerfern auf ihren Konvoi feuerten.
Winfield seufzte theatralisch auf und begann einen Monolog über irgendwelche seelischen Verletzungen, die ebenso therapierbar wären wie seine körperliche Verwundung. Er hörte jedoch nach wenigen Worten nicht mehr zu, sondern behielt die Wanduhr an seiner Seite im Auge. In derselben Sekunde, in der die digitalen Ziffern auf 10:45 Uhr sprangen, schnellte er trotz seines noch immer schmerzenden Beins aus dem Sessel hoch.
»Danke und leben Sie wohl, Doktor«, rang er sich noch ab, bevor er fast fluchtartig den Raum verließ.
Okay, jetzt reichte es ihm. Gleichgültig, ob die Army ihm eine weitere Therapiestunde bezahlte – dies war seine letzte gewesen, das würde er sich nicht nochmal antun.
Schließlich brachte es nichts. Weder änderte das Psycho-Gelaber etwas an den damaligen Vorkommnissen, noch brauchte er jemanden, der ihm erzählte, wer er war und was er gefälligst zu fühlen hatte. Das wusste er selbst nur zu genau, er war ja nicht dumm.
Schuld.
Das, was ihn nachts wachhielt, waren seine Schuldgefühle gegenüber denjenigen, die er nicht hatte schützen können und die seinetwegen tot waren. Neun seiner zwölf Männer waren umgekommen, weil er die Gefahr nicht hatte kommen sehen.
Sie waren tot, zerrissen von einer Granate, die wie aus dem Nichts auf sie zugeschossen gekommen war, deren Splitter ihn ebenfalls erwischt und ihm das Bein zerfetzt hatten. Der Anschlag hatte einer Reihe guter Männer das Leben gekostet. Auch das von Doug.
Mitten auf dem Weg zum Ausgang hielt Sam inne und atmete tief durch. Der Gedanke an Douglas ließ seine Kehle eng werden und schnürte ihm die Luft ab. Der Schmerz, der daraufhin durch ihn tobte, war schlimmer als alle anderen, die er nach seiner Verletzung durchmachen musste.
Bewusst verdrängte er die ungewollt aufkommende Erinnerung an seinen besten Freund und atmete dreimal tief durch, erst dann war er überhaupt dazu in der Lage, seinen Weg zum Auto fortzusetzen.
Irgendwann würde diese Höllenqual, die er aufgrund des Verlustes fühlte, sicherlich nachlassen.
Wenn auch nicht am heutigen Morgen.
***
Auf dem Heimweg hielt Sam Ausschau nach ihrem schwarz-weiß gefleckten, treulosen Katzenvieh, das heute Morgen von seinen nächtlichen Streifzügen nicht zurückgekommen war. Von dem Kater war jedoch weit und breit nichts zu sehen, auch nicht, als er den Wagen vor dem geschlossenen Garagentor abstellte. Normalerweise erwartete Sir Lancelot ihn bereits, wenn er aus der Klinik zurückkam, um ihm laut schnurrend und maunzend um die Beine zu streichen. Sorgfältig sah sich Sam um, während er aus dem Wagen stieg.
Nichts. Kein Kater.
Nicht einmal einer seiner Nachbarn ließ sich blicken, die Siedlung wirkte wie ausgestorben. Dafür war anscheinend der Postbote bereits hier gewesen, neben der Haustür stand ein grauer Karton. Instinktiv stellten sich ihm die Nackenhaare auf, sein Puls stieg rasch an und sein Herz schlug schneller. Sofort ermahnte er sich selbst.
Gottverdammt, Sam, flipp nicht gleich aus. Das ist bloß ein Paket.
Bestimmt hatte Josy wieder einmal etwas im Internet bestellt, ohne ihm Bescheid zu geben.
Mühsam schüttelte er das ungute Gefühl in seinem Nacken ab, näherte sich aber trotzdem vorsichtig dem Karton. Nein, es war keine Postsendung, jedenfalls war kein Adressaufkleber drauf. Die Schachtel war zudem nicht zugeklebt, die Laschen des Deckels waren nur lose ineinandergesteckt.
Was war das? Eine Bombe? Nein, unmöglich. Nicht hier, nicht mitten in Palmdale und am helllichten Tag. Außerdem gab es für niemanden einen Grund, ihm einen Sprengsatz vor die Haustür zu stellen. Kurzentschlossen zog er die Kartonteile auseinander – und zuckte erschrocken zurück.
Sir Lancelot!
In der Kiste lag ihr toter Kater. Kein Zweifel möglich, die charakteristische Fellzeichnung war unverwechselbar. Mit einem Blick erfasste Sam, dass dieser keinesfalls überfahren worden und von einem umsichtigen Nachbarn vor die Tür gelegt worden war. Sir Lancelots Kehle war durchschnitten, sein Kopf dabei fast abgetrennt worden. Allerdings musste das woanders und vor einigen Stunden passiert sein, denn in der Kiste hatte sich unverhältnismäßig wenig Blut angesammelt.
Sam schluckte trocken. Wer tat so etwas einem unschuldigen Tier an? Hatten sie etwa einen Katzenhasser hier in der Gegend, der sich an herumstreunenden Haustieren vergriff und diese umbrachte?
Wieder sah er sich alarmiert um, aber ringsum war niemand zu sehen.
Behutsam schloss er den Deckel des Kartons und hob ihn hoch. Es half nichts, er musste Sir Lancelot im Garten begraben, bevor Josy aus der Schule kam und ihn so sehen würde. Sie musste bereits auf dem Heimweg sein, da heute der letzte Schultag vor den Sommerferien war und sie keinen Nachmittagsunterricht hatte. Ihm blieb nicht viel Zeit, sich Gedanken zu machen, wie er das seiner Tochter möglichst schonend beibrachte.
Verdammt, Josy hatte unwahrscheinlich an dem Kater gehangen, den er ihr geschenkt hatte, kurz nachdem ihre Mutter sie verlassen hatte. Ja, okay, nicht nur sie würde dem Fellknäuel hinterher trauern. Er würde den Kater ebenfalls vermissen, der sich oft nachts zu ihm ins Bett geschlichen und ihm Gesellschaft geleistet hatte.
Was für ein gottverdammter, abgefuckter Scheißtag!
Sam grummelte einen Fluch vor sich hin und trug den Karton hinters Haus. Seine letzte Ruhestätte sollte Sir Lancelot in dem kleinen Beet neben der Gartenhütte finden.
Doch kaum bog er um die Hausecke, traf ihn irgendetwas aus heiterem Himmel und mit voller Wucht. Mitten ins Gesicht. Schlagartig wurde es dunkel um ihn herum und er merkte nicht einmal mehr, wie er zu Boden ging.
***
Langsam kam Sam wieder zu sich. Hinter seinen geschlossenen Lidern zuckten Lichtblitze, der metallische Geschmack von Blut füllte seinen Mund. Ein stechender Schmerz breitete sich von der Stirn aus über die Schläfe in seiner rechten Gesichtshälfte aus, selbst sein Kiefer tat höllisch weh. Benommen schüttelte er den Kopf.
»Wurde ja auch Zeit.«
Noch bevor er die tiefe Stimme an seiner Seite vernahm, hatte Sam gespürt, dass er nicht allein im Raum war – und gleichzeitig festgestellt, dass er sich nicht rühren konnte. Seine Handgelenke waren hinter dem Rücken zusammengebunden, die Fesseln schnitten unangenehm fest in die Haut. Auch die Beine konnte er nicht bewegen. Er blinzelte, nach und nach stellte sich seine Sicht wieder einigermaßen scharf. Mit Einschränkungen, sein rechtes Auge musste zugeschwollen sein, da er lediglich mit dem anderen etwas sehen konnte. Er war an einem Küchenstuhl festgebunden. Intuitiv testete er die Stabilität der Fesseln, aber sie saßen bombenfest um seine Handgelenke und er vermutete, dass es sich um Kabelbinder handelte, die auch mit den hölzernen Streben der Rückenlehne verbunden worden waren. Zusätzlich waren die Fußknöchel an den massiven Stuhlbeinen fixiert worden.
Die vertraute Umgebung ihrer Küche erkannte er sofort. Den Mann im schwarzen Anzug, der lässig am Küchentresen lehnte und ihn aufmerksam beobachtete, kannte er indes nicht. Der Fremde musterte ihn scharf und schien auf irgendetwas zu warten.
Sam sah ihm fest in die Augen und sog jedes Detail des Mannes in sich auf, um später eine Beschreibung liefern zu können. Körpergröße knapp sechs Fuß, schlanke Figur, dichte blonde Haare, gepflegter Haarschnitt. Etwa Mitte dreißig. Manikürte Fingernägel. Eine gerade, schmale Nase, blassblaue Augen und dünne Lippen, die sich jetzt spöttisch kräuselten.
Obwohl – würde er überhaupt noch dazu kommen, irgendjemandem hiervon zu berichten? Scheiße, dass der Kerl nicht maskiert war und offen seine Visage zeigte, schien eher zu bedeuten, dass er ihn umbringen würde. Aber warum? In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie lange war er bewusstlos gewesen? Verdammt, der Typ verdeckte ihm gerade die Sicht auf die Wanduhr, sonst könnte er abschätzen, wie viel Zeit ihm blieb, bis Josy aus der Schule kam.
»Eines muss ich Ihnen lassen, Captain: Sie heulen wenigstens nicht herum. Das macht die Sache fast angenehm«, begann der Fremde jetzt in einem gelangweilt klingenden Plauderton.
Sam verkniff sich eine harsche Bemerkung.
»Was wollen Sie?«, stieß er stattdessen rau hervor.
Der Mann antwortete nicht sofort, sondern holte ein Handy aus der Jackentasche seines Jacketts hervor.
»Bevor wir zum geschäftlichen Teil kommen, habe ich hier jemanden, der Sie sprechen möchte«, verkündete er, drückte mit dem Daumen auf dem Display herum und hielt das Gerät vor Sams Nase. Es tutete, dann erklang aus dem Smartphone eine Stimme, bei der es Sam eiskalt über den Rücken lief.
»Daddy!« Josys Stimme wurde durch den Lautsprecher verzerrt, trotzdem hörte Sam die Panik aus ihrem lauten Ruf heraus.
»Josy!« Instinktiv spannte er sich an und wollte hochfahren. Im nächsten Sekundenbruchteil biss er die Zähne zusammen und unterdrückte einen Schmerzenslaut, weil die Fesseln umso tiefer in seine Haut schnitten.
»Dad, mir geht’s gut«, stieß Josy hastig hervor. »Sie haben mich auf dem Heimweg am Fleetwood Drive in ein Auto gezerrt, einen schwarzen Transporter Marke …«
Der Blonde tippte mit dem Daumen erneut auf das Display und beendete die Verbindung abrupt. Sein Mund verzog sich zu einem kalten Lächeln.
»Ganz schön clever, die Kleine. Aber das genügt, um Ihnen zu zeigen, dass wir es ernst meinen.«
»Wenn Sie meiner Tochter auch nur ein Haar krümmen, bringe ich Sie um!«, brüllte Sam aufgebracht und zerrte erneut an den Fesseln. Ein sinnloses Unterfangen, sie gruben sich lediglich in sein Fleisch und er spürte, wie Blut an seinen Handgelenken hinab über seine geballten Fäuste rann. »Lassen Sie sie gehen, Sie haben doch mich! Was wollen Sie überhaupt?«
»Ihrer Tochter wird nichts geschehen, wenn Sie das tun, was man Ihnen sagt.« Der Typ zuckte angesichts seines Wutausbruchs nicht einmal mit einer Wimper. »Sie ist unser Pfand, damit Sie keine Dummheiten begehen. Wie zum Beispiel die Polizei einzuschalten. Verstanden? Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Verstanden«, knurrte Sam. Mühsam zügelte er sich, der Mann schien gerade auf den Punkt kommen zu wollen. Was sollte das alles? Er hatte keinerlei Zweifel, dass der Kerl es ernst meinte. Wenn er Josy retten wollte, musste er zumindest für die nächsten Minuten mitspielen und sich danach überlegen, wie er sie befreien konnte.
»Okay, dann spitzen Sie mal Ihre Lauscher und hören mir gut zu: Meinem Auftraggeber ist vor fast genau fünf Jahren etwas abhandengekommen, das Sie ihm wiederbeschaffen sollen.«
Der Typ machte eine wichtigtuerische Pause und musterte ihn gründlich. Überrascht runzelte Sam die Stirn.
Bitte – was?
»Aha, ich sehe schon, das sagt Ihnen nichts«, stellte der Mann ruhig fest. »Dann muss ich Ihrem Gedächtnis etwas auf die Sprünge helfen. Vor fünf Jahren haben Sie das Kommando über einen Konvoi nahe Kabul in Afghanistan gehabt, der unter anderem eine ganz bestimmte Fracht mit sich führte. Bei dem Überfall, durch den Sie verletzt wurden, ist diese Fracht gestohlen worden.«
Verständnislos schüttelte Sam den Kopf. »Ihre Informationen sind falsch. Wir hatten keine Fracht.«
»Oh doch. Auf dem zweiten Wagen befand sich eine Kiste. Silberfarbener Stahl. Sie erinnern sich?«
Wahrheitsgemäß schüttelte Sam den Kopf, gleichzeitig zermarterte er sich sein Hirn, was dies für eine Kiste gewesen sein sollte. Weder vor noch nach dem Vorfall in Kabul, bei dem neun seiner Männer getötet worden waren, war überhaupt die Rede von irgendetwas Wertvollem gewesen, das sie damals mit sich führten und das anschließend verschwunden sein sollte. Es war ein normaler Routineeinsatz gewesen. Ihre Order lautete, vom Stützpunkt D-L 7 zum Militär-Flughafen bei Kabul überzuwechseln, um die dortige Einheit zu verstärken. Sie waren mit drei Humvees unterwegs gewesen, ganz gewöhnlichen Transportwagen, die keine besondere Panzerung aufwiesen, dafür aber extrem geländegängig waren.
»Nun, wie dem auch sei, mein Auftraggeber hätte diese Fracht gerne zurück. Und damit kommen Sie ins Spiel. Sie werden diese Kiste für ihn aufspüren und an ihn übergeben. Dann bekommen Sie Ihre Tochter wohlbehalten zurück.«
»Ich weiß nichts von einer Kiste«, beharrte Sam. »Was war überhaupt darin?«
Verzweiflung stieg in ihm hoch. Wie sollte er etwas finden, von dem er bis jetzt nicht einmal wusste, dass es existierte?
»Der Inhalt geht Sie nichts an«, entgegnete der Kerl trocken und stieß sich vom Küchentresen ab, an dem er noch immer lehnte. »Finden Sie diejenigen, die Ihren Konvoi überfallen haben, dann finden Sie auch die Kiste.«
»Die Fahrzeuge sind bei dem Überfall mit Panzergranaten beschossen worden und komplett ausgebrannt. Was ist, wenn Ihre seltsame Kiste dabei ebenfalls zerstört wurde?«, warf Sam ein. Die Bilder, die man ihm später gezeigt hatte und auf denen die verkohlten Gerippe der Humvees zu erkennen waren, würde er niemals vergessen.
»Das ist sie nicht, keine Sorge«, widersprach der Blonde lapidar.
»Und wenn doch?«
Der Mann antwortete nicht, sondern drehte sich um und verließ die Küche. Kaum eine Minute später kehrte er jedoch mit einem schwarzen Aktenkoffer zurück, den er auf den Tisch stellte und öffnete. In diesem befand sich ein auf schwarzem Samt gebetteter, merkwürdig aussehender Ring. Ein metallener Reifen, der aus zwei Bügeln mit einem Scharnier bestand und wie die eine Hälfte einer Handschelle aussah.
Extrem vorsichtig hob der Mann nun den Ring heraus, trat an Sam heran und legte diesen um den Fußknöchel seines gesunden rechten Beines. Er ließ die Scharniere einrasten, wonach plötzlich ein kleines Lämpchen an der Oberseite des Ringes rot aufleuchtete.
»Das ist ein Peilsender, damit wir immer wissen, wo Sie sich aufhalten. Verschwenden Sie keine Mühen daran, den Sender loszuwerden, Captain. Er ist mit einer Sprengladung gesichert, jeder Versuch, den Ring zu öffnen, lässt diese detonieren. Glauben Sie mir, das wollen Sie auf keinen Fall. Sie würden nicht nur Ihr Bein, sondern Ihre Tochter auch gleich den Vater verlieren.«
Mit diesen Worten wandte sich der Mann ab, schloss den Aktenkoffer und zog eine kleine Zange aus der Tasche seines Jacketts. Damit trat er hinter Sam und knipste die Fessel an seiner rechten Hand durch. Anschließend verließ er den Raum, kurz darauf hörte Sam die Haustür ins Schloss fallen. Danach nichts mehr.
Stille legte sich wie ein schwerer Mantel über die Küche, über sein Haus. Selbst von draußen drangen keine Geräusche zu ihm vor, als würde die Welt stillstehen und den Atem anhalten.
Wie paralysiert hielt Sam inne und schaute sich um. Seine Umgebung, die Küche, sein gesamtes Zuhause, alles kam ihm plötzlich unwirklich und fremdartig vor. Die Sicherheit des eigenen Heims zu verlieren war erschütternd, aber nichts im Vergleich zu seiner Sorge um Josy, die nun mit aller Macht über ihn hereinbrach. Verdammt, er musste hier heraus und sie finden! Wenn seinem kleinen Mädchen etwas geschehen würde …
Panik stieg in ihm hoch, er schluckte mühsam und atmete tief durch. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, damit wäre er Josy keine Hilfe.
Mühsam versuchte Sam, sich wieder einigermaßen zu beruhigen und planvoll vorzugehen. Der Typ hatte ihm zumindest eine der Handfesseln gelöst, vom Rest musste er sich selbst befreien. Mitsamt dem Stuhl ruckelte er umständlich zur Schublade der Anrichte hinüber, wo er seine Küchenmesser aufbewahrte, nahm eines heraus und säbelte damit den Kabelbinder am linken Handgelenk auf, bevor er die um seine Fußknöchel löste.
Gleich darauf atmete er erleichtert auf und schüttelte die letzten Fesseln ab. Tiefe Schnitte zeichneten seine Handgelenke, die Hände waren blutüberströmt, aber das kümmerte ihn jetzt nicht.
Ohne Zeit zu verlieren stürmte er in sein Schlafzimmer, holte eine Tasche aus seinem Schrank und warf ein paar Kleidungsstücke hinein. Anschließend ging er in Josys Zimmer hinüber und packte auch ihre Sachen. Ihr Handy lag wie üblich ausgeschaltet auf dem Schreibtisch, da in der Schule jegliche Smartphones und Tablets streng verboten waren und eingesammelt wurden, wenn die Schüler damit erwischt wurden. Er wollte es gerade nehmen und einstecken, als sein Blick auf ihr ungemachtes Bett fiel, das sie wie immer am Morgen so zurückgelassen hatte.
Tränen traten ihm in die Augen. Wie oft hatte er sie für diese Kleinigkeit geschimpft, ihr wegen jeder Nachlässigkeit die Hölle heißgemacht. Einfach in dem Glauben, dass sie nur dann zu einer verantwortungsvollen Frau heranwachsen würde, wenn sie lernen würde, Ordnung zu halten. Als ob das irgendeinen Sinn ergeben würde, als ob das wichtig gewesen wäre. Alles, was zählte, war, dass ihr nichts zustieß.
Josy war ein wundervolles Mädchen, mit vielen Talenten. Sie war clever, ziemlich taff und wusste sich gegenüber anderen zu behaupten.
Aus diesem Grund hatte es ihn tief getroffen, dass sie vorhin ausgerechnet Daddy gerufen hatte, nicht Sam, wie sie es sich in den letzten Wochen angewöhnt hatte. Sein kleines Mädchen brauchte ihn jetzt. Intuitiv klaubte er ihr Lieblingsstofftier vom Bett, den weißen Hasen Mr. Pumpkin, und stopfte ihn ebenfalls in die Reisetasche.
Mit beiden Taschen verließ er das Haus, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen.
Er wusste, es gab jetzt bloß eine Person, die ihm helfen konnte.
Cruz.
Ausgerechnet Cruz.
Nach knapp drei Stunden Fahrt erreichte Sam San Diego. Trotz der frühen Nachmittagsstunde herrschte an der Strandpromenade ein Gewusel aus Joggern, Inline-Skatern und Radfahrern, die den heißen Sommertag genossen. Unzählige Taco-Imbisse und Bars hatten bereits geöffnet und fügten sich in das mexikanische Flair der beschaulichen Kleinstadt an der kalifornischen Küste ein.
Nachdem er seinen Wagen geparkt hatte, steuerte Sam den erstbesten Shop an, der Surfbretter und Neoprenanzüge verlieh. Ein junger Mann mit dichtem Vollbart und in einem grellbunten Tanktop stand hinter dem langen Tresen und schaute auf, als Sam den Laden betrat.
»Hey, wie kann ich helfen?«, grüßte er zuvorkommend.
»Guten Tag. Können Sie mir sagen, wo es hier in San Diego die Abschnitte mit den höchsten Wellen zum Surfen gibt?«, fragte Sam höflich.
Der junge Mann musterte ihn abschätzend.
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht die Anfänger-Bereiche suchen?«, erwiderte dieser dann.
»Wenn das so wäre, würde ich nicht nach den Stränden für Profis fragen«, hielt Sam ungeduldig dagegen.
»Okay, okay, Mann. Alles easy.« Der Typ verzog das Gesicht zu einem freundlichen Lächeln. »Also, wenn Sie der oberkrasse Wellenschlitzer sind, dann sollten Sie den Spot am Bird Rock aufsuchen. Das ist bei den vollgekackten Felsen, nach denen auch der Stadtteil benannt wurde. Der Spot hält großem Swell stand und nach einem längeren Paddel out trifft man dort auf die besten Surfer von San Diego. Oder auch weiter nördlich, da liegt der Windansea, ein toller A-Frame. Wie aus dem Bilderbuch, die Wellen dort reichen von spaßig bis super heavy. Noch weiter im Norden liegt der Black Beach, aber da haben Sie ohne eine Knarre und dicke Cojones nix verloren. Der Beachbrake zaubert da hohle Wellen, aber der Zugang durch die Klippen ist etwas schwierig.«
»Aha. Bird Rock, Windansea und Black Beach«, wiederholte Sam. Von dem Rest hatte er kein Wort verstanden, aber das war auch nicht weiter wichtig. Jetzt wusste er, wo er nach Cruz zu suchen hatte.
Wenn man für die Wellen am Black Beach die dicksten Eier in der Hose haben musste, wie der Typ eben gemeint hatte, dann würde er den verrückten Spanier sicherlich dort antreffen. Cruz war schon immer einer derjenigen gewesen, denen keine Gefahr zu groß und kein Risiko zu hoch war, um es nicht einzugehen.
Sam sparte es sich daher, am Bird Rock oder beim Windansea vorbeizufahren, sondern steuerte sofort den Strandabschnitt an, den die Landkarte auf seinem Handy ihm als Black Beach auswies. Direkt am höchsten Punkt einer steilen Klippe befand sich ein kleiner Parkplatz, auf dem lediglich zwei weitere Wagen standen. Ein zerbeulter und verrosteter VW-Bus und ein gepflegtes, rotes Alfa Romeo Spider Cabriolet. Sam parkte neben dem Cabrio und schielte beim Aussteigen auf das kalifornische Kennzeichen. 6BEAST999. Das war so typisch für Cruz, das musste sein Wagen sein.
Umsichtig nahm er eine volle Wasserflasche aus seinem Auto und machte sich an den beschwerlichen Abstieg zum Strand hinunter. Der Typ aus dem Surfer-Shop hatte nicht gelogen, es führte lediglich ein schmaler und extrem steiler Trampelpfad mitten durch die Klippen. Oftmals musste er eine Hand zum Klettern nutzen und nach kurzer Zeit war er klatschnass geschwitzt. Der Schweiß rann seine Schläfen hinab, die Schürfwunde an seiner rechten Wange, die der Schlag ins Gesicht hinterlassen hatte, brannte wie Feuer. Sein Bein protestierte gegen die Tortur mit stechenden Schmerzen und er musste häufig pausieren, um den Abstieg bewältigen zu können. Wie zur Hölle er später diese Klippe wieder hinaufkommen sollte, darüber machte er sich jetzt lieber keine Gedanken.
Endlich hatte er den Strand erreicht und humpelte langsam zum Wasser hinunter. Es waren tatsächlich nur zwei Surfer im Wasser.
Erschöpft ließ sich Sam auf den von der Sonne gewärmten Sand fallen und trank zunächst einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche.
Die Surfer waren weit draußen, jagten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf ihren Boards an den großen Wellen entlang. Beide trugen schwarze Neoprenanzüge, hatten dunkle Haare, waren schlank und hochgewachsen, trotzdem erkannte er Cruz sofort.
Es war die Art, wie er sich bewegte.
Wie er den Kopf schieflegte, die Arme zur Stabilisierung ausbreitete und seinen Stand auf dem Board ausbalancierte. Jede Kleinigkeit, die er auf die Entfernung ausmachen konnte, jede kraftvolle und gleichzeitig anmutige Bewegung dieses Mannes schien ihm vertraut. Schmerzlich vertraut.
Urplötzlich spürte Sam Nervosität in sich hochsteigen. Sein Atem beschleunigte sich, das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Wie würde Cruz reagieren? Sie hatten sich über fünf Jahre weder gesehen noch gesprochen, dabei waren sie mehr als gute Freunde gewesen. Viel mehr …
Erinnerungen stiegen ungewollt in ihm hoch. Eindrücke aus der Vergangenheit, die er lange in sich begraben hatte und die hier nichts zu suchen hatten. Weil sie zu jener Zeit gehörten, in der er noch ein anderer gewesen war.
Erinnerungen an schweißglänzende Haut über harten, ausgeprägten Muskeln. An feuchte, wilde Küsse und ein raues Kinn, das über seines rieb. Cruz war der erste und einzige Mann gewesen, den er geküsst hatte. Oder besser gesagt, der ihn geküsst hatte. Derjenige, der ihn mit einem verflucht sinnlichen Blick aus seinen glutvollen, fast schwarzen Augen elektrisierte, bis er jegliche Vorbehalte über Bord geworfen und sich kopfüber in ein verboten heißes, erotisches Abenteuer gestürzt hatte.
Unwillkürlich war Sam versucht, aufzustehen und das Weite zu suchen, bevor Cruz ihn hier entdeckte.
Zu spät.
Sein Freund und ehemaliger Lieutenant der Desert Zero stieg gerade aus dem Wasser, das weiße Board lässig unter den linken Arm geklemmt – und kam direkt auf ihn zu.
***
Sam.
Madre de Dios.
Das konnte nicht sein. Und doch war er es. Kein Zweifel.
Cruz ließ sich Zeit und schlenderte scheinbar unbeeindruckt näher, obwohl seine Knie mit einem Mal seltsam weich waren. Der Sand unter seinen bloßen Füßen wurde immer wärmer, sobald er den wasserüberspülten Bereich verlassen hatte, im gleichen Maße stieg glühender Zorn in ihm auf.
Zum Teufel, wo kam Sam so plötzlich her? Und was wollte er hier? Nach fünf Jahren? Fünf Jahre, in denen er nicht ein einziges Sterbenswörtchen von sich hatte hören lassen?
Wütend warf Cruz sein Board in den Sand, stemmte die Hände in die Hüften und baute sich vor seinem ehemaligen Captain auf, der sich soeben umständlich hochrappelte und aufstand. Aus schmalen Augen musterte Cruz ihn.
Das war doch echt zum Kotzen, der Kerl hatte nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt. Nicht ein winziges bisschen.
Vor ihm stand der Mann, der ihm vor fünf Jahren das Herz gebrochen hatte – und er sah noch immer so verflucht gut aus wie damals. Oder sogar besser. Er trug die Haare wie früher kurz, unter dem braunen T-Shirt zeichneten sich breite Schultern ab und die kurzen Ärmel gaben den Blick frei auf riesige, wohldefinierte Bizepse, die er nicht einmal mit beiden Händen umspannen könnte.
Mierda. Wie hatte er bloß glauben können, endlich darüber hinweg zu sein? Die Enttäuschung, die er damals fühlte, brannte nach wie vor lichterloh in ihm.
»Bist du vor einen Bus gelaufen?«, schnauzte er Sam barsch an, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Die Schwellung und die Schürfwunden in dessen markantem Gesicht waren ihm sofort aufgefallen.
Wortlos schüttelte Sam den Kopf, dann öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, aber Cruz funkte ihm aufgebracht dazwischen.
»Du hast echt Nerven, hier aufzutauchen. Hijo de puta! Du elender Scheißkerl! Was fällt dir ein!« Wütend rang Cruz die Hände und ignorierte, dass Sam erneut dazu ansetzte, irgendetwas zu sagen. Jetzt kam er erst so richtig in Fahrt.
»Nach fünf Jahren! Du hast nicht ein einziges Mal in den gesamten fünf Jahren angerufen. Nicht ein einziges Mal! Aber reden war ja noch nie deine große Stärke. Oder auch, irgendwelche Dinge zu erzählen, die anderen Leuten vielleicht wichtig sein könnten. Wie zum Beispiel, dass du verheiratet bist. Das klitzekleine Detail hast du mir hübsch verschwiegen!« Seine Stimme wurde lauter, bis er letztendlich vor Wut brüllte und unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballte.
»Cruz …«, begann Sam, aber er war noch lange nicht mit ihm fertig.
»Weißt du, das wäre mir vielleicht wichtig gewesen! Und so hast du mich ahnungslos über deine hysterische Frau stolpern lassen, als ich dich im Krankenhaus besuchen wollte! Du bist so ein Arsch, Sam Cromwell! Qué pendejo! Lass mich bloß in Ruhe, zum Donnerwetter noch mal! Verschwinde! Vete a la mierda!«