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JOHANNES NESTROY

Über dem
Meer

Die Rose des Antoine de Saint-Exupéry

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Printed in Austria

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1. Auflage 2018

Fotos: Cover Antoine de Saint-Exupéry: Wikimedia Commons, Public Domain/ Wikimedia Commons, Cover Flugzeuge: Florence Ramioul (Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported) Vor- und Nachsatz: Archiv Johannes Nestroy

Lektorat: Mario Wurmitzer

Für meine Tochter Paula,
die sich allerdings ein Kinderbuch wünschte,
und
im Andenken an Herbert Rosendorfer

Inhalt

Prolog im Himmel

Im Park von Château La Môle

Das Luftpostzimmer im Château Saint-Maurice-de-Rémens

In der Wüste seines Lebens

Über dem Meer

In den Bergen der Résistance

Das wahre Glück ist erhaben über seine Dauer

In den Bergen der Résistance

Über dem Meer

In der Wüste seines Lebens

Das Luftpostzimmer im Château Saint-Maurice-de-Rémens

Im Park von Château La Môle

Epilog auf Erden

Personenverzeichnis

Anmerkungen

Bibliografie

Danksagung

Dir Mnemosyne, Titanin der Erinnerung!

Ein bezauberndes, altersloses Wesen, welches stets in meine Vergangenheit blickt …

So hab’ ich dich vor mir! Ich hingegen, um im Leben zu bestehen, richte meinen Blick meist nach vorne. Sehr oft jedoch, wenn ich an Vergangenes denke, und dies geschieht immer häufiger und eindringlicher je älter ich werde, blicken wir gemeinsam zurück. Deshalb sehen wir einander Zeit unseres Lebens nie ins Antlitz. Meine teure Mnemosyne, ich kann nicht anders, ich muss dich fragen: Ist uns Sterblichen dies nicht gegönnt oder ist die Zeit für diesen ersten und wohl auch letzten Blick in deine Augen für mich noch nicht gekommen?

Wird meine so maßlos große Sehnsucht meinen Blick wenigstens ein einziges Mal aus der rückblickenden Gemeinsamkeit zu lösen und auf dich richten zu dürfen, jemals gestillt werden?

Prolog im Himmel

Über dem Meer traf ihn plötzlich ein Schmerz, ein vernichtender Schmerz, ein Angriff aus seinem Innersten, dem er nicht gewachsen war. Denn er war gewohnt, dass jegliche Gefahr von außen an ihn herantrat.

Über dem Meer bereute er nichts. Er rauchte, wann immer sich Gelegenheit bot, schonte weder Geist noch Körper, hielt sich mit Kaffee wach und fand seit einiger Zeit in nur kurzem Schlaf keine ausreichende Erholung. Er dachte an Borgo, an seine Rückkehr, an die, die ihn erwarten würden, am Flugplatz, zu Hause. Und er dachte ans Wiederaufsteigen, an die Widersinnigkeit sich einen Fallschirm angurten zu lassen, dachte aber auch an die ruhigen Flüge unter einem hellen südlichen Mond. Und dachte daran, dass er noch schreiben wolle, vieles noch schreiben müsse.

Der heftig stechende Schmerz, der sich zu einer wilden Umklammerung steigerte und bis in die Finger seiner linken Hand ausstrahlte, bemächtigte sich immer mehr seiner Gegenwart.

Als ob das bisher Vorgefallene nicht bereits bis an seine Unerträglichkeit vorgedrungen wäre, entdeckte er dann in der Ferne, gut 300 Meter unter ihnen, ein Flugzeug auf sie zukommen. Der Typ war ihm unbekannt, es war jedoch ein deutscher Jäger. In diesem Küstenabschnitt hatte er auch mit Feindberührung gerechnet. Er hielt auf das Jagdflugzeug zu, aber nicht um es aus der Überhöhung anzugreifen, seine Lightning war unbewaffnet, sondern um ihm zu entkommen und sich auf diese Weise den rettenden Weg zur Insel freizuschlagen.

Das gegnerische Flugzeug kurvte jedoch nicht nach unten weg, wie er aus Erfahrung vermutet hatte, sondern gewann an Höhe. Das verhieß nichts Gutes.

Das auffallend ruhige Wasser dieses Hochsommertages, das den strahlenden Zenit der Sonne nicht in sich aufnahm, sondern dem Himmel unvermindert entgegenwarf, blendete ihn für wenige Augenblicke. Er verlor die deutsche Maschine aus den Augen.

Danach sah er nur noch das tiefblaue Meer. Aber es war nicht nur dieses eine sich tatsächlich unter ihm ausbreitende Meer. Es waren alle Meere und Wüsten, alle Oasen und Gebirgsketten, jede Stadt und jede kleine, sich im abendlichen Dämmerlicht windende Landstraße, die er je überflogen hatte. Überall befand er sich jetzt, tauchte in jedes Detail und auch in dessen Gesamtheit gleichzeitig und allumfassend ein.

Noch über dem Meer versiegte der Schmerz, noch über dem Meer verblassten die Bilder, noch über dem Meer verließ ihn das Leben.

Im Park von Château La Môle

Leben heißt, langsam geboren zu werden.

Antoine de Saint-Exupéry

Sein Aeromobil aus Pappmaché in Händen läuft er auf dem Kiesweg an der Rückseite des Schlosses zu seinem Lieblingsbaum. Eine ungewöhnlich hohe und sehr alte, von mehreren Blitzschlägen gezeichnete Linde steht etwas abseits des Hauses am Waldrand. Es ist Nachmittag, Ende Juni, sein Geburtstag naht.

Die südliche Provence liegt schon seit einigen Wochen unter einem tiefblauen Sommerhimmel. Der Rasen des Parks ist frisch geschnitten, und der Duft des Grases breitet sich über das Anwesen seines Großvaters.

Im Sommer des vorletzten Jahres sind im Gebiet von Draguignan ungewöhnlich viele und heftige Gewitter niedergegangen. Der Park und der Garten von La Môle sind einige Male von stürmischen Regenfällen und Blitzschlägen heimgesucht worden.

Der Gärtner Clément, der seit jenem Sommer als zusätzliche Hilfe zum alten Jérôme im Schloss aufgenommen worden ist, reinigt und ölt die Gartenwerkzeuge. Er trägt einen breitkrempigen Strohhut, dessen ausgefranster Rand in allmählicher Auflösung begriffen ist. Er blickt von seiner Arbeit auf, als das Fluggerät mit dem jungen Flugzeugführer an ihm vorbei in Richtung Waldrand entschwindet.

Die Schwestern sitzen im Schatten der Linde und brennen darauf das Aeromobil zu sehen. Denn alles, was ihr Bruder für die Lüfte baut, nennt ihr Großvater Aeromobil. Diese Bezeichnung hat er sich einfallen lassen müssen, als ihm sein Enkel vor einigen Tagen stolz seine Konstruktion vorgeführt hat.

„Ich habe es für den Himmel über allen Ländern und Meeren gebaut“, sagt der junge Konstrukteur. Alle, die sein Aeromobil sehen, wollen auf der Stelle mitfliegen.

„Es hat Platz für vier Passagiere, kann auf Sand, Land und Wasser starten und landen und fliegt, angetrieben vom Wind, der in den Flügeln eingebaut ist“, berichtet er stolz.

„Ich habe es überall blau angemalt. Es ist nämlich ein Versteck-Aeromobil für zwischen Himmel und Meer“, klärt der Bruder seine beiden ahnungslosen Schwestern auf.

Biche und Monot sind von dem blitzblauen Flugzeug hellauf begeistert. Und als ihr Bruder aufspringt und, ein Motorengeräusch nachahmend, durch den Park läuft, sind auch sie sofort auf den Beinen und stürmen ihm nach.

Am Abend, als das Geburtstagskind des nächsten Tages eingeschlafen ist, betrachten sein Großvater, der Baron de La Môle und seine Mutter das blaue Aeromobil.

Der Großvater nickt anerkennend und blickt auf seine Tochter. „Er ist sehr begabt, unglaublich, und wirklich einfallsreich ist er obendrein. Und morgen feiert er erst seinen sechsten Geburtstag. Aber…“, meint der Großvater nachdenklich, „solche Aeromobile existieren doch gar nicht.“ „Ich bin mir sicher, Vater, eines Tages wird es sie geben. Genau so, vielleicht noch viel größer. Sieht aus wie eine hellblaue Aubergine mit langen, leicht nach hinten gebogenen Flügeln. Und als Antrieb dient eingebaute Luft!“, lächelnd schüttelt sie ihren Kopf. Danach stellt sie ganz vorsichtig das Aeromobil ihres erfindungsreichen Sohnes auf den Boden vor die Türe des Zimmers, in dem er mit seinem jüngeren Bruder schläft.

Schon früh am Morgen sitzt Jérôme am Küchentisch und taucht Weißbrotstücke in seinen morgendlichen Milchkaffee. Er blickt zufrieden zum Fenster hinaus auf einen großen Lavendelstrauch. Alle der Familie nennen ihn la grande lavande.

Vor bald 40 Jahren hat er ihn gepflanzt. Jérômes offensichtlich gute Platzwahl und glückliche Gärtnerhand haben ihn prächtig und zu einer sehr ansehnlichen Höhe gedeihen lassen. Leise und zaghaft wird die Küchentüre geöffnet. Wissend lächelnd richtet der alte Gärtner seinen Blick zur Tür. „Guten Morgen, Jérôme“, grüßt das Geburtstagskind, freundlich wie immer, den alten Gärtner. „Setz dich zu mir, deine Milch hab’ ich schon gewärmt. Wir haben noch ein wenig Zeit, bevor wir uns an die Gartenarbeit machen. Und Handschuhe in deiner Größe hab’ ich auch für dich. So kannst du mir heute sogar beim Schneiden der Rosen zur Hand gehen.“ „Die haben ja eine blaue Schleife!“ „Na ja, du hast ja heute Geburtstag, mein Kleiner!“ Gleich probiert der junge Gärtner seine neuen Handschuhe an. „Das ist ein Geschenk des Monsieur. Dein Großvater hat gemeint, ich solle sie dir gleich jetzt überreichen. Tonio, als Erstes werden wir uns die Bourbon-Rosen an der Auffahrt vornehmen und danach machen wir uns an den Buchs vorne im Garten.“ Jérôme wischt sich mit dem Handrücken den Milchkaffe vom Mund und tritt mit seinem kleinen Begleiter ins Freie. Es ist noch angenehm mild, die Luft unbewegt. „Der frühe Morgen ist die schönste Zeit für einen Gärtner. Wenn deine Familie erwacht, haben wir beide bereits einen Gutteil der Arbeit hinter uns gebracht.“

Gegen acht Uhr, nach über zweistündiger Gartenarbeit, schneidet Jérôme einige dunkelrote Rosen von einem Strauch ab und bindet sie mit Bast, den er stets bei sich trägt, zusammen. Auf dem Rückweg zum Haus bricht er noch Lavendel ab und steckt ihn zwischen die ebenfalls stark duftenden Rosen. „Das sind Marcel Bourgouin, eine neue französische Züchtung. Ich hab’ sie an deinem Geburtstag eingesetzt. Tonio, die bringst du jetzt deiner Mutter aufs Zimmer, es wird sie freuen, sie von dir zu bekommen!“ „Aber heute hab doch ich Geburtstag!“ „Ja sicher, mein kleiner Gärtner, gerade deshalb …“